Der Menschenrechtsbericht der Stadt Graz 2021 - Empfehlungen zum Recht auf angemessenen Wohnraum und zur urbanen Resilienz

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Der Menschenrechtsbericht der Stadt Graz 2021 - Empfehlungen zum Recht auf angemessenen Wohnraum und zur urbanen Resilienz
Der Menschenrechtsbericht
DerStadt
der Menschenrechtsbericht
         Graz 2021
der Stadt Graz 2019
Empfehlungen zum Recht auf angemessenen
Wohnraum und zur urbanen Resilienz
Der Menschenrechtsbericht der Stadt Graz 2021 - Empfehlungen zum Recht auf angemessenen Wohnraum und zur urbanen Resilienz
© Menschenrechtsbeirat der Stadt Graz, 2021.

Kontaktadresse:
Geschäftsstelle des Menschenrechtsbeirats der Stadt Graz:
Europäisches Trainings- und Forschungszentrum für Menschenrechte
und Demokratie (ETC Graz)
Elisabethstraße 50B
8010 Graz, Österreich
menschenrechtsbeirat@etc-graz.at, www.etc-graz.at

Grafik: Jantscher KG, Innsbruck
Druck: RehaDruck, Graz
Der Menschenrechtsbericht der Stadt Graz 2021 - Empfehlungen zum Recht auf angemessenen Wohnraum und zur urbanen Resilienz
Der Menschenrechtsbericht
          der Stadt Graz 2021

Gemäß Beschlussfassung des Menschenrechtsbeirats vom 30. November 2021
4                                                                                                                Vorwort

Vorwort von Bürgermeisterin Elke Kahr

Sehr geehrte Damen und Herren!

Seit dem Jahr 2000 darf sich Graz „Stadt der Menschen-       Die Stadt Graz will in den kommenden Jahren konkrete
rechte“ nennen. Dieser Titel ist nicht nur eine Ehre, son-   Initiativen setzen, um die Situation zu verbessern. Erste
dern auch eine Verpflichtung, die Menschenrechtssitu-        Schritte sind der Verzicht auf eine Mieterhöhung in Ge-
ation in unserer Stadt für alle Menschen, die hier leben,    meindewohnungen sowie die Aussetzung der Kanal-
zu sichern und zu verbessern, wo Defizite sind.              und Müllgebühren im Jahr 2022. In den Wintermonaten
                                                             werden auch keine Delogierungen durchgeführt. Nie-
In der Corona-Pandemie wurden Probleme sichtbar, die         mand soll in die Lage kommen, sein Zuhause zu ver-
zuvor oft nur in Einzelfällen von der Öffentlichkeit wahr-   lieren.
genommen wurden. Als Beispiel möchte ich das The-
ma Wohnen anführen, dem im Menschenrechtsbericht             Ich bedanke mich herzlich bei der Arbeitsgruppe, die den
aufgrund der vielfältigen Problemlagen viel Platz einge-     vorliegenden Bericht erstellt hat, sowie bei allen Mitglie-
räumt wird. Es ist leider eine Tatsache, dass es in un-      dern des Menschenrechtsbeirates. Ihre Arbeit ist ein
serer Stadt viel zu wenig erschwinglichen Wohnraum           wichtiger Beitrag für eine Stadt, in der alle in Würde und
gibt. Eine Erkrankung oder der Verlust der Arbeit kann       frei von Diskriminierung leben können.
kurzfristig dazu führen, dass Menschen vor scheinbar
unlösbaren Problemen stehen. Dabei ist auch das Recht        Elke Kahr, Bürgermeisterin der Stadt Graz
auf eine angemessene Unterkunft ein Menschenrecht!
Vorwort                                                                                                                5

Vorwort der Vorsitzenden

                                                               ben lebenswert macht, sondern eine Stadt auch interes-
                                                               sant und spannend gestaltet. In diesem Kontext stellt
                                                               der angemessene Wohnraum eine zentrale Frage dar, die
                                                               weit über das reine Wohnen und damit über die Leistbar-
                                                               keit des Wohnraums hinausgeht. Wohnräume müssen
                                                               geschaffen werden, aber sie verändern gewohnte Struk-
                                                               turen und Umgebungen genauso wie die Verkehrs- und
                                                               Erholungsmöglichkeiten.

                                                               Mit der Schaffung von neuem Wohnraum kommen auch
                                                               neue, meist junge Menschen mit Lebensstilen und Ver-
                                                               haltensweisen, die vielerorts durch ihre wohltuende Dy-
Sehr geehrte Damen und Herren!                                 namik die Stadt bereichern. Andererseits wird dadurch
Liebe Leserinnen und Leser!                                    Gewohntes aus dem Gleichgewicht gebracht. Allesamt
                                                               eine Entwicklung, die es erfordert, dass das enge Zusam-
Fast zwei Jahre Pandemie haben nicht nur für die inhalt-       menleben in der Stadt neu ausverhandelt werden muss.
liche Menschenrechtsarbeit, deren Verbreitung, Informa-        Ein Vorgang, der ähnlich wie bei der eingangs erwähnten
tion und Vertiefung neue unerwartete Hürden bereitet.          Pandemiebekämpfung nur dann gelingen kann, wenn
Viele, auch notwendige, Entscheidungen wurden getrof-          sich die Menschen in Achtung begegnen und ihr Zusam-
fen oder mussten manchmal auch in kürzester Zeit ge-           menleben von beidseitiger humaner Rücksichtnahme
troffen werden, die aus menschenrechtlicher Sicht noch         getragen ist, wofür die Menschenrechte eine hervorra-
zu diskutieren, manche sogar zu hinterfragen sind. Darü-       gende Leitlinie bilden.
ber hinaus wurde nur allzu deutlich sichtbar, wie fragil un-
sere Gesellschaft geworden ist, wenn sie unvorbereitet         So war es naheliegend, diese Fragestellung, zu der im
von Bedrohungen überrascht wird und wie schnell leider         Menschenrechtsbericht des Vorjahres ausführlich infor-
Polarisierungen in Teilen der Gesellschaft zutage treten       miert wurde, nochmals aufzugreifen. Dadurch sollte nicht
können, genauso wie bereits überwunden geglaubte Vor-          nur die Diskussion über das Recht auf angemessenes
behalte wieder zum Vorschein kommen.                           Wohnen gefördert und deren Bedeutung unterstrichen
                                                               werden. In partizipativer Weise wurden Empfehlungen
Gleichzeitig, parallel zu dieser bedauerlichen Entwicklung,    ausgearbeitet, die nun in diesem Bericht nachzulesen
gibt es erfreulicherweise auch eine andere – eine kon-         sind und als weitere Basis für entsprechende Überle-
träre, die von Solidarität, Verständnis und Rücksichtnahme     gungen und Umsetzungen dienen sollen.
getragen ist. Viele Menschen – auch viele, welchen das
zwischenzeitlich entschwunden war – entdeckten wieder,         Namens des Menschenrechtsbeirates, aber auch per-
wie wichtig die gegenseitige Rücksichtnahme und Hilfe-         sönlich, danken wir allen herzlichst, die am Gelingen die-
leistung für das täglich Leben ist. Diese neue Solidarität,    ses Berichts mitgewirkt haben, der Magistratsdirekti-
meist eine leise, die so manch lautem Agieren gegenü-          on und allen berichtenden Dienststellen der Stadt, allen
bersteht, gibt nicht nur Hoffnung, das Drückende unserer       Bezirksvorsteher*innen, Expert*innen und Institutionen,
Tage überwinden zu können, sondern schafft auch Be-            sowie der Arbeitsgruppe „Menschenrechtsbericht 2021“,
wusstsein für ein rücksichtsvolleres Zusammenleben. Für        die sowohl ihr Wissen als auch ihre Ideen dazu einge-
viele wurde wieder deutlich sichtbar, dass jeder Mensch        bracht haben. Gleichermaßen danken wir dem Team der
ein Solitär ist, aber sich als solcher nur in Zusammen-        Geschäftsstelle des Menschenrechtsbeirates unter Lei-
schau mit anderen zu voller Wirkung entfalten kann.            tung von Klaus Starl für die sehr gute Zusammenarbeit
                                                               und die professionelle Zusammenstellung des vorlie-
hnliches trifft auch für das Zusammenleben der Men-            genden Berichts.
schen in unserer Stadt zu. Eine bunte, farbenfrohe Mi-
schung mit unterschiedlichsten Interessen, Intentionen         Für den Menschenrechtsbeirat
und Vorlieben. Letztlich eine solche, die nicht nur das Le-    Angelika Vauti und Max Aufischer
6                                                                                           Inhalt

Inhalt

1. Einleitung                                                                                7

1.1 Ziele		                                                                                  8
1.2 Methode und Berichtsstruktur                                                             8
1.3 Arbeitsgruppe und Dank                                                                   9

