Anonymität AUSGABE NR. 11, DEZEMBER 2018 - Universität ...
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Inhalt 3 | Zwischen Troll und Teilhabe 11 | Soziale Funktionen von Anonymität 17 | Interview: »Wir sind alle Exhibitionisten im digitalen Raum« 20 | Anonymität und soziale Medien 25 | Kameras im Stadtgebiet 30 | Nationale Sicherheit zum Preis der Anonymität 34 | Publikationen 36 | Termine 37 | Das Kolleg auf Reisen 47 | Impressum
2 Liebe Leserinnen und Leser, nachdem im Spätsommer dieses Jahres die Debatte um nehmend auf Russland hebt Elizaveta Saponchik in eine gesetzliche Klarnamenpflicht in sozialen Netz- ihrem Artikel die Bedeutung anonymer Kommunika- werken erneut ins Rollen gebracht wurde, kochten die tion am Beispiel des Dienstes ›Telegram‹ hervor und kontroversen Meinungen zum Thema Anonymität im zeigt auf, welche juristischen Konflikte sich in Bezug Internet wieder einmal hoch.1 Hier wurde deutlich, auf die Nutzung anonymer Kommunikationsdienste in welche unterschiedlichen Positionen die Gesellschaft Russland ergeben. bezüglich dieser ambivalenten Thematik gerade im Kontext der Digitalisierung durchziehen. Argumente, Anschließend daran sind interessante Publikations- die in Anonymität eine Stärkung von Partizipation und und Veranstaltungshinweise im Kontext von Privatheit Aufrichtigkeit sehen, werden in diesem Zusammen- und Digitalisierung aufgelistet. Zum Schluss finden Sie hang oftmals gegen Argumente abgewogen, die einen Berichte zu den Veranstaltungen und Exkursionen des Anstieg gesellschaftlicher Enthemmung durch Anony- Kollegs im Sommersemester 2018: Neben einem Be- misierung befürchten. richt zur interdisziplinären Ringvorlesung »Narrative der Überwachung« und zur Kooperationstagung mit Dazu thematisieren Lea Watzinger und Patrick dem DFG-Forschungsprojekt »American Literature Herget in ihrem Beitrag zunächst die grundlegenden and the Transformation of Privacy« in Frankfurt, blickt Zusammenhänge von Anonymität und Privatheit. Da- Lea Raabe auf eine Exkursion des Kollegs nach Stutt- bei zeigen sie Begriffsdimensionen und Ambivalenzen gart zurück, wo eine Kooperation mit der Hochschule des Anonymitätsbegriffes auf und verorten ihn so- der Medien aufgebaut wird. Marcel Schlegel fasst die dann in der interdisziplinären Privatheitsforschung. wichtigsten Erkenntnisse der Amsterdam Privacy Con- Anne Deremetz beleuchtet die soziale Funktion von ference 2018 zusammen, auf der eine Abordnung des Anonymität und stellt dar, inwiefern Anonymität auf Kollegs ein eigenes Panel bestritt. verschiedenen gesellschaftlichen Ebenen notwendig für ein friedliches und funktionierendes Miteinander Wir wünschen Ihnen viel Spaß bei der vorweihnacht- ist. Dem folgt ein Interview mit Prof. Dr. Thomas lichen Lektüre! Knieper, der in Passau den Lehrstuhl für Computer- vermittelte Kommunikation innehat. Er gibt im Ge- spräch mit Patrick Herget und Lea Watzinger einen Überblick hinsichtlich des potentiellen Missbrauchs von Anonymität und kommt zu dem Schluss, dass das Lea Watzinger Netz kein rechtsfreier Raum sei – Anonymität im In- Wissenschaftliche Mitarbeiterin am DFG-Graduier- ternet sei daher nur mit Vorsicht als solche zu bezeich- tenkolleg 1681/2 »Privatheit und Digitalisierung«. nen. Franz X. Berger blickt im Anschluss aus juristi- scher Perspektive auf soziale Netzwerke und zeigt auf, Patrick Herget dass es ein Grundrecht auf Anonymität gibt. Im Fol- Wissenschaftlicher Mitarbeiter am DFG-Graduier- genden erörtert er die daraus erwachsenden Konflikte tenkolleg 1681/2 »Privatheit und Digitalisierung«. zwischen dem Schutz der Persönlichkeit und der freien Meinungsäußerung als Herausforderungen für Recht und Gesellschaft. Hermann Jakobi setzt sich danach kritisch mit der zunehmenden Überwachungswut im öffentlichen Raum auseinander. Vergleichend geht er dabei auf die rechtlichen Systematiken für die Errich- tung von öffentlicher Videoüberwachung am Beispiel von Krasnojarsk und München ein. Ebenfalls bezug- 1 Vgl. exemplarisch Mack, Daniel: Wird Zeit für eine gesetzliche Klarnamenpflicht auf Facebook, Twitter, Instagram und Co. Auf: Twitter vom 14.09.2018. Online: https://twitter.com/danielmack/st atus/1040520176691752961?lang=de (20.11.2018).
3 Zwischen Troll und Teilhabe Anonymität und Privatheit im Internet von Lea Watzinger und Patrick Herget Anonym sein, namenlos, identitätslos, körperlos, ohne Verantwortung übernehmen zu müssen für das ei- gene Handeln, in der Masse aufgehen, endlich ehrlich sagen, was man denkt… Mit ›Anonymität‹ verbinden sich viele Vorstellungen, die gerade im Internet zu widersprüchlichen Phänomenen führen: Sogenannte ›Trolle‹ können Hass und Ärger verbreiten, aber es können auch RegimekritikerInnen ihre Meinungsfreiheit ausüben; das ›Darknet‹ ist Umschlagplatz für zahlreiche anonyme illegale Aktivitäten, aber das Gefühl der Anonymität hilft auch, sich z.B. in Selbsthilfeforen über tabuisierte Themen auszutauschen.
