Bildung als Anpassung? - Das Kompetenz-Konzept im Kontext einer ökonomisierten Bildung
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Kapitel Bildung als Anpassung? Das Kompetenz-Konzept im Kontext einer ökonomisierten Bildung JOCHEN KRAUTZ Entrümpelung der Lehrpläne, Verkür- Einleitung zung der Schulzeit, Wirtschaftskennt- nisse für alle, neue Lernformen und vor Es hat sich in der Bildungsdiskussion allem Laptops für jeden Schüler. in Deutschland etabliert, pädagogische Was hierbei herauskommen soll, hat und bildungspolitische Fragen mit im- der Hessische Unternehmerverband be- mer ähnlichen Rezepten zu beantwor- reits 2004 als seine „Zukunftsvision“ be- ten, die jedoch nicht aus der Pädagogik schworen: Die Schule der Zukunft soll oder der Bildungstheorie stammen, „eine Dienstleistungsorganisation im sondern weitgehend der Ökonomie ent- Bereich Bildung und keine soziale Ein- liehen sind. dungswesen auf die daraus vermeintlich richtung“ mehr sein.2 Ein Beispiel: Im Februar 2008 resultierenden Anforderungen einzu- Dass man mit dieser „Dienstleis- wurde das Jahresgutachten des „Ak- stellen hätte. Bildung müsse befähigen, tungsorganisation“ offenbar gutes Geld tionsrats Bildung“, eines Gremiums sich an diese Herausforderungen anzu- verdienen kann, macht eine Pressemel- des „Verbandes der bayerischen Wirt- passen, elastisch zu sein und Globalisie- dung vom 05. August 2008 deutlich: schaft“, mit der üblichen medialen In- rung nicht als Bedrohung, sondern als Die Bertelsmann AG gab bekannt, sich szenierung vorgestellt. Der Titel lau- Herausforderung zu erleben. von ihrem 50%-Anteil am Musik-Gi- tet: „Bildungsrisiken und -chancen im Um das zu erreichen, wird ein For- ganten SonyBMG zu trennen. Nur in Globalisierungsprozess“.1 Als Autoren derungskatalog aufgestellt: Englisch den frühen Nachrichtensendungen des des Elaborates zeichnen illustre Profes- bereits im Kindergarten; Lehrer sollen Tages enthielt diese Meldung noch ei- soren wie Dieter Lenzen, Präsident der nur befristet eingestellt und leistungs- nen bemerkenswerten Nachsatz: Der HU Berlin, Manfred Prenzel, deutscher bezogen bezahlt werden; nicht nur das bröckelnde Musik-Markt erscheine dem PISA-Leiter sowie Detlef Müller-Böh- Abitur, sondern fächerspezifische Tests Konzern nicht mehr profitträchtig ge- ling, damals noch Chef des „Centrums sollen die Eintrittskarte für die Hoch- nug, man wolle stattdessen verstärkt für Hochschulentwicklung“ der Bertels- schulen sein, mit dem besonderen Hin- auf das Segment Bildung setzen. Führt mann-Stiftung, verantwortlich. weis, dass diese Tests auch von privaten man sich vor Augen, welch gigantischer Die Argumentation ist beispiel- Testfirmen angeboten werden könnten. Milliarden-Markt das Musikgeschäft haft für das, worum es im Folgenden Man kennt Argumente wie die- ist, kann man ahnen, was es bedeutet, gehen wird: Aus der Analyse des öko- se bereits aus der bildungspolitischen nomischen Globalisierungsprozesses Diskussion. Als weitere „Rezepte“ sind 2 Selbständige Schule 2015 – Leitbild, wird ohne weiteres Hinterfragen dieses auch folgende Vorschläge bekannt: Ziele und Fundamente. Positionspapier der schon ökonomisch problematischen Schulen und Hochschulen bräuchten Vereinigung der hessischen Unternehmerver- Prozesses abgeleitet, dass sich das Bil- mehr Wettbewerb und Effizienz, Eigen- bände (VhU) zur hessischen Qualitätsschule. ständigkeit und Selbstverantwortung, Frankfurt am Main 2004, S. 14, http://www. vhu.de/vhu/VhUHomepage.nsf/newsliste?R moderne Management-Methoden, Lei- 1 vbw – Vereinigung der Bayerischen eadForm&News=DownloadlisteKategorie& Wirtschaft e. V. (Hrsg.): Bildungsrisiken und stungsmessungen und Evaluationen, ZuordnungSelect=Aufgabe_Bildungspolitik -chancen im Globalisierungsprozess. Jahres- Bildungsstandards und zentrale Prü- &Menu=Aufgaben&Level=Bildungspolitik, gutachten 2008. Wiesbaden 2008 fungen, Sprachtests im Vorschulalter, 11.6.07 Fromm Forum 13/2009 87
