Bedeutung und Umsetzung eines stress- und traumasensiblen Ansatzes STA für Gesundheitsfachpersonen
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Bedeutung und Umsetzung eines stress- und traumasensiblen Ansatzes STA® für Gesundheitsfachpersonen 4. Fachtagung Geburtshilfe: Perinatale Versorgung von Frauen und Kindern nach Flucht und Migration 15.Juni 2018 Bern Maria Zemp, Körperpsychotherapie (HP), Coach, Traumafachberatung u.a. für medica mondiale e.V. Köln
Überblick zum Vortrag Hintergrund medica mondiale Welchen Belastungen sind geflüchtete Frauen ausgesetzt? Geschlechtsbasierte Gewalt und Traumatische Erfahrungen: Folgen in der Geburtshilfe Grundprinzipien der Stress- und Traumasensibilität
medica mondiale: Feministische Frauenrechts- und Hilfsorganisation medica mondiale 1993 - 2016 Köln Gründung: 1993: Gynäkologin Monika Hauser gemeinsam mit bosnischen Psychologinnen und Ärztinnen in Zenica Aufbau nachhaltiger, multidisziplinärer Unterstützungsstrukturen in Kriegs- und Krisengebieten Hilfe zur Selbsthilfe medica Zenica (1993), medica Tirana (1999), medica Kosova (1999), Medica Afghanistan (2002), medica Liberia (2006)
Im Fokus: Frauen und Mädchen, die im Krieg vergewaltigt wurden oder andere Formen sexualisierter Gewalt erlebt haben
Kern-Problematik vor Ort, u.a. Afghanistan, Irak, Syrien sexualisierte Gewalt ist hoch stigmatisiert und tabuisiert – auch bei Fachpersonal Überlebenden wird oft die Schuld gegeben sie laufen Gefahr, verstoßen oder umgebracht zu werden, die Familie ist mit betroffen Stigmatisierung von psychologischen Beratungsangeboten Frauen schweigen, Zugang zu Hilfsangeboten schwierig, häufig isoliert
Spezifische Belastungen geflüchteter Frauen und Mädchen viele geflüchtete Frauen und Mädchen (u.UMF) haben geschlechtsbasierte Gewalt erfahren: im Herkunftsland, auf der Flucht, in Deutschland… Verfolgung aufgrund sexueller Orientierung Übergriffe durch Sicherheitskräfte in Unterkünften
Beispiel: Sexualisierte Gewalt in Syrien systematische Vergewaltigungen in Gefängnissen & an Checkpoints punktuell Massenvergewaltigungen bei Militäreinsätzen Vergewaltigung zur politischen Erpressung Sexuelle Versklavung in Privathäusern Allgemeiner Anstieg der häuslichen und innerfamiliären Gewalt Sexualisierte Gewalt als Terror-Instrument (sog. IS)
Spezifische Belastungen geflüchteter Frauen Risiko Sequentielle traumatische Erfahrungen solange Aufenthaltsstatus nicht gesichert ist Verlust der Selbstkompetenz, des familiären Umfeldes Abhängigkeit und Ohnmachtsgefühle Grundlegende Verunsicherung, Gefühle von „Anders-sein“ durch Traumafolgen verstärkt Unsichere Zukunftsperspektiven Diskriminierungserfahrungen Bedrohung durch rechte GewalttäterInnen
Prävalenz Geschlechtsbasierte Gewalt - GBG - in Europa www.hilfetelefon.de/gewalt-gegen-frauen.de Siehe auch WHO Studie und Leitlinien zur Gesundheitsversorgung 2018
Prävalenz GBG in der Schweiz 2016 starben 19 Menschen infolge häuslicher Gewalt 95% waren Frauen, mehr als die Hälfte der vollzogenen Tötungsdelikten ereigneten sich in bestehenden Partnerschaften, 90% der Beschuldigten waren Männer.
„Binnenvertriebene“ Frauen und Kinder in der Schweiz 1048 Frauen und Kinder flüchteten 2013 in Frauenhäuser www.disg-lu.ch
Folgen von Gewalt Physisch Rechtlich Seelisch Ökonomisch Sozial
Entwicklung von Zugangsstrategien notwendig Gesundheitsfachkräfte ausbilden im Umgang mit geschlechtsspezifischer Gewalt, Flucht/Migration, Trauma (Beispiel: Schulungen Stress- und Traumasensible Haltung Hebammenverband Deutschland DHV) Enge Zusammenarbeit etablieren zwischen ÄrztInnen, psychologischer Beratung, Sozialarbeit und Rechtsberatung – auch mit Ehrenamt/Aktivistinnen Aufsuchende Angebote schaffen (u.a. Gesundheitsaufklärung) Peer-to-peer Unterstützung fördern
Trauma- eine psychophysiologische Überlebensreaktion Plötzlich ist nichts mehr wie es war!
