Bildung als Anpassung? - Das Kompetenz-Konzept im Kontext einer ökonomisierten Bildung

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                                       Bildung als Anpassung?
             Das Kompetenz-Konzept im Kontext einer ökonomisierten Bildung

                                                         JOCHEN KRAUTZ

                                                                                            Entrümpelung der Lehrpläne, Verkür-
Einleitung                                                                                  zung der Schulzeit, Wirtschaftskennt-
                                                                                            nisse für alle, neue Lernformen und vor
Es hat sich in der Bildungsdiskussion                                                       allem Laptops für jeden Schüler.
in Deutschland etabliert, pädagogische                                                           Was hierbei herauskommen soll, hat
und bildungspolitische Fragen mit im-                                                       der Hessische Unternehmerverband be-
mer ähnlichen Rezepten zu beantwor-                                                         reits 2004 als seine „Zukunftsvision“ be-
ten, die jedoch nicht aus der Pädagogik                                                     schworen: Die Schule der Zukunft soll
oder der Bildungstheorie stammen,                                                           „eine Dienstleistungsorganisation im
sondern weitgehend der Ökonomie ent-                                                        Bereich Bildung und keine soziale Ein-
liehen sind.                                    dungswesen auf die daraus vermeintlich      richtung“ mehr sein.2
    Ein Beispiel: Im Februar 2008               resultierenden Anforderungen einzu-              Dass man mit dieser „Dienstleis-
wurde das Jahresgutachten des „Ak-              stellen hätte. Bildung müsse befähigen,     tungsorganisation“ offenbar gutes Geld
tionsrats Bildung“, eines Gremiums              sich an diese Herausforderungen anzu-       verdienen kann, macht eine Pressemel-
des „Verbandes der bayerischen Wirt-            passen, elastisch zu sein und Globalisie-   dung vom 05. August 2008 deutlich:
schaft“, mit der üblichen medialen In-          rung nicht als Bedrohung, sondern als       Die Bertelsmann AG gab bekannt, sich
szenierung vorgestellt. Der Titel lau-          Herausforderung zu erleben.                 von ihrem 50%-Anteil am Musik-Gi-
tet: „Bildungsrisiken und -chancen im               Um das zu erreichen, wird ein For-      ganten SonyBMG zu trennen. Nur in
Globalisierungsprozess“.1 Als Autoren           derungskatalog aufgestellt: Englisch        den frühen Nachrichtensendungen des
des Elaborates zeichnen illustre Profes-        bereits im Kindergarten; Lehrer sollen      Tages enthielt diese Meldung noch ei-
soren wie Dieter Lenzen, Präsident der          nur befristet eingestellt und leistungs-    nen bemerkenswerten Nachsatz: Der
HU Berlin, Manfred Prenzel, deutscher           bezogen bezahlt werden; nicht nur das       bröckelnde Musik-Markt erscheine dem
PISA-Leiter sowie Detlef Müller-Böh-            Abitur, sondern fächerspezifische Tests      Konzern nicht mehr profitträchtig ge-
ling, damals noch Chef des „Centrums            sollen die Eintrittskarte für die Hoch-     nug, man wolle stattdessen verstärkt
für Hochschulentwicklung“ der Bertels-          schulen sein, mit dem besonderen Hin-       auf das Segment Bildung setzen. Führt
mann-Stiftung, verantwortlich.                  weis, dass diese Tests auch von privaten    man sich vor Augen, welch gigantischer
    Die Argumentation ist beispiel-             Testfirmen angeboten werden könnten.         Milliarden-Markt das Musikgeschäft
haft für das, worum es im Folgenden                 Man kennt Argumente wie die-            ist, kann man ahnen, was es bedeutet,
gehen wird: Aus der Analyse des öko-            se bereits aus der bildungspolitischen
nomischen      Globalisierungsprozesses         Diskussion. Als weitere „Rezepte“ sind      2    Selbständige Schule 2015 – Leitbild,
wird ohne weiteres Hinterfragen dieses          auch folgende Vorschläge bekannt:           Ziele und Fundamente. Positionspapier der
schon ökonomisch problematischen                Schulen und Hochschulen bräuchten           Vereinigung der hessischen Unternehmerver-
Prozesses abgeleitet, dass sich das Bil-        mehr Wettbewerb und Effizienz, Eigen-        bände (VhU) zur hessischen Qualitätsschule.
                                                ständigkeit und Selbstverantwortung,        Frankfurt am Main 2004, S. 14, http://www.
                                                                                            vhu.de/vhu/VhUHomepage.nsf/newsliste?R
                                                moderne Management-Methoden, Lei-
1    vbw – Vereinigung der Bayerischen                                                      eadForm&News=DownloadlisteKategorie&
Wirtschaft e. V. (Hrsg.): Bildungsrisiken und   stungsmessungen und Evaluationen,           ZuordnungSelect=Aufgabe_Bildungspolitik
-chancen im Globalisierungsprozess. Jahres-     Bildungsstandards und zentrale Prü-         &Menu=Aufgaben&Level=Bildungspolitik,
gutachten 2008. Wiesbaden 2008                  fungen, Sprachtests im Vorschulalter,       11.6.07

                                                        Fromm Forum 13/2009                                                        87
Menschenbild und Erziehung

                               Abb. 1: Relief an einer Volksschule in Roudnice nad Labem, Tschechien (Foto: Jochen Krautz)

wenn Bildung künftig offenbar ein noch           untersucht und auf seine Konsequenzen                       dem Sohn eine „Ausrüstung“ für seine
profitableres Geschäft sei soll.                  hin durchdacht – Konsequenzen, die                          Aufgabe mit. Die besteht nicht im neu-
    Bildung, Schule und Hochschule               mehr als bedenklich erscheinen. Inso-                       sten, ergonomisch optimierten und si-
stehen also zunehmend unter dem Re-              fern wird auch zu fragen sein, was an-                      cherheitsgetesteten Scout-Schulranzen.
gime der Ökonomie sowohl hinsichtlich            gesichts dessen zu tun ist.                                 Der hilft ihm nicht bei den Aufgaben,
der verbreiteten Konzepte zur „Lösung“                                                                       die sich im Leben stellen. Nein, sie gibt
der Bildungskrise wie auch hinsichtlich                                                                      im etwas viel Wesentlicheres mit: Liebe,
ihrer Vermarktbarkeit.                           1. Besinnung: Was ist Bildung?                              festen Rückhalt und Zutrauen. Sie för-
    Um diese Konzepte im allgemei-                                                                           dert ihn durch ihre Zuneigung und for-
nen Bewusstsein zu verankern, wird               Was Bildung eigentlich ausmacht,                            dert ihn, indem sie ihn an seine Aufgabe
in der medialen Öffentlichkeit nahezu            zeigt das Relief über dem Eingang ei-                       schickt.
wöchentlich eine „neue Sau durchs Bil-           ner Volksschule in einer kleinen Stadt                          Die Szenerie wird eingerahmt von
dungs-Dorf gejagt“; ein Gewitter stän-           in Nordböhmen. Wenn die harmonisch                          angedeuteten Naturformen, Baumästen
dig neuer Reformvorschläge sowie die             wirkende Darstellung des Jugendstils                        und einem Bienenstock im Hinter-
medial geschürte PISA-Panik betäuben             auch aus einer anderen Zeit stammt                          grund. Dies verweist zum einen auf die
das Publikum geradezu. Dabei scheint             und uns beinahe schon fern zu sein                          ländliche Gegend, in der sich die Schu-
inzwischen kaum jemand mehr zu wis-              scheint, bleibt die menschliche Essenz                      le befindet. Das kompositorische Halb-
sen, worum es bei der Bildung eigent-            doch gültig:                                                rund umfasst aber noch mehr: Bildung
lich geht. Und schleichend hat sich im               Rechts kniet die Mutter vor ihrem                       und Erziehung sind eingebettet in einen
Mittelpunkt dieses Geschehens ein Be-            Sohn und macht ihn liebevoll zurecht,                       großen Zusammenhang von Mensch
griff etabliert, den jeder kennt, von dem        damit er in die Schule gehen kann.                          und Natur. Der Mensch ist Teil der Welt.
aber niemand so recht weiß, woher er             Ihre Sorge gilt nicht seinem Aussehen,                      Wachsen und Werden der Pflanzen ver-
eigentlich kommt und was damit ge-               sondern in der Gestik und Mimik liegt                       weisen auf den Kreislauf des Lebens,
nau gemeint sein soll, eben die Kompe-           neben der Liebe zu ihrem Kind ein ge-                       auf das Heranwachsen der Jugend.
tenzen. Sicher scheint aber, dass sie den        wisser Ernst. Das Zurechtrücken der                         Bildung und Erziehung finden nicht im
„alten“, angestaubten Bildungsbegriff            Kleidung heißt auch: „Du gehst da hi-                       Nirgendwo statt, sondern sind Teil des
ersetzen und ihm ein neues, „zeitge-             naus ins Leben, an deine Aufgabe als                        Lebens und bereiten auf dieses vor. Das
mäßes“ Gewand geben sollen.                      Schüler. Da hast du so auszusehen, wie                      Sammeln und Horten der Bienen deu-
    Die weiteren Ausführungen wollen             es ein geordnetes Miteinander verlangt.                     tet auf die Beschaffung der Nahrung
hier etwas Licht ins Dunkel bringen:             Du musst diese Aufgabe, das Lernen,                         und die Notwendigkeiten des Lebens.
Zunächst soll eine kurze Besinnung               ernst nehmen. Du musst bereit sein für                      Gleichzeitig sind die Bienen ein Sym-
auf den Bildungsbegriff eine Basis für           das, was das Leben von dir verlangt                         bol der Kultur, versinnbildlichen eine
die weiteren Ausführungen bilden. Ein            und deinen Beitrag dazu leisten.“ Müt-                      aktive Gemeinschaft, die in und durch
Überblick über die Schlagworte der Bil-          terliche Sorge ist hier also nicht ängst-                   Zusammenarbeit lebt. Zugleich sind die
dungsökonomie wird die Zusammen-                 liches Beschützen und Nicht-Zutrauen.                       Bienenstöcke wiederum vom Menschen
hänge klären, in denen der Kompetenz-            Es ist eine handfeste, zutrauende und                       angelegt und gepflegt, sind Teil seiner
Begriff steht. Dieser wird dann genauer          ermutigende Fürsorge. Die Mutter gibt                       Kultur.