2. Die Menschenrechtssituation der Stadt Graz im Überblick                                  10

3. Befund zur urbanen Resilienz der Stadt Graz                                              13

3.1 Einführung in das Konzept                                                               14
3.2 Urbane Resilienz und die Covid-19-Pandemie als Schock                                   15
3.3 Angemessenes Wohnen in der Stadt Graz                                                   16
    3.3.1   Gesetzlicher Schutz                                                             16
    3.3.2   Verfügbarkeit von Dienstleistungen, Material, Einrichtungen und Infrastruktur   17
    3.3.3   Bezahlbarkeit                                                                   20
    3.3.4   Bewohnbarkeit                                                                   23
    3.3.5   Zugänglichkeit                                                                  28
    3.3.6   Standort                                                                        31
3.4 Abschließende Einschätzung der urbanen Resilienz der Stadt Graz
    anhand des Rechts auf angemessenes Wohnen                                               36

4.	Empfehlungen des Menschenrechtsbeirates der Stadt Graz
    zur Verstärkung urbaner Resilienz                        38

Ökonomische Dimension                                                                       39
Soziale Dimension                                                                           39
Ökologische Dimension                                                                       40
Institutionelle Dimension                                                                   40

Anhang		                                                                                    41

Mitglieder des Menschenrechtsbeirats der Stadt Graz                                         42

Stellungnahmen                                                                              43
Umsetzung
3. Gesetzgebung
           der Empfehlungen
                und Wirkungsbereiche

1. Einleitung
8                                                                                                                 Einleitung

Der Menschenrechtsbeirat der Stadt Graz legt mit dem          diesjährigen Bericht möchte der Menschenrechtsbeirat
vorliegenden Menschenrechtsbericht 2021 den nun-              der Stadt Graz nun Empfehlungen aus menschenrecht-
mehr 14. Bericht zur Menschenrechtslage in Graz vor.          licher Perspektive an die Stadt Graz adressieren. Die er-
Mit der Zusammenstellung des Berichts wurde eine Ar-          arbeiteten Empfehlungen verfolgen das Ziel, die urbane
beitsgruppe von fünf Beiratsmitgliedern in Zusammen-          Resilienz der Stadt Graz anhand des Menschenrechts
arbeit mit der Geschäftsstelle, dem Europäischen Trai-        auf angemessenes Wohnen mittels eines ganzheit-
nings- und Forschungszentrum für Menschenrechte               lichen Ansatzes entlang der sozialen, ökonomischen,
und Demokratie – ETC Graz, betraut. Der Menschen-             ökologischen und institutionellen Dimensionen aus
rechtsbericht zum Jahr 2021 ist ein Empfehlungsbe-            menschenrechtlicher Perspektive zu fördern. Denn ins-
richt basierend auf den Inhalten der Bestandsaufnahme         besondere in Zeiten einer globalen Gesundheitskrise er-
des Vorjahres. Im Vorjahresbericht wurde aufgrund der         wies sich das Recht auf angemessenes Wohnen als un-
außergewöhnlichen Situation der COVID-19-Pandemie             abdingbar und in der Stadt Graz nicht ausreichend für
und den damit einhergehenden Ungewissheiten auf die           alle Bürger:innen umgesetzt.
Erarbeitungen von Empfehlungen verzichtet. Mit dem

Ziele

Mit dem Menschenrechtsbericht 2021 werden die                 -	
                                                                Die Empfehlungen zielen darauf ab, die Menschen-
nachstehenden Ziele verfolgt:                                   rechtssituation kontinuierlich für alle Grazer Bürger:innen
-	Die Menschenrechtsstadt Graz ist über die Lage der           zu verbessern.
   Menschenrechte informiert.                                 -	
                                                                Mit der Erstellung des Berichts wird ein partizi-
-	Der Bericht erarbeitet auf Basis identifizierter Befunde     pativer Ansatz angewendet, damit sich relevante
   des Vorjahresberichts Empfehlungen, um die urbane            Akteur:innen mit ihrer spezifischen Expertise im Be-
   Resilienz am Beispiel des Rechts auf angemessenes            reich der Stärkung der Menschenrechte auf kommu-
   Wohnen in der Stadt Graz zu stärken.                         naler Ebene einbringen können.

Methode und Berichtsstruktur

Ausgangspunkt für die Erarbeitung der Empfehlungen            Akteur:innen versandt. Diese umfassen Einrichtungen
waren die rückgemeldeten Inhalte der Bestandsaufnah-          der städtischen Verwaltung und Zivilgesellschaft, so-
me des Vorjahresberichts. Ein zentrales Ergebnis dieses       wie die Ebene der Bezirksräte (als 1 Anfrage gezählt),
Berichts war der bestehende Mangel an Resilienz der           um einen Eindruck der lokalen politischen Ebene zu ge-
Stadt Graz, der sich insbesondere im Hinblick auf den         winnen. Es gingen 19 Rückmeldungen ein (Bezirksräte
plötzlichen Ausbruch der COVID-19-Pandemie zeigte.            wieder als 1 Rückmeldung angeführt; insgesamt haben
Durch eine umfassende Analyse des Vorjahresberichts           9 rückgemeldet). Die Rückmeldungen werden im Be-
wurden negative Stressoren vor allem im Bereich des           darfsfall der Syntax oder Grammatik entsprechend ad-
angemessenen Wohnens in der Stadt Graz ermittelt, die         aptiert oder gekürzt, aber inhaltlich unverändert wie-
mit dem Ausbruch der Pandemie sichtbar wurden und             dergegeben. Die eingegangenen Rückmeldungen der
sich sogar noch intensivierten. Diese Rückmeldungen           Bezirksräte werden in einem zusammenfassenden
der Einrichtungen des Vorjahresberichts dienten als Be-       Statement abgebildet, um eine Einschätzung der rele-
funde für den diesjährigen Bericht.                           vanten Befunde auf der lokalen politischen Ebene nach-
                                                              zuzeichnen. Für die Abbildung aller Rückmeldungen gilt,
Zur Überprüfung (Bestätigung oder Richtigstellung), Ak-       dass etwaige widersprüchliche Angaben einander un-
tualisierung und Lösung der identifizierten Befunde wur-      kommentiert gegenübergestellt sind.
den gezielte Anfragen an insgesamt 26 relevante lokale
Einleitung                                                                                                                                                      9

Die Vorjahresbefunde und diesjährigen Rückmeldungen                                Als theoretischer Rahmen wurde das Konzept der ur-
wurden thematisch den sieben zentralen Aspekten des                                banen Resilienz gewählt, da es ganz im Zeichen des
Allgemeinen Kommentars Nr. 4 (1991) zum Recht auf                                  Ziels der Empfehlungen steht, die Resilienz der Stadt
angemessenes Wohnen1 des Ausschusses für wirt-                                     Graz zu fördern. Die zentralen Merkmale des Konzepts
schaftliche, soziale und kulturelle Rechte der UNO zu-                             werden im ersten Kapitel erläutert sowie in der Folge
geordnet: 1. Gesetzlicher Schutz, 2. Verfügbarkeit von                             mit der Stadt Graz und der COVID-19-Pandemie in Zu-
Dienstleistungen, Material, Einrichtungen und Infra-                               sammenhang gebracht. Die abschließenden Empfeh-
struktur, 3. Bezahlbarkeit, 4. Bewohnbarkeit, 5. Zugäng-                           lungen des Menschenrechtsbeirates der Stadt Graz
lichkeit, 6. Standort und 7. kulturelle Angemessenheit.                            nehmen ebenso direkt Bezug auf das Konzept, indem
Bei den Aspekten handelt es sich um jene Mindestan-                                die Empfehlungen den vier Dimensionen der urbanen
forderungen, die gewährleistet sein müssen, um das                                 Resilienz – ökonomische, soziale, ökologische und insti-
Recht auf angemessenes Wohnen sicherzustellen. Die-                                tutionelle – zugeordnet werden. Dadurch wird betont,
se Zuteilung spiegelt auch die Berichtstruktur des Kapi-                           dass die Förderung der urbanen Resilienz einer Stadt
tels 2.3 Angemessenes Wohnen in der Stadt Graz wider.                              immer einem ganzheitlichen Ansatz entsprechen soll,
Lediglich der 7. Aspekt die „kulturelle Angemessenheit“                            um das bestmöglichste Ergebnis zu erzielen. Als Basis
wurde in der Gliederung weggelassen, da diesbezüglich                              für die Erarbeitung der Empfehlungen dienten die von
keine Rückmeldungen eingingen.                                                     den Einrichtungen rückgemeldeten Lösungsvorschläge,
                                                                                   die jener Dimension der urbanen Resilienz zugeordnet
                                                                                   wurden, der sie am besten entsprachen.

