Berlin, Weimar, Ruhr - die deutschen Europäischen Kulturhauptstädte zwischen Kultur festival, Stadtentwicklung und Identitätspolitik - BBSR
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Informationen zur Raumentwicklung Heft 11/12.2012 617 Berlin, Weimar, Ruhr – die deutschen Achim Prossek Europäischen Kulturhauptstädte zwischen Kulturfestival, Stadtentwicklung und Identitätspolitik 1 Einleitung ßerst ungleiche Partner: die kleine Stadt Pécs (157 000 Einwohner) und das sowohl Kulturhauptstädte wurden nicht von An- touristisch wie kulturell attraktive Istanbul fang an als Instrument der Stadtentwick- (13 Mio. Einwohner), das zudem von einer lung eingesetzt. Dazu waren sie auch nicht ambitionierte Regierung auch finanziell in- eingerichtet worden. Es ist die Folge einer tensiv unterstützt wurde. Entwicklung, die sich in den 1990er Jah- Der vergleichende Blick auf die drei deut- ren vollzogen hat und im neuen Jahrtau- schen Kulturhauptstädte wird durch die äu- send auch mehrfach zu einer regionalen ßerst ungleiche Forschungslage erschwert, Ausdehnung führte. Die höhere Aufmerk- zumindest verzerrt: Berlin-Literatur ist sel- samkeit, die Ruhr gegenüber Weimar ge- ten und kaum wissenschaftlich-analytisch. nießt – und die beiden gegenüber Berlin zu- Es wurde daher auch das zugängliche Ma- kommt – scheint auf den ersten Blick also terial im Landesarchiv Berlin gesichtet. selbstverständlich. Bei allen tatsächlichen Auch zu Weimar liegen nur wenig (Ex-post-) organisatorischen, konzeptionellen und inhaltlichen Unterschieden gibt es jedoch Arbeiten vor. Christina Pachaly (2007) kon- auch Gemeinsamkeiten, was vor allem den statiert hierzu ein deutliches deutsches diskursiv-rhetorischen Umgang mit dem Defizit, vor allem gegenüber England und Kulturstadtjahr betrifft, mithin der politi- Schottland, wo Glasgow und Liverpool als schen Legitimation und dem stadtkulturel- gut erforscht gelten können. Zu Ruhr.2010 len Selbstverständnis. Beiden widmet sich gibt es sehr viel Literatur, wofür es mehre- der folgende Beitrag. re Gründe geben mag: Das Ereignis liegt erst zwei Jahre zurück. Das Thema an sich Berlin-West gehörte 1988 zu den ersten findet heute wesentlich stärkere Aufmerk- Städten des Kulturstadtprogramms. Mit samkeit als vor 20 oder zehn Jahren. Es Athen (1985), Florenz (1986), Amsterdam war für die Strukturpolitik im Ruhrgebiet (1987) und Paris (1989) steht es in einer eine bemerkenswerte Maßnahme. Und die Reihe von nationalen Hauptstädten und Wissenschaft wurde schon im Vorfeld ein- der historisch und kulturell Weltgeltung gebunden: Eine Kontaktstelle Wissenschaft (Museen, Altstadt als Weltkulturerbe) besit- sammelt im Bewusstsein um die nachhal- zenden Provinzhauptstadt der Toskana. Bis tige Wirkung einer hohen Zahl von Doku- 1998 sollten ansonsten alle auserkorenen mentationen und Berichten alle relevanten Städte Hauptstädte sein, mit Ausnahme von Arbeiten und Informationen. Nicht zuletzt Glasgow (1990) und Thessaloniki (1997). hat Ruhr.2010 auch eine Fülle offizieller Das thüringische Weimar war 1999 die Publikationen hervorgebracht, die aber nur bis dato kleinste Stadt mit gerade einmal am Rande auch kritischeren Reflexionen 61 000 Einwohnern und die erste aus dem Raum bieten. Ein Beispiel dafür ist die 2011 ehemaligen politischen Osten Europas. Seit erschienene offizielle Chronik Ruhr.2010, 2001 wurden zumeist zwei Städte pro Jahr die weitgehend darauf verzichtet, den Ent- ernannt, eine Reaktion auf die Osterweite- stehungsprozess des Programms transpa- rung der Europäischen Union. „Essen für rent zu machen (vgl. dazu Prossek 2012). das Ruhrgebiet“, wie die deutsche Bewer- Die Evaluation schließlich ist eine Auf- Dr. Achim Prossek berstadt für 2010 offiziell hieß, hatte neben Humboldt-Universität zu Berlin tragsarbeit, sie kommt zu einem insgesamt dem ungarischen Pécs auch noch Istanbul Geographisches Institut positiven Ergebnis (Zentrum für Kulturfor- Angewandte Geographie/ als Partner. Die türkische Metropole war schung/ICG Culturplan 2011). Raumplanung hinzugenommen worden, um ein positives Unter den Linden 6 Signal während der Beitrittsverhandlungen Der Beitrag wird versuchen, die deutschen 10099 Berlin der Türkei mit der EU auszusenden. Essen Kulturhauptstädte vorzustellen und zu ver- E-Mail: achim.prossek@ bzw. das Ruhrgebiet hatte damit zwei äu- gleichen, ihre Intentionen, Programme und geo.hu-berlin.de