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Bildung als Anpassung?

     In diesem, von Natur und Mensch          Ergebnis, was die Pädagogik immer              hier um eine tiefgreifende Funktionali-
aufgespannten Bogen gehen die Kinder          schon wusste: „Alles schulische Lernen         sierung des Menschen für Zwecke geht,
zur Schule. Sie werden empfangen von          ist eingebettet in ein interaktives und        die weit von diesen Zielbestimmungen
der Lehrerin. Diese sitzt in Augenhö-         dialogisches Beziehungsgeschehen.“4            entfernt sind.
he mit ihren Schülern. Die Lehrerin ist           Bildung als vor allem als Selbstge-            Bildung wird heute mit einem Sy-
gekennzeichnet durch das Symbol der           staltung aufgefasster Prozess ist dabei        stem von Schlagworten begründet und
Eule, das alte Symbol der Klugheit. Sie       nicht gleichzusetzen mit Wissenser-            ausgestaltet, die allesamt der Betriebs-
verfügt über Wissen und kann die Welt         werb. Bildung hat immer auch einen             wirtschaft und nicht der Pädagogik
erklären. Die Bücher enthalten dieses         Werthorizont, der die ganze Person             entliehen sind. Diese werden in der
Wissen der Welt, die Kenntnisse über die      betrifft: „Bildung heißt, das zu lernen,       Öffentlichkeit mit enormer Vehemenz
Welt. Der Globus meint dabei nicht nur        was einem hilft, sachlich angemessen           und Penetranz wiederholt, um offen-
das Fach Erdkunde, sondern zeigt, dass        und mitmenschlich zu handeln – und             sichtlich den Eindruck zu erwecken,
die ganze Welt mit ihren Phänomenen           sein Leben sinnvoll zu gestalten.“5 Diese      eine vor allem an ökonomischen Prä-
und ihren Problemen Thema der Schu-           klare Wertorientierung von Erziehung           missen orientierte „Bildungsreform“ sei
le ist. Die Welt kann nicht außen vor         und Unterricht ist auch in den meisten         unabänderlich. Ich kann hier nur einen
bleiben, sondern ist der eigentliche Ver-     Landesverfassungen normiert. So heißt          Überblick über diesen Zusammenhang
mittlungsgegenstand der Schule: Man           es etwa in der Verfassung des Landes           geben, um den zur Diskussion stehen-
lernt die Welt kennen, reduziert auf ein      Baden-Württemberg in Art. 12 (1): „Die         den Kompetenz-Begriff angemessen
altersgemäß verstehbares Maß und auf-         Jugend ist in Ehrfurcht vor Gott, im Gei-      einzuordnen sowie ein Beispiel etwas
geteilt in bewältigbare Probleme.             ste der christlichen Nächstenliebe, zur        genauer analysieren. Für die weitere
     Wie geschieht nun diese Vermittlung?     Brüderlichkeit aller Menschen und zur          Vertiefung verweise ich auf mein Buch
Das Bild macht hier den eigentlichen          Friedensliebe, in der Liebe zu Volk und        „Ware Bildung“.6
Kern von Pädagogik, von Bildung und Er-       Heimat, zu sittlicher und politischer Ver-         Grundlage einer an ökonomischen
ziehung deutlich. Die Lehrerin legt ihren     antwortlichkeit, zu beruflicher und sozi-       Prämissen orientierten Bildungsthe-
Arm auf die Schulter des Schülers. Sie        aler Bewährung und zu freiheitlicher de-       orie ist die Annahme, dass wir uns in
schaut ihm in die Augen. Sie nimmt also       mokratischer Gesinnung zu erziehen.“           einem Wandel von der Industrie- zur
eine direkte Beziehung zu ihm auf. Blick          Damit ist klar gestellt, dass Erzie-       Wissensgesellschaft befänden, in der
und Geste der Hand verdeutlichen, dass        hung nicht auf reines Funktionieren in         „Wissen“ die entscheidende „Ressour-
Erziehung wesentlich Führung bedeutet:        einem Wirtschaftssystem zielen kann,           ce“ für Wirtschaftswachstum sei. Das
Erziehung bedeutet liebevolle, aber klare     sondern an einem humanistischen,               beobachtbare Phänomen, dass Wissen
Anleitung. Sie leitet den Schüler zur Sa-     einem personalen Menschenbild ori-             für hochtechnische Produktion und
che, die hier durch das Buch symbolisiert     entiert sein muss. Diese Zweckfreiheit         Dienstleistungen zwar immer wichtiger
ist. Im Bild greift der Arm des Schülers      der Bildung bedeutet dabei nicht ihre          wird, verdeckt jedoch, dass eben „nicht
zu dem Buch, das die Lehrerin hält, und       Folgenlosigkeit, wie im Missverständnis        die Wissensgesellschaft die Industrie-
er nimmt so Verbindung zur Sache auf.         der neuhumanistischen Bildungsthe-             gesellschaft ablöst, sondern umgekehrt
Diese Sache ist wiederum unmittelbar          orie mitunter behauptet wird: Allge-           das Wissen in einem rasanten Tempo
mit der Lehrerin verbunden. Die The-          meine Bildung ist zweckfrei, aber nicht        industrialisiert wird“, so sehr treffend
men und Gegenstände in der Schule sind        zwecklos. Sie dient dazu, Selbständig-         Konrad Paul Liessman. Wissen wird also
also an die Vermittlung durch die Person      keit, Kritikfähigkeit, Verantwortlichkeit,     nach industriellen Produktionskriterien
der Lehrerin oder des Lehrers gebunden.       Friedfertigkeit und Handlungsfähigkeit         behandelt und das sind vor allem „Stan-
Lernen geschieht in diesem personalen         herauszubilden. Bildung dient also der         dardisierung, Mechanisierung und An-
Bezug von Lehrer, Schüler und Sache.          Menschwerdung des Menschen.                    gleichung menschlicher Arbeitsprozesse
     Dieses im Bild erkennbare Dreieck                                                       an vorgegebene Abläufe“.7
zwischen Lehrer, Schüler und Sache                                                               Wenn nun heute für Schule und Uni-
beziehungsweise Welt ist das Kernge-          2. Analyse: Schlagworte der Bildungs-          versität postuliert wird, es ginge nicht
schäft aller Erziehung und Bildung. Die          ökonomie                                    so sehr um Wissenserwerb (um Bildung
Lehrerin vermittelt über ihre Person die                                                     ohnehin nicht), sondern um das „Lernen
Dinge der Welt, der Schüler findet Zu-                                                        des Lernens“, weil man ja lebenslang ler-
                                              a) Kleines Vademecum der Unworte
gang zu den Sachen und Themen über                                                           nen müsse, um bei der Modernisierung
die Person der Lehrerin, er baut seinen       Stellt man dieses Bild von Bildung dem         der Produktionsabläufe „up to date“ zu
persönlichen Bezug zur Welt über die          heute implizit kursierenden Menschen-          bleiben, dann ist das ein nicht nur hi-
zwischenmenschliche Beziehung auf.            bild einer vor allem auf ökonomische           storisch fragwürdiges Argument: Denn
Dies formulierte bereits Martin Buber         Verwertbarkeit gerichteten „Bildungs-          nicht anderes als das Lernen des Ler-
sehr treffend: „Erziehung bedeutet, eine      reform“ gegenüber, zeigt sich, dass es         nens hatte auch Wilhelm von Humboldt
Auslese der Welt durch das Medium der                                                        als Ziel der Bildung gesehen. Hier und
Person auf eine andere Person einwir-
ken zu lassen.“3 Und auch die neuere          4    Bauer, Joachim: Lob der Schule. Sieben
                                              Perspektiven für Schüler, Lehrer und Eltern.   6    Krautz, Jochen: Ware Bildung. Schule
Hirnforschung kommt zu dem gleichen
                                              Hamburg 2007, S. 14.                           und Universität unter dem Diktat der Ökono-
                                              5    Ladenthin, Volker: PISA und Bil-          mie. Kreuzlingen/München 2007.
3    Buber, Martin: Rede über das Erziehe-    dung? Volker Ladenthin im Interview mit        7    Liessmann, Konrad Paul: Theorie der
rische (1925). In: ders.: Reden über Erzie-   Rolf-Michael Simon. Neue Ruhr Zeitung,         Unbildung. Die Irrtümer der Wissensgesell-
hung. Gütersloh 200010, S. 42.                18.11.2007.                                    schaft. Wien 2006, S. 39.