Menschenbild und Erziehung Abb. 1: Relief an einer Volksschule in Roudnice nad Labem, Tschechien (Foto: Jochen Krautz) wenn Bildung künftig offenbar ein noch untersucht und auf seine Konsequenzen dem Sohn eine „Ausrüstung“ für seine profitableres Geschäft sei soll. hin durchdacht – Konsequenzen, die Aufgabe mit. Die besteht nicht im neu- Bildung, Schule und Hochschule mehr als bedenklich erscheinen. Inso- sten, ergonomisch optimierten und si- stehen also zunehmend unter dem Re- fern wird auch zu fragen sein, was an- cherheitsgetesteten Scout-Schulranzen. gime der Ökonomie sowohl hinsichtlich gesichts dessen zu tun ist. Der hilft ihm nicht bei den Aufgaben, der verbreiteten Konzepte zur „Lösung“ die sich im Leben stellen. Nein, sie gibt der Bildungskrise wie auch hinsichtlich im etwas viel Wesentlicheres mit: Liebe, ihrer Vermarktbarkeit. 1. Besinnung: Was ist Bildung? festen Rückhalt und Zutrauen. Sie för- Um diese Konzepte im allgemei- dert ihn durch ihre Zuneigung und for- nen Bewusstsein zu verankern, wird Was Bildung eigentlich ausmacht, dert ihn, indem sie ihn an seine Aufgabe in der medialen Öffentlichkeit nahezu zeigt das Relief über dem Eingang ei- schickt. wöchentlich eine „neue Sau durchs Bil- ner Volksschule in einer kleinen Stadt Die Szenerie wird eingerahmt von dungs-Dorf gejagt“; ein Gewitter stän- in Nordböhmen. Wenn die harmonisch angedeuteten Naturformen, Baumästen dig neuer Reformvorschläge sowie die wirkende Darstellung des Jugendstils und einem Bienenstock im Hinter- medial geschürte PISA-Panik betäuben auch aus einer anderen Zeit stammt grund. Dies verweist zum einen auf die das Publikum geradezu. Dabei scheint und uns beinahe schon fern zu sein ländliche Gegend, in der sich die Schu- inzwischen kaum jemand mehr zu wis- scheint, bleibt die menschliche Essenz le befindet. Das kompositorische Halb- sen, worum es bei der Bildung eigent- doch gültig: rund umfasst aber noch mehr: Bildung lich geht. Und schleichend hat sich im Rechts kniet die Mutter vor ihrem und Erziehung sind eingebettet in einen Mittelpunkt dieses Geschehens ein Be- Sohn und macht ihn liebevoll zurecht, großen Zusammenhang von Mensch griff etabliert, den jeder kennt, von dem damit er in die Schule gehen kann. und Natur. Der Mensch ist Teil der Welt. aber niemand so recht weiß, woher er Ihre Sorge gilt nicht seinem Aussehen, Wachsen und Werden der Pflanzen ver- eigentlich kommt und was damit ge- sondern in der Gestik und Mimik liegt weisen auf den Kreislauf des Lebens, nau gemeint sein soll, eben die Kompe- neben der Liebe zu ihrem Kind ein ge- auf das Heranwachsen der Jugend. tenzen. Sicher scheint aber, dass sie den wisser Ernst. Das Zurechtrücken der Bildung und Erziehung finden nicht im „alten“, angestaubten Bildungsbegriff Kleidung heißt auch: „Du gehst da hi- Nirgendwo statt, sondern sind Teil des ersetzen und ihm ein neues, „zeitge- naus ins Leben, an deine Aufgabe als Lebens und bereiten auf dieses vor. Das mäßes“ Gewand geben sollen. Schüler. Da hast du so auszusehen, wie Sammeln und Horten der Bienen deu- Die weiteren Ausführungen wollen es ein geordnetes Miteinander verlangt. tet auf die Beschaffung der Nahrung hier etwas Licht ins Dunkel bringen: Du musst diese Aufgabe, das Lernen, und die Notwendigkeiten des Lebens. Zunächst soll eine kurze Besinnung ernst nehmen. Du musst bereit sein für Gleichzeitig sind die Bienen ein Sym- auf den Bildungsbegriff eine Basis für das, was das Leben von dir verlangt bol der Kultur, versinnbildlichen eine die weiteren Ausführungen bilden. Ein und deinen Beitrag dazu leisten.