Achim Prossek: Die deutschen Europäischen Kulturhauptstädte Berlin, Weimar, Ruhr: 618 Kulturfestival, Stadtentwicklungsinstrument und Anlass für Identitätspolitik auch die spezifischen Legitimationen für spektakulärem Ausklang: Der Tagesspiegel das Jahr sowie den städtebaulichen Anteil widmete dem Ende des Kulturhauptstadt- herauszuarbeiten. Wegen der beschriebe- jahres lediglich einmalig einen mittellan- nen Forschungslage werden Berlin und gen Bericht im Kulturteil. In ihm steht die Weimar ausführlicher als das Ruhrgebiet Übergabe der „Kulturstaffette“ an Paris im betrachtet. Mittelpunkt, dazu gibt es allgemeine Ein- schätzungen und durchschnittlich-höfliche Worte des Regierenden Bürgermeisters 2 Berlin: Kulturstadt zwischen Eberhard Diepgen. Der Tagesspiegel ver- 750-Jahr-Feier und Fall der Mauer handelt das ausklingende Kulturhaupt- stadtjahr nicht als besonders bedeutsame Das Kulturstadtjahr in Berlin war eine sie- oder gar epochale Veranstaltung – genauso benmonatige Kulturveranstaltung (April wenig wie der Regierende Bürgermeister. bis Oktober), für die keine eigene Organi- Dazu mag Folgendes beigetragen haben: sationseinheit geschaffen wurde. Man ver- Das im Jahr zuvor groß begangene 750-jäh- zichtete auch darauf, einen Programmver- rige Stadtjubiläum war nach wie vor prä- antwortlichen zu benennen. Die Berliner sent. Bei einer Sichtung des Pressespiegels Kulturinstitutionen sollten das Programm in den Akten zu „B 88“ fällt auf, dass der gemeinsam gestalten, mit finanzieller Kulturdiskurs noch immer stark von einer Unterstützung der Stadt. Die dezentrale Skulptur im öffentlichen Raum dominiert Durchführung war ein politisches Anliegen, wurde, die bereits ein Jahr zuvor – im Rah- um die Bezirke in die Planung einzubezie- men des sogenannten Skulpturenboule- hen und der Top-down-Anmutung entge- vards – in der West-Berliner City errichtet genzuwirken (Hassemer 1987). Der Etat be- worden war. Wolf Vostell hatte zwei Cadil- trug 52 Mio. DM (26,58 Mio. €), davon 11,1 lacs auf dem Mittelstreifen des Rathenau- Mio DM (5,67 Mio. €) für den Bereich Bil- platzes einbetoniert, am westlichen Beginn dende Kunst und 7,9 Mio. DM (4,04 Mio. €) des Kurfürstendamms. Die Provokation war für „Werkstatt Berlin“, einem Projekt zur derart groß, dass noch ein Jahr später re- Förderung des internationalen Künstler- gelmäßig in der Zeitung darüber berichtet austausches (Senator für kulturelle Angele- wurde. Denn der Boulevard war als Projekt genheiten VA 1987: 46 f.). Im Haus der Ber- zur Aufwertung des Kurfürstendamms an- liner Festspiele residierte eine dreiköpfige gelegt – ein Ansinnen, das manche Skulptu- Konzeptgruppe, die für einige Veranstal- ren hintertrieben. tungen verantwortlich war. Die Stadt Berlin Die 750-Jahr-Feier Berlins 1987 scheint zeichnete für die Presse- und Öffentlich- nicht nur medial das Kulturhauptstadtjahr keitsarbeit verantwortlich (mit einem Etat überlagert zu haben, sondern auch die Ver- von 3,5 Mio. DM/1.79 Mio. € laut Aktenno- anstaltung gewesen zu sein, die program- tiz); sie nutzte dazu die noch bestehende matisch eher dem entsprach, was heute mit Infrastruktur des Organisationsbüros für Kulturhauptstadtjahren, mit festivalisier- das Stadtjubiläum. Bis Mitte 1987 wurden ter Stadtpolitik insgesamt bezweckt wird: 27,48 Mio. DM (14,05 Mio. €) Sponsorengel- Image- und Identitätspolitik zu betreiben, der eingeworben, darunter als größter Ein- Tourismus zu fördern, kurz: Stadtentwick- zelposten 6 Mio. DM (3,06 Mio. €) von der lung auf breitem Feld voranzutreiben. Die Dresdner Bank für die Restaurierung des umfangreiche Publikation „Selling B erlin. Wrangel-Schlösschens (Gutshaus Steglitz), Imagebildung und Stadtmarketing von die sich allerdings bis Mitte der 1990er Jah- der preußischen Residenz bis zur Bundes- re hinzog. hauptstadt“ (Biskup/Schalenberg 2008a) Das dezentrale Konzept wurde an mehr als enthält bezeichnenderweise keinen eige- 70 Veranstaltungsorten realisiert. Es wur- nen Beitrag zu „B 88“. Selbst in ihrem Vor- den damit neue Räume erschlossen, aber es wort „Die Vermarktung Berlins in Gegen- sollte so auch ein möglichst breites, neues wart und Geschichte“ erwähnen die beiden Publikum erreicht werden (Presseinfor- Herausgeber die Kulturstadt nicht (Biskup/ mation vom 18. März 1988). „Berlin Kul- Schalenberg 2008b). Auch der Beitrag in turstadt Europas 88“ (B 88) präsentierte dem Band, der sich explizit auf Berlinbilder ein reichhaltiges Programm, war aber kein Ende der 1980er Jahre konzentriert, geht Meilenstein in der städtischen Entwicklung. auf das Kulturstadtjahr nicht ein (Tieben Dies erkennt man deutlich an dem eher un- 2008). Auch hier ist vielmehr das Stadtjubi-