4 D abei gilt das Internet generell seit seiner Ent- wicklung als Ort der Anonymität, dem diese be- reits als Grundstruktur eigen ist.1 Gleichzeitig ermög- ten Leute, die mir begegnen, am Nachbartisch im Café sitzen oder in der U-Bahn, sind mir unbekannt, sie sind für mich ›Anonyme‹, so wie ich für sie. Sie gehen in licht die digitale, vernetzte Kommunikation nicht nur einer Masse an Menschen, die ich jeden Tag streife, Anonymität, sondern auch Techniken, ebendiese ein- unter. Selbst wenn ich die Aufmerksamkeit auf mich zuschränken, da digitale Kommunikation immer da- ziehe, etwa, weil ich laut bin, grell gekleidet oder ein tenvermittelt ist und daher ausgelesen und nachvoll- Pony mit dabeihabe, bin ich noch anonym. Ich gehe zogen werden kann.2 Das Internet scheint also sowohl zwar nicht mehr in der Masse unter, aber wer ich bin, Anonymität zu ermöglichen und zu fördern als auch meinen Namen, den kennt trotzdem keiner. Allerdings zu verhindern. Dementsprechend ist die Unsicherheit werde ich, sofern ich mein Pony überallhin mitnehme, bei NutzerInnen und BürgerInnen zum Thema Da- wiedererkannt, genauso wie wenn ich im Netz immer tenschutz, Überwachung und Wahrung der eigenen unter demselben Pseudonym poste. Und wer mich ein- Anonymität hoch. Niemand weiß genau, welche mal erkennt und meinen Klarnamen weiß, kann dieses eigenen persönlichen Daten für wen verfügbar sind; Wissen auf verschiedene Kontexte anwenden und so Enthüllungen, Datenlecks und -leaks werden regelmä- meine Identität in Erfahrung bringen. Im Internet lässt ßig in der Öffentlichkeit verhandelt. sich nun eine solche Anonymität auf horizontaler Ebe- ne relativ leicht bewahren. Sofern ich meinen Namen In diesem Artikel wollen wir im ersten Teil eine Re- nicht selbst angebe, bleibt der Bezug zur realen Person flexion der verschiedenen Begriffsdimensionen vor- für meine KommunikationspartnerInnen unbekannt. nehmen, um überhaupt das diffuse Phänomen der Ich erfahre von meinem Gegenüber erstmal nur, was Anonymität näher zu bestimmen. Im zweiten Teil wer- es mir selbst offenbart. Auf manchen Webseiten darf den verschiedene Perspektiven beleuchtet, aus denen ich ein Pseudonym angeben, wie z.B. auf Twitter, auf die Bedeutungen von Anonymität für die demokrati- manchen allerdings nicht, wie etwa auf Facebook, wo sche Gesellschaft im Kontext des digitalen Struktur- die Nutzungsrichtlinien dies untersagen. wandels erörtert werden. Zudem hängen Fragen der Anonymität eng mit solchen der Privatheit zusammen: Die Unterscheidung zwischen Anonymität und Pseu- Ziel ist es daher herauszuarbeiten, inwiefern diese bei- donymität ist auch aus juristischer Perspektive rele- den Konzepte miteinander verflochten sind. Zuletzt vant4 – in der Alltagssprache verwenden wir beide soll am Beispiel der App ›Blind‹ aufgezeigt werden, wie Begriffe jedoch meist synonym. Im juristischen Kon- sich diese Verflechtung zunächst auf das Individuum, text wird von Pseudonymität gesprochen, obwohl wir aber in der Folge auch auf einer kollektiven gesamtge- damit in der Alltagsprache oft Anonymität meinem. sellschaftlichen Ebene auswirkt. Bei der Pseudonymisierung und Anonymisierung wer- den persönliche Daten um individuelle Identifikati- onsmerkmale bereinigt. Nach altem Rechtsstand, vor Anonym wem gegenüber eigentlich? Inkrafttreten der DS-GVO, war der Begriff der Ano- nymisierung in § 3 Abs. 6 BDSG (a.F.) definiert: »An- Um die Widersprüchlichkeit des Anonymitätsbegriffs onymisieren ist das Verändern personenbezogener zu klären, muss man verschiedene Ebenen der Anony- Daten derart, dass die Einzelangaben über persönliche mität voneinander unterscheiden und fragen: anonym oder sachliche Verhältnisse nicht mehr oder nur mit ei- wem gegenüber eigentlich? Hier lässt sich zwischen nem unverhältnismäßig großen Aufwand an Zeit, Kos- horizontaler und vertikaler Anonymität unterschei- ten und Arbeitskraft einer bestimmten oder bestimm- den.3 baren natürlichen Person zugeordnet werden können.« Im Rahmen der DS-GVO wird Anonymität lediglich in Auf horizontaler Ebene anonym sind wir unter Gleich- Erwägungsgrund 26 der Verordnung erwähnt. Dieser gestellten, also wenn unser Gegenüber nicht weiß, erläutert, dass pseudonyme Informationen als Infor- wer wir sind. Dies ist der Fall, wenn wir unter einem mationen über eine identifizierbare Person zu betrach- Pseudonym etwas posten und der Bezug zu unserer ten sind, anonyme Informationen hingegen nicht den ›wahren Identität‹, also unserem Klarnamen, nicht ge- Grundsätzen des Datenschutzrechts unterliegen.5 Der geben ist. Diese Form der Anonymität ist auch im ana- Begriff der Pseudonymisierung, welcher bisher in § 3 logen Leben existent, hier unter Umständen sogar als Abs. 6a BDSG (a.F.) bestimmt wurde, wird nun in Art. der Normalfall, etwa in der Großstadt: Die allermeis- 4 Nr. 5 DS-GVO als »die Verarbeitung personenbezo- gener Daten in einer Weise, dass die personenbezoge- 1 Vgl. z.B. Brodnig, Ingrid: Der unsichtbare Mensch. Wien: Czernin 2013. 4 Vgl. Härting, Niko: Anonymität und Pseudonymität im Daten- 2 Vgl. Matzner, Tobias: Anonymität. In: Heesen, Jessica (Hg.): schutzrecht. In: NJW. Bd. 66, Nr. 29, 2013, S. 2065–2071. Handbuch Medien- und Informationsethik. Stuttgart: Metzler 2016, 5 Vgl. Schmitz, Barbara: Der Abschied vom Personenbezug. In: S. 248–254. ZD. Nr. 1, 2018, S. 5–8. Dazu auch: Kühling, Jochen/Klar, Manuel/ 3 Vgl. Thiel, Thorsten: Anonymität und Demokratie. In: For- Sackmann, Florian: Datenschutzrecht. Heidelberg: CF Müller 2018, schungsjournal Soziale Bewegungen. Bd. 30, Nr. 2, 2017, S. 153. S. 120.
5 nen Daten ohne Hinzuziehung zusätzlicher Informati- Diese beiden Dimensionen – horizontal und vertikal onen nicht mehr einer spezifischen betroffenen Person – sind der Anonymität inhärent, sie werden im Inter- zugeordnet werden können, sofern diese zusätzlichen net aber besonders sichtbar und widersprüchlich. Was Informationen gesondert aufbewahrt werden und hier hinzukommt, ist das Fehlen der Körperlichkeit technischen und organisatorischen Maßnahmen un- von Kommunikation und daher von vielen Informatio- terliegen, die gewährleisten, dass die personenbezo- nen aus der analogen Welt, wie etwa Statur und Ausse- genen Daten nicht einer identifizierten oder identi- hen meines Gegenübers, seine Mimik, Reaktion, seine fizierbaren natürlichen Person zugewiesen werden« Emotionen.7 Solche Informationen sind zwar nicht Teil definiert. Jedoch muss an dieser Stelle angemerkt wer- des Namens, aber der Identität einer Person, die eben den, dass eine De-Anonymisierung selbst vermeintlich neben dem Namen noch persönliche Informationen ›anonymer‹ Daten in der Praxis, z.B. durch Korrelati- über diese fasst. Diese Aspekte fallen im Netz weg. Im on, oft leichter möglich ist als gedacht.6 Netz wird die Person auf ihren Namen – oder im Falle von dessen Fehlen auf ein Pseudonym – reduziert, sie Vertikale Anonymität hingegen bezieht sich auf ein hat kaum zusätzliche Identitätsmerkmale. Anonymität Machtverhältnis. Bin ich als Individuum für eine über- ist im Internet also in vielen Fällen Körper- und Na- geordnete Instanz identifizierbar, nachverfolgbar, sind