“ Müt- aktive Gemeinschaft, die in und durch Überblick über die Schlagworte der Bil- terliche Sorge ist hier also nicht ängst- Zusammenarbeit lebt. Zugleich sind die dungsökonomie wird die Zusammen- liches Beschützen und Nicht-Zutrauen. Bienenstöcke wiederum vom Menschen hänge klären, in denen der Kompetenz- Es ist eine handfeste, zutrauende und angelegt und gepflegt, sind Teil seiner Begriff steht. Dieser wird dann genauer ermutigende Fürsorge. Die Mutter gibt Kultur. 88 Fromm Forum 13/2009
Bildung als Anpassung? In diesem, von Natur und Mensch Ergebnis, was die Pädagogik immer hier um eine tiefgreifende Funktionali- aufgespannten Bogen gehen die Kinder schon wusste: „Alles schulische Lernen sierung des Menschen für Zwecke geht, zur Schule. Sie werden empfangen von ist eingebettet in ein interaktives und die weit von diesen Zielbestimmungen der Lehrerin. Diese sitzt in Augenhö- dialogisches Beziehungsgeschehen.“4 entfernt sind. he mit ihren Schülern. Die Lehrerin ist Bildung als vor allem als Selbstge- Bildung wird heute mit einem Sy- gekennzeichnet durch das Symbol der staltung aufgefasster Prozess ist dabei stem von Schlagworten begründet und Eule, das alte Symbol der Klugheit. Sie nicht gleichzusetzen mit Wissenser- ausgestaltet, die allesamt der Betriebs- verfügt über Wissen und kann die Welt werb. Bildung hat immer auch einen wirtschaft und nicht der Pädagogik erklären. Die Bücher enthalten dieses Werthorizont, der die ganze Person entliehen sind. Diese werden in der Wissen der Welt, die Kenntnisse über die betrifft: „Bildung heißt, das zu lernen, Öffentlichkeit mit enormer Vehemenz Welt. Der Globus meint dabei nicht nur was einem hilft, sachlich angemessen und Penetranz wiederholt, um offen- das Fach Erdkunde, sondern zeigt, dass und mitmenschlich zu handeln – und sichtlich den Eindruck zu erwecken, die ganze Welt mit ihren Phänomenen sein Leben sinnvoll zu gestalten.“5 Diese eine vor allem an ökonomischen Prä- und ihren Problemen Thema der Schu- klare Wertorientierung von Erziehung missen orientierte „Bildungsreform“ sei le ist. Die Welt kann nicht außen vor und Unterricht ist auch in den meisten unabänderlich. Ich kann hier nur einen bleiben, sondern ist der eigentliche Ver- Landesverfassungen normiert. So heißt Überblick über diesen Zusammenhang mittlungsgegenstand der Schule: Man es etwa in der Verfassung des Landes geben, um den zur Diskussion stehen- lernt die Welt kennen, reduziert auf ein Baden-Württemberg in Art. 12 (1): „Die den Kompetenz-Begriff angemessen altersgemäß verstehbares Maß und auf- Jugend ist in Ehrfurcht vor Gott, im Gei- einzuordnen sowie ein Beispiel etwas geteilt in bewältigbare Probleme. ste der christlichen Nächstenliebe, zur genauer analysieren. Für die weitere Wie geschieht nun diese Vermittlung? Brüderlichkeit aller Menschen und zur Vertiefung verweise ich auf mein Buch Das Bild macht hier den eigentlichen Friedensliebe, in der Liebe zu Volk und „Ware Bildung“.6 Kern von Pädagogik, von Bildung und Er- Heimat, zu sittlicher und politischer Ver- Grundlage einer an ökonomischen ziehung deutlich. Die Lehrerin legt ihren antwortlichkeit, zu beruflicher und sozi- Prämissen orientierten Bildungsthe- Arm auf die Schulter des Schülers. Sie aler Bewährung und zu freiheitlicher de- orie ist die Annahme, dass wir uns in schaut ihm in die Augen. Sie nimmt also mokratischer Gesinnung zu erziehen.