"Überall haben Wörter gewartet" - Jesko Bender - Katalog der Deutschen ...

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"Überall haben Wörter gewartet" - Jesko Bender - Katalog der Deutschen ...
Zeitpunkte

     Jesko Bender

     »Überall haben Wörter gewartet«
     Deutsches Exilarchiv 1933–1945                         führte, erläuterte sie sehr eindrücklich, dass die Ar-
     zeigt in einer Ausstellung seit dem                    beit an den Collagen für sie eine akribische Ausei-
     29. November 2019 Collagen                             nandersetzung mit der Sprache sei – und zwar Wort
     Herta Müllers                                          für Wort. Dabei hätten die Wörter durchaus ein
                                                            Eigenleben, und dieses Eigenleben unterscheide die
     Sprache ist Heimat – immer wieder hört man die-        Arbeit an den Collagen von der Arbeit an einem
     sen Satz, in den unterschiedlichsten Kontexten.        Roman oder Essay: »Weil die Wörter ja auch alle
     Drei Worte, die wie eine Wahrheit daherkommen.         ausgeschnitten sind von irgendeinem Kontext,
     Hört man Herta Müller über ihre Collagen spre-         habe ich auch den Eindruck, es sind gar nicht mei-
     chen, dann wird jedoch schnell deutlich, dass man      ne. Also sie machen untereinander was aus. Und sie
     diese vermeintliche Wahrheit sehr kritisch betrach-    setzen sich in Verbindung.«
     ten muss. Denn wenn Herta Müller über ihre Col-
     lagen spricht, dann geht es dabei zugleich immer
     auch um Sprache im Allgemeinen.
     Die Schriftstellerin unterhält eine besondere Bezie-
     hung zu den Worten, manchmal klingt es, als sei
     die Beziehung eine freundschaftliche und liebevol-
     le, doch im gleichen Moment wird auch deutlich,
     welche Macht die Worte haben. Es ist die Macht
     ihrer Bedeutungsgeschichte, ihrer Konnotationen,
     ihrer oftmals politischen Verwendungskontexte.
     Schnell wird deutlich: Im geflügelten Wort von der
     Sprache als Heimat offenbart sich ein Sprachbe-
     griff, der geradezu auf naive Weise die politische,
     ausgrenzende und unheimliche Macht der Sprache
     ausblendet.                                            Herta Müller im Gespräch mit Sylvia Asmus bei der Ausstellungseröffnung in der
                                                            Deutschen Nationalbibliothek in Frankfurt am Main
     Dass diktatorische und autoritäre Regime die           Foto: Alexander Paul Englert
     Macht der Sprache und die Macht des Subtilen
     nutzen, ist für Herta Müller eine grundlegende         Und weiter: »Auch weil die Wörter von anderswo
     Lebenserfahrung: Nach Jahren der Verfolgung, Re-       kommen (…), habe ich auch immer den Eindruck,
     pression und Bedrohung durch den rumänischen           es gibt auch keine eigene Sprache. Sondern ›alles‹
     Geheimdienst Securitate reiste die Schriftstellerin    gibt es, ›es gibt Wörter‹. Und nur wenn diese Wör-
     1987 nach Deutschland aus. Sie ging ins Exil, wie      ter sich zum ersten Mal begegnen, oder sich auf
     sie immer wieder betonte – doch in Deutschland         eine ungewohnte Art begegnen, oder anders begeg-
     angekommen, musste sie gegenüber den deutschen         nen, als man sich das vorstellt, dann entsteht (…)
     Sicherheitsbehörden darum kämpfen, als Exilantin       mehr als in den Wörtern drin ist«, sagte sie vor
     anerkannt zu werden. Eine Situation, die sie im        375 Zuhörer*innen im ausgebuchten Vortragssaal
     Jahr 2013 in einem Interview mit dem Deutschen         der Deutschen Nationalbibliothek. In ihrem Essay
     Exilarchiv 1933–1945 als eine »unheimliche« Erfah-     »Echo im Kopf« bringt sie dies auf die pointierte
     rung beschrieb.                                        Formulierung: »Überall haben Wörter gewartet.«
     In einem rund 90-minütigen Bühnengespräch, das         Das Essay hat sie, wie sämtliche in Frankfurt am
     Herta Müller mit Sylvia Asmus, der Leiterin des        Main ausgestellte Collagen auch, für den Audio­
     Exilarchivs, anlässlich der Ausstellungseröffnung      guide durch die Ausstellung eingelesen.

68   Dialog mit Bibliotheken 2020/1                                                                    CC BY-SA 3.0
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Zeitpunkte