                                                       Fromm Forum 13/2009                                                          89
Menschenbild und Erziehung

heute ist jedoch etwas ganz anderes ge-          sen werden.“ Wobei Effizienz sich auf           Quality Management“ (TQM). Dies zielt
meint, nämlich die dezidierte Vorberei-          die günstige Kosten-Nutzen-Relation            mittels verschiedener Umstrukturie-
tung auf ein anpassungsfähiges Leben             bezieht: „Effizienz wird nach dem öko-          rungen und Psychotechniken vor allem
in der Wirtschaft des Informationszeit-          nomischen Aufwand-(Kosten)-Ertrag-             auf die Selbstaktivierung der Mitarbeiter
alters.                                          Modell berechnet. Die Investitionen            durch Selbstmotivation und Selbstkon-
    In Folge davon gilt der Mensch vor           sollen sich rentieren. Über Rentabilität       trolle – heutige Lehrer kennen die Folgen
allem als „Humankapital“, in das in-             entscheidet primär nicht die Beschaffen-       bereits. Auch dazu später Genaueres.
vestiert werden muss, um Wirtschafts-            heit des Produkts (Qualität im primären             Insgesamt wird dieser Prozess der
wachstum zu generieren. Das damit                Sinne), sondern das Preis-Leistungsver-        inneren Ökonomisierung von Bildung
verbundene Menschenbild werde ich                hältnis und die Wettbewerbsposition            und Bildungswesen begleitet von de-
anschließend noch genauer erläutern.             auf dem Markt (Qualität im marktwirt-          ren äußerer Entstaatlichung und Priva-
    Ein auf Humankapitalproduktion               schaftlichen Sinne).“10                        tisierung: Bildung wird zur Ware, zum
zielendes Bildungswesen zeichnet sich                Weil man die Qualität von wirk-            handelbaren Gut und verspricht – wie
durch „Output-Orientierung“ aus. Ein             licher Bildung nicht mit derartigen Kri-       die eingangs zitierte Meldung des Ber-
Papier der Welt-Bank definiert den Be-            terien messen kann, ersetzt ein neuer          telsmann Konzerns zeigt – Milliarden-
griff sehr klar: „An orientation toward          Bildungsbegriff den alten – und dies           umsätze.
outcome means that priorities in educa-          sind eben die Kompetenzen. Dazu wei-
tion are determined through economic             ter unten noch mehr.
                                                                                                b) Humankapital: Das Menschenbild
analysis, standard setting, and measure-             Um dieses verbetriebswirtschaftlich-
                                                                                                   der ökonomisierten Bildung
ment of the attainment of standards.”8           te Bildungsdenken in die Schulen und
Ökonomische Kriterien, nicht allgemei-           Hochschulen zu implantieren, sollen            Eine der Grundlagen der „Übertragung
ne Bildungsideen und Erziehungsziele             diese „autonom“ sein und im „Wettbe-           ökonomischer Denkmodelle auf den
„determinieren“ demgemäß die Priori-             werb“ stehen. Jedem aufmerksamen Be-           Bildungsbereich“12 ist, wie bereits an-
täten im Bildungswesen. Der Bildungs-            obachter der Realität ist dabei klar, dass     gesprochen, die sogenannte „Humanka-
prozess erschöpft sich in formulierten           „Autonomie“ vor allem selbständige             pitaltheorie“, nach der Wirtschafts-
Ergebniserwartungen (Standards) und              Mängelverwaltung bedeutet. Dabei be-           wachstum vor allem aus Investitionen
deren Überprüfung (Evaluation). Re-              wirken Marktmechanismen nicht mehr             in den Bildungsbereich zu generieren
levant ist nun nur noch, was getestet            Freiheit und „Autonomie“ von Schulen           sei, da Wachstum heute allein aus tech-
und „belohnt“ wird. Da allgemeine Bil-           und Hochschulen, sondern verstärkte            nischem Fortschritt entstehen könne,
dungsziele nicht in prüfbare Standards           Kontrolle. Die Bildungsökonomie stellt         der wiederum auf wissenschaftlichen
zu fassen sind, können diese zwar po-            explizit fest, „dass wirtschaftliches Han-     Fortschritten beruhe. Daher werden
stuliert werden, tatsächlich konzen-             deln nur durch das Vorhandensein eines         einerseits wissenschaftliche Eliten wie
trieren sich Lehren und Lernen aber              entsprechenden Kontrolldrucks sicher-          andererseits flexible und adaptierbare,
automatisch auf die output-relevanten            gestellt werden kann“. Hierbei werden          „lebenslang lernende“ Arbeitskräfte
Faktoren. Und das sind nicht Bildungs-           „vier Kontrolltypen“ unterschieden:            benötigt.13 „Mit guter Bildung wird
und Erziehungsbemühungen, sondern                a) Konkurrenz durch Wettbewerb,                sich mikro- wie makroökonomisch viel
Absolventenzahlen,       Auslastungsquo-         b) die Definition von Leistungsstan-            Geld verdienen lassen. Es ist nicht un-
ten, Schulrankings etc.9 Dies verändert              dards (standards of performance),          anständig, sondern schlicht notwendig,
auch den Qualitätsbegriff. Zwar wird             c) die Strategie des Kostendrucks              ‚Humankapital’ als Produktionsfaktor
beständig von „Qualitätssicherung“ ge-               (cost-pressure),                           zu sehen, in den umso mehr investiert
redet, als erste Maßnahmen hierzu wer-           d) bürokratische Kontrollen.“                  wird, je höher die erwarteten Rendi-
den aber meist Stellen an Schule und                                                            ten sind“, so einer der Verfechter jener
Hochschulen gestrichen. Dieser schein-           Als effektivstes Mittel gilt dabei der         Theorie.14 Es ist sicher nicht unanstän-
bar zynische Vorgang hat jedoch eine             Konkurrenzdruck durch Wettbewerb.11            dig, durch gute Bildung zu materieller
Logik: Denn Qualität bedeutet nicht              Die Durchsetzung vermeintlich „wirt-           Wohlfahrt beizutragen; Bildung hierauf
mehr die „die wesentlichen und charak-           schaftlichen Handelns“ in Schule und           einzuschränken jedoch sehr wohl. Und:
teristischen Eigenschaften einer Sache           Hochschule dient demnach der Etablie-          Was bleibt, wenn Bildungsinvestitionen
(qualitas)“, „sondern Indikatoren, nach          rung expliziter Kontrollinstrumente in         nicht mehr hinreichende Renditen ein-
denen die Effizienz von Schulen gemes-            einer konkurrenzgeprägten Bildungs-            bringen? Wird dann nicht mehr in Bil-
                                                 landschaft. Dazu werden auch neuere            dung investiert?
                                                 Strategien der Managementtheorie auf               Hier zeigt sich das Grundproblem:
8    World Bank: Priorities and Strategies for
Education – A World Bank Review. Washing-
                                                 die Schulen übertragen wie das „Total          Wenn in die Bildung des Menschen
ton 1995, S. 94, http://www-wds.worldbank.                                                      nicht investiert wird, weil er ein Mensch
org/servlet/WDS_IBank_Servlet?pcont=det          10 Koch, Lutz: Eine neue Bildungstheo-
ails&eid=000009265_ 3961219101219.               rie? (Bildungsevaluation, Bildungsstandards,   12 Koch, a.a.O.
9    Vgl. auch Klausenitzer, Jürgen: Selb-       Grundbildung und eine neue Lehrerbildung),     13 Vgl. Kooths, Stefan: Wachstum durch
ständige Schule – Schule der Globalisierung.     S. 7, http://forum-kritische-paedagogik.de/    Wissenschaft. In: Dettling, Daniel/ Prechtl,
In: Sloot, Annegret / Nordhoff, Uwe (Hrsg.):     start/download. php?view.122. S. 8.            Christoph (Hrsg.): Weißbuch Bildung. Für
Frühes Sortieren, Trennen, Zurücklassen          11 Harms, Jens: Wirtschaftlichkeit unter Be-   ein dynamisches Deutschland. Wiesbaden
– Niedersachsens Antwort auf PISA? Gute          dingungen des New Public Management. In:       2004, S. 31-41.
Schule geht anders! Dokumentation der 59.        Weiß, Manfred/ Weishaupt, Horst (Hrsg.):       14 Straubhaar, Thomas: Humankapital:
Pädagogischen Woche in Cuxhaven 2003, S.         Bildungsökonomie und Neue Steuerung.           Devisenquelle der Zukunft. In: Dettling/
55.                                              Frankfurt/M. 2000, S. 139.                     Prechtl, S. 29.