Arbeitsgruppe und Dank

Der Arbeitsgruppe „Menschenrechtsbericht 2021“ ge-                                 richt wurde von Livia Perschy konzipiert, koordiniert und
hörten die Beiratsmitglieder (in alphabetischer Reihen-                            zusammengestellt.
folge) Max Aufischer, Elke Lujansky-Lammer, Gabriele                               Besonderer Dank gilt den berichtenden Magistratsab-
Metz, Klaus Starl und Lisa Weichsler sowie für die Ge-                             teilungen sowie all jenen Personen und Einrichtungen,
schäftsstelle Isabella Meier und Livia Perschy an. Die                             die das Entstehen des Berichts durch Ihre Beiträge ge-
Arbeitsgruppe wurde von Klaus Starl geleitet. Der Be-                              fördert und tatkräftigt unterstützt haben.

                                                                 Graz, im November 2021

1 UN Committee on Economic, Social and Cultural Rights (CESCR) (1991) General Comment No. 4: The Right to Adequate Housing (Art. 11 (1) of the Covenant), https://
www.refworld.org/docid/47a7079a1.html. Deutsche, akkreditierte Übersetzung in Deutsches Institut für Menschenrechte (12005) „Allgemeine Bemerkung Nr. 4 Das Recht
auf angemessene Unterkunft (Artikel 11 Abs. 1) Sechste Sitzung (1991)“, in: Die „General Comments“ zu den VN-Menschenrechtsverträgen. Deutsche Übersetzung und
Kurzeinführung, S. 189-197.
Umsetzung
3. Gesetzgebung
           der Empfehlungen
                und Wirkungsbereiche

2.	Die Menschenrechts­
    situation der Stadt Graz
    im Überblick
Überblick                                                                                                        11

Für das Berichtsjahr 2021 können zwei Anlässe mit be-       leistungen, Impfpflichten, Hass und Falschmeldungen
sonderer menschenrechtlicher Bedeutung herausge-            im Internet, die Liste könnte endlos fortgeführt werden.
strichen werden: das zwanzig Jahre Jubiläum der Men-        Wichtig dabei ist die Erkenntnis, dass das Menschen-
schenrechtsstadt Graz einerseits, sowie die Pandemie        rechtssystem Lösungen für die Vielzahl an Konflikten
und die damit eingehergehenden Erfahrungen und Ver-         bereithält und das System der Rechtsgutabwägung be-
änderungen andererseits. Feierlich begangen wurde           stätigt hat. Dies belegt die Widerstandsfähigkeit oder
das Jubiläum der Grazer Menschenrechtsstadterklä-           Resilienz des Rechtssystems.
rung am achten Februar im Zuge einer internationalen
Konferenz mit Ansprachen des Bundespräsidenten Van          Der Menschenrechtsbeirat beschloss, die Erkennt-
der Bellen, des Außenministers und jetzigen Bundes-         nisse des Vorjahresberichtes heranzuziehen, um ent-
kanzlers Alexander Schallenberg, Landeshauptmanns           sprechende Empfehlungen an die Stadt Graz im Rah-
Schützenhöfer, der Landesrätin Kampus und des Bür-          men ihrer Zuständigkeiten zu erarbeiten. Dabei ging die
germeisters Nagl. Bei der gemeinsamen Verabschie-           vom Beirat eingesetzte Arbeitsgruppe neue Wege. Die
dung des Schlussdokumentes von UNESCO, Hoch-                Pandemie machte Probleme und Verletzbarkeiten of-
kommissarin für Menschenrechte, Grundrechteagentur          fensichtlich, die an sich bereits vorher existierten und
der EU und der Stadt Graz wurde von dieser ein klares       noch verstärkt wurden. Wir überprüften die diesbezüg-
Bekenntnis zur internationalen Ausrichtung der Men-         lichen Befunde mittels Expert:innengesprächen, wel-
schenrechtsstadt und nach innen ein Bekenntnis zur          che im ersten Teil des Berichts zusammengestellt sind.
weiteren Förderung der Umsetzung menschenrecht-             Weiters überlegten wir ein passendes Konzept, um die
licher Verpflichtungen durch die Menschenrechtsstadt        menschenrechtlichen Aspekte herauszuarbeiten und
vor 300 internationalen Teilnehmer:innen abgegeben,         verbanden das Modell der urbanen Resilienz mit Men-
welches beim Festakt im Congress im Mai noch ein-           schenrechten und den UN Nachhaltigkeitszielen. Dabei
mal bekräftigt wurde. Bei dieser Gelegenheit wurde          zeigten sich mehrere wichtige inhaltliche und metho-
dazu die Umsetzung der Kinderrechtekonvention auf           dische Einsichten. Erstens wurde klar, dass der Schock
Gemeindeebene angekündigt. Mittelfristige Projekte          so genannte Stressoren sichtbar macht, welche Men-
also, die Auswirkungen auf die in Graz lebenden Men-        schenrechte systematisch beeinträchtigen. Zweitens
schen erwarten lassen. Neben einer Reihe von Jubilä-        stellten wir fest, dass die meisten dieser Probleme di-
umsinitiativen ist auch die Veranstaltungsreihe des Bür-    rekt oder indirekt mit dem Themenfeld Wohnen zu tun
germeisteramtes mit der Urania zu Eckpunkten und            haben, womit der menschenrechtliche Bezug zum
Institutionen der Menschenrechtsstadt zu nennen. Die        Recht auf angemessenes Wohnen hergestellt war und
beschriebenen Veranstaltungen erfüllen zwei wichtige        alle identifizierten Stressoren mit den Aspekten dieses
Punkte der Grazer Menschenrechtserklärung, nämlich          Rechts, wie Leistbarkeit, Bewohnbarkeit, Wohnumfeld
die Öffentlichkeit zu informieren und die internationa-     bzw. Verkehr und in Ableitung davon Arbeit, Bildung,
le Zusammenarbeit zu pflegen, was für eine Stadt nicht      Kultur und Gesundheit zu tun haben. Die Konzentrati-
selbstverständlich ist.                                     on auf das Thema Wohnen bedeutet daher auch keine
                                                            Einschränkung, weil die wesentlichen Aspekte ande-
Abgesehen von diesen positiven, öffentlichkeitswirk-        rer Menschenrechte, wie das Recht auf Bildung, Nut-
samen Ereignissen lässt sich die Menschenrechtssitu-        zung des öffentlichen Raums, das Recht auf Arbeit, das
ation in Graz wohl am besten im Zusammenhang mit            Recht auf soziale Sicherheit, das Recht auf eine gute
der Pandemie beschreiben, analysieren und bewerten.         Verwaltung, Versammlungs- und auch Meinungsfrei-
Die Pandemie hat die Wichtigkeit der Menschenrechte         heit, und deren mangelhafte Verwirklichung für die Men-
in beispielloser Weise ins Bewusstsein der Menschen         schen mit dem Wohnen in einem menschenrechtlichen
gerückt. Alle sind betroffen und alle haben Rechte, nicht   Zusammenhang stehen. Damit konzentrieren wir uns
nur Minderheiten, wie dies in anderen Zeiten oft wahr-      auch auf ein Themenfeld, welches in großem Ausmaß
genommen wird. Wir müssen Einschränkungen in prak-          in kommunaler Verantwortung liegt. Drittens und die
tisch allen Lebensbereichen hinnehmen, von Arbeit           vielleicht wichtigste Erkenntnis aus dieser Analyse ist
über Bildung und Gesundheit bis zu Zusammenkünf-            das klare Erkennen eines kommunalpolitischen Instru-
ten. Menschen, Medien, und Gerichte waren in inten-         mentes, nämlich dass die Stressoren die Ansatzpunkte
sive Diskussionen und Analysen eingebunden, die Ver-        für geeignete Hebel sind. Können diese gemildert oder
hältnismäßigkeit dieser Einschränkungen zu beurteilen:      eliminiert werden, erhöht dies die urbane Resilienz und
Unterricht in Präsenz, wirtschaftliche Unterstützungs-      fördert gleichzeitig die Gewährleistung von Menschen-
12                                                         Überblick

rechten. Darauf zielen die in vier Gruppen gegliederten
zehn Empfehlungen ab.