Schematische Einteilung traumatischer Ereignisse (modifiziert nach Maercker, 2009) Typ I – Traumata Typ II – Traumata (einmalig/kurzfristig) (mehrfach/langfristig) Akzidentielle schwere Verkehrsunfälle, lang andauernde Traumata berufsbedingte Traumata Katastrophen (z.B. Polizei, Feuerwehr), (Erdbeben, kurz dauernde Katastrophen Überschwemmung), technische Katastrophen Interpersonelle sexuelle Übergriffe, sexualisisierte und Traumata kriminelle und körperliche körperliche Gewalt/ “human made” Gewalt, Missbrauch in der Kindheit ziviles Gewalterleben bzw. im Erwachsenenalter, (z.B. Banküberfall) Kriegserleben, Geiselhaft, Sozialpolitische Folter, politische Zerstörungsprozesse Inhaftierung Verletzung der Menschen- Frauen- und Kinder Rechte
Traumatische Sequenz dauert an, solange Aufenthalt unsicher / befristet ist und soziale Inklusion nur mangelhaft nach DEZA, 2006
Fragmentierte Erinnerung TRAUMATISCHES EREIGNIS Emotionen Bilder G Gedanken Töne Geruch Geschmack Körperempfindungen
Post-Traumatische Zustände Belastende Erinnerungen Übererregung: drängen ins Vorbereitet sein Bewusstsein: auf Gefahr Versuch einer Integration Erinnerung vermeiden: „Vergessen“ wollen und abstumpfen Posttraumatische Symptome stellen Bewältigungs- versuche des Organismus dar!
Spezifische Folgen sexualisierter Gewalt Hohe Rate an gleichzeitigen psychischen Problematiken: PTBS, Depression, Angststörung, Alkoholabhängigkeit, Suizidalität, Ess-Störung bzw. komplexe Belastungsstörung Häufig anhaltend veränderte Beziehung zum eigenen Körper (Ekel, Ablehnung des eigenen Körpers, Waschzwang) Veränderung des Selbst- und Weltbildes (Selbstabwertung, Scham) und der Beziehungsfähigkeit, vor allem im Hinblick auf Partnerschaft und Intimität
Folgen, relevant für professionelle Beziehungsführung I Misstrauen insbes. geg. Autoritätspersonen Schwierigkeiten, eigene Grenzen zu spüren und Grenzen der anderen zu erkennen und zu respektieren Schamgefühle aufgrund der „Schande“ Schwierigkeiten, um Hilfe zu bitten und Hilfe anzunehmen
Folgen, relevant für professionelle Beziehungsführung II Hyperviglianz und dadurch eingeschränkte Kommunikations- und Beziehungsfähigkeit Angst vor Kontrollverlust , Kontrollverhalten Apathie: „alles ist sinnlos“, „bei mir hilft gar nichts“
Vielfältige Auswirkungen auf Wochenbett Bindungskompetenz, (Transkultureller Kontext!!!) Transgenerationale Folgen heilen-blog.de
Wie erhalte ich Hinweise auf sexualisierte Gewalt? Durch Befragung / Anamnese Informationen über aktuelle Lebenssituation, Herkunftsland, Fluchtgeschichte Red flags: Bsp. Schmerzen vaginale Untersuchung Verhalten beobachten Beobachtung von auffälligen Reaktionen und Verhaltensweisen Übertragungsreaktionen der Behandelnden: Ärger, Rettungsimpuls, Ekel, Abwehr, Gefühllosigkeit, etc.
Herausforderungen in der Betreuung Widerstand gegen oder panische Angst vor vaginaler Untersuchungen und med. Verordnungen: Abwehrspannung bis hin zur Bewusstlosigkeit Panik vor Kontrollverlust, Bsp. Körperliche Abwehr beim legen einer PDA trotz Einwilligung Wegdriften und Kontaktabbruch (Dissoziation) Nachdrückliche Präferenz einer bestimmten Hebamme, Ablehnung männlicher GH, Konflikthafte Betreuung, Spaltungsdynamik
Der stress- und traumasensible Ansatz (STA) von medica mondiale Warum ein solcher Ansatz? Was ist der STA®? Wie setzen wir ihn um?