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Bildung als Anpassung?

ist, sondern weil er verwertbar sein soll,    doch ein lohnendes Geschäft wäre, in
dann widerspricht das fundamentalen           die Ausbildung von Menschen zu in-                    3. Kompetenzen: Die Vereinnahmung
Errungenschaften und Übereinkünf-             vestieren. Die Geschäftsidee: Man gibt                   der Person
ten unserer Kultur: dass nämlich der          einem jungen Menschen Kredit für seine
Mensch ein Menschenrecht auf Bildung          Ausbildung und erhält anschließend le-                Der Kompetenzbegriff nimmt nun im
hat (Art. 26 der Allgemeinen Erklärung        benslang einen Teil von dessen Einkom-                Konzept einer ökonomisierten Bildung
der Menschenrechte der UNO).                  men. Die Spekulation wäre also, mög-                  eine zentrale Stelle in, denn er ersetzt
     Dieses Menschenbild macht das Co-        lichst geeignete, talentierte und später              das, was wir zuvor als „Bildung“ be-
ver eines Buches über „Humankapital“          erfolgreiche Kinder und Jugendliche zu                schrieben haben, durch ein „Surrogat“
bildhaft deutlich, das von der OECD,          finden, in die man investiert, um damit                von Bildung – ein Surrogat, das eben-
der „Organisation für wirtschaftliche                                                               so wie künstlicher Süßstoff komisch
Zusammenarbeit und Entwicklung“,                                                                    schmeckt und unklare Nebenwirkungen
die ja auch für die PISA-Studien ver-                                                               hat.
antwortlich ist, herausgegeben wird.
Den Buchumschlag ziert das Bild eines
                                                                                                    a) Im „Dschungel der Kompetenzen“
Babys, das offenbar versucht sich auf-
zurichten. Das Kind wird nicht von vor-                                                             Was ist nun Kompetenz eigentlich?
ne gezeigt, sondern herabgebeugt. Wir                                                               Der Begriff „Kompetenz“ hat einen so
sehen also nicht das Babygesicht mit                                                                starken Bedeutungswandel durchge-
seinem Kindchenschema, das bei jedem                                                                macht, dass die saubere Rekonstrukti-
Menschen eine Urreaktion hervorruft,                                                                on der Begriffsgeschichte kaum einen
nämlich Mitgefühl und Fürsorge. Das                                                                 Erkenntnisgewinn für seine derzeitige
Foto ist per digitaler Bildbearbeitung                                                              inflationäre Verwendung insbesondere
in ein kühles Blau getaucht. Diese kalte                                                            in der Pädagogik bringt. Noch vor fünf-
Farbigkeit widerspricht dem eigentlich                                                              zig Jahren hätte kaum jemand Kom-
assoziierten warmen, positiven Gefühl                                                               petenz als „persönliches Fähigsein zu
und passt nicht zum Motiv des Babys.                                                                etwas“ verstanden. Kompetenz war die
ist demnach so angelegt, dass es den                                                                amtliche Zuständigkeit. Das hatte mit
Betrachter vom Kind distanziert: Man-                                                               Fähigkeit nichts zu tun, sondern mit
gelnde Erkennbarkeit des Kindchen-                                                                  Zuschreibung. Die Bedeutung lebt noch
schemas und kalte Farbe behindern die                                                               am ehesten im negativen Terminus der
spontane, urmenschliche Reaktion der                                                                „Kompetenzüberschreitung“ fort.16
warmherzigen Zuwendung und mitfüh-                                                                      Das heutige Verständnis ist zwar
lenden Freude. Das Kind will sich auf-                                                              auch im klassischen lateinischen Verb-
richten, muss sich aber scheinbar gegen                                                             gebrauch angelegt („zu etwas fähig
die großbuchstabige, lastende Schrift                                                               sein“), entstammt aber einer jüngeren
stemmen, die ihm auferlegt, „Human             Abb. 2: Keeley, Brian: Human Capital. How what you   Ableitung der Motivationspsychologie
                                                   know shapes your life. OECD insights. 2007
Capital“ zu sein oder zu werden: Das                                                                aus der Biologie, die unter Kompetenz
ist die Aufgabe, die es zu stemmen gilt.                                                            eine angelegte, spezialisierte und durch
Andererseits besagt der Untertitel, dass                                                            Zeit begrenzte Fähigkeit und Zustän-
das Wissen unser Leben forme, Wissen,                                                               digkeit eines Organismus versteht, auf
das wir zu erwerben hätten, um eben           einen möglichst hohen Ertrag einzufah-                einen Impuls mit einer bestimmten Ent-
produktives Humankapital zu sein. So          ren. Friedman räumt selbst ein, dass dies             wicklung zu reagieren. Diese Nuance
wird der Zweck des Heranwachsens              „teilweiser Sklaverei“ gleichkäme! Man                – also die Fähigkeit zur intrinsisch mo-
umgedeutet: Der Menschen wächst he-           würde sich einen Menschen halten, um                  tivierten Entwicklung mit dem Ziel der
ran und lernt, um Profit zu bringen.           ihn finanziell auszunutzen. Dennoch                    optimalen Anpassung an die Umgebung
     Die visuelle Rhetorik zielt offenbar     erscheinen Friedman alle Bedenken ge-                 – prägt dann auch den heutigen Kom-
darauf, eine neue Sichtweise auf das          gen eine solche Praxis als „irrationale               petenzbegriff.
kleine Kind zu verankern, nämlich es          Ablehnung“ und nur die „Unvollkom-                        Anders als der Qualifikations-Begriff,
von Geburt an als künftigen Arbeitneh-        menheit des Marktes führte zu einer zu                den er ablöste, meint er somit nicht al-
mer und Investitionsobjekt zu betrach-        geringen Investitionstätigkeit in Bezug               lein äußeres, fachlich bezogenes Kön-
ten. Der fürsorgliche Blick soll einem        auf menschliches Kapital“.15 Deutlicher               nen. Wenn jemand etwas qualifiziert
abwägenden Schätzen weichen, was              kann man kaum formulieren, was die                    ausführt, so macht er gute Arbeit, Ar-
wohl aus diesem Kind werden soll –            „Freiheit“ des neuen Kapitalismus be-                 beit von guter Qualität, die ihn als qua-
oder zu machen ist.                           deutet: Gewinn für die einen, Sklaverei               lifiziert erscheinen lässt. Qualifikation
     Dass diese Deutung nicht übertrie-       für die anderen. Unsere Bildinterpreta-               bezeichnet also eine fachliche Fähigkeit.
ben ist, zeigt ein Blick in die „Bibel“ der   tion ist nicht überzogen und zeigt das                Bezeichnet man denselben Menschen
heutigen neoliberalen Wirtschaftsweise        Menschenbild des neuen Kapitalismus:                  deshalb als kompetent, so verschiebt
des Nobelpreisträgers für Wirtschaft,         Hier krabbelt ein künftiger Sklave.
Milton Friedman. Der entwickelte 1962                                                               16 Vgl. Ritter, Joachim/ Gründer, Karlfried
in seinem Buch „Kapitalismus und Frei-        15 Friedman, Milton: Kapitalismus und                 (Hrsg.): Historisches Wörterbuch der Philo-
heit“ die „amüsante“(!) Idee, dass es         Freiheit. Stuttgart 1971, S. 138f.                    sophie, Bd. 4. Darmstadt 1976, Sp. 918ff.

                                                        Fromm Forum 13/2009                                                                91
Menschenbild und Erziehung