“ einem Wandel von der Industrie- zur eine direkte Beziehung zu ihm auf. Blick Damit ist klar gestellt, dass Erzie- Wissensgesellschaft befänden, in der und Geste der Hand verdeutlichen, dass hung nicht auf reines Funktionieren in „Wissen“ die entscheidende „Ressour- Erziehung wesentlich Führung bedeutet: einem Wirtschaftssystem zielen kann, ce“ für Wirtschaftswachstum sei. Das Erziehung bedeutet liebevolle, aber klare sondern an einem humanistischen, beobachtbare Phänomen, dass Wissen Anleitung. Sie leitet den Schüler zur Sa- einem personalen Menschenbild ori- für hochtechnische Produktion und che, die hier durch das Buch symbolisiert entiert sein muss. Diese Zweckfreiheit Dienstleistungen zwar immer wichtiger ist. Im Bild greift der Arm des Schülers der Bildung bedeutet dabei nicht ihre wird, verdeckt jedoch, dass eben „nicht zu dem Buch, das die Lehrerin hält, und Folgenlosigkeit, wie im Missverständnis die Wissensgesellschaft die Industrie- er nimmt so Verbindung zur Sache auf. der neuhumanistischen Bildungsthe- gesellschaft ablöst, sondern umgekehrt Diese Sache ist wiederum unmittelbar orie mitunter behauptet wird: Allge- das Wissen in einem rasanten Tempo mit der Lehrerin verbunden. Die The- meine Bildung ist zweckfrei, aber nicht industrialisiert wird“, so sehr treffend men und Gegenstände in der Schule sind zwecklos. Sie dient dazu, Selbständig- Konrad Paul Liessman. Wissen wird also also an die Vermittlung durch die Person keit, Kritikfähigkeit, Verantwortlichkeit, nach industriellen Produktionskriterien der Lehrerin oder des Lehrers gebunden. Friedfertigkeit und Handlungsfähigkeit behandelt und das sind vor allem „Stan- Lernen geschieht in diesem personalen herauszubilden. Bildung dient also der dardisierung, Mechanisierung und An- Bezug von Lehrer, Schüler und Sache. Menschwerdung des Menschen. gleichung menschlicher Arbeitsprozesse Dieses im Bild erkennbare Dreieck an vorgegebene Abläufe“.7 zwischen Lehrer, Schüler und Sache Wenn nun heute für Schule und Uni- beziehungsweise Welt ist das Kernge- 2. Analyse: Schlagworte der Bildungs- versität postuliert wird, es ginge nicht schäft aller Erziehung und Bildung. Die ökonomie so sehr um Wissenserwerb (um Bildung Lehrerin vermittelt über ihre Person die ohnehin nicht), sondern um das „Lernen Dinge der Welt, der Schüler findet Zu- des Lernens“, weil man ja lebenslang ler- a) Kleines Vademecum der Unworte gang zu den Sachen und Themen über nen müsse, um bei der Modernisierung die Person der Lehrerin, er baut seinen Stellt man dieses Bild von Bildung dem der Produktionsabläufe „up to date“ zu persönlichen Bezug zur Welt über die heute implizit kursierenden Menschen- bleiben, dann ist das ein nicht nur hi- zwischenmenschliche Beziehung auf. bild einer vor allem auf ökonomische storisch fragwürdiges Argument: Denn Dies formulierte bereits Martin Buber Verwertbarkeit gerichteten „Bildungs- nicht anderes als das Lernen des Ler- sehr treffend: „Erziehung bedeutet, eine reform“ gegenüber, zeigt sich, dass es nens hatte auch Wilhelm von Humboldt Auslese der Welt durch das Medium der als Ziel der Bildung gesehen. Hier und Person auf eine andere Person einwir- ken zu lassen.