                     Und so hat Herta Müller in den vergangenen Jah-           den Friedensnobelpreis erhalten hatte. Liu Xiaobo
                     ren abertausende von Wörtern aus Zeitschriften,           starb während der Haft im Jahr 2017 – er »wurde
                     Illustrierten und Verlagsprogrammen ausgeschnit-          gestorben«, so Herta Müller unter Verweis auf seine
                     ten. Sie bewahrt diese Wörter in einem eigens dafür       Krebserkrankung, die in der Haft erst diagnostiziert
                     erschaffenen Aufbewahrungssystem auf, um sie –            wurde, als es schon viel zu spät für eine medizini-
                     wenn die Zeit für das jeweilige Wort gekommen             sche Behandlung war. Auch nach seinem Tod hielt
                     ist – in einer Collage zu verarbeiten.                    die staatliche Repression gegen Liu Xia an. Im Juli
                     Eine Auswahl von 114 Collagen präsentiert das             2018 konnte sie China überraschend verlassen und
                     Deutsche Exilarchiv 1933–1945 vom 29. November            lebt seitdem in Deutschland im Exil.
                     2019 bis 28. März 2020 in der Ausstellung »›… der         Der zweite Teil der Ausstellung präsentiert auf sie-
                     Wind stellt seine Tasche in ein anderes Land…‹ –          ben Stellwänden Collagen, die sich thematisch und
                     Herta Müller. Collagen«. Die ausgestellten Colla-         motivisch mit unterschiedlichen Aspekten von
                     gen setzen sich auf sehr unterschiedliche Weise mit       Flucht und Exil auseinandersetzen. In diesen Colla-
                     dem Themenkomplex Exil, Flucht und Grenze aus-            gen wird zugleich deutlich, dass Herta Müllers Ar-
                     einander. In ihren Prosatexten und Romanen sind           beiten auch in formaler und ästhetischer Hinsicht
                     diese Themen sehr präsent, doch auch in den Col-          Grenzgänge darstellen. Formale Grenzgänge, weil
                     lagen befasst sich Herta Müller damit – die Form          die Collagen immer wieder die Frage provozieren,
                     der Collage erlaubt dabei einen besonderen Zu-            ob sie als Gedicht oder als Mini-Erzählung gelesen
                     gang: »Sie diktieren einen anderen Einstieg in die        werden wollen. Aber auch, weil sie Worte aus einem
                     Problematik durch die Art und Weise, wie sie ge-          sprachlichen Umfeld, einem Kontext herauslösen
                     macht werden müssen«, so Müller im Gespräch mit           und neu verorten. Das Wort wird in neue Zusam-
                     Sylvia Asmus.                                             menhänge gestellt und schafft für die anderen Wor-
                                                                               te ebenfalls einen neuen Zusammenhang. Immer
                                                                               wieder stößt man in Müllers Collagen auch auf
                                                                               Wortneuschöpfungen, wie zum Beispiel »Koffer-
                                                                               trauer« oder »Heimatmaschine«.

Die Ausstellungseröffnung stieß auf großes Interesse: 375 Menschen kamen zur
Eröffnung am 28. November 2019 in den Ausstellungsbereich des Deutschen
Exilarchivs 1933–1945
Foto: Alexander Paul Englert

                     Im ersten Teil der Ausstellung präsentiert die Aus-       In der Ausstellung sind auch einige Zeitschriften zu sehen, die einen Einblick in
                     stellung die 30 Collagen umfassende Serie »Mond­          Herta Müllers Arbeitsweise geben.
                                                                               Foto: Alexander Paul Englert
                     allein gefangen sein«, die Herta Müller der chine-
                     sischen Dichterin, Fotokünstlerin und Malerin Liu         Die Collagen sind zugleich ästhetische Grenzgänge,
                     Xia gewidmet hat. Liu Xia stand über viele Jahre          weil sie sich mit dem Verhältnis von Bild und Text
                     hinweg in China unter Hausarrest, nachdem ihr             auseinandersetzen. Jede Collage enthält neben den
                     damals bereits inhaftierter Ehemann, der Schrift-         aufgeklebten Worten auch ein aufgeklebtes Bildmo-
                     steller und Bürgerrechtler Liu Xiaobo, im Jahr 2010       tiv. Wir betrachten, »lesen« Bilder anders, als wir

                     CC BY-SA 3.0                                                                        Dialog mit Bibliotheken 2020/1                      69
"Überall haben Wörter gewartet" - Jesko Bender - Katalog der Deutschen ...
Zeitpunkte

     einen Text lesen. Und so sind die Betrachter*in-      sondere Berücksichtigung: Sowohl im Ausstellungs-
     nen der Collagen mit der Frage konfrontiert, ob       raum als auch im Lesesaal der Deutschen Natio-
     das Bild den Text illustriert, oder ob der Text das   nalbibliothek zeigen wir großformatige Stellwände
     Bild erklärt – oder ob sich beides in der Wechsel-    mit einzelnen Bildmotiven der Collagen. Auf diese
     wirkung den interpretatorischen Boden unter den       Weise stellen sich im Ausstellungsraum Blickach-
     Füßen wegzieht. Häufig stellt sich beim Betrachten    sen zwischen den postkartengroßen Collagen und
     der Collagen dadurch ein Hin- und Herblicken zwi-     den teilweise mehrere Meter großen Bildmotiven
     schen Wort und Bild ein.                              im Raum ein. Die Ausweitung der Ausstellungs-
     Als Kunstwerke werfen die Collagen für jede*n Be-     gestaltung bis in den Lesesaal zieht auch dort die
     trachter*in die Frage auf, wie man sie lesen und      Aufmerksamkeit auf sich und stellt zugleich eine
     interpretieren kann; wie man den einzelnen Zeilen,    Einladung an die Nutzer*innen dar, die Ausstel-
     aber auch den einzelnen Sätzen Bedeutung zumisst      lung zu besuchen.
     – insbesondere vor dem Hintergrund, dass die Col-
     lagen gänzlich ohne Interpunktion auskommen.            Die Ausstellung ist bis zum 28. März 2020 im
     Ein besonderes Highlight der Ausstellung ist daher      Deutschen Exilarchiv 1933–1945 in Frankfurt am
     der Audioguide, für den Herta Müller jede der ge-       Main zu sehen. Informationen über Anfahrt und
                                                             Öffnungszeiten finden Sie auf unserer Webseite
     zeigten Collagen eingelesen hat und darin jeweils       unter 
     ihre Lesart der Collagen anbietet.
     Die eben angesprochenen Bildmotive der Collagen
     finden im Gestaltungsprozess der Ausstellung be-

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