Informationen zur Raumentwicklung Heft 11/12.2012 619 läum der Anlass, auf Imageproduktion und Fitz/Heller 2008). In Berlin aber waren die die Stadtbilder verschiedener Akteure zu Begriffe noch Teil des Stadtjubiläums, und schauen. dort auch eher aus der Gegenöffentlichkeit in den Diskurs eingespeist, als Korrektiv Deren Handeln wird von der Teilung der oder Ergänzung der offiziellen Sicht. Zwan- Stadt bestimmt. Diepgens Einleitung im zig Jahre später machen Kulturhauptstäd- „Lese- und Programmbuch zum Stadtjubilä- te sich diese Themen zu eigen, mal mehr um“ ist ebenfalls in einer Weise überschrie- (Linz), mal weniger kritisch (Ruhr). ben, die man aus heutiger Sicht den Kultur- städten zuschreiben möchte: „Impulse für Dass das Stadtjubiläum das Jahr war, das die Zukunft. Eine Stadt in der Mitte“ (Diep- aus heutiger Sicht den programmatischen gen 1987). Darin geht es um den „Haupt- Entwürfen von Kulturhauptstadtjahren stadtcharakter“ Berlins (ebd.: 11), der sich besser entspricht als das Kulturstadtjahr in nur in der gesamten, das heißt geeinten Berlin selbst, wird durch die Erläuterung Stadt zeigen und entfalten könne. Ebenso des damaligen Berliner Senators für kul- politisch wird die Rolle der Kultur bewer- turelle Angelegenheiten, Volker Hassemer, tet. Die „kulturelle Ausstrahlung der Metro- deutlich: „Während das Stadtjubiläum der pole Berlin“ sei „vor allem das Resultat der Innensicht gilt, der historischen Bilanz, den freien Lebensform des Westens“ (ebd.: 10). Entwicklungsperspektiven Berlins – weit Aus der schwierigen Situation leitet Diep- über den kulturellen Bereich hinaus – und gen aber die herausragende Stellung Berlins natürlich dem Feiern, wird sich Berlin als ab: „Berlin als Mitte und Grenze, das ist die ‚Kulturstadt Europas‘ auf den kulturellen spannendste Stadt Europas“ (ebd.: 13). In Bereich im engeren Sinn, auf die Kunst kon- zwei großen Ausstellungen wird die Stadt- zentrieren. 1987 geht es um Berlin, 1988 um geschichte präsentiert: „Berlin, Berlin“ im die europäische Kunst auf dem Schauplatz Martin-Gropius-Bau als die hochoffizielle, Berlin“ (am 12. Mai 1987 auf der Pressekon- ausdrücklich die gesamte Stadtgeschichte ferenz anlässlich der Internationalen Tou- in den Blick nehmende Schau (vgl. Korff/ rismusbörse Berlin). Da als einer der wich- Rürup 1987) und die „Mythos Berlin“-Aus- tigsten Gründe für die Nominierung Berlins stellung, die aus der subkulturellen Szene das „große kulturelle Potential der Stadt heraus entstand. Im Begleittext zur letzte- heute und damit das Gewicht der Stadt im ren ist als Diagnose zu lesen: „Berlin ist auf aktuellen Kulturgeschehen des Kontinents“ der Suche nach neuen Funktionsbestim- (ebd.) angesehen wird, spielt das norma- mungen und Identitätsangeboten“ (Knöd- le Kulturgeschehen in Berlin eine größere ler-Bunte 1987: 223). Aus diesem Befund Rolle als bei heutigen Kulturhauptstädten. werden Anspruch und Ziele der Ausstellung „Die Sonderveranstaltungen des Jahres 1988 abgeleitet: „Was ansteht, ist die Entdeckung sind Ergänzungen der kontrastreichen Fül- von Bildern für die Berliner Gegenwart, von le des Angebots, mit dem die Kulturstadt Ausdruckweisen, in denen wir formulieren, Berlin auch in anderen Jahren aufwartet“ mit welchen Teilen der Berliner Gegenwart (ebd.). wir uns ein künftiges Leben in dieser Stadt Man erkennt hier deutlich, warum „B 88“ vorstellen können“ (ebd.: 227). weder als Meilenstein noch als besonders Die Zitate Diepgens lassen die Konkurrenz nachhaltig wirksames Jahr angesehen wur- zwischen Ost und West als prägende Situa de und es in der Kulturhauptstadtforschung tion Berlins, Deutschlands und Europas keine Bedeutung erlangt hat. Die zeitliche deutlich werden. Die Zitate Knödler-Buntes Nähe von „B 88“ und Stadtjubiläum hat als Mitverantwortlichem der Mythos-Aus- dazu geführt, dass die Themen, die bei Kul- stellung stehen für den kritischen Blick auf turhauptstädten (und ihrer Erforschung) im diese Zuschreibungen. Bild und Identität Vordergrund stehen, in Berlin im Jahr zuvor sind Begriffe, die später auch bei Ruhr.2010 behandelt wurden, gewissermaßen im Sin- und ebenso bei anderen Kulturhauptstäd- ne einer Arbeitsteilung. Das Stadtjubiläum ten in den vergangenen Jahren die Haupt- widmet sich der Stadt, das Kulturstadtjahr rolle spielen sollten. Ein Beispiel ist die der Kultur. Das Stadtjubiläum, so wurde sei- schon im Vorfeld der Kulturhauptstadt tens der Stadt im März 1987 erläutert, muss Linz realisierte Ausstellung „Linz Texas“, „möglichst viele gesellschaftliche Gruppie- programmatisch eine Annäherung an das rungen und Interessen zu Worte kommen städtische Selbstverständnis der Stadt (vgl. lassen. […] Als Kulturstadt Europas aber
Achim Prossek: Die deutschen Europäischen Kulturhauptstädte Berlin, Weimar, Ruhr: 620 Kulturfestival, Stadtentwicklungsinstrument und Anlass für Identitätspolitik muss sich Berlin auf den kulturellen Be- 3 Weimar: Selbstbewusste reich im engeren Sinne konzentrieren und Kulturstadt, Symbol geglückter dabei zugleich qualitative Maßstäbe anle- Wiedervereinigung gen, wie sie der internationale Vergleich der aufeinanderfolgenden Kulturstädte ergibt“ Die Stadt Weimar hatte sich 1992 zur Bewer- (Senator für kulturelle Angelegenheiten bung um den Titel entschlossen und Ende V A 1987: 21). Hinzu kommt auch hier der 1993 den Zuschlag erhalten. 1995 wurde die Faktor der geteilten Stadt. Aber in den Be- „Weimar 1999-Kulturstadt Europas GmbH“ schreibungen sind die Töne – im Gegensatz gegründet und Bernd Kauffmann, bis dato zur Rede Diepgens 1987 – milder und auf Präsident der Stiftung Weimarer Klassik, (kulturelle) Integration abzielend, die Brü- zum Generalbevollmächtigten ernannt (vgl. ckenfunktion Berlins wird jetzt als Chan- Abb. 1). 