“3 Und auch die neuere 4 Bauer, Joachim: Lob der Schule. Sieben Perspektiven für Schüler, Lehrer und Eltern. 6 Krautz, Jochen: Ware Bildung. Schule Hirnforschung kommt zu dem gleichen Hamburg 2007, S. 14. und Universität unter dem Diktat der Ökono- 5 Ladenthin, Volker: PISA und Bil- mie. Kreuzlingen/München 2007. 3 Buber, Martin: Rede über das Erziehe- dung? Volker Ladenthin im Interview mit 7 Liessmann, Konrad Paul: Theorie der rische (1925). In: ders.: Reden über Erzie- Rolf-Michael Simon. Neue Ruhr Zeitung, Unbildung. Die Irrtümer der Wissensgesell- hung. Gütersloh 200010, S. 42. 18.11.2007. schaft. Wien 2006, S. 39. Fromm Forum 13/2009 89
Menschenbild und Erziehung heute ist jedoch etwas ganz anderes ge- sen werden.“ Wobei Effizienz sich auf Quality Management“ (TQM). Dies zielt meint, nämlich die dezidierte Vorberei- die günstige Kosten-Nutzen-Relation mittels verschiedener Umstrukturie- tung auf ein anpassungsfähiges Leben bezieht: „Effizienz wird nach dem öko- rungen und Psychotechniken vor allem in der Wirtschaft des Informationszeit- nomischen Aufwand-(Kosten)-Ertrag- auf die Selbstaktivierung der Mitarbeiter alters. Modell berechnet. Die Investitionen durch Selbstmotivation und Selbstkon- In Folge davon gilt der Mensch vor sollen sich rentieren. Über Rentabilität trolle – heutige Lehrer kennen die Folgen allem als „Humankapital“, in das in- entscheidet primär nicht die Beschaffen- bereits. Auch dazu später Genaueres. vestiert werden muss, um Wirtschafts- heit des Produkts (Qualität im primären Insgesamt wird dieser Prozess der wachstum zu generieren. Das damit Sinne), sondern das Preis-Leistungsver- inneren Ökonomisierung von Bildung verbundene Menschenbild werde ich hältnis und die Wettbewerbsposition und Bildungswesen begleitet von de- anschließend noch genauer erläutern. auf dem Markt (Qualität im marktwirt- ren äußerer Entstaatlichung und Priva- Ein auf Humankapitalproduktion schaftlichen Sinne).“10 tisierung: Bildung wird zur Ware, zum zielendes Bildungswesen zeichnet sich Weil man die Qualität von wirk- handelbaren Gut und verspricht – wie durch „Output-Orientierung“ aus. Ein licher Bildung nicht mit derartigen Kri- die eingangs zitierte Meldung des Ber- Papier der Welt-Bank definiert den Be- terien messen kann, ersetzt ein neuer telsmann Konzerns zeigt – Milliarden- griff sehr klar: „An orientation toward Bildungsbegriff den alten – und dies umsätze. outcome means that priorities in educa- sind eben die Kompetenzen. Dazu wei- tion are determined through economic ter unten noch mehr. b) Humankapital: Das Menschenbild analysis, standard setting, and measure- Um dieses verbetriebswirtschaftlich- der ökonomisierten Bildung ment of the attainment of standards.”8 te Bildungsdenken in die Schulen und Ökonomische Kriterien, nicht allgemei- Hochschulen zu implantieren, sollen Eine der Grundlagen der „Übertragung ne Bildungsideen und Erziehungsziele diese „autonom“ sein und im „Wettbe- ökonomischer Denkmodelle auf den „determinieren“ demgemäß die Priori- werb“ stehen. Jedem aufmerksamen Be- Bildungsbereich“12 ist, wie bereits an- täten im Bildungswesen. Der Bildungs- obachter der Realität ist dabei klar, dass gesprochen, die sogenannte „Humanka- prozess erschöpft sich in formulierten „Autonomie“ vor allem selbständige pitaltheorie“, nach der Wirtschafts- Ergebniserwartungen (Standards) und Mängelverwaltung bedeutet. Dabei be- wachstum vor allem aus Investitionen deren Überprüfung (Evaluation). Re- wirken