menlosigkeit. Dabei ist es wichtig zu unterscheiden, ob meine Daten zweifelsfrei zuordenbar? Auf vertikaler die teilweise negativen Aspekte der digital vermittelten Ebene im digitalen Raum anonym zu bleiben ist zwar Kommunikation wie Hass und Beleidigungen mit An- machbar, erfordert jedoch technische Vorkehrungen onymität als Namenlosigkeit zu erklären sind oder eher und Know-how wie die Nutzung spezieller Software. mit Anonymität als Körperlosigkeit, also dem Fehlen Zum Vergleich im analogen Kontext (ohne ubiquitä- einer direkten menschlichen Reaktion.8 Wird die Ent- re Videoüberwachung): Ich spaziere durch die Stadt hemmung in der digitalen Kommunikation dadurch – weiß der Staat, wer ich bin? Erst in dem Moment, beschleunigt, dass ich nicht weiß, wer es ist, oder da- in dem ich aktiv von der Polizei danach gefragt werde, durch, dass ich mein Gegenüber nicht sehe, es nicht und das nur wenn ein hinreichender Grund zur Perso- fühlen kann? nenkontrolle vorliegt. Ich bin also im Normalfall auch in vertikaler Hinsicht erst einmal anonym, bis meine Was macht das Gefühl der Anonymität mit Anonymität aufgehoben wird. Im Café in der Groß- uns? stadt bin ich deshalb grundsätzlich nicht nur auf ho- rizontaler Ebene, wie oben gezeigt, anonym, sondern auch auf vertikaler Ebene. Wenn ich allerdings einen Diese komplexe Anonymitäts-Situation im digitalen Tisch bestelle, erfährt die Kellnerin meinen Namen – Umfeld zeigt verschiedene Konsequenzen zwischen wobei ich hier noch auf ein Pseudonym zurückgreifen »Enthemmung« und »Aufrichtigkeit«9: Als kollektives kann. Wenn ich jedoch mit der Karte bezahle, sieht sie Phänomen können Einzelne in einer Masse aufgehen meinen richtigen Namen. Diese Daten können, etwa und damit nicht als Individuen zur Rechenschaft gezo- im Falle einer Ermittlung, auch von Behörden abge- gen werden. Gleichzeitig kann Anonymität als Kataly- fragt werden. sator für soziales Handeln fungieren und eine Solida- rität ermöglichen, die unter Nutzung des Klarnamens Im Netz werden wir von den digitalen Café-Betreibern, nicht denkbar wäre – etwa, wenn es um sensible The- etwa von Facebook und Google, jederzeit identifiziert, men geht.10 Hinzu kommt im digitalen Strukturwandel es ist schließlich ihr Kerngeschäft, uns auf diese Weise eine gewisse Zeitsensibilität von Anonymität: Durch Werbung zu zeigen. Und der Staat hat – in Deutsch- die ständige Ansammlung von Daten und deren Ver- land nur mittels richterlichem Beschluss – Zugriff auf fügbarkeit lösen sich digitale Interaktionen nicht mehr Verbindungsdaten und so die Möglichkeit, unseren auf, sondern bleiben nachvollziehbar11 und so kann PC-Zugriff auf das Internet mit uns als NutzerIn in sich durch eine spätere Verknüpfung oder Auswertung Verbindung zu bringen. Die Telekommunikationsan- von Daten eine vormals bestandene Anonymität im bieter sind in diesem Bild also so etwas, wie die Augen Nachhinein auflösen und die anonymen Daten können der PolizistInnen, die meinen Ausweis lesen. Gleich- einer Identität zugeordnet werden.12 zeitig ist die vertikale De-Anonymisierung im digitalen Raum schwieriger als man denken mag, was die Tiefe 7 Vgl. Brodnig 2013, S. 71 f. des Darknets und die vielen strafrechtlich relevanten 8 Vgl. Matzner 2016, S. 248. Kommunikationen zeigen, die kaum verfolgt werden 9 Vgl. Thiel 2017, S. 156. (können). 10 Vgl. Helm, Paula: Transparenz und Anonymität: Potentiale, Grenzen, Irrtümer. In: Forschungsjournal Soziale Bewegungen. Bd. 30, Nr. 2, 2017, S. 142–151. 11 Vgl. z.B.: Ulrike Meyer-Timpe: Das Internet vergisst nichts. 6 Vgl. Mayer-Schönberger, Viktor/Cukier, Kenneth: Big Data. In: Zeit online vom 02.08.2011. Online: https://www.zeit.de/zeit- Die Revolution, die unser Leben verändern wird. München: Redline wissen/2011/05/Internet-Daten-Ewigkeit (17.11.2018). 2013, S. 67–94. 12 Vgl. auch Matzner 2016, S. 249.
6 Was macht das Gefühl der Anonymität nun mit uns? Horizontale Anonymität im Netz kann wiederum auch Die eine These lautet, dass horizontale Anonymität zu einer Wahrhaftigkeit und Ehrlichkeit führen, die im zu einer sozialen und kommunikativen Enthemmung gesellschaftlichen Korsett moralischer Normen kaum führe,13 eben weil die Körperlichkeit des Gegenübers eine Chance hätte (man denke an heikle Themen wie verloren gehe und wir so vergäßen, dass der oder die z.B. Drogenkonsum): Anonymität befreit in diesem Andere ein realer Mensch aus Fleisch und Blut, mit Fall von Konventionen, ermöglicht Freiheit und ent- Herz und Seele ist – man erliegt der Illusion der ei- wickelt so eine soziale Funktion: In einer Situation genen Anonymität. Trolle nutzen diese scheinbare Na- ›sozialer Anonymität‹ kann von Statusmerkmalen der men- und Körperlosigkeit und entziehen sich so ihrer Individuen abstrahiert werden und eine Gruppeniden- Verantwortung, zum Gesagten bzw. Geposteten zu tität und -solidarität entstehen. Es wird möglich, den stehen. Juristische wie soziale Konsequenzen bleiben sozialen Status und mögliche soziale Machtbeziehun- häufig abstrakt. Wenn nun allerdings Anonymität in gen des Gegenübers außen vor zu lassen. Anonymität vertikaler Hinsicht tatsächlich aufgelöst wird und die wirkt dann als Mechanismus der ›Egalisierung‹.15 Polizei Strafbefehl wegen Beleidigung oder Volksver- hetzung erlässt, wird die bloße Illusion von Anonymi- Wie bisher deutlich wurde, ist der Begriff der tät deutlich. Anonymität komplex und erweitert durch den digita- len Strukturwandel seine Bedeutungen und Dimensi- Anonymität kann auch ein Gefühl der Unsichtbarkeit onen: Sie ermöglicht das Gefühl, handeln zu können, vermitteln, das einen der Verantwortung entzieht und ohne Konsequenzen fürchten zu müssen, also ohne daher zu verbotenem Verhalten verleiten mag. Diese Verantwortlichkeit. So entsteht eine Asymmetrie zwi- Vorstellung hat bereits Platon ausgeführt, wenn er die schen namenlosen KommunikationspartnerInnen und Legende vom Hirten Gyges erzählt, der durch einen solchen, deren Identität offen liegt. magischen Ring am Finger unsichtbar werden kann, sodann Verbrechen zu seinen eigenen Gunsten begeht Perspektiven auf Anonymität und Privatheit und so schließlich zum König wird.14 Der Ring verleiht im Kontext der Digitalisierung Gyges gewissermaßen eine vertikale Anonymität, da er durch die Fähigkeit zur punktuellen Unsichtbar- keit nicht verfolgbar ist. Aber auch die Anonymität als Findet eine Erörterung von Anonymität im Kontext der Normalfall auf horizontaler Ebene ist elementar für Privatheitsforschung statt, wird teilweise kritisiert, dass das Funktionieren dieses Tricks, da so kaum einer den eine solche Perspektive die Spezifika von Anonymität Betrug, den er mit dem Ring begeht, bemerken kann. unterschlage: Zum einen werde Anonymität lediglich als Bedingung für die Herstellung informationeller Pri- vatheit verstanden,16 zum anderen sei ihre Wirkung auf 13 Vgl. Thiel 2017, S. 156. 15 Vgl. Helm 2017, S. 145. 14 Vgl. Platon: Politeia. Buch 2, Rn. 358e–360d. Online: http:// 16 Vgl. Ponesse, Julie: The Ties That Blind: Conceptualizing An- www.opera-platonis.de/Politeia2.pdf (17.11.2018). onymity. In: Journal of Social Philosophy. Bd. 45, Nr. 3, 2014, S. 305.