WARUM ein stress- und traumasensibler Ansatz? I Wahrscheinlichkeit von Traumafolgereaktionen nach Vergewaltigungen/Krieg ist hoch (>50%) Traumatische Sequenzen dauern ev. an Zerstörung der Würde, von sozialen Beziehungen und emotionaler Gesundheit Gesellschaftliche Anerkennung der Gewalt fehlt Solidarische Unterstützung im sozialen Umfeld und empathische professionelle Unterstützung essentiell
WARUM ein stress- und traumasensibler Ansatz STA®? II Hohes Risiko für Retraumatisierung von Überlebenden (u.a. während d. Gesundheitsversorgung, Presse-Interviews, Gerichts- Asylverfahren, Traumatherapie) Hohes Stressniveau und eigene Gewalt- und Traumaerfahrungen von Personal Stress- und Traumadynamiken wirken auch auf Institutionen und Teams ZIEL STA: Stärkung der Handlungsfähigkeit / Selbstkompetenz von Überlebenden, Personal und Organisationen / Einrichtungen
WAS ist der stress- und traumasensible Ansatz STA®? Grundprinzipien der Stress- und Traumasensibilität geben eine handlungsleitende Orientierung zusätzlichen Stress für Überlebende vermeiden Reaktivierung von Traumasymptomen vorbeugen Wiederherstellung von Kontrolle und Selbstwirksamkeit Stabilisierung und Stärkung von Betroffenen UND Fachkräften Professionelle Handlungskompetenz für Fachkräfte Kein klinisch-therapeutischer Fokus Umsetzung in verschiedenen Arbeitsfeldern möglich
UMSETZUNG Stress-und Traumasensibler Ansatz- STA® SELBST- REFLEKTION STRESS- HALTUNG UND FÄHIG- TRAUMA- WISSEN KEITEN /TOOLS SENSIBLES HANDELN GRUNDPRINZIPIEN ACHTSAME SOLIDARITÄT UND ORGANISATION/ SICHERHEIT STÄRKUNG VERBINDUNG SELBSTFÜRSORGE http://www.medicamondiale.org/
Grundprinzipien in der Umsetzung von STA® Grundprinzipien im Umgang mit belasteten Menschen und Traumatische Sequenz für Unterstützer*innen selbst • grundlegende Verunsicherung 1.) SICHERHEIT: Stress und Angst reduzieren • Bedrohung Sichere Räume; materielle, physische und psychische • Erschütterung des Vertrauens in Sicherheit sich selbst, in andere und in die Vorhersagbarkeit und Kontrollmöglichkeiten Welt Verlässlichkeit • Reizüberflutung Strategien für den Umgang mit (traumatischem ) Stress • Hilflosigkeit 2.) STÄRKUNG: Selbstwirksamkeit und Selbstwert fördern • Ohnmachtsgefühle Handlungs- und Einflussmöglichkeiten • eingeschränkte Ressourcenorientierung Handlungsfähigkeit Gestaltungräume und Kreativität • Ausgeliefertsein und Abhängigkeit Gender- und Machtsensibilität • Abwertung • Isolation, Diskriminierung, 3.) SOLIDARITÄT und VERBINDUNG: ein stärkendes Miteinander Rückzug, Entsolidarisierung ermöglichen • Scham und Schuldgefühle politische und individuelle Anerkennung der Leids und Unrechts • Dissoziation/Abspaltung Vertrauensaufbau • systemische Spaltungsdynamiken Vernetzung, Kontakt, Austausch ganzheitliche Sichtweise auf alle Beteiligten in ihrem Lebensumfeld Strategien für den Umgang mit Gruppenspaltungen/-konflikten • Erhöhte Stressexposition 4) ACHTSAME ORGANISATIONSKULTUR© und • Systemische Traumadynamiken SELBSTFÜRSORGE • Gefährdung durch Indirekte Anwendung der STA Prinzipien individuell und auf
Umsetzung des STA® Grundkenntnisse der Stressphysiologie „Windows of tolerance“
Stress-und traumasensible Kommunikation WÄCHTER_INNEN Selbstwert Selbstbild Autonomie ASSISTENT_INNEN Beschämte_r Verunsicherte_r Überrumpelte_r TÜRÖFFNER_INNEN Selbstkritische_r Neugierige_r Aufgeschlossene_r Nach E. Stahl Feedbackmodell
Umsetzung des STA® Das Rad der Unterstützung Quelle: S.I.G.N.A.L.