Marktmechanismen nicht mehr in den Bildungsbereich zu generieren levant ist nun nur noch, was getestet Freiheit und „Autonomie“ von Schulen sei, da Wachstum heute allein aus tech- und „belohnt“ wird. Da allgemeine Bil- und Hochschulen, sondern verstärkte nischem Fortschritt entstehen könne, dungsziele nicht in prüfbare Standards Kontrolle. Die Bildungsökonomie stellt der wiederum auf wissenschaftlichen zu fassen sind, können diese zwar po- explizit fest, „dass wirtschaftliches Han- Fortschritten beruhe. Daher werden stuliert werden, tatsächlich konzen- deln nur durch das Vorhandensein eines einerseits wissenschaftliche Eliten wie trieren sich Lehren und Lernen aber entsprechenden Kontrolldrucks sicher- andererseits flexible und adaptierbare, automatisch auf die output-relevanten gestellt werden kann“. Hierbei werden „lebenslang lernende“ Arbeitskräfte Faktoren. Und das sind nicht Bildungs- „vier Kontrolltypen“ unterschieden: benötigt.13 „Mit guter Bildung wird und Erziehungsbemühungen, sondern a) Konkurrenz durch Wettbewerb, sich mikro- wie makroökonomisch viel Absolventenzahlen, Auslastungsquo- b) die Definition von Leistungsstan- Geld verdienen lassen. Es ist nicht un- ten, Schulrankings etc.9 Dies verändert dards (standards of performance), anständig, sondern schlicht notwendig, auch den Qualitätsbegriff. Zwar wird c) die Strategie des Kostendrucks ‚Humankapital’ als Produktionsfaktor beständig von „Qualitätssicherung“ ge- (cost-pressure), zu sehen, in den umso mehr investiert redet, als erste Maßnahmen hierzu wer- d) bürokratische Kontrollen.“ wird, je höher die erwarteten Rendi- den aber meist Stellen an Schule und ten sind“, so einer der Verfechter jener Hochschulen gestrichen. Dieser schein- Als effektivstes Mittel gilt dabei der Theorie.14 Es ist sicher nicht unanstän- bar zynische Vorgang hat jedoch eine Konkurrenzdruck durch Wettbewerb.11 dig, durch gute Bildung zu materieller Logik: Denn Qualität bedeutet nicht Die Durchsetzung vermeintlich „wirt- Wohlfahrt beizutragen; Bildung hierauf mehr die „die wesentlichen und charak- schaftlichen Handelns“ in Schule und einzuschränken jedoch sehr wohl. Und: teristischen Eigenschaften einer Sache Hochschule dient demnach der Etablie- Was bleibt, wenn Bildungsinvestitionen (qualitas)“, „sondern Indikatoren, nach rung expliziter Kontrollinstrumente in nicht mehr hinreichende Renditen ein- denen die Effizienz von Schulen gemes- einer konkurrenzgeprägten Bildungs- bringen? Wird dann nicht mehr in Bil- landschaft. Dazu werden auch neuere dung investiert? Strategien der Managementtheorie auf Hier zeigt sich das Grundproblem: 8 World Bank: Priorities and Strategies for Education – A World Bank Review. Washing- die Schulen übertragen wie das „Total Wenn in die Bildung des Menschen ton 1995, S. 94, http://www-wds.worldbank. nicht investiert wird, weil er ein Mensch org/servlet/WDS_IBank_Servlet?pcont=det 10 Koch, Lutz: Eine neue Bildungstheo- ails&eid=000009265_ 3961219101219. rie? (Bildungsevaluation, Bildungsstandards, 12 Koch, a.a.O. 9 Vgl. auch Klausenitzer, Jürgen: Selb- Grundbildung und eine neue Lehrerbildung), 13 Vgl. Kooths, Stefan: Wachstum durch ständige Schule – Schule der Globalisierung. S. 7, http://forum-kritische-paedagogik.de/ Wissenschaft. In: Dettling, Daniel/ Prechtl, In: Sloot, Annegret / Nordhoff, Uwe (Hrsg.): start/download. php?view.122. S. 8. Christoph (Hrsg.): Weißbuch Bildung. Für Frühes Sortieren, Trennen, Zurücklassen 11 Harms, Jens: Wirtschaftlichkeit unter Be- ein dynamisches Deutschland. Wiesbaden – Niedersachsens Antwort auf PISA? Gute dingungen des New Public Management. In: 2004, S. 31-41. Schule geht anders! Dokumentation der 59. Weiß, Manfred/ Weishaupt, Horst (Hrsg.): 14 Straubhaar, Thomas: Humankapital: Pädagogischen Woche in Cuxhaven 2003, S. Bildungsökonomie und Neue Steuerung. Devisenquelle der Zukunft. In: Dettling/ 55. Frankfurt/M. 2000, S. 139. Prechtl, S. 29. 90 Fromm Forum 13/2009