sich der Fokus von der fachlichen Qua-
lifikation auf seine Persönlichkeit: Kom-
petenz betont die persönliche Fähigkeit.
Noch vor jeder Definition zeigt sich be-
reits aus dem Alltagsverstehen, dass
Kompetenz auch persönliche Einstel-
lungen, Haltungen, Werte meint, also
auf die ganze Person abzielt, nicht nur
auf ihre fachliche Fähigkeit. Dies bestä-
tigt die derzeit meistzitierte Definition
von Kompetenz bei Weinert als „die bei
Individuen verfügbaren oder durch sie
erlernbaren kognitiven Fähigkeiten und
Fertigkeiten, um bestimmte Probleme
zu lösen, sowie die damit verbundenen
motivationalen, volitionalen und sozi-
alen Bereitschaften und Fähigkeiten,
um die Problemlösungen in variablen
Situationen erfolgreich und verantwor-
tungsvoll nutzen zu können.“17
    „Demnach“ – so das „Handbuch                               Abb. 3: Nivea Werbung:
                                                         Anti-Age-Creme mit Kernkompetenz
Kompetenzmessung“ – „sind Kompe-
tenzen Dispositionen selbstorganisier-
ten Handelns, sind Selbstorganisations-
dispositionen.“18 Diese Definition, die            der Versuch, den Begriff positiv zu be-
vor allem auf die Fähigkeit zur Selbstor-         setzen und so zu retten, kaum Aussicht
ganisation verweist, wird sich noch als           auf Erfolg.
wesentlich erweisen.                                  Wie kommt es also zu dem unglaub-                  Abb. 4: www.soft-skills.com
    Heinrich Roth hat den Kompetenz-              lichen Popularitätsschub des Kompe-
begriff Anfang der 70er Jahre als erster          tenzbegriffs? Denn wer kennt sie nicht:
in die pädagogische Diskussion einge-             Methodenkompetenz,         Rechtschreib-
führt, aber dieser wie auch weitere Ver-          kompetenz, Lernkompetenz, Medien-           ernüchternden Fazit, dass Kompetenz-
suche, einen bildungstheoretisch fun-             kompetenz, Sozialkompetenz, Selbst-         Begriffe heute meist weder theoretisch
dierten Kompetenzbegriff zu etablieren,           kompetenz, Persönlichkeitskompetenz,        noch empirisch fundierte Ad-hoc-Set-
blieben folgenlos.19 Solche Ansätze, wie          Führungskompetenz,         professionelle   zungen nach jeweiligem Bedarf sind.
etwa Heinz-Werner Wollersheims päda-              Kompetenz,        Umsetzungskompetenz,      Demnach existiere trotz der anfangs
gogisch motivierter Kompetenz-Begriff,            Humankompetenz,        Kritikkompetenz,     versuchten begrifflichen Eingrenzung
der diesen als „Befähigung zur Bewäl-             mentale Kompetenz – und Kernkompe-          keine einheitliche Begriffsdefinition.
tigung“ verstanden haben wollte, wer-             tenz? Die Begriffe sind so populär, dass        Zugleich wird aber mit dem Verspre-
den hier bewusst ausgeklammert. Es ist            bereits die Werbung auf ihre suggestive     chen des Kompetenz-Trainings inner-
eben gerade nicht eine solche „Kompe-             Wirkung setzt (Abb. 3). Aber könnte je-     halb und außerhalb der Schule fleißig
tenzerziehung, welche die personale               mand einleuchtend definieren, was da-        hantiert. So werden Persönlichkeitsei-
Existenz des Menschen im Blick hat“20,            runter jeweils zu verstehen sein soll?      genschaften zu Kompetenzen herunter-
die derzeit durchgesetzt wird. Und wie                Ich könnte aus meiner momen-            gerechnet und als Trainingsbausteine
die weitere Darstellung aufzeigt, hat             tanen Tätigkeit ad hoc einen weiteren       für „Soft Skills“ angeboten. Diese Abbil-
                                                  Kompetenz-Begriff konstruieren: die         dungen (Abb. 4) zeigen recht treffend,
17 Weinert, Franz E.: Vergleichende Lei-          „In-Königsfeld-im-Schwarzwald-Sonn-         worum es dabei geht: Auch wenn dort
stungsmessung in Schulen - eine umstrittene       tagmorgens-um-neun-Uhr-Vortrag-hal-         von Empathie die Rede ist, ist nicht Em-
Selbstverständlichkeit. In: ders. (Hrsg.): Lei-   ten-Kompetenz“, und ich würde flugs          pathie als menschlicher Wert, gar im
stungsmessungen in Schulen. Weinheim und
                                                  die dazu nötigen Teilkompetenzen de-        Sinne der „Ehrfurcht vor dem Leben“
Basel 2001, S. 27f.
18 Erpenbeck, John / von Rosenstiel, Lutz:
                                                  finieren (Wecker-auf-halb-acht-stellen-      als ethische Qualität des Mitfühlens mit
(Hrsg.): Handbuch Kompetenzmessung. Er-           Kompetenz, Kritisch-über-den-Kompe-         dem Anderen gemeint. Nein, hier geht
kennen, verstehen und bewerten von Kom-           tenz begriff-nachdenken-Kompetenz           es um das äußerliche Anpassen an öko-
petenzen in der betrieblichen, pädagogischen      etc.) und könnte auch gleich einen          nomisch verursachte Situationen. Die
und psychologischen Praxis. Stuttgart 2003,       passenden Bachelor-Studiengang ent-         Instruktionsinszenierung weist „Kritik-
S. X-XI.                                          werfen, der die nötigen Hard-Facts und      kompetenz“ als die Fähigkeit aus, selbst
19 Vgl. Rekus, Jürgen: Kompetenz – ein            Soft-Skills trainiert.                      kritisiert zu werden und andere zu kri-
neuer Bildungsbegriff? In: engagement. Zeit-
                                                      Insofern kommt Hans Dieter Hu-
schrift für Erziehung und Schule 3/2007, S.
156.                                              ber nach einer Expedition durch den
                                                                                              Kompetenzen. In: ders./ Lockemann, Betti-
20 Wollersheim, Heinz-Werner: Kompetenz-          „Dschungel der Kompetenzen“21 zu dem        na/ Scheibel, Michael (Hrsg.): Visuelle Netze.
erziehung: Befähigung zur Bewältigung.                                                        Wissensräume in der Kunst. Ostfildern-Ruit
Frankfurt/M. 1993, S. 252.                        21   Huber, Hans Dieter: Im Dschungel der   2004, S. 15-29.

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Bildung als Anpassung?

tisieren und dennoch weiter im Team           verstehen, zielt das Kompetenz-Konzept      es allein um Fähigkeitserwerb zwecks
zu funktionieren – eben im Handeln            der OECD gerade auf diese Indienst-         Funktionieren geht, sind Wertfragen
selbstorganisiert zu sein und zu bleiben,     nahme. In einer die „Definition und          gleichgültig. Das Gelernte ist wert-los
ohne aber die Situation selbst in Frage       Auswahl von Schlüsselkompetenzen“           in doppelter Hinsicht: Es interessiert
zu stellen.                                   zusammenfassenden OECD-Broschüre            den Schüler nicht und es vermittelt kei-
     Dabei unterstellen diese Programme,      aus dem Jahr 2005 wird die Antwort          ne Werte. Kompetenzen sind flexibel für
dass solche Fähigkeiten per „Training“        auf die Frage gegeben: „Welche Kom-         jeden Zweck einsetzbar – auch dafür,
geradezu technisch machbar seien. Das         petenzen benötigen wir für ein erfolg-      neue Waffen zu entwickeln oder in den
Soziale und die Fähigkeit zur zwischen-       reiches Leben und eine gut funktio-         Krieg zu ziehen. Volker Ladenthin fasst
menschlichen Begegnung beschränken            nierende Gesellschaft?“24 Die OECD          dies treffend für die von PISA geprüften
sich auf eingeübte Kommunikationsre-          beansprucht also nicht weniger, als         Kompetenzen zusammen: „Schüler sol-
geln, der innere Zustand der beteiligten      die zweieinhalbtausend Jahre disku-         len nach PISA nicht lernen, nach dem
Personen bleibt ausgeblendet. Sozi-           tierte philosophische Frage nach dem        Sinn des Lernens zu fragen, sondern
ale Kompetenz ist dann die Fähigkeit,         guten Leben und einer gelingenden           sie sollen Aufgaben lösen, gleichgültig
mit eigentlich menschlich unbefriedi-         Gemeinschaft beantworten zu können.         welche. Der von PISA als kompetent Ge-
genden Situationen zurechtzukommen,           Hierzu definiert sie: „Eine Kompetenz        prüfte soll später einmal ebenso Baby-
sich eben anzupassen an das, was ist.         ist mehr als nur Wissen und kognitive       nahrung produzieren können wie Land-
Soziabilität wird von der Fähigkeit zu        Fähigkeiten. Es geht um die Fähigkeit       minen. Angesichts der Kriterien von
bereichernder zwischenmenschlicher            der Bewältigung komplexer Anforde-          PISA (und einer auf PISA ausgerichte-
Begegnung zu einem Theater der Mas-           rungen, indem in einem bestimmten           ten Schule) sind beide Aufgaben gleich
ken – denn das ist es, was diese Bilder       Kontext     psychosoziale    Ressourcen     gültig. Und sie bedürfen der gleichen
eigentlich zeigen. Personalität reduziert     (einschließlich kognitive Fähigkeiten,      Kompetenzen.“26 Wir werden noch se-
sich auf den Wortstamm, die persona,          Einstellungen und Verhaltensweisen)         hen, wie entscheidend dieser Punkt ist.
die Rollenmaske des antiken Theaters.         herangezogen und eingesetzt werden.“            Die Illusion, dass es sich beim Kom-
Kompetenzen bemächtigen sich der              Die OECD-Bildungsminister ergänzen,         petenz-Konzept um einen dem alten
Person, höhlen diese aus zu einer per-        dass „der Begriff ‚Kompetenzen’ Wis-        gleichwertigen neuen Bildungsbegriff
sona, einer Maske für Rollen im Theater       sen, Fertigkeiten, Einstellungen und        handeln könnte, zerstört aber auch die
von Beruf und Alltag, machen den Men-         Wertvorstellungen umfasst.“25 Hier be-      OECD selbst gründlich, wenn sie defi-
schen für jede Rolle verfügbar. Damit         stätigt sich die obige Vermutung: Kom-      niert, Schlüsselkompetenzen sollten
zerfällt der Mensch zugleich in nicht         petenzen beschreiben nicht nur Wissen       dazu befähigen, „sich an eine durch
integrierte Teilbereiche, er ist nicht In-    und Können, sondern funktionale Per-        Wandel, Komplexität und wechselsei-
dividuum, sondern Dividuum.                   sönlichkeitseigenschaften.                  tige Abhängigkeit gekennzeichnete Welt
                                                  Hiervon lässt sich mancher Pädago-      anzupassen.“27 „Welche anpassungsfä-
                                              ge und Didaktiker täuschen: War denn        higen Eigenschaften werden benötigt,
b) Die Kompetenz der OECD
                                              nicht dies, also Persönlichkeitsbildung,    um mit dem technologischen Wandel
Gerade dieses Kompetenzverständnis            gerade das Kernanliegen des humani-         Schritt zu halten?“28 Bildung ist hier
wird nun aber zu einem Schlüssel-             stischen Bildungsbegriffs? Beschreiben      also eine Anpassungsleistung an ökono-
begriff gemacht. Nach Huber waren             Kompetenzen nicht einfach Konkreti-         mische Erfordernisse bzw. an das, was
2004 70% aller Buchpublikationen, die         sierungen des Bildungsbegriffs? Nein,       die OECD dafür hält. Anpassung war je-
„Kompetenz“ im Titel führen, in den           denn im Unterschied zur Kompetenz           doch gerade nicht das Ziel eines huma-
letzten sieben Jahren erschienen.22 In        war Bildung immer an Inhalte gebun-         nistischen Bildungskonzepts, sondern
der Popwelt nennt man so etwas einen          den: die zentrale Frage war immer die       Mitmenschlichkeit, Vernunftfähigkeit,
„Hype“, und man weiß genau, wie die-          der Auswahl bildungswirksamer Inhalte,      Kritikfähigkeit. Kompetenzen zielen da-
ser mit PR-Strategien medial inszeniert       die in der personalen Vermittlung per-      gegen gerade nicht auf einen kritisch-
und forciert wird. Und der fällt just in      sönlichkeitswirksam werden konnten.         reflexiven Weltbezug, sondern fördern
den Zeitraum vor und nach der ersten          Kompetenzen sind jedoch reine Funk-         die Affirmation der gegebenen Umstän-
PISA-Studie. Allein diese zeitliche Koin-     tionsfähigkeiten, die wertunabhängig        de. Ihr Wert wird von der OECD ganz
zidenz, die noch nichts beweist, deutet       sind: Lesekompetenzen kann ich an           klar mit dem „messbaren Nutzen sowohl
jedoch an, dass der Kompetenz-Begriff         „Faust“ oder an der Betriebsanleitung       in wirtschaftlicher als auch in sozialer
maßgeblich durch die OECD gesetzt,            für einen MP3-Player erwerben. Bislang      Hinsicht“ angegeben. Wenn also an an-
forciert und implizit definiert wurde.         waren wir aber davon ausgegangen,           derer Stelle als Kern der Schlüsselkom-
    Während wir in einem personalen           dass Betriebsanleitungen nicht den glei-    petenzen „die Fähigkeit zum eigenstän-
Bildungsverständnis das „Attribut des         chen Bildungswert haben wie Goethes         digen Denken als Ausdruck moralischer
Personalen [als] die radikale Absage          Schriften, weshalb letztere auf dem
an alle Versuche ihrer Indienstnahme“23       Lehrplan standen, erstere nicht. Wenn       26 Ladenthin, Volker: PISA und Bil-
                                                                                          dung? Volker Ladenthin im Interview mit
                                                                                          Rolf-Michael Simon. Neue Ruhr Zeitung,
22 Huber, a.a.O., S. 15.                      Bildung. Winfried Böhm zum 22. März 2002.   18.11.2007.
23 Heitger, Marian: Personale Pädagogik.      Würzburg 2002, S. 61.                       27 OECD: Definition und Auswahl von
Rückfall in Dogmatismus oder neue Mög-        24 OECD: Definition und Auswahl von          Schlüsselkompetenzen. Zusammenfassung.
lichkeit der Grundlegung? In: Harth-Peter,    Schlüsselkompetenzen. Zusammenfassung.      2005, www.oecd.org, S. 9 (Hervorhebung J.
Waltraud / Wehner, Ulrich / Frell, Frithjof   2005, www.oecd.org, S. 6.                   K.).
(Hrsg.): Prinzip Person. Über den Grund der   25 Ebd.                                     28 Ebd., S. 8 (Hervorhebung J. K.).