In Bezug auf die Grazer Menschenrechtserklärung kann
folgendes Ergebnis festgestellt werden. Mit dem vor-
liegenden Bericht wurden menschenrechtlich relevante
Problemlagen und Defizite identifiziert und dem Ge-
meinderat, der Stadtregierung und der Öffentlichkeit
zur Kenntnis gebracht. Konkrete Empfehlungen zur Um-
setzung im Sinne der internationalen Menschenrechte
wurden erarbeitet und benannt, wo urbane Resilienz
besteht und in welchen Aspekten nicht. Die Empfeh-
lungen erfordern in ihrer Umsetzung die Zusammenar-
beit mit unterschiedlichen Institutionen, Organisationen
und dem privaten Sektor, womit auch diese Forderung
der Menschenrechtserklärung angesprochen ist.
Umsetzung
3. Gesetzgebung
           der Empfehlungen
                und Wirkungsbereiche

3. Befund zur urbanen
   Resilienz der Stadt Graz
14                                                                                                                                        Einführung in das Konzept

„Die städtische Gesellschaft und auch die Stadt sind nicht                            Der Menschenrechtsbeirat der Stadt Graz bemüht sich
in dem Ausmaß resilient, wie aus menschenrechtlicher                                  mit dem diesjährigen Menschenrechtsbericht 2021 als
Perspektive sinnvoll und notwendig wäre.“2 Das Schwer-                                erstmaligem, gesonderten Empfehlungsbericht, Emp-
punktkapitel des Vorjahresberichts endet mit diesem Fa-                               fehlungen an die Stadt Graz zu adressieren, die basie-
zit und impliziert damit sogleich auch eine Forderung: Die                            rend auf den rückgemeldeten Defiziten dazu beitragen
Stadt Graz muss resilienter werden um zu gewährlei-                                   sollen, aus menschenrechtlicher Perspektive die urbane
sten, dass wirklich niemand in der Menschenrechtsstadt                                Resilienz der Stadt zu verstärken und dabei bestehen-
zurückgelassen wird3. Denn insbesondere der Ausbruch                                  de Ungleichheiten zu vermindern. Das folgende Kapitel
der COVID-19-Pandemie verdeutlichte einmal mehr das                                   stellt nun zum besseren Verständnis in aller Kürze das
signifikante Ausmaß der bestehenden Ungleichheiten                                    Konzept der urbanen Resilienz vor. Zudem verdeutlicht
verschiedener Bevölkerungsgruppen. Die verheerenden                                   es den Zusammenhang der urbanen Resilienz der Stadt
Auswirkungen der Pandemie waren zweifelsohne für alle                                 Graz mit der COVID-19-Pandemie.
Bürger:innen spürbar, doch waren all jene, die sich be-
reits zuvor in vulnerablen Lebensrealitäten befanden, von
den einschneidenden Umständen noch mehr betroffen.

3.1 Einführung in das Konzept

Die urbane Resilienz bezieht sich auf „die kontinuier-                                der urbanen Resilienz ihrer Stadt eine entscheidende
liche Fähigkeit von Städten auf der ökonomischen, so-                                 Rolle. Städtische Regierungen sind Experten für ihre
zialen, institutionellen und ökologischen Dimension                                   Städte und liefern profundes Wissen über städtische
Schocks und Stressoren zu absorbieren, adaptieren und                                 Risiken und Ressourcen. Daher können sie nachhaltige
transformieren, sowie sich auf diese vorzubereiten, um                                Maßnahmen erarbeiten und ergreifen, die bestehende
die Funktionsweise der Stadt aufrechtzuerhalten und                                   oder eventuelle Risiken minimieren. Indem sie Schocks
die Reaktion auf zukünftige Schocks zu verbessern“.4                                  oder Stressoren entgegentreten, kann es ihnen gelin-
Diese Definition enthält drei zentrale Kernelemente:                                  gen, ein solches disruptives Ereignis in eine Möglichkeit
Erstens, urbane Resilienz wird als eine Fähigkeit ver-                                und eine Quelle der Verbesserung für die Resilienz ihrer
standen. Das bedeutet, dass Städte sich diese Fähig-                                  Stadt zu verwandeln.6
keit durch ihr eigenes Handeln aneignen und auch ver-
bessern können. Zweitens, die urbane Resilienz einer                                  Grundsätzlich wird eine Stadt als ein urbanes System
Stadt misst sich anhand eines disruptiven Ereignisses,                                verstanden. Die Basis systemischen Denkens ist, dass
das die Leistungsfähigkeit der Stadt mindert und die                                  alle Elemente eines Systems miteinander verbunden
Vulnerabilitäten der Einwohner:innen verstärkt. Ein dis-                              sind und sich gegenseitig beeinflussen. Folglich bedeu-
ruptives, negatives Ereignis wird als Schock – plötzlich                              tet das, dass der Eintritt eines Schocks/Stressors einen
auftretendes Ereignis, wie Überflutungen oder Krank-                                  negativen Einfluss auf das gesamte städtische System
heitsausbrüche – oder Stressor – langanhaltender Trend,                               und seine Komponenten ausübt. Es wird davon ausge-
wie Klima- oder demografischer Wandel – verstanden.                                   gangen, dass die urbane Resilienz entlang von vier Di-
Drittens, im Sinne des evolutionären Resilienzverständ-                               mensionen – der sozialen, ökonomischen, ökologischen
nisses soll nicht versucht werden, nach einem eingetre-                               und institutionellen – erhöht werden kann. Um angemes-
tenen Schock oder Stressor den ursprünglichen Zustand                                 sen auf einen Schock/Stressor zu reagieren, sollte im Ein-
wiederherzustellen. Denn das würde bedeuten, zu je-                                   klang mit der systemischen Denkweise ein zielführendes
nem Zustand zurückzukehren, der das Ereignis über-                                    lokales Regierungsmanagement einen ganzheitlichen
haupt erst auslöste. Die Fähigkeit der urbanen Resilienz                              Ansatz verfolgen und Maßnahmen in allen vier Dimensi-
einer Stadt verfolgt vielmehr das Ziel, einen Zustand der                             onen umfassen, damit ein positives Ergebnis für das ge-
„neuen Normalität“ zu erreichen.5                                                     samte System erreicht werden kann. Zudem wird dem
                                                                                      Umstand Rechnung getragen, dass jede Stadt in einen in-
Die lokale Regierungsebene spielt beim Übergang in                                    dividuellen sozio-ökonomischen und geografischen Kon-
diese „neue Normalität“ und damit für die Steigerung                                  text eingebettet ist. Daraus folgt, dass der Schwerpunkt

2 Menschenrechtsbeirat der Stadt Graz, Menschenrechtsbericht 2020, S. 99 – 3 “Niemanden zurückzulassen” ist das zentrale Versprechen der Agenda 2030 für Nachhaltige
Entwicklung mit ihren Nachhaltigen Entwicklungszielen. Besonders hervorzuheben ist in diesem Zusammenhang Ziel 11, denn dieses steht im Zeichen der Resilienz. So
sollen Städte und Sieglungen inklusiv, sicher, widerstandsfähig und nachhaltig gestaltet werden. Agenda 2030 in deutscher Sprache: https://res.cloudinary.com/dqscgpyht/
image/upload/v1632901480/ar70001_1efa956463.pdf – 4 Figueiredo, Lorena/Honiden, Taku/Schumann, Abel (2018) Indicators for Resilient Cities. OECD Regional Develop-
ment Working Papers 2018/02, S. 10 (Anm. eigene deutsche Übersetzung der Verfasserin des Berichts) – 5 ibid. – 6 ibid.
Urbane Resilienz und die Covid-19-Pandemie als Schock                                                             15

städtischer Politiken im Rahmen einer Resilienzstrategie    turen und Dienstleistungen an die Bedürfnisse aller
abhängig von den spezifischen Herausforderungen ist,        Bürger:innen an und bezieht insbesondere margina-
mit welchen sich die Stadt konfrontiert sieht.7             lisierte Gruppen in ihre Planung mit ein. Die Stadt als
                                                            urbanes System ist flexibel genug, um auf einschnei-
Ganz allgemein gilt, dass eine resiliente Stadt in der      dende Veränderungen entsprechend zu reagieren, ohne
Lage ist, angemessen auf soziale, wirtschaftliche und       die Funktionsweise des Systems zu gefährden. Sie setzt
ökologische Herausforderungen zu reagieren. Da-             sich aus einer Zivilgesellschaft und Einrichtungen zu-
bei gelingt es ihr, die negativen Auswirkungen von          sammen, die rasche Hilfe im Krisenfall bereitstellen kön-
Schocks oder Stressoren auf die Leistungsfähigkeit          nen. Zudem gelingt es der resilienten Stadt, das Poten-
und Einwohner:innen des urbanen Systems auszuglei-          zial durchlebter Erfahrungen zu erkennen und in Form
chen. Die Stadt ist robust genug, um ein vollständiges      eines selbstreflexiven Prozesses, gute und schlechte
Funktionsversagen des Systems allzeit zu verhindern         Entscheidungen zu abstrahieren, um zukünftige poli-
und verfügt über ausreichend Spielraum, um im plötz-        tische Entscheidungsträger:innen für einen eventuellen
lich eintretenden Bedarfsfall unerwartete Bedürfnisse       Krisenfall nachhaltig informieren zu können. Nicht zu-
kostengünstig zu erfüllen. Die lokale Regierungsebene       letzt gestaltet sich die urbane Resilienz einer Stadt im
erarbeitet politische Maßnahmen und städtische Pla-         Rahmen eines inklusiven und integrierten Prozesses.
nungskonzepte unter Berücksichtigung aller eventuell        Sie fördert einen regen Perspektivenaustausch ver-
eintretenden Ereignisse, die das System zum Kippen          schiedenster lokaler Akteur:innen auf sämtlichen Ebe-
bringen könnten, und adaptiert bestehende nicht-nach-       nen und kann dadurch auf einen großen Pool an Experti-
haltige Politiken. Die Stadt passt städtische Infrastruk-   se und Erfahrungsreichtum zurückgreifen.8