Bildung als Anpassung? ist, sondern weil er verwertbar sein soll, doch ein lohnendes Geschäft wäre, in dann widerspricht das fundamentalen die Ausbildung von Menschen zu in- 3. Kompetenzen: Die Vereinnahmung Errungenschaften und Übereinkünf- vestieren. Die Geschäftsidee: Man gibt der Person ten unserer Kultur: dass nämlich der einem jungen Menschen Kredit für seine Mensch ein Menschenrecht auf Bildung Ausbildung und erhält anschließend le- Der Kompetenzbegriff nimmt nun im hat (Art. 26 der Allgemeinen Erklärung benslang einen Teil von dessen Einkom- Konzept einer ökonomisierten Bildung der Menschenrechte der UNO). men. Die Spekulation wäre also, mög- eine zentrale Stelle in, denn er ersetzt Dieses Menschenbild macht das Co- lichst geeignete, talentierte und später das, was wir zuvor als „Bildung“ be- ver eines Buches über „Humankapital“ erfolgreiche Kinder und Jugendliche zu schrieben haben, durch ein „Surrogat“ bildhaft deutlich, das von der OECD, finden, in die man investiert, um damit von Bildung – ein Surrogat, das eben- der „Organisation für wirtschaftliche so wie künstlicher Süßstoff komisch Zusammenarbeit und Entwicklung“, schmeckt und unklare Nebenwirkungen die ja auch für die PISA-Studien ver- hat. antwortlich ist, herausgegeben wird. Den Buchumschlag ziert das Bild eines a) Im „Dschungel der Kompetenzen“ Babys, das offenbar versucht sich auf- zurichten. Das Kind wird nicht von vor- Was ist nun Kompetenz eigentlich? ne gezeigt, sondern herabgebeugt. Wir Der Begriff „Kompetenz“ hat einen so sehen also nicht das Babygesicht mit starken Bedeutungswandel durchge- seinem Kindchenschema, das bei jedem macht, dass die saubere Rekonstrukti- Menschen eine Urreaktion hervorruft, on der Begriffsgeschichte kaum einen nämlich Mitgefühl und Fürsorge. Das Erkenntnisgewinn für seine derzeitige Foto ist per digitaler Bildbearbeitung inflationäre Verwendung insbesondere in ein kühles Blau getaucht. Diese kalte in der Pädagogik bringt. Noch vor fünf- Farbigkeit widerspricht dem eigentlich zig Jahren hätte kaum jemand Kom- assoziierten warmen, positiven Gefühl petenz als „persönliches Fähigsein zu und passt nicht zum Motiv des Babys. etwas“ verstanden. Kompetenz war die ist demnach so angelegt, dass es den amtliche Zuständigkeit. Das hatte mit Betrachter vom Kind distanziert: Man- Fähigkeit nichts zu tun, sondern mit gelnde Erkennbarkeit des Kindchen- Zuschreibung. Die Bedeutung lebt noch schemas und kalte Farbe behindern die am ehesten im negativen Terminus der spontane, urmenschliche Reaktion der „Kompetenzüberschreitung“ fort.16 warmherzigen Zuwendung und mitfüh- Das heutige Verständnis ist zwar lenden Freude. Das Kind will sich auf- auch im klassischen lateinischen Verb- richten, muss sich aber scheinbar gegen gebrauch angelegt („zu etwas fähig die großbuchstabige, lastende Schrift sein“), entstammt aber einer jüngeren stemmen, die ihm auferlegt, „Human Abb. 2: Keeley, Brian: Human Capital. How what you Ableitung der Motivationspsychologie know shapes your life. OECD insights. 