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Menschenbild und Erziehung

und intellektueller Reife sowie zur
Übernahme von Verantwortung für das
eigene Lernen und Handeln“29 genannt
wird, so sind dies blumige Worte, die al-
lenfalls auf die Verwertbarkeit auch von
Moralität in Arbeitsverhältnissen zielt.
Gemeint ist nicht, dass etwa moralische
und intellektuelle Reife befähigen soll,
genau diese Form von Arbeitsverhält-
nissen kritisch zu hinterfragen und auf
ihre Moralität hin zu bewerten.
    Derart wird Denken und Fühlen,
werden sogar „soziale Beziehungen“
und die „persönliche Identität“30 für vor-
gegebene ökonomische Zielsetzungen
instrumentalisiert: „Die Bildung von
sozialem Kapital ist wichtig“, denn
„gute zwischenmenschliche Beziehun-                   Abb. 5: OECD: Definition und Auswahl von Schlüsselkompetenzen. Zusammenfassung. 2005,
gen sind […] zunehmend auch für                                                         www.oecd.org, S.7.
den wirtschaftlichen Erfolg wichtig.“31
Kreativität, intellektuelle Reflexivität,
Emotionalität und Sozialität, also die
ganze menschliche Person, werden in          Profile dann demnächst zu Bewerbungs-                 wechselnden Teams entsprechen: Spra-
dieses Anforderungsschema integriert.32      unterlagen, vielleicht werden sie sogar              che ist wie Computertechnik ein Mittel
Sie sollen den „sozialen und beruflichen      zentral erfasst. Dass dies nicht schlech-            und Medium der Interaktion, man muss
Anforderungen der globalen Wirtschaft        te Science-Ficiton ist, zeigen Entwick-              auf die Zusammenarbeit in heterogenen
und der Informationsgesellschaft“ die-       lungen in NRW: Die hier gesetzlich                   Gruppen eingestellt sein, also mit Kol-
nen.33                                       eingeführte „Bildungsdokumentation“                  legen unterschiedlicher Kulturen und
    PISA und andere Studien legen die-       für Kindergartenkinder setzt genau an                Herkunft umgehen können und benö-
se Kompetenzen zugrunde und sollen           den genannten Kompetenzen an. Zwar                   tigt – in gewissem Maße – eigenstän-
künftig nicht allein kognitive Fähig-        können die Eltern der Anlage dieses                  dige Handlungsfähigkeit, um Entschei-
keiten, sondern „Einstellungen und           Portfolios (noch) widersprechen. Und                 dungen selbständig treffen zu können.
Neigungen“ messen34, um die „Erstel-         es klingt für sich genommen so harm-                     Dieses Modell in der Anwendung
lung von Kompetenzprofilen“35 jedes           los und wohlgemeint, dass es von den                 verdeutlicht das Kompetenzkonzept
Schülers zu ermöglichen. Da es hier,         Wohlfahrtsverbänden kräftig unterstützt              eines großen deutschen Konzerns:
wie gezeigt, um Persönlichkeitsmerk-         wird. Doch erhalten dezidierte und                   Zunächst wird mit blumigen Worten
male geht, entsteht also ein Persönlich-     regelmäßige Protokolle über Sprach-                  ein humanistisches Menschenbild als
keitsprofil. Dieses soll wiederum nicht       kompetenz, Kommunikationsfähigkeit,                  Grundlage der „Firmenkultur“ beschrie-
mehr nur während der Schulbesuchs-           Kreativität, soziale Kompetenzen, Selb-              ben: Man sieht den Menschen „als auto-
zeit erstellt werden, sondern auch den       ständigkeit, Emotionalität, Empathie,                nomes und individuelles Mitglied einer
Erwachsenen bei seinem „lebenslangen         Umgang mit Komplexität u.a.m.37 im                   Gemeinschaft“, er sei „ganzheitlich, als
Lernen“ begleiten. So will die OECD          hier aufgerissenen Kontext eine ganz                 emotionales, soziales und kreatives We-
„die Bewertung von Kompetenz bei Ju-         andere Konnotation: Das Kompetenz-                   sen mit eigener Sinnstruktur zu sehen“.
gendlichen und Erwachsenen anhand            Konzept dient der Vereinnahmung der                  Diese „definierbaren Werte“ bildeten die
gemeinsamer Kriterien“ gemäß einem           Person für ökonomische Zwecke.                       Grundlage der Unternehmenskultur und
„Modell der mentalen Entwicklung“ zur                                                             „lassen sich in Form von Kompetenzen
Grundlage „für die Entwicklung einer                                                              darstellen“. Aus Werten werden hier
kohärenten Gesamtstrategie“ machen.36        4. Kompetenz im neuen Kapitalismus                   also Kompetenzen, und diese formulie-
Im Klartext: Es sollen lebenslange Per-                                                           ren ein Anforderungsprofil, oder besser,
sönlichkeitsprofile mit Einstellungen,        Auch dies macht die OECD selbst deut-                ein marktstrategisches Anpassungspro-
Werten und Haltungen jedes Schülers          lich: In einem Diagramm definiert sie                 gramm für die Mitarbeiter: „Verbindlich
und künftigen Arbeitnehmers entste-          drei Kategorien von Schlüsselkompe-                  gelebt, trägt das Wertegerüst dazu bei,
hen. Möglicherweise gehören solche           tenzen, die auch in ihrer grafischen                  dass [die Firma] positiv wahrgenommen
                                             Darstellung genau den Handlungs-                     wird und eine ebensolche Ausstrahlung
29   Ebd., S.10.                             feldern und Anforderungen in einem                   hat.“ Die Werte „ermöglichen Wettbe-
30   Ebd., S. 14, 16.                        modernen, globalisierten Unternehmen                 werbsvorteile und sichern den Erfolg“,
31   Ebd., S. 14.                            mit flachen Hierarchien und ständig                   „unser Verhalten spiegelt unsere Iden-
32   Vgl. ebd., S. 10f.                                                                           tifikation mit den Werten wider. Das
33   Ebd., S. 12.                                                                                 Wertesystem entspricht unserer inneren
                                             37 Vgl. Beobachtungsbogen zur Bildungs-
34   Ebd., S. 18.                            dokumentation des Caritasverbandes für die           Einstellung und Überzeugung, unsere
35   Ebd., S. 19.                            Diözese Münster e.V., Referat Tageseinrich-          Handlungen und Entscheidungen sind
36   Ebd.                                    tungen für Kinder. 2004.                             darauf abgestimmt.“