1995 wurde zudem eine intermi- ce und Pflicht betont. Kunst aus Ostberlin, nisterielle Arbeitsgruppe zu Weimar 1999 der DDR und dem Ostblock soll „zu Worte in der Thüringer Staatskanzlei eingerichtet kommen“ (ebd.: 6). Die verfügbaren Akten – ein Hinweis auf Steuerungs- und Abstim- geben leider keine Auskunft über die frühe mungs- sowie Machtkonflikte zwischen Planungsphase, als beide Veranstaltungen Stadt und Land. Weimar standen rund 75 gleichzeitig vorbereitet werden mussten. Mio. DM (38,34 Mio. €) an öffentlichen Zu- Hier hätten sich vielleicht noch klarere Aus- wendungen und noch einmal 12,7 Mio. DM sagen zur inhaltlichen und programmati- (6,49 Mio. €) aus Sponsoring, Kartenerlösen schen, auch stadtpolitischen Ausrichtung und Merchandising zur Verfügung (Stadt finden lassen, die den hier erlangten Ein- Weimar 2000: 26). Die „Aufgabe von Weimar druck bestätigten. 1999 war es, die Stadt wieder in den Blick- Die Festlegung auf Kultur im engeren Sinn punkt des europäischen Kulturinteresses zu bedeutete allerdings nicht, sich auch auf rücken und Tendenzen zu begründen, die die etablierten Spielstätten der Kultur zu nach 1999 aus eigener Kraft fortgesetzt wer- beschränken. Im Gegenteil: Hier sollte, wie den konnten“ (ebd.: 14). Weiterhin wurden eingangs erwähnt, die Öffnung in die Stadt die Tourismusförderung und die Verbes- hinein erfolgen, was in den 1980er Jahren serung der Stadtstruktur explizit genannt. durchaus schon verbreitet war, aber weit- Beides darf als gelungen bewertet werden: gehend subkulturell angetrieben. Der Ham- Die Zahl der Weimarbesucher steigerte sich burger Bahnhof wurde erstmals mit einer im Vergleich zum Vorjahr von zwei auf sie- Kunstausstellung bespielt, das Gelände des ben Millionen, die durchschnittliche Bet- Anhalter Bahnhofs für die szenische My- tenauslastung wurde um 17 % erhöht (ebd.: thos-Berlin-Ausstellung genutzt. Für Vol- 34). Leider spezifiziert der Abschlussbericht ker Hassemer ist dies „stadtpolitisch ganz die Ausgabenseite nicht näher. wichtig und kulturpolitisch entscheidend für den Erfolg von ‚B 88‘ […] Noch nie war Abbildung 1 im Rahmen von Sonderveranstaltungen die Die Gesellschafterstrukturen der Kulturstadt Stadt in ihrer ganzen Breite so sehr einbe- Weimar 99 GmbH zogen wie 1988“ (Hassemer 1988). Hasse- mer konstatiert eine positive Außenwirkung (ein „außerordentlich starkes und außeror- dentlich positives Interesse an Berlin“) und ist sicher: „Berlin hat kulturelle Hauptstadt- 24 % funktionen in Deutschland.“ Der Haupt- stadtbegriff wird hier nicht wie in späteren 51 % Jahren von anderen Städten im Sinne eines Kulturhauptstadttitels gebraucht; er dient 25 % zur Selbstvergewisserung der Größe und Bedeutung der Stadt – angesichts der Son- derstellung Berlins in der Bundesrepublik vielleicht eine Notwendigkeit. Freistaat Thüringen Stadt Weimar Bundesrepublik Deutschland Quelle: eigene Darstellung
Informationen zur Raumentwicklung Heft 11/12.2012 621 Für das Programm wurden die Leitbegriffe war die Haltung eher negativ und ableh- „Erinnern, Vergegenwärtigen und Ent- nend. Susanne Frank (1999: 518 f.) hat als werfen“ aufgestellt, die aber nicht für alle Ursache dafür Angst vor Verdrängung, Ent- Veranstaltungen maßgeblich waren. Die fremdung und Entmündigung ausgemacht, GmbH hat, mit 31 Mitarbeitern, selbst Pro- weil die Bevölkerung das Kulturstadtjahr jekte entwickelt (Kernprojekte), anderen zunächst mehrheitlich als eine Veranstal- ideellen und/oder finanziellen Zuschuss tung für Touristen wahrgenommen hat. Die gegeben (Rahmenprojekte) und freie Pro- Stimmung entlud sich in der Ablehnung jekte Dritter aufgenommen (Zusatzprojek- des einzigen Kunstprojekts, das dauerhaft te), um eine breitere Beteiligung zu errei- bestehen bleiben sollte: Der Umgestaltung chen – insgesamt 180 Projekte. Zusätzlich des Rollplatzes durch den französischen fanden zahlreiche Veranstaltungen zu Künstler Daniel Buren entzog der Stadtrat sieben Jubiläen statt, vom 250. Geburts- 1998 die zuvor ausgesprochene Genehmi- tag Goethes bis zum 10. Jahrestag des Falls gung, nachdem 14 000 Bürgerinnen und der Mauer. Auch in Weimar wurden Orte Bürger in einer Umfrage gegen das Projekt für Kunst und Kultur erschlossen (z. B. das gestimmt hatten. Dies interpretiert Frank Straßenbahndepot und die Orangerie in als symbolische Identitätspolitik, Stadtbild- Belvedere) sowie Spielstätten aufgewertet, verteidigung sowie Elitenkritik (ebd.: 522 f.). die das Kunstfest Weimar zuvor eingerichtet Sie hebt hervor, dass in diesem Konflikt hatte. Zu nennen sind die Viehauktionshal- „Identität versus Image“ gestanden hätten le, die Hetzerhalle, die Halle Roter Oktober und es zu einer – ambivalent zu bewerten- und das E-Werk. Auch in Weimar ist, wie in den – „Wiederaneignung von ‚Heimat‘“ und Berlin, ein Bewusstsein für die Besonder- zur „ansatzweisen Entwicklung bürger- heit, die Sonderrolle der Stadt aufgrund his- schaftlichen Selbstbewußtseins“ gekom- torischer Gegebenheiten gegeben, resultie- men sei, zum Überwinden der durch die rend aus dem räumlichen Zusammenfallen nach außen zielenden Festivalisierungspo- der Weimarer Klassik und dem Konzentra litk ausgelösten Entfremdung (ebd.: 526 f.). tionslager Buchenwald: „Der Themenbe- Das macht plausibler, warum Weimar 1999 reich Weimar, der städtische Raum und die von manchen auch im Nachhinein und im Region sind auch nichts für Gäste im Vor Gegensatz zur offiziellen Darstellung durch übergehen. Weimar ist kein Ort der freizeit- den Bürgermeister als ein „Zwei-Ebenen- seligen Animation, kein Lunapark und auch Spektakel“ wahrgenommen wurde, bei dem kein kulturelles Spaßbad. Es ist ein Ort mit die Weimeraner und die Gäste getrennt Seele, gebrochen in Gut und Böse, so wie blieben und auch der Programmverant- alles in dieser Welt und wie ganz besonders wortliche auf der Seite der Gäste verortet die Geschichte dieser Stadt gebrochen ist“ wurde (Saitz 2001: 303). (Kauffmann 1997: 16). Erkennbar will Kauff Diese Entfremdung und Festivalskepsis mann ein ernstes, forderndes Programm war wohl auch aus dem politischen Sys- entwerfen oder es zumindest so darstellen. temwechsel knapp zehn Jahre zuvor so- Er muss dem Ort und seinen Bedeutungen wie den sich anschließenden zahlreichen gerecht werden, ohne das Hochkulturelle Stadtumbau- und Restaurierungsmaßnah ausschließlich zu bedienen. Aber er positio- men gespeist. Die Stadt, das Land Thürin- niert Weimar 1999 eher dort, was dem Klas- gen und weitere Träger verbauten allein sik-Image der Stadt durchaus entspricht. von 1996 bis 1999 815,28 Mio. DM (416,70 Auf der Abschlusspressekonferenz stellte Mio €, vgl. DSK 2009). Davon vereinten die Oberbürgermeister Volkhardt Germer das Vereinigten Kliniken, der für Tourismus Jahr sehr positiv dar. Es sei ein „enormer und Wirtschaft bedeutende Neubau des Identitätsgewinn für die Stadt“ entstan- Kongresszentrums Weimarhalle und die den, der sich in einer „weiter gewachsenen Bauhaus-Universität mehr als die Hälfte auf Verbundenheit der Bürgerinnen und Bür- sich. Unter anderem wurden Verkehrsinf- ger mit ihrer Stadt“ niederschlage (Stadt rastrukturen, Kulturbauten und öffentliche Weimar 1999b). Die mehrheitliche Zustim- Plätze (z. B. Theaterplatz) hergerichtet. Elf mung kam aber erst im Kulturstadtjahr städtebauliche Kulturstadtprojekte wurden selbst zustande, also durch die Veranstal- in städtischer Verantwortung durch den tungen, Projekte und den Zuspruch von au- Sanierungsträger DSK Deutsche Stadtent- ßen in Form von Besuchern (vgl. Stadt Wei- wicklungsgesellschaft realisiert (Investi mar 2000: 37f.). In den Jahren der Planung tionsvolumen 191 Mio. €). Weitere wichti-
Achim Prossek: Die deutschen Europäischen Kulturhauptstädte Berlin, Weimar, Ruhr: 622 Kulturfestival, Stadtentwicklungsinstrument und Anlass für Identitätspolitik ge Bauträger waren die Stiftung Weimarer Verantwortlich für die Organisation und Klassik (26 Mio. DM/13,29 Mio. €), das Land Vermarktung war die Ruhr.2010-Gesell- Thüringen (426,3 Mio. DM/217,96 Mio. €), schaft. Sie wurde im Dezember 2006 ge- die Stiftung Thüringer Schlösser und Gär- gründet, im Ablauf rund sieben Monate ten (35,3 Mio. DM/18,05 Mio. €) sowie der später als in Weimar und zu dem Zeitpunkt Bund (41 Mio. DM/20,96 Mio. €) (Stadt Wei- noch ohne Entscheidung zur Struktur und mar 1999a). Die Investitionen setzten die Besetzung der künstlerischen Leitung. rege Bautätigkeit fort, die bereits 1990 mit Während das Land einen international re- der Sanierung der Altstadt als Modellvor- nommierten Intendanten befürwortete, haben der Stadtsanierung begonnen hatte. waren der Regionalverband Ruhr (RVR) und Das neue Stadtentwicklungskonzept wur- die Städte für eine mehrköpfige Leitung. de Anfang 1994, also kurz nach der Ernen- Diese wurde dann auch realisiert, mit zwei nung zur Kulturstadt beschlossen, was die Geschäftsführern und vier künstlerischen Koordination der Maßnahmen und Ziele Direktoren, die alle schon Bezüge zur Re- ermöglichte (Grigutsch 2001). Das Kultur- gion aufwiesen. Gesellschafter der GmbH stadtjahr diente hier als Beschleuniger und waren (Abb. 2): die Stadt Essen (6 Mio. € Intensivierer der nach der Wiedervereini- Zuschuss), der RVR (12 Mio. €), das Land gung begonnenen Stadtentwicklung. Zu- Nordrhein-Westfalen (12 Mio. €) und der dem muss die gesamtdeutsche Lage be- Unternehmenszusammenschluss Initia rücksichtigt werden: Das sanierte Weimar tivkreis Ruhr (IR, 8,5 Mio. €). Der RVR ist konnte als Aushängeschild des „Aufbau Ost“ auch Mehrheitsgesellschafter bei der Ruhr- inszeniert werden, als Beleg für die von Tourismus-Gesellschaft, dem wichtigsten Helmut Kohl 1990 versprochenen und Partner von Ruhr.2010, der das touristi- schon damals zum geflügelten Wort gewor- sche Begleitkonzept in Auftrag gab und das denen „blühenden Landschaften“. Ruhrgebiet zur offiziellen Partnerregion auf der Internationalen Tourismusmesse 2009 in Berlin machte. 