Umsetzung des STA® Machtsensibilität und interkulturelle Kompetenz Kulturelle Differenz Fremdbilder Kollektiverfahrungen Macht Asymmetrie nach G. Auerheimer 2008
Umsetzung des STA® Spaltungsdynamiken durchbrechen RetterIn Opfer TäterIn Parteilichkeit mit den Opfern statt Identifizierung Emphatische ZeugIn
Umsetzung des STA® Wissen was „heilt“, Netzwerke nutzen Psychiatrische Behandlung Psychotherapie, Intensive psychosoziale Begleitung Begleitung durch (geschulte) Beraterinnen Bsp. Frauenberatungsstellen etc. Gemeinwesen-orientierter Ansatz an der Basis jeglicher Intervention: Akzeptanz und Solidarisierung durch die Gemeinschaft Bsp. Sensibilisierung und Gewaltschutz in den Aufnahmestellen etc.
UMSETZUNG des STA® Psychohygiene, Resilienzstärkung ABC der Selbstfürsorge A = Achtsamkeit auf eigene Grenzen und Sicherheit achten; Körperwahrnehmung schulen; Achtsamkeitsübungen in Alltag einbauen B = Balance Trennung zwischen Arbeit und Freizeit; für Ausgleich und körperliche Bewegung sorgen; schöne Dinge tun, spielen, Spaß und Leichtigkeit erleben C = Verbindung Sich verbinden mit anderen Menschen, Natur, Spiritualität…
UMSETZUNG des STA® organisationale Resilienzförderung Strukturelle Ressourcen • Adäquater Stellen- Betreuungsschlüssel Schutz vor - und Unterstützung bei Indirekter Traumatisierung und Burnout • Interdisziplinäre Fall – und Team Supervision im Kreißsaal • WHO Standards zum Umgang mit Geschlechtsbasierter Gewalt • Fachliche Weiterqualifizierung • Keine Tabuisierung von Gewalt unter der Geburt • „Traumasensible“ Sprechstunde durch geschulte Hebamme • Überweisungsnetzwerke, Beratungsstellen • .......
Ein stress- und traumasensibler Ansatz STA® HILFT… In der Gesundheitsversorgung einen professionellen Umgang mit den Folgen von Gewalt zu implementieren Red flags zu erkennen und anamnestisch adäquat zu erfragen Geburtskomplikationen und Gewalt unter der Geburt zu minimieren Für Betroffene und Fachkräfte Hürden und Stigmatisierung abzubauen Einen gesellschaftlichen Beitrag im Kampf gegen Geschlechtsbasierte Gewalt zu leisten
Literaturempfehlungen zum Thema Geschlechtsspezifische Gewalt, Flucht, Traumatisierung - 2006: medica mondiale Karin Griese (Hsg.) Sexualisierte Kriegsgewalt und ihre Folgen, Handbuch zur Unterstützung traumatisierter Frauen in verschiedenen Arbeitsfeldern, Mabuse - 2013: Umgang mit Gewalt in Paarbeziehungen und mit sexueller Gewalt gegen Frauen, Leitlinien der WHO für Gesundheistversorgung und Gesundheistpolitik www.signal- intervention.de - 2016: Flüchtlinge in unserer Praxis. Informationen für ÄrztInnen und PsychotherapeutInnen, hrsg. von der bundesweiten Arbeitsgemeinschaft der Psychosozialen Zentren für Flüchtlinge und Folteropfer (BAfF e.V), Berlin: www.baff- zentren.org/veroeffentlichungen-der-baff/shop/ - 2016 DHV/Maria Zemp: Leitfaden / Flyer für Hebammen: Betreuung von Frauen, die als Flüchtlinge nach Deutschland kommen: www.berating-mariazemp.de - 2015: P. Simkin/Phyllis Klaus: Wenn missbrauchte Frauen Mutter werden, Klett -Cotta - 2011: v.Keuk, Ghaderi u.a.: Diversity Transkulturelle Kompetenz in klinischen und sozialen Arbeitsfeldern, Kohlhammer
Vielen Dank! Kontakt zur Referentin: Maria Zemp www.beratung-mariazemp.de +49 (0) 2251 86 62 74 Die Präsentation bezieht sich u.a. auf Kolleginnen Karin Griese und Alena Mehlau.
Welche Unterstützung ist möglich? Für weitere Informationen: www.medicamondiale.org
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