3.2 Urbane Resilienz und die Covid-19-Pandemie
     als Schock

Im Hinblick auf die aktuelle COVID-19-Pandemie zeigt        Die COVID-19-Pandemie machte bestehende Ungleich-
sich, dass der Ausbruch der Erkrankung eindeutig als        heiten in der Grazer Stadtbevölkerung deutlich sichtbar
Schock qualifiziert werden kann. Weltweit führte die ra-    und intensivierte viele sogar noch. Ein Bereich stach
pide Ausbreitung der Krankheit zu plötzlichen, massiven     nach tiefgehender Analyse des Vorjahresberichts hier-
Einschnitten im Lebensalltag, die gravierende Auswir-       bei besonders hervor: das Recht auf angemessenes
kungen auf sozialer, ökonomischer, ökologischer und in-     Wohnen. Durch die Rückmeldungen des Vorjahresbe-
stitutioneller Ebene hatten und immer noch haben. Ein       richts – hinsichtlich der Bestandsaufnahme mit Fokus
rasches, effektives Krisenmanagement auf allen Regie-       auf 2019 sowie des COVID-19-Pandemie Schwerpunkt-
rungsebenen war gefordert.                                  kapitels – konnten einige negative Trends in Form von
                                                            Stressoren ermittelt werden, die seit Jahren einen signi-
Das Schwerpunktkapitel des Vorjahresberichts verfolgte      fikant negativen Einfluss auf die Entwicklung des Grazer
das Ziel, eine erste Darstellung aus menschenrecht-         Wohnsektors haben. Gerade in einer Zeit, in der zu Hau-
licher Perspektive über den Umgang mit der COVID-           se bleiben Menschenleben rettet, ist es besonders be-
19-Pandemie in der Stadt Graz zu geben. So zeigte sich,     denklich, dass nicht alle Einwohner:innen der Stadt Graz
dass es der Stadt Graz durchaus in vielen Bereichen ge-     über einen angemessenen Wohnraum verfügen. Die be-
lungen war, auf die vorgegebenen bundesweiten Ein-          richteten Stressoren umfassten die unterschiedlichsten
schränkungen auf lokaler Ebene einzugehen und die           Bereiche und hingen eng mit weiteren Menschenrech-
städtischen Leistungen an die plötzlichen, veränderten      ten zusammen. So wurde unter anderem über Hinder-
Umstände anzupassen. Jedoch kristallisierte sich auch       nisse im Bereich Zugang und Leistbarkeit von angemes-
heraus, dass viele Maßnahmen keine oder nur bedingte        senem Wohnraum berichtet. Steigende Mietpreise bei
Wirksamkeit für jene Gruppen entfalteten, die bereits       gleichzeitig diskriminierenden gesetzlichen Regelungen
vor der Pandemie als besonders vulnerabel galten.           erschweren insbesondere für sozioökonomisch benach-
                                                            teiligte Gruppen das Auffinden einer passenden Woh-

7 ibid. – 8 ibid.
16                                                                                                                 Angemessenes Wohnen • Gesetzlicher Schutz

nung. Verstärkte Lärmbelästigung durch die Verdichtung                                verkürzte Darstellung: Der Schock der COVID-19-Pan-
der Bebauung in bereits dicht besiedelten Gebieten er-                                demie sowie die langjährig bestehenden Stressoren im
höht das Spannungspotential in Nachbarschaften. Auch                                  Bereich angemessenes Wohnen führen zu einer Ver-
die zunehmende Verdrängung von Jugendlichen aus                                       schlechterung des Grazer Wohnungssektors und signa-
dem öffentlichen Raum, die für diese Gruppe bereits                                   lisieren, dass das Recht auf angemessenes Wohnen
seit Jahren spürbar ist, wurde im Zuge des zur Ein-                                   in der Stadt Graz nicht für alle Einwohner:innen aus-
dämmung der Pandemie geforderten Rückzugs in den                                      reichend gewährleistet ist.
Wohnraum weiter verstärkt. In diesem Zusammenhang
zeigte sich auch das Spannungsverhältnis von Arbeit,                                  Auf Basis dieser Erkenntnis, ist das Ziel des Menschen-
Ausbildung und Betreuungspflichten, das insbesondere                                  rechtsberichts 2021 die Erarbeitung von Empfehlungen,
bei Kindern und Jugendlichen zu einem dramatischen                                    die auf sozialer, ökonomischer, ökologischer und institu-
Anstieg an psychischen Belastungen führte, für wel-                                   tioneller Dimension auf die Linderung der identifizierten
che es wiederum nicht ausreichend Behandlungsmög-                                     Stressoren fokussieren und im Sinne eines ganzheit-
lichkeiten gibt – ein ebenso seit Jahren kritisierter Um-                             lichen Verständnisses aus menschenrechtlicher Sicht
stand.                                                                                die urbane Resilienz der Stadt Graz fördern. Das folgende
                                                                                      Kapitel thematisiert nun die identifizierten Befunde des
Diese hier exemplarisch angeführten Mängel und wei-                                   Vorjahresberichts sowie deren Aktualisierungen und et-
tere Befunde werden im nächsten Kapitel in aller Deut-                                waige Lösungsansätze auf Basis der Rückmeldungen
lichkeit thematisiert. Eines zeigt aber bereits diese                                 der diesjährigen befragten Einrichtungen.

3.3 Angemessenes Wohnen in der Stadt Graz

Dieses Kapitel bildet die schriftlichen und mündlichen                                betroffenen Menschen und Gruppen Sofortmaßnah-
Rückmeldungen der befragten Akteur:innen zu den                                       men ergreifen, die darauf abzielen, allen Menschen und
identifizierten Befunden des Vorjahresberichts ab. Es                                 Haushalten gesetzlichen Schutz zu verleihen, denen er
gliedert sich entlang der zentralen Aspekte des Allge-                                gegenwärtig fehlt.“10
meinen Kommentars Nr. 4 (1991) zum Recht auf ange-
messenes Wohnen9 des Ausschusses für wirtschaft-                                      3.3.1.1 Befund 1
liche, soziale und kulturelle Rechte der UNO. Bei den
Aspekten handelt es sich um jene Mindestanforde-                                      Befund 1: Sogenannte „Beherbergungsbetriebe“ sind als
rungen, die gewährleistet sein müssen, um das Recht                                   Markt entstanden, die benachteiligten Gruppen Unter-
auf angemessenes Wohnen sicherzustellen. Die Be-                                      kunft geben. Hier herrscht jedoch kein Mieter:innenschutz.
funde und Rückmeldungen wurden thematisch diesen
Aspekten zugeordnet.
                                                                                      Die Mietervereinigung Steiermark bestätigt, dass ba-
                                                                                      sierend auf ihrem Beratungsalltag hauptsächlich (Sai-
3.3.1 Gesetzlicher Schutz                                                             son)Arbeiter:innen, Studierende und sozial benachteili-
                                                                                      gte Personen in diesen Einrichtungen eine Unterkunft
„Unterkunft kann in vielfältiger Form auftreten, dazu                                 nehmen. Es ist zudem richtig, dass Beherbergungsun-
gehören zum Beispiel die Wohnraummiete (privat oder                                   ternehmen komplett aus dem Mietrechtsgesetz ausge-
öffentlich), die Wohngemeinschaft, Pacht, die Eigen-                                  nommen sind. Es gibt keinen mietrechtlichen Schutz.
nutzung des Eigentümers, die Notunterkunft und die il-                                Es gelten die meist nicht zwingenden Bestimmungen
legale Besiedlung oder Besetzung von Land oder Eigen-                                 des Allgemeinen Bürgerlichen Gesetzbuchs sowie die
tum. Ungeachtet der Form der Unterkunft sollte allen                                  vertragliche Regelung. Die Mietervereinigung tritt die-
Menschen eine gewisse Sicherheit zustehen, die recht-                                 sem Umstand durch Beratung und Aufklärung der
lichen Schutz gegen Zwangsumsiedelung, Belästigung                                    Unterkunftnehmer:innen vor der Leistung einer Unter-
und andere Bedrohungen gewährleistet. Die Vertrags-                                   schrift entgegen.11
staaten sollten folglich in direkter Konsultation mit den

9 Committee on Economic, Social and Cultural Rights (1991) General Comment No. 4: The Right to Adequate Housing (Art. 11 (1) of the Covenant), https://resourcingrights.
org/en/document/9c55otxgab9jyodmjwgdnuq5mi?page=1 – 10 Akkreditierter Text; Deutsches Institut für Menschenrechte (12005) Die „General Comments“ zu den VN-
Menschenrechtsverträgen. Deutsche Übersetzung und Kurzeinführung, S. 191f. – 11 Mietervereinigung Steiermark, Beitrag zum Menschenrechtsbericht 2021
Angemessenes Wohnen • Verfügbarkeit von Dienstleistungen, Material, Einrichtungen und Infrastruktur                                                             17