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Bildung als Anpassung?

     Die Corporate Identity wird also         aktiviert und zu permanenter Selbstop-            Und mancher sich fortschrittlich
ausgeweitet auf den Kern der Überzeu-         timierung angetrieben werden. „Self-          wähnende Pädagoge läuft Gefahr, hier-
gungen des Einzelnen, der sich inner-         Empowerment“ der Arbeitnehmer ist             bei auch noch ungewollt zu assistieren,
lich identifizieren muss, um im Konzern        gefragt, die flexibel, adaptierbar, lern-      denn vieles, was derzeit als „neue Me-
arbeiten zu können. Das ist letztlich der     bereit und kreativ sein müssen.               thoden“ allerorten angepriesen wird,
Versuch eines totalitären Zugriffs auf             Die scheinbare Humanisierung der         spielt jenem „neuen Kapitalismus“ ge-
die Person über das Kompetenzmodell.          Arbeit, der Zugewinn an Freiheit, Selb-       rade in die Hände: Die Auflösung der
     Schon Michel Foucault und Gilles         ständigkeit und Entscheidungskompe-           Klassenverbände, Freiarbeit, Stationen-
Deleuze haben beschrieben, dass und           tenz in flachen Hierarchien, Teamarbeit        lernen, Gruppenarbeit, Portfolio-Metho-
wie der neuere Kapitalismus dazu neigt,       und erhöhte Verantwortung werden              de, Lernwerkstatt usw. sowie überhaupt
ein Kontrollsystem aufzubauen, das            aber erkauft mit einer Kontrolle der In-      die Überbetonung der Methodik vor
nicht mehr über äußerliche Disziplin          nensteuerung des Mitarbeiters: „Umge-         der Lehrer-Schüler-Beziehung drohen,
funktioniert, sondern über die Selbstak-      kehrt dringen die neuen Strukturen, die       im Sinne dieser Subjektivierungstech-
tivierung und Selbstkontrolle der Arbeit-     ein umfassenderes Engagement fordern          niken, ökonomisch instrumentalisiert
nehmer mittels „Selbsttechnologien“.38        [...], in gewisser Weise gerade aufgrund      zu werden. Zugespitzt formuliert: Ge-
Grundsätzlich arbeitet diese „postfor-        ihrer größeren Menschlichkeit tiefer in       nau solche reformpädagogisch zu selb-
distische“ Produktionsweise nicht mehr        das Seelenleben der Menschen ein, von         ständigem Funktionieren erzogene jun-
nach dem Muster des Fließbandes, das          denen erwartet wird, dass sie – wie es        gen Leute braucht die neue Ökonomie.
Arbeit in kleinste Teilschritte zerschnei-    heißt – sich ihrer Arbeit hingeben. Da-       Hartman macht das an der Portfolio-
det, die genau überwacht werden und           durch ermöglichen sie erst eine Instru-       Methode deutlich: „Schon der Name ist
den Arbeitenden zum Automaten de-             mentalisierung der Mitarbeiter in ihrem       der kapitalistischen Ökonomie entnom-
gradieren. Vielmehr begann beim japa-         eigentlichen Menschsein“, so Luc Bol-         men, ein Begriff für eine Sammelmap-
nischen Autobauer Toyota (daher auch          tanski und Ève Chiapello in ihrer maß-        pe von Vermögens- und Wertpapierbe-
die Rede vom „Toyotismus“) in den 80er        geblichen Studie über den „neuen Geist        ständen. SchülerInnen sollen von der
Jahren eine Entwicklung, die die Be-          des Kapitalismus“.39                          Grundschule an in einer Sammelmappe
wältigung komplexerer Produktionspro-              Qualitätskontrolle wiederum be-          Arbeitsbestände, Lernergebnisse, Quali-
zesse Teams von Arbeitern überträgt,          deutet nun, die „Selbstkontrolle der          fikationen und Arbeitsproben sammeln,
um so deren Initiative und Motivation         Produzenten“ zu kontrollieren.40 Die          laufend selbst neu bewerten und damit
und damit Produktivität zu erhöhen.           Parallelen zum Testregime in der Fol-         Fähigkeiten der Selbstrechenschaft,
Statt Außenkontrolle kontrollieren sich       ge von PISA sind evident, und auch            -orientierung an Leistungsmarken und
Teams nun selbst, Qualität entsteht nicht     an den Schulen und Hochschulen füh-           -vereinbarungen, -evaluation, -steue-
durch nachgelagerte Kontrolle, sondern        ren angebliche Autonomie und Selbst-          rung, -reflexion entwickeln, standardi-
durch Selbstkontrolle. Während also im        steuerung faktisch zu immer stärkerer         sieren und vor allem für die Kontrolle
alten Produktionsprozess der Einzelne         Kontrolle bzw. Selbstkontrolle. Da nun        im Sinne einer totalen Selbstüberant-
nur Teil eines mechanischen Ablaufs           aber jeder selbst für seinen Erfolg ver-      wortung transparent machen.“42
war, gegen den er aber immer noch             antwortlich, weil „autonom“ ist, liegen           Sehr deutlich formuliert wird dieser
seine Subjektivität in Stellung bringen       die Defizite immer beim Einzelnen; es          Zusammenhang von dem sich selbst als
konnte, wird gerade diese Subjektivität       lässt sich keine Verantwortung mehr ab-       Musterbeispiel einer reformorientierten
nun benutzt, um die Produktivität zu          wälzen – nicht auf den Chef, nicht auf        Schule verstehenden „Institut Beaten-
erhöhen. Der Auflösung der Produkti-           die Ministerien, die sich damit aus der       berg“ in der Schweiz. Auszüge aus der
onsstraßen in kooperierende Teams, die        Affäre ziehen und Defizite an die „selb-       Selbstbewerbung entwerfen eine ver-
durchaus humanisierende Aspekte hat,          ständigen“ Untereinheiten delegieren.         meintlich „fortschrittliche“ Schule, die
steht die effizientere Aktivierung aller            All die Schlagworte der Bildungs-        die Kinder jedoch exakt in die aufge-
Ressourcen des Einzelnen gegenüber,           ökonomie, die wir zuvor gehört haben,         zeigte Ökonomisierung einpasst:
der sich nun nicht mehr innerlich ge-         von Standards, Evaluationen, Output-               „In einer Zeit zunehmender Kom-
gen den Produktionsprozess abgrenzen          Orientierung, Qualitätssicherung und              plexität werden Selbstorganisation,
kann: Er ist nun selbst Teil des Unter-       Effizienz gehören in dieses betriebswirt-          Eigeninitiative und Selbstwirksam-
nehmens, im Unternehmen ein Unter-            schaftliche Selbst-Kontrollregime.41              keit zu zentralen Aspekten einer
nehmer seiner selbst („Intrapreneur“).                                                          erfolgreichen     Lebensgestaltung.
     Diese neue Steuerungstechnik wird                                                          Grundlage dafür ist der Glaube an
                                              39 Boltanski, Luc / Chiapello, Ève: Der
heute unter dem Schlagwort „Total             neue Geist des Kapitalismus. Konstanz 2006,
                                                                                                die eigenen Fähigkeiten und die
Quality Management“ gefasst und wird          S. 145.                                           systematische Entwicklung dieser
im Zuge der „Bildungsreform“ auch auf         40 Bröckling, Ulrich: Totale Mobilma-             Kompetenzen. Das Ziel heisst: Fit
die Schule übertragen: Mit Rezepten           chung. Menschenführung im Qualitäts- und          for Life.
von Autonomie, Verantwortung, Flexi-          Selbstmanagement. In: Bröckling, Ulrich           Lernen ist eine Dauerbaustelle.
bilität und Kreativität sollen Mitarbeiter    / Krasmann, Susanne / Lemke, Thomas               Deshalb findet sich neben jedem
                                              (Hrsg.): Gouvernementalität der Gegenwart.        Arbeitsplatz ein Baustellenschild
                                              Studien zur Ökonomisierung des Sozialen.
                                                                                                mit den wichtigsten Kompetenzra-
38 Vgl. Lemke, Thomas / Krasmann, Su-         Frankfurt/M. 2000, S. 136.
sanne / Bröckling, Ulrich: Gouvernementali-   41 Zum gesamten Zusammenhang vgl.
tät, Neoliberalismus und Selbsttechnologie.   Krautz, Jochen: Ware Bildung. Schule und      42 Hartman, Detlef / Geppert, Gerald: Clu-
Eine Einleitung. In: Bröckling / Krasmann /   Universität unter dem Diktat der Ökonomie.    ster. Die neue Etappe des Kapitalismus. Ber-
Lemke 2000, S. 7-40.                          Kreuzlingen/München 2007.                     lin/Hamburg 2008, S. 204.