7 die Ebene des Individuums reduziert, weshalb die Be- menhang zum Teil so verstanden, dass sie in einer Welt sonderheiten des Anonymitätsbegriffes sowie dessen der Überwachung zu einem Gegenrecht wird, das es gesamtgesellschaftliche Relevanz nicht ausreichend ermöglicht, eine neue demokratische Rechtsordnung gewürdigt würden.17 Nachdem nun im folgenden Ab- von anonymen Weltbürgern ohne Staat zu konstituie- schnitt verschiedene Aspekte aufgezeigt werden, wie ren.19 Anonymität im Zusammenhang mit demokratietheo- retischen Perspektiven im Kontext der Digitalisierung Entgegen dieser These wird jedoch auch kritisiert, dass verstanden werden kann, wird die Schnittstelle von sich anonyme Personen ihrer individuellen und de- Privatheit und Anonymität näher diskutiert. mokratischen Verantwortung entziehen könnten und Anonymität insgesamt zu einem Recht verklärt werde, Im Kontext der Digitalisierung wird Anonymität dessen demokratische Legitimation angezweifelt wer- schnell mit dem Internetphänomen ›Anonymous‹ in den müsse. Versuche von Anonymous, Legitimation in Verbindung gebracht, welches den Begriff ›anonym‹ Verbindung mit einer Bezugnahme auf die Weltbevöl- im eigenen Namen für sich beansprucht. Das Pseud- kerung zu gewinnen,20 blieben politisch resonanz- und onym Anonymous wird in der Netzkultur von unter- folgenlos. Der Verweis auf eine schweigende Mehrheit schiedlichen Personen und Gruppierungen verwendet. ermögliche keine demokratische Legitimation und etli- Demnach handelt es sich bei Anonymous um eine lose che offene Fragen21, etwa danach wie eine Demokratie, Verbindung von InternetnutzerInnen. Neben öffentli- die aus anonymen Weltbürgen besteht, aussehen könn- chen Demonstrationen wird eine neue Form des poli- te, blieben unbeantwortet. Deshalb führe Anonymität tischen Aktivismus genutzt, welche als ›Hacktivismus‹ im Endeffekt zu einer politischen Selbstermächtigung, bezeichnet wird, um verschiedene Ziele zu erreichen. rechtliche Grenzen zu überschreiten, wodurch in die Anonymous setzt sich z.B. für Redefreiheit, die Unab- Rechte identifizierbarer BürgerInnen eingegriffen hängigkeit des Internets und gegen das Urheberrecht werde und demokratische Institutionen beschädigt ein. Die Aktionen richteten sich bisher gegen diverse würden. Eine Ansammlung anonymer Personen er- Organisationen, Behörden und Unternehmen.18 mögliche somit keineswegs die Konstitution eines de- mokratischen Verfassungsstaates.22 In Zusammenhang mit Diskursen zum Hacktivismus wird das ambivalente Anonymitätsverständnis inner- Aus einer anderen Perspektive wird die Politisierung halb der Gesellschaft im digitalen Zeitalter in Bezug von Anonymität im Kontext des digitalen Struktur- auf die liberale Demokratie erneut offensichtlich: Ei- wandels durch einen demokratietheoretischen An- nerseits wird argumentiert, dass Anonymität, wie sie satz wie bspw. den von Thorsten Thiel thematisiert, in durch die Digitalisierung ermöglicht wird, eine Umver- dem die kommunikative Bedeutung von Anonymität teilung des Rederechts fördere, da sich die Zugangsbe- dingungen zur Demokratie vereinfachten, indem die 19 Vgl. de Lagasnerie, Geoffroy: Die Kunst der Revolte. Snowden, Idee aufgelöst werde, dass Politik die Handelnden et- Assange, Manning. Berlin: Suhrkamp 2016, S. 98, 140–148. Vgl. was kosten müsse. Anonymität wird in diesem Zusam- dazu auch: Kersten, Jens: Anonymität in der liberalen Demokratie. In: JuS. Nr. 3, 2017, S. 193–203, hier S. 194. 17 Vgl. Thiel 2017, S. 156 f. 20 Vgl. Bardeau, Frédéric/Danet, Nicolas: Anonymous. Münster: 18 Vgl. dazu vertiefend: Wiedemann, Carolin: Kritische Kollekti- Unrast Verlag 2002, S. 68, 100, 156. vität im Netz. Anonymous, Facebook und die Kraft der Affizierung in 21 Vgl. Kersten 2017, S. 194. der Kontrollgesellschaft. Bielefeld: Transcript Verlag 2016. 22 Vgl. Kersten 2017, S. 194.
8 in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts mit dem Versammlungsfreiheit gewährleiste als auch zugleich Stellenwert von Anonymität in einer digital vernetzten demokratische Legitimation, z.B. durch geheime Wah- Gesellschaft verglichen wird. Um die normative Wer- len, sichere. Anonymität sei somit grundsätzlich von tigkeit von Anonymität zu ermitteln, wählt Thiel die positiver Bedeutung für die Demokratie.26 moderne republikanische Theorie und stellt die Bedeu- tung von Anonymität für die demokratische Gesell- schaft anhand der bereits erwähnten horizontalen und Anonymität als informationelle Privatheit im vertikalen Dimensionen heraus. Vor dem Hintergrund öffentlichen Raum der Digitalisierung konstatiert er, dass sich Identifi- kationspflichten massiv ausgeweitet hätten und Iden- Einige Ansätze sprechen sich aus den oben genannten tifizierungsmöglichkeiten enorm gewachsen seien. Gründen gegen eine Verknüpfung von Anonymität Anonymität müsse nun bewusst erzeugt und könne und Privatheit aus, dennoch wird die Bedeutung von nicht mehr als selbstverständlich wahrgenommen wer- Anonymität für die Demokratie auch in der Privat- den.23 heitsforschung diskutiert. Die Überschneidungen von Anonymität und Privatheit stellt Beate Rössler bereits Von diesem Standpunkt wird die Bedeutung von An- in einem Beitrag aus dem Jahr 2003 heraus.27 Aus ihrer onymität für die liberale Demokratie im Lichte des Perspektive werden Zusammenhänge insbesondere bei digitalen Strukturwandels insgesamt so gewertet, der informationellen Ausprägung von Privatheit28 deut- dass Anonymität trotz ihrer Ambivalenz ein wichtiges lich. Der Schutz ›informationeller Privatheit‹ meint, Strukturmerkmal demokratischer Öffentlichkeit sei.24 die Kontrolle darüber zu haben, was andere über die ei- Um Anonymität aus demokratietheoretischer Perspek- gene Person wissen können. Dieser Aspekt beschränkt tive auch weiterhin in der digitalisierten Gesellschaft sich nicht nur auf datenschutzrechtliche Informations- aufrecht zu erhalten, sei es notwendig, dass bei der Re- kontrolle, sondern ist für das grundsätzliche Selbstver- gulierung von Anonymität eine ausgewogene Berück- ständnis von Personen als autonom konstitutiv, da nur sichtigung von Recht, Politik, Markt, sozialen Normen so die Kontrolle über deren Selbstdarstellung gewahrt und Code-Architektur stattfinde.25 werden kann. Personen müssen wissen, was andere über die eigene Person wissen, damit sie ihr Handeln Anknüpfend an Thiel erörtert Jens Kersten aus juris- daran ausrichten oder sich dementsprechend verhalten tischer Perspektive die Bedeutung von Anonymität in können. Der Anonymitätsaspekt ist dabei nach Röss- der liberalen Demokratie und geht dabei insbesondere ler wesentlich für die Kontrolle darüber, wie Personen auf die Steuerungsfähigkeit des Rechts in Zusammen- sich wem gegenüber in welchen Kontexten präsentie- hang mit der Politisierung von Anonymität ein. Es ren und inszenieren und somit auch substanziell für wird auch hier aufgezeigt, dass Anonymität als zent- die Wahrung informationeller Privatheit. Somit kann raler Baustein des liberalen Verfassungsstaates sowohl 26 Vgl. Kersten 2017, S. 203. grundrechtliche Freiheiten wie z.B. Meinungs- und 27 Vgl. Rössler, Beate: Anonymität und Privatheit. In: Bäumler, Helmut/Mutius, Albert von (Hg.): Anonymität im Internet. Grundla- 23 Vgl. Thiel 2017, S. 152–161. gen, Methoden und Tools zur Realisierung eines Grundrechts. Wies- 24 Vgl. Thiel, Thorsten: Anonymität und der digitale Struktur- baden: Vieweg 2003, S. 27–40. wandel der Öffentlichkeit. In: Zeitschrift für Menschenrechte. Nr. 10 28 Vertiefend zum Begriff der informationellen Privatheit: Röss- (1), 2016, S. 9–24. ler, Beate: Der Wert des Privaten. Frankfurt am Main: Suhrkamp 25 Vgl. Thiel 2017, S. 159. 2001, S. 201–254.