InterACT berichtet, dass in der Menschenrechtsstadt                                haltigen Zugang zu natürlichen und allgemeinen Res-
Graz Menschen in prekären Lebenslagen sogenann-                                    sourcen, sauberem Trinkwasser, Energie für Kochen,
te „Beherbergungsbetriebe“ oft als letzte Möglichkeit                              Heizung und Beleuchtung, zu Sanitär- und Wascheinrich-
für ein Dach über dem Kopf und für dauerhaftes billi-                              tungen, Vorrichtungen für die Lagerung von Nahrungs-
ges Wohnen finden. Diese Betriebe werden privat ge-                                mitteln, zu Müllbeseitigung, Grundstücksentwässerung
führt, sie sind zum Teil in schlechtem, sogar desolatem                            und Notdiensten beinhalten“15
Zustand. Aufgrund fehlender rechtlicher Regeln (kein
Mietvertrag, jederzeitige Gefahr der Kündigung, Hür-                               3.3.2.1 Befund 1
den bei der Meldung, Verbot von Besuchen und Zu-
sammenschluss) sind die Bewohner:innen mancher                                     Befund 1: Die häufigsten Gründe für Wohnungslosig-
Beherbergungsbetriebe der Willkür (und zum Teil auch                               keit beziehungsweise die Inanspruchnahme von alter-
die Menschenwürde verletzenden) Verhaltensweisen                                   nativen Wohnformen sind psychische Erkrankungen,
der Vermieter:innen ausgesetzt. Oft agieren diese Be-                              eine Abhängigkeit von Alkohol oder illegalisierten Dro-
herbergungsbetriebe in einem rechtlichen Graubereich.                              gen (67% der Bewohnerinnen des Frauenwohnheims
Deutlich wird der große Bedarf von Menschen in pre-                                haben eine psychiatrische Diagnose).
kären Lebenslagen an sehr günstigem (vorüberge-
hendem und mittelfristigem) Wohnraum, der leicht zu-
gänglich ist und bei dem es keine Wohneinstiegskosten                              Das VinziTel kann bestätigen, dass die drei Haupt-
(Kaution, Provision, Ablösen etc.) gibt.12                                         gründe für die Wohnungs- und Obdachlosigkeit der Gä-
                                                                                   ste dieser Einrichtung psychische Erkrankungen, Alko-
   Lösungsansätze                                                                  holkonsum und illegalisierte Drogen sind. Festgestellt
                                                                                   werden diese Thematiken meist während des Erstge-
   InterACT empfiehlt die Schaffung einer klaren Rechts-                           sprächs oder in den folgenden Betreuungsgesprächen.
   lage für diese Form der „Beherbergungsbetriebe“, die                            Im Jahr 2020 kamen 82 Personen aufgrund einer psy-
   sich am Mietrecht und an menschenrechtlichen Stan-                              chischen Erkrankung ins VinziTel. Hier ist ein Anstieg im
   dards orientiert. Sie geht einher mit dem sofortigen                            Verlauf der letzten Jahre zu verzeichnen. Die Problema-
   Verbot dieser Betriebe, wenn sie die gesetzlichen An-                           tiken Alkohol und illegalisierte Drogen als Gründe sind
   forderungen nicht erfüllen. Zudem ist die regelmäßi-                            konstante Größen. Grundsätzlich verfolgt das VinziTel ei-
   ge Kontrolle durch zuständige Behörden, wie etwa                                nen sozialarbeiterischen sowie pädagogischen Ansatz
   Gesundheitsamt, Gewerbeamt, Baupolizei, etc., not-                              in der täglichen Betreuung. Es gibt nur einen geringen
   wendig. Es soll ermöglicht werden, dass in Beherber-                            medizinischen Fokus. Das bedeutet, dass darauf geach-
   gungsbetrieben (freiwillige) soziale Beratung für die                           tet wird, dass ärztlich verschriebene Medikamente von
   Bewohner:innen stattfinden kann.13                                              Gästen eingenommen werden.16

   Das Sozialamt Graz empfiehlt, verstärkt Delogie-                                Die Arche 38 der Caritas Steiermark teilt die allgemei-
   rungsprävention zu betreiben und umfassend beglei-                              ne Beobachtung, dass es eine Zunahme an Klient:innen
   tende Maßnahmen einzuführen, um Delogierungen                                   mit psychischen Erkrankungen gibt, auch wenn sie
   vorzubeugen. Denn eine Wohnung zu verlieren, be-                                selbst keine quantitative Erhebung durchführt. Es wird
   deutet alles zu verlieren. Zudem steht die Verhinde-                            festgestellt, dass es viele Menschen gibt, die eine Ver-
   rung von Delogierungen auch im Sinne einer Kosten-                              sorgung in einer qualifizierten, hoch spezialisierten Ein-
   reduktion, denn Delogierungen sind für die Stadt Graz                           richtung der Behindertenhilfe bräuchten, für die jedoch
   kostspielig.14                                                                  der Schritt in eine solche Einrichtung zu groß ist. Die
                                                                                   Menschen zeigen oft keine Problemeinsicht und nur ge-
                                                                                   ringe Kooperationsbereitschaft.
3.3.2 Verfügbarkeit von Dienstleistungen,                                         Des Weiteren merkt die Arche 38 an, dass ein Nähe-
       Material, Einrichtungen und Infrastruktur                                   verhältnis zwischen Psychiatrie und Wohnungslosigkeit
                                                                                   festzustellen ist. Es entwickelt sich der folgende Kreis-
„Eine angemessene Unterkunft muss bestimmte Ein-                                   lauf: Die Menschen gelangen vom LKH Graz II Standort
richtungen enthalten, die für die Gesundheit, die Sicher-                          Süd zur Wohnplattform und von dort in die Arche 38. Zu-
heit, den Komfort und die Ernährung wesentlich sind.                               dem landen immer mehr Menschen mit Diagnose auch
Das Recht auf angemessene Unterkunft sollte nach-                                  auf der Straße. In ihrem Beitrag stellt die Arche 38 fol-

12 InterACT (2021) Anliegen und Vorschläge für leistbares, menschenwürdiges und bedürfnisgerechtes Wohnen in Graz. – 13 InterACT (2021) Anliegen und Vorschläge für
leistbares, menschenwürdiges und bedürfnisgerechtes Wohnen in Graz. – 14 Sozialamt, Frauen- und Männerwohnheim der Stadt Graz, Beitrag zum Menschenrechtsbericht
2021 – 15 Akkreditierter Text; Deutsches Institut für Menschenrechte (12005) Die „General Comments“ zu den VN-Menschenrechtsverträgen. Deutsche Übersetzung und
Kurzeinführung, S. 192. – 16 VinziTel, Beitrag zum Menschenrechtsbericht 2021
18                                            Angemessenes Wohnen • Verfügbarkeit von Dienstleistungen, Material, Einrichtungen und Infrastruktur