                                                      Fromm Forum 13/2009                                                           95
Menschenbild und Erziehung

     stern. Sie stecken den fachlichen          das sich im Schulbereich doch recht        ler Zeiten immer schon gewusst, dass
     Erwartungshorizont ab und bilden           ähnlich dem Klima in der Deut-             die Schwächung des menschlichen Be-
     den Referenzwert für die Arbeiten          schen Bank anfühlt. Das ist aller-         zugs, die Auflösung der Bindungen die
     der Schülerinnen und Schüler. [...]        dings eine atmosphärische Sache,           Herrschaftstechnik der Wahl ist. Nichts
     Die    systematische     Förderung         die nicht einfach zu beschreiben ist,      anderes besagt die alte Maxime „divide
     persönlicher Lern- und Arbeits-            am besten vielleicht noch anhand           et impera, solve et coage“: löse die Bin-
     techniken zählt zu den wichtigen           der aufdringlichen, penetranten            dungen und separiere die Menschen,
     Zielen. ‚Gewusst wie’ heisst die De-       PR-Sprache, die sich meinem Emp-           und du kannst ungehindert Zwang aus-
     vise. Dazu gehören Reflexion und            finden nach in Seminaren und                üben und herrschen.
     Bewusstsein über Lernprozesse              Schulen allmählich einschleicht.“
     ebenso wie nützliche Selbstfüh-
     rungs-Instrumente und modernes          Ich brauche hier wohl nicht zu betonen,       5. Strategien der Durchsetzung: Von
     Equipment.“43                           dass es mir dabei nicht um die grund-            Pisa bis Bertelsmann
                                             sätzliche Verwerfung dieser Methoden
    Jeder Schüler vereinbart dort also       geht; vieles davon kann zur Belebung          Insofern halte ich das Kompetenz-Kon-
mit seinem „Coach“ (früher: Lehrer)          des Unterrichts sinnvoll verwendet wer-       zept entgegen der Einschätzung mancher
seinen individuellen Lernoutput. Sie         den. Aber: Unterrichtsmethoden alleine        Kritiker in der Erziehungswissenschaft
bestimmen den dazu notwendigen In-           helfen nicht, Schüler zu erziehen, die        nicht allein für ein „Plastikwort“ oder
put, ermitteln die Ressourcen und Pro-       selbständig denken und moralisch han-         einen „Containerbegriff“, den man be-
zessvariablen. Dann gehen sie an ihren       deln können.                                  liebig formen und füllen kann. Vielmehr
Arbeitsplatz, erledigen ihre Lernjobs            Dies liegt vor allem daran, weil alle     hat sich mit dem Kompetenz-Konzept
und produzieren ihren „Output“. In           diese Methoden die Lehrer-Schüler-Be-         ein ökonomistisches Bildungsverständ-
eine Tafel an ihrem Arbeitsplatz tragen      ziehung schwächen, also den „pädago-          nis in der erziehungswissenschaftlichen
sie jeweils ihren Lernfortschritt in ein     gischen Bezug“ (H. Nohl)44, und damit         Theorie und in der pädagogischen Pra-
Kompetenzraster ein. Das soll nun die        das Kernstück einer personal verstan-         xis sowie in der bildungspolitischen De-
„neue“, „humane“ Schule sein?                denen Pädagogik. Doch nur in und über         batte gezielt an die Macht geputscht.
    Tatsächlich werden bereits die           Beziehung ist Erziehung überhaupt             Wie konnte das gelingen?
Junglehrer auf diese ökonomisierte Pä-       möglich, Freiheit entsteht eben nur aus           Das machtvolle Instrument, mit dem
dagogik hin trainiert: So berichtet ein      Bindung, nicht aus Alleinelassen. Schü-       der neue Bildungsbegriff durchgesetzt
Studienreferendar, der zuvor ein Trai-       ler brauchen und wollen nicht „Modera-        wird, ist die PISA-Studie der OECD.
nee-Programm bei der Deutschen Bank          toren selbstgesteuerter Lernprozesse“,            Schon der inhaltliche Charakter
abgebrochen hatte, weil ihm dieses           die sich aus dem Unterrichtsgeschehen         der Testfragen zeichnet das Bild eines
effizienzorientierte,     menschenferne       weitgehend zurückziehen, sondern Leh-         vor allem auf seine Markttauglichkeit
Training nicht zusagte und er statt des-     rer müssen als ganze Menschen, eben als       hin überprüften Menschen, so Manfred
sen mit Schülern pädagogisch arbeiten        „fleischgewordenes Wort“ den Schülern          Fuhrmann:
wollte, dass er im Referendariat ein bö-     ein Gegenüber sein.45 Oder wie Albert            „Der PISA-Test zielt auf den homo
ses Erwachen hatte:                          Schweitzer sagt: „Wo kein inneres Le-            oeconomicus. Es geht darin um die
     „Man kommt ins Seminar, und was         ben ist, gibt es keine erziehende Kraft.         materiellen Bedingungen des Le-
     man dort vorfindet, erinnert einen       Darüber kann alle äußerliche Erzie-              bens, um Nutzen und Profit. (…)
     direkt an die Deutsche Bank: erst       hungskunst nicht hinwegtäuschen.“46              Der Idealtyp des PISA-Tests ist der-
     Brainstorming, dann Gruppenar-              Sonst bleiben äußerlich vor sich hin-        jenige, der sich später einmal am
     beit in Teams, dann Präsentati-         werkelnde, aber innerlich fragmentierte          besten in Industrie, der Technik und
     on mit Hilfe von Powerpoint und         und isolierte Individuen zurück, die             der Wirtschaft auskennen wird. Von
     Mindmapping, schließlich noch           sich gemäß konstruktivistischer Leh-             allen übrigen Bereichen der Kultur
     eine Evaluation und Qualitätssi-        re vermeintlich „autopoietisch“ selbst           (…) sieht der Test rigoros ab.“47
     cherung. [...] Dieselben Methoden       steuern. Dabei haben die Herrscher al-
     sollen die Referendare natürlich im                                                   Dieses Menschenbild und sein Funk-
     Unterricht anwenden. Denn Grup-         44 Vgl. Nohl, Hermann (1933): Die Theorie     tionsprogramm wird mittels normati-
     penarbeit fördert Kreativität und Ef-   der Bildung. In: Nohl, Hermann/Pallat, Lud-   ver Empirie verbindlich gemacht, denn
     fizienz und trainiert die soft skills,   wig (Hrsg.): Handbuch der Pädagogik. Erster   PISA testet nicht gelerntes Wissen:
                                             Band: Die Theorie und die Entwicklung des
     die sozialen Kompetenzen. Viele                                                       Nicht einmal die konkreten Aufgaben
                                             Bildungswesens. Weinheim/Bergstraße, S.
     der Begriffe, die ich erstmals bei      20–26.                                        in Lesen und Schreiben, Mathematik
     der Deutschen Bank kennen gelernt       45 Vgl. Krautz, Jochen: Personale Bildkom-    und Naturwissenschaften stimmen mit
     habe, tauchen in Seminaren oder         petenz. Zur Phänomenologie des Vor-Bildes     den Lehrplänen der Länder überein.
     Pädagogikbüchern wieder auf [...].      in der pädagogischen Situation. In: Pädago-   Da überall dieselben Aufgaben gestellt
     Eigentlich sind es aber weniger die-    gische Rundschau 2/2006, S. 167–176.          werden, ist ein Eingehen auf nationale
     se Begriffe und Methoden selbst,        46 Schweitzer, Albert: Predigt über Erzie-    Besonderheiten nicht möglich und auch
     sondern vielmehr ist es das Klima,      hung, 2.7.1911. Zit. nach Günzler, Claus:     gar nicht gewollt. PISA testet also Fähig-
                                             „Nachdenklich machen ist die tiefste Art zu
                                             begeistern“. Zur Pädagogik in Schweitzers
43 http://www.institut-beatenberg.ch/        Ethik. In: Albert Schweitzer – ein Jahrhun-   47 Fuhrmann, Manfred: Der europäische
2004/Uber_uns/Philosophie/philosophie.       dertmensch mit Zukunft. Albert-Schweitzer-    Bildungskanon. Frankfurt/M., Leipzig 2004,
html.                                        Rundbrief Nr. 100/2008, S. 38.                S. 222.

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