9 Anonymität als Ausprägung informationeller Privat- duelle und die kollektive Ebene sind in diesem Bezugs- heit im öffentlichen Raum verstanden werden, die rahmen direkt miteinander verwoben. durch kognitive Asymmetrien, also die Verletzung von Erwartungen über das Wissen, welches Andere über die eigene Person haben, gefährdet wird. Die Gefahr Anonymität in ›Blind‹ von kognitiven Asymmetrien wird gesteigert, wenn üblicherweise freiheitssichernde Konventionen, z.B. Wie sich die Schnittstelle von Anonymität und Pri- das grundsätzliche Vorhandensein von Anonymität in vatheit im digitalen Strukturwandel konkret von ei- der Offline-Gesellschaft, durch den Gebrauch neuer ner individuellen auf eine kollektive Ebene auswirken Technologien in Frage gestellt werden.29 kann, wird aktuell anhand der App Blind deutlich, die anonyme Kommunikation innerhalb von Unternehmen Vor diesem Hintergrund lässt sich ein Zusammen- ermöglicht und sich derzeit in den USA und in Südko- hang zwischen Anonymität, Privatheit, individueller rea großer Beliebtheit erfreut. Die Anonymität in Blind Freiheit und Autonomie generieren, der sich auf die ermöglicht einen freieren Austausch der Mitarbeiter- liberale Demokratie insgesamt auswirkt, da diese auf Innen untereinander, sodass Fehlentwicklungen und autonome und sich ihrer Autonomie bewusste Subjek- Beschwerden eher thematisiert werden können. te angewiesen ist. Privatheit ist funktional auf Freiheit Negative Konsequenzen der Äußerungen müssen nicht und Autonomie bezogen, weshalb sich auch Anonymi- befürchtet werden, da die Identität der jeweiligen Per- tät als informationelle Privatheit im öffentlichen Raum sonen geheim bleibt. Die Relevanz wird insbesondere nach Rössler unmittelbar auf die Stabilität und das bei Tabuthemen, wie bspw. dem Gehalt oder sexueller Gelingen liberaler Demokratie auswirkt.30 Anonymität Belästigung am Arbeitsplatz deutlich.31 kann somit nicht nur als Faktor angesehen werden, der sich lediglich auf das Individuum erstreckt. Die indivi- 31 Vgl. Rixecker, Kim: Blind: Diese anonyme App ist das Anti- 29 Vgl. Rössler 2003. Yammer. In: t3n 2018. Online: https://t3n.de/news/blind-diese- 30 Vgl. Rössler 2003, S. 39. anpnyme-app-ist-das-anti-yammer-1102454/ (05.10.2018). Ansicht der Blind-Homepage. Blind ermöglicht einen anonymen Austausch am Arbeitsplatz. Quelle: Teamblind.com (28.09.2018).
10 Bei der Anmeldung in Blind muss die berufliche E- tät als informationelle Privatheit im öffentlichen Raum Mail-Adresse angegeben werden, sodass NutzerInnen nicht losgelöst voneinander betrachtet werden sollten ihren jeweiligen Unternehmen zugeordnet werden und sich Anonymität aus der Perspektive der Privat- können. Sobald mindestens 30 MitarbeiterInnen eines heitsforschung unmittelbar auf die Gesellschaft aus- Unternehmens ein Blind-Konto besitzen, können sie wirken kann und in ihrer Wirkung keineswegs auf die sich anonym in einem Bereich über ihre Arbeit aus- Ebene des Individuums beschränkt sein muss. tauschen, der für die Öffentlichkeit nicht zugänglich ist. Ergänzend dazu existiert ein öffentlicher Bereich, Abschließend wird eine doppelte Ambivalenz von An- in dem sich anonyme MitarbeiterInnen über generelle onymität im Kontext des digitalen Strukturwandels Karrierethemen, Bezahlung oder andere arbeitsrele- besonders deutlich. Erstens ist das Gefühl der hori- vante Themen austauschen können.32 Auch in diesem zontalen Anonymität im Internet stark. Vertikale An- Bereich bleibt die Anonymität der NutzerInnen ge- onymität hingegen ist auflösbar, da bei computerver- währleistet, da einzig deren Zuordnung zu einem be- mittelter Kommunikation stets direkt oder indirekt auf stimmten Unternehmen öffentlich einsehbar ist, nicht die anfallenden Daten zugegriffen werden kann. Zwei- aber ihre Identität.33 tens oszillieren die Effekte der vermeintlich anonymen Kommunikation im Netz zwischen Troll und Teilhabe, Blind stärkt damit sowohl Aspekte horizontaler, als zwischen Enthemmung und Aufrichtigkeit. auch vertikaler Anonymität der Kommunikation. So bleiben MitarbeiterInnen auf horizontaler Ebene untereinander anonym, ebenso ist auch eine verti- kale Anonymität in Bezug auf die Identifizierbarkeit durch die ArbeitgeberInnen bzw. die Vorgesetzten gewährleistet. Informationelle Privatheit im digitalen öffentlichen Raum wird somit sichergestellt, da sich MitarbeiterInnen anonym in der digitalen Öffentlich- keit bewegen und dennoch am Diskurs teilhaben kön- nen. Weiterhin zeigt sich hier, dass Anonymitäts- und Privatheitsaspekte über die individuelle Ebene hinaus Wirkung entfalten, da bspw. Tabuthemen auf diese Weise überhaupt erst öffentlich thematisiert werden und auch nur auf dieser Ebene lösbar sind. Die einzige Schwachstelle in Bezug auf die vollständige Gewähr- leistung vertikaler Anonymität ist die Registrierung, bei der die berufliche E-Mail-Adresse als Selektionskri- terium benötigt wird, damit das Konzept der Plattform überhaupt funktioniert. Somit besteht die Möglichkeit kognitiver Asymmetrien, da einzelne Personen durch den Blind-Anbieter selbst identifiziert werden könn- ten. Neue Chancen durch Anonymität? Lea Watzinger Wissenschaftliche Mitarbeiterin Auch wenn Blind lediglich im beruflichen Kontext Ver- am DFG-Graduiertenkolleg »Pri- wendung findet, so wird hier auch exemplarisch der vatheit und Digitalisierung«. gesamtgesellschaftliche Wirkungsmechanismus an der Schnittstelle von Anonymität und Privatheit verdeut- licht. Obwohl die Möglichkeiten der Identifizierbar- keit durch digitale Technologien insgesamt gewach- sen sind, eröffnen dieselben auch neue Wege für den Schutz von Anonymität und können so Partizipation Patrick Herget und Demokratie stärken, sowohl in spezifischen Kon- texten, als auch für die gesamte Gesellschaft. Weiter- Wissenschaftlicher Mitarbeiter hin wird deutlich, dass die individuelle und kollektive am DFG-Graduiertenkolleg »Pri- gesellschaftliche Ebene bei der Analyse von Anonymi- vatheit und Digitalisierung«. 32 Vgl. Rixecker 2018. 33 Vgl. Teamblind: Most Frequently Asked Questions. Online: https://www.teamblind.com/faqs (11.10.2018).
11 Soziale Funktionen von Anonymität Warum nicht alles Fremde gleich eine Bedrohung darstellen muss von Anne Deremetz ›Anonymous‹, WikiLeaks und ›Hatespeech‹ sind Beispiele heutiger sozialer Phänomene, die im Anonymen ihren Ausdruck finden und denen das Potenzial zugeschrieben wird, die bisherige soziale Ordnung grund- legend verändern oder sogar destabilisieren zu können.