gende Ergänzung zum Befund des Vorjahres: Psychisch                              benssituationen als sehr wertvoll wahr- und angenom-
belastete Menschen können in der Arche 38 nicht adä-                             men.19
quat weiterversorgt werden.17
                                                                                 Das Frauen- und Männerwohnheim der Stadt Graz
Auch das Haus FranzisCa der Caritas Steiermark teilt                             berichten, dass insgesamt 70% der Bewohner:innen in
den Eindruck des Vorjahresbefundes, dass psychische                              den Heimen an einer psychischen Erkrankung leiden.
Erkrankungen zu den Hauptgründen für Wohnungslosig-                              Einige davon sind diagnostiziert, wieder andere sind
keit zählen. In der Frauennotschafstelle steigt die An-                          unbehandelt. Grundsätzlich stellen psychische Erkran-
zahl an Frauen, die an psychischen Erkrankungen lei-                             kungen aber nur einen Grund für die Wohnungslosig-
den. Des Weiteren steigt auch die Anzahl an Frauen                               keit der Klient:innen dar. Das Bild ist wesentlich komple-
ohne Krankheitseinsicht. Zudem wird berichtet, dass                              xer und die Menschen befinden sich in multifaktoriellen
die Krankenhausaufenthalte der Frauen mit psychischen                            Problemlagen, insbesondere geringes Einkommen oder
Erkrankungen zunehmend kürzer werden. Das bedeu-                                 Arbeitslosigkeit, fehlende soziale Ressourcen innerhalb
tet, dass die Frauen in einem instabileren Zustand aus                           des eigenen Umfelds – Vereinsamung, Haftaufenthalte
dem Krankenhaus entlassen werden und somit nach                                  in den Lebensbiografien, prekäre Beschäftigungsver-
der Entlassung noch nicht vollständig in der Lage sind,                          hältnisse oder auch physische Erkrankungen wie Dia-
ihre Medikamente selbstständig einzunehmen. Sie sind                             betes oder Bluthochdruck. Im Männerwohnheim lässt
oft auch noch nicht selbständig wohnfähig. Zumeist ist                           sich eine Verschiebung vom Alkoholkonsum hin zum er-
dann die Notschlafstelle die einzige Lösung einer vorü-                          höhten Cannabiskonsum feststellen. Grundsätzlich ist
bergehenden Wohnversorgung; dort ist diese Situation                             die Suchterkrankung die größte Gruppe. Hier wird auf
eine große Herausforderung in der Begleitung der Be-                             eine gravierende Problematik in Zusammenhang mit
troffenen, denn auch hier wird rückgemeldet, dass eine                           dem Behindertengesetz verwiesen: Eine Suchterkran-
Notschlafstelle keine adäquate Unterbringung in dieser                           kung ist ein Ausschlussgrund für eine Finanzierung nach
Situation ist. Es wird berichtet, dass die benötigte An-                         dem Behindertengesetz in betreuten Einrichtungen.
zahl der Plätze in betreuten Wohneinrichtungen dadurch                           Hier gilt, dass es sich lediglich um eine psychiatrische
höher, aber nicht ausreichend ist. Folglich werden die                           Diagnose, die keine Suchtdiagnose ist, handeln darf.
Wartezeiten auf einen Platz in einer betreuten Wohnein-                          Viele Bewohner:innen bräuchten allerdings eine Betreu-
richtung länger. Insgesamt fehlen Wohneinrichtungen                              ung und Versorgung in spezialisierten betreuten Wohn-
für Frauen ohne Krankheitseinsicht, die dauerhaft eine                           einrichtungen. Zudem wird angemerkt, dass es sehr
Wohnversorgung in einer betreuten Einrichtung brau-                              lange Wartezeiten auf Plätze in betreuten Weiterfüh-
chen. Frauen mit psychischen Auffälligkeiten (mit oder                           rungskonzepten gibt, die Perspektivenlosigkeit für die
ohne Diagnose) können nur bis zu einem bestimmten                                Bewohner:innen schaffen.20
Maß in der Notschlafstelle aufgenommen werden – da
eine Notschlafstelle die Betreuung und Begleitung we-                               Lösungsansätze
der personell noch räumlich in adäquater Weise leisten
kann.18                                                                             Das VinziTel empfiehlt die Schaffung eines Tageszen-
                                                                                    trums in Graz als konsumfreie Zone, wo Menschen
Das Schlupfhaus der Caritas Steiermark gibt an, dass                                einfach „sein“ können. Dieses muss ganzjährig zur
als Hauptgrund für die Aufnahme in die Einrichtung Kon-                             Verfügung stehen. Die bestehenden Einrichtungen,
flikte in den eigentlichen Unterbringungsformen (Fami-                              nämlich das Marienstüberl und die Einrichtung in der
lie, Fremdunterbringung) genannt wurden. Die landes-                                Orpheumsgasse, reichen bei Weitem nicht aus. Zu-
weiten ausgangsbeschränkenden Maßnahmen boten                                       dem wird die Schaffung eines kontrollierten Konsum-
Anlass für ein erhöhtes Konfliktpotenzial in den jewei-                             raums für Menschen mit einer Abhängigkeit von ille-
ligen Unterbringungskontexten, wodurch das Schlupf-                                 galisierten Drogen empfohlen, um sozialen Stress zu
haus vermehrt als Auszeit genutzt wurde. In der He-                                 reduzieren und Drogentote zu vermeiden. Es wird an-
terogenität ihrer Zielgruppe docken junge Menschen                                  gemerkt, dass bereits seit Langem Konzepte diesbe-
in unterschiedlichsten Multiproblemlagen an, wodurch                                züglich existieren und diese nun endlich in Angriff zu
vielerlei Themen (z.B. psychische Erkrankungen, Sub-                                nehmen sind.21
stanzkonsum) mitgebracht werden. Das Schlupfhaus
wird hierbei in seiner Funktion als Schutzraum und kon-                             Die Arche 38 empfiehlt
sumfreier Raum für junge Menschen in prekären Le-                                   - den Ausbau des mobilen psychiatrischen Dienstes.

17 Arche 38 der Caritas Steiermark, Beitrag zum Menschenrechtsbericht 2021 – 18 Haus FranzisCa der Caritas Steiermark, Beitrag zum Menschenrechtsbericht 2021
19 Schlupfhaus der Caritas Steiermark, Beitrag zum Menschenrechtsbericht 2021 – 20 Sozialamt, Frauen- und Männerwohnheim der Stadt Graz, Beitrag zum Menschen-
rechtsbericht 2021 – 21 VinziTel, Beitrag zum Menschenrechtsbericht 2021
Angemessenes Wohnen • Verfügbarkeit von Dienstleistungen, Material, Einrichtungen und Infrastruktur                                                              19

   -	die Professionalisierung der Fallführung und die Sicher-                      wie vor ein Mangel an spezialisierten Einrichtungsplät-
      stellung des Wissenstransfers für „Umsteiger:innen“                           zen für Kinder und Jugendliche mit Behinderung oder
      beim Wechsel von Einrichtungen.                                               massiven Verhaltensauffälligkeiten. Fehlplatzierungen
   - 	einen Ausbau von Einkommensverwaltung und mobi-                              aus Mangel an spezialisierten Unterbringungsplätzen,
      len Sozialarbeitsgruppen, um als Instrumente zu fun-                          Personalmangel und zu große Gruppengrößen haben
      gieren, die Menschen begleiten können.                                        vielfach eine Überforderung der Betreuungssysteme
   - 	die Verwirklichung des Housing-first Ansatzes, denn                          oder erhöhtes Gewaltpotential in Einrichtungen so-
      eine niederschwellige, auf Dauer angelegte Wohnver-                           wie räumlich untragbare Distanzen zwischen Kind und
      sorgung kann helfen, Menschen längerfristig adäquat                           Herkunftssystem zur Folge. Hilfeprozesse werden er-
      zu begleiten und die Selbstständigkeit und selbststän-                        schwert bzw. scheitern, weitere Beziehungsabbrüche,
      dige Wohnfähigkeit zu unterstützen.22                                         zusätzliche Belastungen und teilweise sogar Traumati-
                                                                                    sierungen im Rahmen des Hilfeprozesses sind Folgen
   Das Sozialamt empfiehlt einen aktiven Abbau der                                  für Kinder und Jugendliche. Als gelingende Ansätze
   vorherrschenden Stigmatisierung von Menschen, die                                können die Modelle für Partizipation von Kindern und
   sich mit Wohnungslosigkeit konfrontiert sehen. Das                               Jugendlichen im Rahmen der vollen Erziehung bei-
   Thema Wohnungslosigkeit soll transparent gemacht                                 spielsweise angeführt werden, welche in der Zusam-
   werden und auf diese Weise dafür sensibilisiert wer-                             menarbeit zwischen Kindern/Jugendlichen und Be-
   den. Wohnungslosigkeit ist für betroffene Personen                               zugsbetreuung bzw. auch zuständiger Sozialarbeit oder
   ein Stressfaktor, der zu Schamgefühlen führt. Woh-                               der Gestaltung des WG-Alltags im Rahmen von SOS-
   nungslosigkeit soll nicht mehr als Mangel der eignen                             Kinderdorf erfolgen.25
   Fähigkeiten aufgefasst werden. Hilfe, auch im Sinne
   einer Wohnbegleitung, soll schon vor dem Schritt                                 Der Steirische Dachverband der Offenen Jugendar-
   in die Wohnungslosigkeit für alle Menschen nieder-                               beit stimmt dem Befund des Vorjahresberichts, dass es
   schwellig, schnell, interdisziplinär und unabhängig                              nicht ausreichend präventive Hilfen gibt, zu. Das Ange-
   von etwaigen psychiatrischen Diagnosen verfügbar                                 bot ist zu gering, insbesondere für Kinder und Jugend-
   sein.23                                                                          liche mit besonderen Bedürfnissen. Es fehlt besonders
                                                                                    an niederschwelligen Angeboten. Die COVID-19-Pande-
3.3.2.2 Befund 2                                                                    mie zeigte nicht nur einen Mangel auf, speziell bei psy-
                                                                                    chosozialen Auffälligkeiten, sondern verstärkte diesen
Befund 2: Die präventiven Hilfen für Kinder und Jugend-                             auch noch. In Bezug auf psychische Belastungen sollten
liche sind nicht ausreichend oder erfolgreich. Es herrscht                          vor allem die Informationsangebote darüber, was mög-
ein Mangel an Unterbringungsmöglichkeiten für Kinder                                lich ist (Wo, Was, Wer) ausgebaut werden. Aussagen
und Jugendliche mit besonderen Bedürfnissen (aggres-                                über den Erfolg oder die Qualität der bestehenden prä-
sives Verhalten, soziale Auffälligkeiten, Behinderungen).                           ventiven Hilfen können nicht getroffen werden.26