4 Ruhr: Geglückte regionale Das Gesamtbudget von Ruhr.2010 betrug Kooperation und gering alles in allem knapp 81 Mio. Euro, davon unterfüttertes Metropolenstreben 75 % (60,72 Mio. €) öffentliche Förderung (Zentrum für Kulturforschung 2011: 84/85). Die Stadt Essen hatte sich 2003 stellvertre- Vor allem über Sponsoring konnten wesent- tend für alle Gemeinden des Ruhrgebiets lich weniger Gelder akquiriert werden als als Kulturhauptstadt beworben und im Ap- beabsichtigt (10,61 Mio. €). Gut 62 % des ril 2004 den Zuschlag erhalten. Nach der Etats wurde für die Projekte aufgewendet, gescheiterten Olympiabewerbung, die man 18,5 % für die Administration und 16,4 % noch an der Seite von Düsseldorf absolviert hatte, ging von dieser innerregional abge- Abbildung 2 stimmten Aktion ein wichtiges regionalpo- Die Gesellschafterstrukturen litisches Signal eines geeint auftretenden der Ruhr.2010-GmbH Ruhrgebiets aus. Gegen die Statuten der Europäischen Kommission, die nur Städte, nicht Regionen als Kulturhauptstädte vor- sieht, wurde die gesamte Region als Kultur- 25 % hauptstadt begriffen und für das Jahr das 33 % Kürzel „Ruhr.2010“ etabliert. Ein wichtiges Entwicklungsziel der für die Bewerbung Verantwortlichen wurde so vorab erreicht: 25 % die Region als Ganzes auftreten zu lassen. 17 % Und es fanden auch in allen 53 Städten und Gemeinden des Ruhrgebiets Veran- staltungen statt. Durch „Local Heroes“- Regionalverband Ruhr Wochen konnte jede Gemeinde einmal im Stadt Essen Mittelpunkt stehen, was einen wichtigen Land Nordrhein-Westfalen Ausgleich zur kulturellen Dominanz und Initiativkreis Ruhrgebiet Aufmerksamkeitsabsorbtion der großen Ruhrgebietsstädte ermöglichte. Quelle: eigene Darstellung
Informationen zur Raumentwicklung Heft 11/12.2012 623 für Marketing, Kommunikation und Pres- Auf der Projektebene fällt die Nachhaltig- searbeit, das sind 13,28 Mio. €. Die von der keitsbilanz gleichfalls zwiespältig aus: Wäh- GmbH herausgegebene Chronik listet mehr rend das interkulturelle Melez-Festival, das als 150 Mitarbeiter auf, davon gut 100 im schon seit 2007 veranstaltet wurde, nicht engeren Bereich, die 309 Projekte realisier- fortgeführt wird, obwohl es als Aushänge- ten (Ruhr.2010 2011: 233 f.). Da einzelne schild des Bereichs Interkultur verkauft wur- Projekte aber aus bis zu mehreren hundert de, werden Großveranstaltungen wie der Einzelveranstaltungen bestanden (z. B. das „Day of Song“ weiter durchgeführt. Diese Partnerstadtprojekt Twins), liegt die Ge- Aufgabe wurde Ende 2011 an die Ruhr Tou- samtzahl der Veranstaltungen bei mehreren rismus GmbH übertragen, die bereits die Tausend. Aufgeteilt waren sie in die Pro- jährliche und sehr beliebte „Extraschicht – grammfelder „Stadt der Künste“, „Stadt der Nacht der Industriekultur“ organisiert. Die Kreativität“, „Stadt der Kulturen“ und „Stadt Großveranstaltungen haben eine gemein- der Möglichkeiten“. Ruhr.2010 lag ein expli- schaftsstiftende Funktion, weil sich die Re zit weiter Kulturbegriff zugrunde, der stark gion dank der massenhaften Mitwirkung in der Alltagskultur wurzelte. und regionalen Ausdehnung als Einheit er- fahren kann – wenn auch ohne zukunftswei- Zu den städtebaulichen Projekten zählen sendes Leitbild. das Dortmunder U als neuem „Zentrum für Kunst und Kreativität“, der Chipperfield- Auf politischer Ebene kann nicht davon ge- Neubau für das Museum Folkwang in Essen, sprochen werden, dass das Kulturjahr dazu der Neubau des Staatsarchivs Nordrhein- geführt hat, regionale Kooperationen als Westfalens im Duisburger Innenhafen, der selbstverständlich anzusehen. Die nach dem Umbau der Kohlenwäsche der Zeche Zoll- Fest aufgebrochene Debatte um Einsparun- verein für das Besucherzentrum Industrie- gen im Kulturbereich wird jeweils nur isoliert kultur und das Ruhr Museum, die Erwei- auf städtischer Ebene diskutiert – von der terung des deutschen Bergbaumu seums Kulturregion ist in dieser Diskussion (me- in Bochum, die „Tiger&Turtle – Magic dial) wenig zu spüren. Und ein nächstes ge- Mountain“-Landmarke in Duisburg und die meinsames Projekt, die Bewerbung um den partielle Umgestaltung der A 42 zur „Park Titel „Umwelthauptstadt“, musste im Juni autobahn“. Die wenigsten sind originäre 2012 wegen innerregionaler Abstimmungs- Kulturhauptstadt-Projekte, v iele teurer als schwierigkeiten verschoben werden. Positiv geplant, manche verspätet (Tiger&Turtle), sind wiederum die Fortführung der Zusam- manche bis heute nicht fertig geworden menarbeit der „RuhrKunstMuseen“ und die (Staatsarchiv NRW). Die Erweiterung des beabsichtigte Neuauflage von „Emscher- Museums Küppersmühle verschlang über kunst“. 