12 I m Internet wird vor dem Hintergrund der Zunah- me von Hasskommentaren und ›Shitstorms‹ die wachsende Gefahr von anonymen Posts diskutiert vidueller Ebene begegnet uns der, die oder das Fremde vor allem in Form der ›dritten Person‹, wie etwa in der bekannten Redewendung ›Wenn zwei sich streiten, und deren staatliche Kontrolle eingefordert. Das soge- freut sich der Dritte‹. Der tertius gaudens ist hier der nannte Netzwerkdurchsetzungsgesetz – NetzDG1 stellt Simmel’sche Fremde in Reinform. einen Versuch dar, die sozialen Netzwerke stärker in die Pflicht zu nehmen. Dem Anonymen werden damit Es stellt sich die Frage, welche Funktionen Anonymität gewisse Merkmale zugeschrieben wie beispielsweise, in Form des Fremden für heutige Gesellschaften über- dass Anonymität TäterInnen schützt oder dass man nimmt und ob sie unter Umständen dysfunktional für Straftaten durch den Schutz der Anonymität schwie- das gesellschaftliche Miteinander geworden ist. Um riger verfolgen kann. Der Grundgedanke ist, dass man dieser Fragestellung nachzugehen, sollen die Funktio- sich im Anonymen sicher genug fühlt, Gesetze und so- nen von Anonymität auf den eingangs beschriebenen ziale Regeln (z.B. die ›Netiquette‹) zu brechen. strukturellen Ebenen betrachtet werden. Anonymität kann zunächst elementar mit drei Merk- malen beschrieben werden: Eine Person oder Sache ist Gesellschaft, Gemeinschaft und das anonym, wenn er, sie oder es Anderen nicht bekannt postmoderne Individuum ist (Nichtbekanntsein), nicht erfahrbar in Erschei- nung tritt (Nichtgenanntsein) oder ohne Erkennbar- Gesellschaft und soziales Zusammenleben zusammen- keit und Zurechenbarkeit handelt (Namenlosigkeit).2 zudenken ist unmittelbar mit dem Namen Ferdinand Anonymität ist dabei nicht gleich Anonymität. Viel- Tönnies verbunden, prägte dieser doch in seiner Ha- mehr manifestiert sie sich abhängig von der struktu- bilitationsschrift Gemeinschaft und Gesellschaft von rellen Analyseebene. So kann man klassisch zwischen 1887 beide Begriffe und stellte sie als Oppositionspaar gesellschaftlicher (Makro-)Ebene, gemeinschaftlicher gegenüber.4 Nach Tönnies beruht ›Gesellschaft‹ auf ei- (Meso-)Ebene und individueller (Mikro-)Ebene un- nem ›Kürwillen‹, also auf »den zweckrationalen Wil- terscheiden. Anonymität nimmt in der jeweiligen be- lensakten der Subjekte, auf einem Zusammenwollen trachteten Ebene abhängig von den historischen Rah- des eigenen Vorteils wegen […]. ›Gemeinschaft‹ dage- menbedingungen je spezifische Funktionen und Rollen gen beruht darauf, dass die Betroffenen, der Idee nach, ein. Aus soziologischer Perspektive erinnert Anonymi- die umgreifende Lebensform gleichsam um ihrer selbst tät dabei an das Konzept des Simmel’schen ›Fremden‹ willen, als Selbstzweck auffassen […]«5. Tönnies spricht und wird in diesem Beitrag zunächst in einem über- hier von einem ›Wesenswillen‹. Gesellschaft dagegen tragenen Sinn gleichgesetzt.3 In seinem Exkurs über dient den Individuen zur systemischen Integration, den Fremden beschreibt Simmel dezidiert die Rollen also der Einpassung und Realisation gesellschaftlicher und Funktionen, die der, die oder das Fremde gesell- Prozesse in den Bereichen Politik, Wirtschaft usw. in schaftlich, für Gemeinschaften und auf individueller Form von Institutionalisierung und Habitualisierung Ebene einnehmen kann. So begegnet uns Fremdheit sozialer Praktiken. Für Tönnies bildet im klassischen auf gesellschaftlicher Ebene tagtäglich in Form von Sinne die Stadt oder der urbane Raum das Konzept der Menschen, die uns unbekannt sind (Nichtbekanntsein) Gesellschaft ab. und Praktiken, die wir keiner Person unmittelbar zu- ordnen können (Namenlosigkeit). Das Fremde ist hier Gemeinschaft wird bei Tönnies noch als ein »Oppo- ›normaler‹ Bestandteil von Gesellschaft. Auf gemein- sitionsbegriff gegen eine vom liberalen Fortschritts- schaftlicher Ebene fungiert der, die oder das Fremde gedanken getragene Auffassung der ›Gesellschaft‹«6 als das ›Andere‹, welches der Gemeinschaft nicht an- gedacht. Mit Gemeinschaft ist im Tönnies’schen Sinne gehört. Dieses übernimmt vor allem Ventilfunktionen vor allem das Dorf gemeint – also eine soziale Grup- und fungiert als Projektionsfläche von (meist negativ pierung, in der sich die AkteurInnen meist persönlich konnotierten) Eigenschaften, wie bspw. sich manifes- kennen und ihr Zusammenleben gemeinsam gestalten. tierenden Unsicherheiten und Ängsten der Gemein- Die Funktion der Gemeinschaft ist vor allem die Sozial- schaft. Xenophobie kann in diesem Zusammenhang inklusion, also das Einbetten des Individuums in per- als die konkrete gemeinschaftliche Auseinanderset- sönliche Verbundenheiten, das Einüben von sozialen zung mit dem Fremden verstanden werden. Auf indi- Rollen (Sozialisation), Normen und Regeln. Zugespitzt könnte man es so formulieren: In der Gesellschaft bin 1 Vgl. FAZ: Bundestag verabschiedet Gesetz gegen Hasskommen- ich eine von Vielen und als Kundin, Klientin oder Gast tare 2017. Online: http://www.faz.net/aktuell/politik/inland/bun- destag-verabschiedet-gesetz-gegen-hasskommentare-15084504. wahrnehmbar. In der Gemeinschaft erfahre ich Zuge- html (28.11.2018). 2 Vgl. Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik 4 Vgl. Tönnies, Ferdinand: Gemeinschaft und Gesellschaft. Darm- (BSI): Homepage 2018. Online: https://www.bsi.bund.de/DE/Pub- stadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1963, S. 3. likationen/Studien/Anonym/wasistanonymitaet.html (28.11.2018). 5 Bickel, Cornelius: Ferdinand Tönnies. In: Kaesler, Dirk (Hg.): 3 Vgl. Simmel, Georg: Exkurs über den Fremden. In: Ders.: Sozio- Klassiker der Soziologie. München: C.H. Beck 2006, S. 110. logie. Berlin: Duncker & Humblot 1983, S. 509–512. 6 Bickel 2006, S. 119.