                                                                                       Lösungsansätze
Die Kinder- und Jugendanwaltschaft Steiermark
(kija) gibt die folgende Stellungnahme zum Befund                                      Die kija empfiehlt:
des Vorjahresberichts ab. Im Jahr 2020 befanden sich                                   - 	den Ausbau an präventiven Unterstützungsangeboten
1576 Kinder und Jugendliche in der Steiermark in vol-                                     für Familien.
ler Erziehung24. Es steht außer Frage, dass der Verbleib                               -	die Einführung einer kinderanwaltlichen Vertrauensper-
von Kindern in der Familie in bestimmten Situationen                                      son.
nicht im Sinne des Kindeswohls gelegen und eine He-                                    -	
                                                                                         die Verankerung von Gewaltschutzkonzepten in Ein-
rausnahme des Kindes aus der Familie erforderlich ist.                                    richtungen der Kinder- und Jugendhilfe.
In Anbetracht des Ziels der Rückführung nach erfolgter                                 -	den Ausbau von spezialisierten Einrichtungen für Kin-
Fremdunterbringung, sofern diese im Sinne des Kindes-                                     der und Jugendliche mit massiven psychischen Bela-
wohls liegt, wird auf das Erfordernis einer gelingenden                                   stungen, Traumatisierungen sowie mit Behinderung.
Arbeit mit dem Herkunftssystem und auf für das je-                                     -	die vertiefte Arbeit mit dem Herkunftssystem (Stich-
weilige Kind geeignete Unterbringungsmöglichkeiten                                        wort „Elternarbeit“).
hingewiesen. Es besteht trotz umgesetzter Initiativen                                  -	
                                                                                         die Gewährleistung bedarfsgerechter Unterbringung
(beispielsweise für „Systemsprenger:innen“) nach                                          (örtlich, räumlich und strukturell) durch ausreichende

22 Arche 38 der Caritas Steiermark, Beitrag zum Menschenrechtsbericht 2021 – 23 Sozialamt, Frauen- und Männerwohnheim der Stadt Graz, Beitrag zum Menschenrechts-
bericht 2021 – 24 Volle Erziehung bedeutet, dass Kinder wegen Gefährdung des Kindeswohls nicht in ihrer familiären Umgebung verbleiben können. So kann die Gefähr-
dung in diesen Fällen nur durch eine Betreuung außerhalb der Familie oder des sonstigen bisherigen Wohnungsumfeldes abgewendet werden. Volle Erziehung erfolgt durch
eine Betreuung bei nahen Angehörigen, Pflegepersonen und in sozialpädagogischen Einrichtungen. Quelle: https://www.kinderrechte.gv.at/factbook/fremduntergebrachte-
kinder/ – 25 Kinder- und Jugendanwaltschaft Steiermark (kija), Beitrag zum Menschenrechtsbericht 2021 – 26 Steirischer Dachverband der Offenen Jugendarbeit, Beitrag
zum Menschenrechtsbericht 2021
20                                                                                                                    Angemessenes Wohnen • Bezahlbarkeit

      und passende Plätze für jedes Kind und alle Jugend-                          denstellend und zeitgemäß ist. Zudem wird auf den vor-
      lichen.                                                                      herrschenden Fachkräftemangel – auch in der offenen
   -	
     die Implementierung von Partizipationsmodellen für                            Jugendarbeit – hingewiesen. Die Bezahlung und das
      Kinder und Jugendliche in sozialpädagogischen Ein-                           Image sind hier nicht besonders hoch. Auch die Verweil-
      richtungen.                                                                  dauer von Fachkräften ist aufgrund der Arbeitszeitmo-
   -	die konsequente Beteiligung von Kindern und Jugend-                          delle kurz.29
      lichen bei der Auswahl der Betreuungsform bei not-
      wendiger Fremdunterbringung, regelmäßige und kind-                              Lösungsansätze
      gerechte Information an Kinder und Jugendliche über
      Gründe und Dauer der außerfamiliären Betreuung.27                               Die kija empfiehlt
                                                                                      -	
                                                                                        kleinere Gruppengrößen und ausreichend Personal,
3.3.2.3 Befund 3                                                                         um die Qualitätskriterien im Sinne des Bildungsrah-
                                                                                         menplanes erfüllen zu können.
Befund 3: Die Stadt Graz kann nach Maßgabe des ein-                                   - ausreichende Vorbereitungszeit für Pädagog:innen.
schlägigen Personalbedarfs (Personalschlüssel des Lan-                                -	adäquate Entlohnung im Sinne einer Aufwertung des
des) Vollzeitbeschäftigungsverhältnisse im Elementar-                                    Berufsstandes der Elementarpädagog:innen mit dem
bildungsbereich nicht im gewünschten Ausmaß zur                                          Ziel, dem Personalmangel effektiv zu begegnen.
Verfügung stellen. Zudem gibt es zu wenig Hort- und                                   -	die Gewährleistung eines Kinderbetreuungsplatzes ab
Nachmittagsbetreuungsplätze.                                                             dem ersten Geburtstag (auch in den Ferien) im Rah-
                                                                                         men einer leistungsorientierten Finanzierung.30

Die Kinder- und Jugendanwaltschaft (kija) berich-                                     Der Steirische Dachverband der Offenen Jugend-
tet, dass es sich als problematisch erweist, dass in der                              arbeit empfiehlt,
Steiermark bereits seit Jahren über eine Aufwertung                                   -	
                                                                                        dass die Ausbildungsformen der Elementarpäda-
der elementaren Bildung, das bedeutet über bessere                                       gogik überdacht werden – Stichwort „berufsbeglei-
Rahmenbedingungen in den Kinderbildungs- und Be-                                         tend“, nicht als 5 Jahresausbildung mit Matura oder als
treuungseinrichtungen, diskutiert wird. Auch wenn die                                    Schnellkurs für Helfer:innen.
COVID-19-Pandemie die Wichtigkeit sowie gesellschaft-                                 -	dass die Nachmittagsbetreuung speziell für Jugend-
liche Relevanz von offenen Kinderbildungs- und Betreu-                                   liche anders gedacht wird. Verschränkte Formen von
ungseinrichtungen zeigte, verschlechterten sich die                                      Jugendarbeit und Nachmittagsbetreuung wären zeit-
Rahmenbedingungen laut der Initiative für Elementare                                     gemäß und passend. Es sollte eine Reflexion über au-
Bildung weiter. Hervorzuheben ist, dass derzeit in ei-                                   ßerschulische Bildungsangebote geben. In diesem Zu-
ner Einrichtung auf 25 Kinder ein:e Pädagog:in und ein:e                                 sammenhang wird auf den Bildungscampus in Berlin
Betreuer:in kommen. Das ist nicht ausreichend. Die                                       verwiesen. Hier können Jugendliche Angebote unter-
Gruppengrößen und die Anzahl der Pädagog:innen und                                       schiedlichster Art im Zeitraum von 7 bis 20 Uhr nützen
Betreuer:innen scheinen für Kinder im Alter zwischen                                     (https://www.bildungscampus.berlin/konzept.html).
drei und sechs Jahren nicht ausreichend, um adäquat                                      Kostengünstige Möglichkeiten der Betreuung von in
auf die individuellen Bedarfe und Bedürfnisse, wie es                                    der Früh bis am Abend sind wünschenswert.
im steirischen Bildungsrahmenplan gefordert ist, zu re-                               -	Sport und Bewegung zu fördern und gleichzeitig inklu-
agieren. Zudem hat in der Steiermark aktuell nur jedes                                   sive Angebote zu schaffen, denn hiermit gäbe es auch
fünfte Kind unter drei Jahren einen Betreuungsplatz, ob-                                 die Chance für Sportvereine, mehr Jugendliche anzu-
wohl die Vereinbarkeit von Beruf und Familie nach wie                                    sprechen.31
vor eine Herausforderung darstellt.28

Der Steirische Dachverband für Offene Jugendar-                                    3.3.3 Bezahlbarkeit
beit bestätigt den Befund aus dem Vorjahresbericht im
Bereich der Elementarpädagogik. Es kann jedoch keine                               „Die mit dem Wohnen verbundenen persönlichen oder
Aussage zu fehlenden Hort- und Nachmittagsbetreu-                                  Haushaltskosten sollten ein solches Niveau haben, dass
ungsplätzen getroffen werden. Es wird berichtet, dass                              die Erfüllung oder Befriedigung anderer Grundbedürf-
die Herausforderungen im Elementarbereich steigen                                  nisse nicht bedroht oder gefährdet wird. Die Vertrags-
und die Ausbildungssituation gleichzeitig nicht zufrie-                            staaten sollten Schritte unternehmen, um zu gewähr-

27 Kinder- und Jugendanwaltschaft Steiermark (kija), Beitrag zum Menschenrechtsbericht 2021 – 28 Kinder- und Jugendanwaltschaft Steiermark (kija), Beitrag zum Men-
schenrechtsbericht 2021 – 29 Steirischer Dachverband für Offene Jugendarbeit, Beitrag zum Menschenrechtsbericht 2021 – 30 Kinder- und Jugendanwaltschaft Steiermark
(kija), Beitrag zum Menschenrechtsbericht 2021 – 31 Steirischer Dachverband der Offenen Jugendarbeit, Beitrag zum Menschenrechtsbericht 2021
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