30 Mio. € und schuf nichts als eine Bau Über Jahre sprach Ruhr.2010 in der Presse ruine. Die Bahnhöfe von Dortmund, Essen davon, „neue Bilder der Region“ produzie- und Duisburg wurden umgebaut. Die Bau- ren zu wollen und der Region „ein neues projekte folgten der Logik von Leuchtturm- Image“ zu geben. Selbst eine „neue Identi- projekten, sie sollen die Aufmerksamkeit tät“ wurde anvisiert, schließlich ging es dar- auf die Region lenken und die Erzählung um, die Transformation vom Ruhrgebiet zur des Wandels durch Kultur, so das Motto, „Metropole Ruhr“ zu vollziehen. Diskursiv stützen. Während das im Vorfeld hoch- verhandelt wurde dies jedoch kaum, man gelobte und mit viel Spannung erwartete setzte ganz auf die Massen- und Bilderlogik Dortmunder U bis heute mit Kostenstei- einer festivalisierten Regionalpolitik. Un- gerungen und Baumängeln von sich reden mut bestand jedoch auch eher bei denje- macht und als Kulturinstitution noch nicht nigen, deren Projekte nicht angenommen richtig Tritt gefasst hat (gemessen am Ver- wurden; aber auch unter ihnen blieben Ko- hältnis erwartete zu tatsächlichen Besu- operation oder Weiterarbeit im Ansatz ste- cherzahlen), gelten die Bochumer und Es- cken (etwa: www.unprojekte2010.de). Hier sener Museumsprojekte als geglückt und zeigt sich die Schwierigkeit zu bürgerschaft- erfolgreich. Bei der Bevölkerung sehr be- lichem Engagement auf regionaler Ebene. liebt ist auch die erst Ende 2011 eingeweih- te begehbare Tiger&Turtle-Landmarke in Duisburg.
Achim Prossek: Die deutschen Europäischen Kulturhauptstädte Berlin, Weimar, Ruhr: 624 Kulturfestival, Stadtentwicklungsinstrument und Anlass für Identitätspolitik 5 Fazit: Kulturhauptstadt als (2) mit neuen Orten jenseits der oft mit Entwicklungsmotor und Anstoß Schwellenängsten besetzten Hochkul- von Identitätsdebatten tureinrichtungen auch neuen, kulturfer- neren Schichten Zugang zu Kunst und Der Vergleich hat gezeigt, dass es zwischen Kultur zu ermöglichen und den deutschen Kulturhauptstädten organi- (3) mittels baulicher Leuchtturmprojek- satorisch wie inhaltlich Unterschiede sowie te das Selbstbewusstsein stärken, Auf- Parallelen gibt. Organisatorisch: Zunächst merksamkeit erlangen und das kulturel- fällt die zeitliche Ausdehnung auf. In Wei- le Image festigen. mar und im Ruhrgebiet waren es ganzjäh- rige Feiern, in Berlin noch nicht. Nur Berlin Letzteres war vor allem die Strategie von verzichtete auch auf eine eigenständige Or- Ruhr.2010. Das Kultur- und Kreativzentrum ganisationseinheit und einen Programm- „Dortmunder U“ ist ein gutes Beispiel für verantwortlichen. Nicht geklärt werden die identitätsstiftende Funktion eines Ge- konnte die Frage, ob dies an der zeitlichen bäudes nach innen und die Werbefunktion Nähe zum Gedenkjahr 1987 lag oder an der nach außen, wobei beide Wirkungen eher geringeren Bedeutung, die die Stadt dem durch die Ansicht oder mediale Abbildung Kulturstadtjahr beigemessen hat. Plausibel des ehemaligen Brauereigebäudes erzielt erscheint eine pragmatisch-programmati- werden als durch die Inanspruchnahme sche Mischung aus beiden Faktoren. Wei- der dort beheimateten Kultureinrichtungen. mar und Ruhr entschieden sich für interne Allgemein hatte Ruhr bei den städtebau- Leitungslösungen, jedoch Weimar für einen lichen Projekten die meisten Rückschläge Generalbevollmächtigten und Ruhr für eine und Schwierigkeiten zu verkraften. Die ge- sechsköpfige Leitungsgruppe. Beide Model- nauen Ursachen dafür bleiben zu untersu- le haben Vor- und Nachteile, etwa bezüglich chen und sind mindestens teilweise wohl Machtfülle und Kommunikation, so dass projektspezifisch. Es fällt jedoch auf, dass eine eindeutige Bewertung schwerfällt. In- Weimar gleichzeitig ein Stadtentwicklungs- haltlich: Berlin vertrat weitgehend einen konzept entwarf, während die Städte im engen Kulturbegriff, Weimar postulierte Ruhrgebiet eher in Konkurrenz zueinander einen hohen kulturellen Anspruch, musste jeweils ein eigenes Großprojekt realisie- dazu jedoch schon einen breitenkulturellen ren wollten. Dass Weimar die höchste Zahl Ausgleich schaffen, und für Ruhr galt dank städtebaulicher, nicht nur kulturbezogener des offenen Alltagskulturbegriffs beinahe Projekte aufweist, wird allerdings mit der alles als Kultur. Ob diese Entwicklung ei- besonderen Nachwendesituation erklärt. nem allgemeinen Trend folgt, wäre an den Alle drei Austragungsorte bewerten ihr Jahr Programmen der nachfolgenden Kultur- als positiv, wobei eine deutliche Steigerung hauptstädte zu überprüfen. Die beschrie- im emphatischen Ausdruck von Berlin über benen programmatischen Ausrichtungen Weimar zu Ruhr zu erkennen ist. Dabei war folgen jedoch der jeweiligen zeit- und in allen drei Fällen das Konzept und das ortsspezifischen Eigenlogik der drei Städte. Vorgehen in der Stadt nicht unumstritten. Dazu gehören schwerpunktartig: Berlin als In Berlin gab es daher zwei zentrale Aus- Stadt des Ost-West-Konflikts, Weimar