13 hörigkeit, Geborgenheit, kann meine Identität heraus- Dieses Herausfallen aus einer stabilen und lebenslan- bilden und werde dabei als Person wahrgenommen. gen Institution diagnostiziert auch Zygmunt Bauman Sowohl Gesellschafts- als auch Gemeinschaftsfähigkeit als ein »Nicht-mehr-eingebettet-Sein«.9 Der Einzelne sind wesentliche Funktionen für soziales Miteinander erlebe sich nicht mehr in Gemeinschaft, sondern nur und bedingen sich gegenseitig. noch als losgelöstes Individuum. Dieser Umstand er- scheint Bauman als postmoderne Pathologie und las- Im zunehmenden Modernisierungsprozess scheint die se das »Bedürfnis nach Kleingemeinschaften, […], die Gemeinschaft gegenüber der Gesellschaft jedoch nicht eine ganzheitliche Lebenswelt, Überschaubarkeit, ein mehr diese komplementäre Rolle erfüllen zu können. personales Angenommensein versprechen«10, wie- Vielmehr scheint heutiges soziales Miteinander von der aufblühen. Der Begriff der Gemeinschaft erfährt einer zunehmenden Pluralisierung von Lebensformen, demnach wieder zunehmende Bedeutung, was z.B. in Werten und Normen beherrscht. Das gemeinschaftli- Strömungen wie dem Kommunitarismus11, wie auch che Prinzip weicht zugunsten der Individualisierung in postmodernen Überlegungen Ausdruck erfährt. auf und erodiert – der Gesellschaft wird somit im Zuge Die Postmoderne erzeugt ein gewisses Bedürfnis nach der Modernisierung zunehmend der Begriff des ›Indi- Ordnung und Struktur, welches heutigen Gesellschaf- viduums‹ entgegengestellt. Man kann den Prozess der ten anzuhaften scheint. Nach Bauman hätten sich Individualisierung insofern definieren, als er »struktu- heutige Gesellschaften daher »zur Erschaffung von rell gesehen […] die Herauslösung aus den Strukturen Ordnung verpflichtet, d.h. […] den Kampf gegen jedes der Industriegesellschaft, also aus ständisch geprägten Chaos, gegen jede Mehrdeutigkeit und jede Ambiva- Sozialmilieus und klassenkulturellen Lebensformen lenz aufgenommen.«12 [bedeutet].«7. Das Individuum befreit sich von gemein- schaftlichen Strukturen und agiert mehr oder weniger autonom und herausgelöst. Die Stabilität, die gemein- schaftliche Institutionen der sich ständig verändernden Gesellschaft entgegenzubringen vermochten, weicht nun einer selbst geschaffenen Instabilität. Die Zugehö- 9 Bauman, Zygmunt: The individualized Society. Cambridge: rigkeiten zu gemeinschaftlichen Gruppen büßten nach Polity Press 2001, S. 146. Gerd Nollmann und Hermann Strasser zunehmend an 10 Nave-Herz, Rosemarie: Die These über den »Zerfall der Familie«. In: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Orientierungskraft ein.8 Sonderheft 38, 1998, S. 307. 11 Dies meint die Betonung und Forderung eines stärkeren 7 Kron, Thomas/Horácek, Martin: Individualisierung. Bielefeld: Gemeinschaftsgefühls. transcript Verlag 2009, S. 131 f. 12 Kron, Thomas: Die Unordnung aushalten – Zygmunt Bau- 8 Vgl. Nollmann, Gerd/Strasser, Hermann: Das individualisierte mans Plädoyer für eine postmoderne Moral. In: Volkmann, Ute/ Ich in der modernen Gesellschaft. Frankfurt am Main: Campus Schimank, Uwe (Hg.): Soziologische Gegenwartsdiagnosen II. Verlag 2004, S. 15. Opladen: Leske + Budrich 2002, S. 217 f.
14 Anonymität in der Kontrollgesellschaft Im urbanen Raum ist Anonymität allerdings nicht nur möglich, sondern auch gefordert. Erst im Ano- Wenn wir heutzutage in einer Gesellschaft leben, in der nymen können Individuen dem Einzelnen gegenüber das Ziel vor allem im Schaffen von Ordnung und Si- gleichgültig und somit gleich gültig sein. Anonymität cherheit besteht, so scheint der Anonymität in Gestalt im urbanen Raum reduziert die Alltagskomplexität. des Fremden vermehrt ein dysfunktionaler Charakter Die Toleranz ist dementsprechend höher als im nicht- zugewiesen zu werden. Anonymität und Transparenz urbanen gemeinschaftlichen Raum. Erst im Gesell- können hierbei als Antagonismen betrachtet werden. schaftlichen können sich Strukturen herausbilden, in Transparenz scheint sich als eine Art postmodernes denen sich Individuen unabhängig(er) von sozialen Credo zu entwickeln, das Ordnung, Sicherheit und Sanktionen und sozialer Kontrolle entfalten können. Schutz verspricht, nicht zuletzt aufgrund einer immer Kreativität und Innovation können hier die Folge von weiter um sich greifenden Bedrohung durch Unsicher- Anonymität sein. Zwischenmenschliche Konflikte sind heiten und Risiken, die sich im Schutz der Anonymität allein schon deshalb vermeidbar, da man auf andere überhaupt erst formieren und dort gedeihen können. Örtlichkeiten und Kontexte ausweichen kann. Man In der Sicherheitsgesellschaft13 oder auch in Kontroll- ist in der Gesellschaft nicht dazu gezwungen, sich gesellschaften14 – je nachdem, welche Zeitgeistdiag- auseinanderzusetzen. Folglich ist Anonymität im Ge- nostik man präferiert – wird Anonymität zunehmend sellschaftlichen Garant für die individuelle Entfaltung. als Bedrohung der etablierten Ordnung erfahren: »Fol- Dadurch entstehen Freiheitsgrade, die in der Gemein- ge der modernen Vorgehensweise ist Intoleranz gegen- schaft, in der jeder jeden kennt, meist vermisst werden. über allem nicht der Ordnung Anpassbarem. An dieser Stelle muss man sich klar machen, dass es ›der Fremde‹ ist, durch den die Moderne sich in ihren Ordnungsbe- Anonymität auf gemeinschaftlicher Ebene mühungen bedroht sieht […] Der Fremde bedroht die Vergesellschaftung.«15 Im Gemeinschaftlichen ist der Grad an Anonymität deutlich herabgesetzt, womöglich sogar überhaupt Wie oben dargestellt, wird die soziale Funktion von An- nicht gegeben. Dadurch, dass im Extremfall jeder jeden onymität damit aber ebenso übersehen wie ihr essenzi- kennt, ist die Ordnung vor allem durch die Augen des eller Einfluss auf soziokulturelle Prozesse: Gesellschaft, Kollektivs garantiert. Soziale Kontrolle realisiert sich Gemeinschaft wie auch Individuen bedürfen der Ano- durch die Einbindung in die Gemeinschaft und durch nymität. Sie beinhaltet immer auch Freiheitsgrade und die (be-)urteilenden Blicke meiner Mitmenschen, die fungiert geradezu als Stabilisierung der vorherrschen- mich mehr oder weniger gut, aber immerhin kennen. den Ordnung. Ihre Funktion ist dabei vor allem die des Lege ich ein der hier gesetzten Norm abweichendes Ventils oder der Erleichterung zwischenmenschlicher Verhalten an den Tag, werde ich positiv oder negativ Spannungen. sanktioniert, da diese Tat unmittelbar Einfluss auf die Gemeinschaft hat. Anonymität auf gesellschaftlicher Ebene Dennoch ist Anonymität auch für das Funktionieren von Gemeinschaften unabdingbar. Auch hier begegnet Nach dem Tönnies’schen Denken zeigt sich das gesell- uns Anonymität vor allem in Form des Fremden. Der, schaftliche Prinzip vor allem in urbanen Strukturen: die oder das Fremde als das der Gemeinschaft nicht an- die Stadt als Sinnbild von Gesellschaft, in der unzähli- gehörende Prinzip hat einen wesentlichen Einfluss auf ge Menschen tagtäglich miteinander interagieren und die Sozialdynamik. Es kann eine neutrale oder media- in der man sich dennoch fremd ist oder sein kann. Der torische Funktion für die Gemeinschaft übernehmen Grad an Anonymität im urbanen Raum ist schon al- und somit als Ventil für gemeinschaftlichen Unmut lein aufgrund der nicht mehr zu überblickenden Zahl dienen. Dem Fremden werden die Missstände ausge- an Menschen entsprechend hoch, die soziale Kontrolle plaudert, es wird sich beschwert und Luft gemacht. Mit durch Andere ist reduziert und wird durch systemische guter Gewissheit vertraut man den Fremden die Ab- Kontrolle – bspw. durch die technische Überwachung gründe gemeinschaftlichen Zusammenlebens an, denn des öffentlichen Raums – substituiert. Nicht mehr die die Fremden befinden sich außerhalb der gemein- Nachbarschaft, die man womöglich gar nicht kennt, schaftlichen Strukturen und unterliegen daher weder lässt einen die Normen einhalten, vielmehr zählt die ihren sozialen Normen noch ihrer sozialen Kontrolle. Hausordnung oder der Wunsch der EigentümerInnen. Das Anonyme und das Fremde sind für Gemeinschaf- ten konstituierend, stabilisierend und stärken zugleich 13 Vgl. Singelnstein, Tobias/Stolle, Peer: Die Sicherheitsgesell- die interne Verbundenheit der Gemeinschaft. schaft. Wiesbaden: Springer VS 2008. 14 Vgl. Deleuze, Gilles: Postskriptum über die Kontrollgesell- schaften. Kriminologische Grundlagentexte. Wiesbaden: Springer VS 2016, S. 345–352. 15 Kron 2002, S. 219.
15 Anonymität auf interindividueller Ebene Potenzial für Kreativität und gesellschaftliche Innova- tion. Hier können Gedanken geäußert werden, die man Auch auf individueller Ebene ist Anonymität oder das im gemeinschaftlichen Kontext aus Angst vor sozialen Fremde durchaus ein wesentlicher Bestandteil sozialer Sanktionen womöglich nicht offenbart. Interaktionen. Das kann die Offenheit in einem Chat sein, das kann aber auch die katholische Beichte, der Anruf bei einem Hilfetelefon oder schlicht die Hand- Das Anonyme aushalten können: lungsreisende sein, die der Barkeeperin ihr Herz aus- Ein Plädoyer schüttet, um am nächsten Tag – geradezu erleichtert – an einen neuen Ort aufzubrechen. Diese Beicht- oder In heutigen pluralistischen, liberalen Gesellschaften Geständnisfunktion ähnelt dem, was Foucault unter gehören Anonymität und das Fremde zum Alltag, dem Begriff ›Pastoralmacht‹ beschreibt.16 Sie gleicht sind sogar untrennbar mit sozialen Strukturen ver- der Ventilfunktion des Fremden auf gemeinschaftli- knüpft. Anonymität bringt prinzipiell Freiheitsgrade cher Ebene. Im interindividuellen Moment dieser In- für Gesellschaften und ist somit für gesellschaftlichen teraktion wird jedoch ein Grad an Intimität erreicht, Wandel unabdingbar. In der Gemeinschaft kann die der auf gemeinschaftlicher Ebene womöglich nur ver- soziale Interaktion mit dem Anonymen in Form des einzelt vorkommt. Hier erfährt das Individuum durch Fremden das Wir-Gefühl stärken und zu mehr sozia- Anonymität die Möglichkeit, (ehrliche) Aussagen zu ler Verbundenheit und Solidarität führen. Auch in der treffen, für die es in der Gemeinschaft sanktioniert interindividuellen Begegnung kann Anonymität wie werden würde. Im interindividuellen, anonymen Mo- ausgeführt als funktional betrachtet werden. ment erfährt das Individuum den nötigen Schutz vor sozialer Kontrolle, den es benötigt, um Ehrlichkeit zu Doch was passiert, wenn sich im Zuge der sich zu- wagen. Das Geständnis entlastet das Individuum von nehmend formierenden Sicherheits- oder Kontroll- sozialem Druck und ermöglicht Unkonventionalität. gesellschaften Ordnung und Sicherheit als wesentli- Im anonymen und sanktionsfrei(er)en Raum liegt das che Prinzipien etablieren, die das Anonyme und das Fremde als potenzielle Bedrohung wahrnehmen? Vor 16 Foucault beschreibt die Pastoralmacht bzw. den Geständnis- allem Gemeinschaften sehen im Begriff der Anonymi- zwang am Beispiel der Diskursivierung von Sexualität. Vgl. hierzu: tät ein Risiko für die bestehende Ordnung und fordern Foucault, Michel: Sexualität und Wahrheit. Der Wille zum Wissen. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1977, S. 38; Vgl. Hillebrandt, Frank: gleichwohl deren Kontrolle mittels Transparenz und Die Disziplinargesellschaft. In: Kneer, Georg/Nassehi, Armin/ Überwachung. Eine Überhöhung gemeinschaftlicher Schroer, Markus (Hg.): Soziologische Gesellschaftsbegriffe. Konzep- Prinzipien auf gesellschaftlicher Ebene bspw. durch die te moderner Zeitdiagnosen. München: Fink Verlag 1997, S. 121.
16 Forderung nach mehr staatlicher Kontrolle oder mehr schaftlichen Miteinander ergibt, denn die »Hoffnung technischer Überwachung gesellschaftlicher Räume auf Rückkehr zum entkomplizierten Urleben, auf Wie- zur Reduzierung von Anonymität birgt jedoch syste- dergewinnung des Gemeinschaftsfriedens ist trüge- mische Gefahren. risch, ein Symptom jener schlechten Zwiespältigkeit der neuen Welt.«19. So ist der Ruf nach mehr Transpa- In seiner Monografie Grenzen der Gemeinschaft weist renz, nach mehr Ordnung auf gemeinschaftlicher Ebe- Plessner 1930 bereits vor der ›Machtergreifung‹ der ne womöglich gerechtfertigt, deren Realisierung auf Nationalsozialisten und dem daraus entstehenden gesellschaftlicher Ebene jedoch kritisch zu betrachten. totalitären System in Deutschland auf die Gefahren Es stellt sich doch eher die Frage, ob heutige Gesell- hin, die sich aus einer übermächtigen Gemeinschaft- schaften nicht lernen sollten, Unordnung auszuhal- sideologie und -bewegung ergeben können. Gemein- ten.20 Durch Anonymität, durch das Fremde können schaft deutet Plessner »verständlich als Ideologie der Unsicherheit, Unordnung, aber eben auch Kreativität Ausgeschlossenen, Enttäuschten und Wartenden […], entstehen. Nur im Zulassen des Anonymen und des gerechtfertigt als Protest der unter Großstadt, Maschi- Fremden besteht die Freiheit, sanktionsfrei zu denken nentum und Entwurzelung Leidenden, entfaltet das und zu handeln. Anonymität muss daher als unabding- Idol der Gemeinschaft seine Anziehungskraft auf die bare Errungenschaft freier Gesellschaften gelten – so- Schwachen dieser Welt«17. wohl für gesellschaftliche als auch für gemeinschaftli- che und interindividuelle Handlungen. Sehnsucht und Überbetonung nach Gemeinschaft er- weist sich als wiederkehrendes historisches Prinzip in vermeintlichen gesellschaftlichen Übergangsphasen, in denen dann die Forderungen nach Sicherheit, Kontrol- le und Ordnung lauter werden. Es ist eine konservativ ausgerichtete Denkweise, die auch als Entschleunigung eines oft als zu schnell empfundenen sozialen Wandels fungiert. Eine Sehnsucht nach Gemeinschaft dient in heutigen Gesellschaften vor allem dazu, Ordnung und Sicherheit wiederherzustellen. Es ist zunächst der Ver- such, mit Unsicherheit umzugehen. Oft wird dann das Fremde als Bedrohung identifiziert und übernimmt dabei die Rolle des ›Sündenbocks‹. An ihm laden sich die gemeinschaftlichen Spannungen ab. Der Ursprung gemeinschaftlicher Aufstände und Unruhen wird dann den Fremden zugeschrieben.18 Der, die oder das Fremde bleibt dabei reine Projekti- onsfläche für die Gemeinschaft. Heutzutage sind es bspw. Geflüchtete, die als Gruppe anonym und fremd wahrgenommen werden und somit eine vermeintlich ungeordnete Bedrohung darstellen. Auf individueller Ebene jedoch werden sie als zuordenbare, mir bekann- te Personen identifizierbar und plötzlich nicht mehr als Bedrohung wahrgenommen. In ähnlicher Weise wie das Fremde als Bedrohung erscheint, wird auch Anonymität bspw. im Internet als Problem der Unord- nung diskursiviert, wie etwa im Falle des sog. Darknets 19 Plessner 2001, S. 25. oder im Diskurs um das Netzwerkdurchsetzungsgesetz. 20 Vgl. Kron 2002. Im Anonymen des Internets findet sich eine Projekti- onsfläche für die Funktion des ›Sündenbocks‹ heutiger Kontrollgesellschaften. Anne Deremetz Insgesamt ist infrage zu stellen, ob Gesellschaften auf zunehmende Unsicherheit mit mehr Sicherheits- und Wissenschaftliche Mitarbeiterin Kontrollbestrebungen reagieren sollten, oder ob sich am DFG-Graduiertenkolleg »Pri- nicht gerade dadurch eine Dysfunktionalität im gesell- vatheit und Digitalisierung«. 17 Plessner, Helmut: Grenzen der Gemeinschaft. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2001, S. 28. 18 Vgl. Simmel 1983, S. 510 f.
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