als stellungen, die die Geschichte der Stadt Beleg für die gelungene Wiedervereinigung, einmal offiziell, einmal als Gegenentwurf Ruhr auf der Suche nach einer neuen regio präsentierten. In Weimar gab es eine inten- nalen Klammer und einem neuen (metro- sive Debatte und den größten organisierten politanen) Selbstverständnis. Widerstand aus der Bürgerschaft gegen die Wie gezeigt, haben alle Städte Kultur wei- Realisierung einer künstlerischen Platz- ter in die Stadt hineingetragen und das Jahr gestaltung. Im Ruhrgebiet äußerten vor- dazu genutzt, neue Orte temporär oder nehmlich lokale Initiativen ihre Kritik an dauerhaft zu erschließen. Mindestens drei der Programmplanung und der offensiven Ziele waren damit verbunden: Vermarktung der Region, die ihrer Meinung nach zu weit von der Wirklichkeit entfernt (1) Bleibendes zu schaffen, um die politi- war. sche Legitimität des Jahres zu erhöhen und in der Bevölkerung eine größere Ak- Die Kritik entspringt in allen Fällen dem zeptanz zu schaffen, Spannungsverhältnis von Stadtimage zu Stadtidentität, ausgelöst durch das synchro-
Informationen zur Raumentwicklung Heft 11/12.2012 625 ne Bespielen beider Felder mittels einer • Es könnte ratsam sein, das Jahr nicht zu Veranstaltung von offizieller Seite. Die Be- eng mit Identitätsdebatten zu verknüp- griffe Stadtimage und Stadtidentität spiel- fen, um daraus resultierende Ansprüche ten bei allen drei Kulturstädten eine gro- und Bedingungen abzuschwächen. Wenn ße Rolle, auch schon – wie gezeigt werden darauf nicht verzichtet wird – wofür es konnte – in Berlin, wo das Kulturstadtjahr auch gute Gründe geben mag –, sollte charakterlich noch weitgehend eine halb- eine offene, gesamtgesellschaftlich ge- jährige Kulturveranstaltung war. Festivali- führte Debatte als Chance begriffen und sierte Stadtpolitik, wie sie hier praktiziert zugelassen werden und das Marketing wurde, scheint diese Fragen zwangsläufig beim Gesamteindruck nicht zu sehr im aufzuwerfen, weil mit ihr das Verhältnis Vordergrund stehen. Dies entspricht einer vom Selbst- zum Fremdbild justiert wird. problembewussten und lösungsorientier- Dies bringt immer die Frage von Diskurs- ten Stadtentwicklung und bietet erst die und Deutungshoheiten, mithin politischen Chance zu einer nachhaltigen Wirkung. Machtlogiken mit sich. Zudem liegt einer Denn so wird ein abrupter Themen- solchen Stadtpolitik letztlich eine ökono- schwenk oder diskursiver Kurswechsel im mische Zielsetzung (Wirtschafts- und Tou- Anschluss unwahrscheinlicher (im Ruhr- rismusförderung) zugrunde. Der so betonte gebiet etwa von der Metropoleneuphorie Warencharakter der Stadt und ihrer Kultur zum „Armenhaus Deutschlands“). steht im Spannungsfeld zu einem allgemei- • Konflikte um Projekte und Programme nen Identitätsdiskurs und der darin zentra- sollten nicht als unerwünschte Störung, len Bedeutung von Kunst und Kultur für die sondern als Teil des zwangsläufig initiier- Selbstvergewisserung einer Gesellschaft. ten stadtkulturellen Aushandelprozesses Welche Schlüsse lassen sich aus dem hier begriffen werden. Konflikte belegen die erfolgten Vergleich der drei deutschen Kul- Existenz engagierter Bürgerinnen und turhauptstädte für die zukünftige Verwen- Bürger. Identitätsfindungsprozesse sind dung des „Großprojekts Kulturhauptstadt- tendenziell nicht bequem. Das notwen- jahr“ als Instrument der Stadtentwicklung dige Marketing sollte sich damit arrangie- ziehen? Verschiedene Punkte sind zu nen- ren. nen: • Festivalisierte Stadtpolitik sollte sich ih- • Touristischer Zuspruch ist ein Gradmes- rer inhärenten Logik bewusst sein, immer ser für den Erfolg, weil er direkt ökono- auch ein Top-down-Eingriff in das stadt- mische Effekte mit Marketing und Image- gesellschaftliche Bewusstsein zu sein. produktion verknüpft. Er ist aber nicht Eine rein wirtschaftlich argumentierende alleiniger Indikator, weil die innengerich- Nutzenrechnung kann Akzeptanzdefizite teten Effekte mitberücksichtigt werden daher nicht vollständig beseitigen. müssen, die stark unter dem Aspekt des Die nächste deutsche Stadt wird turnusge- langfristigen Ertrags bewertet werden. mäß 2020 oder, nach neuesten Überlegun- • Die räumliche Ausdehnung bringt einen gen, erst 2025 den Titel Kulturhauptstadt zusätzlichen Organisations- und Kosten- tragen können. Da zahlreiche Städte sich aufwand mit sich, der Ressourcen bindet jedoch schon intensiv auf die Bewerbung und damit die administrative Ebene ge- vorbereiten, sind die hier angesprochenen genüber der inhaltlichen in den Vorder- Fragen für Programmplanung und strategi- grund rückt. Der erwünschte regionale sches Vorgehen der Bewerberstädte bereits Zusammenhalt kann zumindest für ei- relevant. nen bestimmten Zeitraum erzielt werden, wenn innerregionale Differenzen und Disparitäten in der Programmplanung berücksichtigt werden.
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