2007 Capital“ zu sein oder zu werden: Das aus der Biologie, die unter Kompetenz ist die Aufgabe, die es zu stemmen gilt. eine angelegte, spezialisierte und durch Andererseits besagt der Untertitel, dass Zeit begrenzte Fähigkeit und Zustän- das Wissen unser Leben forme, Wissen, digkeit eines Organismus versteht, auf das wir zu erwerben hätten, um eben einen möglichst hohen Ertrag einzufah- einen Impuls mit einer bestimmten Ent- produktives Humankapital zu sein. So ren. Friedman räumt selbst ein, dass dies wicklung zu reagieren. Diese Nuance wird der Zweck des Heranwachsens „teilweiser Sklaverei“ gleichkäme! Man – also die Fähigkeit zur intrinsisch mo- umgedeutet: Der Menschen wächst he- würde sich einen Menschen halten, um tivierten Entwicklung mit dem Ziel der ran und lernt, um Profit zu bringen. ihn finanziell auszunutzen. Dennoch optimalen Anpassung an die Umgebung Die visuelle Rhetorik zielt offenbar erscheinen Friedman alle Bedenken ge- – prägt dann auch den heutigen Kom- darauf, eine neue Sichtweise auf das gen eine solche Praxis als „irrationale petenzbegriff. kleine Kind zu verankern, nämlich es Ablehnung“ und nur die „Unvollkom- Anders als der Qualifikations-Begriff, von Geburt an als künftigen Arbeitneh- menheit des Marktes führte zu einer zu den er ablöste, meint er somit nicht al- mer und Investitionsobjekt zu betrach- geringen Investitionstätigkeit in Bezug lein äußeres, fachlich bezogenes Kön- ten. Der fürsorgliche Blick soll einem auf menschliches Kapital“.15 Deutlicher nen. Wenn jemand etwas qualifiziert abwägenden Schätzen weichen, was kann man kaum formulieren, was die ausführt, so macht er gute Arbeit, Ar- wohl aus diesem Kind werden soll – „Freiheit“ des neuen Kapitalismus be- beit von guter Qualität, die ihn als qua- oder zu machen ist. deutet: Gewinn für die einen, Sklaverei lifiziert erscheinen lässt. Qualifikation Dass diese Deutung nicht übertrie- für die anderen. Unsere Bildinterpreta- bezeichnet also eine fachliche Fähigkeit. ben ist, zeigt ein Blick in die „Bibel“ der tion ist nicht überzogen und zeigt das Bezeichnet man denselben Menschen heutigen neoliberalen Wirtschaftsweise Menschenbild des neuen Kapitalismus: deshalb als kompetent, so verschiebt des Nobelpreisträgers für Wirtschaft, Hier krabbelt ein künftiger Sklave. Milton Friedman. Der entwickelte 1962 16 Vgl. Ritter, Joachim/ Gründer, Karlfried in seinem Buch „Kapitalismus und Frei- 15 Friedman, Milton: Kapitalismus und (Hrsg.): Historisches Wörterbuch der Philo- heit“ die „amüsante“(!) Idee, dass es Freiheit. Stuttgart 1971, S. 138f. sophie, Bd. 4. Darmstadt 1976, Sp. 918ff. Fromm Forum 13/2009 91
Menschenbild und Erziehung sich der Fokus von der fachlichen Qua- lifikation auf seine Persönlichkeit: Kom- petenz betont die persönliche Fähigkeit. Noch vor jeder Definition zeigt sich be- reits aus dem Alltagsverstehen, dass Kompetenz auch persönliche Einstel- lungen, Haltungen, Werte meint, also auf die ganze Person abzielt, nicht nur auf ihre fachliche Fähigkeit. Dies bestä- tigt die derzeit meistzitierte Definition von Kompetenz bei Weinert als „die bei Individuen verfügbaren oder durch sie erlernbaren kognitiven Fähigkeiten und Fertigkeiten, um bestimmte Probleme zu lösen, sowie die damit verbundenen motivationalen, volitionalen und sozi- alen Bereitschaften und Fähigkeiten, um die Problemlösungen in variablen Situationen erfolgreich und verantwor- tungsvoll nutzen zu können.“17 „Demnach“ – so das „Handbuch Abb. 3: Nivea Werbung: Anti-Age-Creme mit Kernkompetenz Kompetenzmessung“ – „sind Kompe- tenzen Dispositionen selbstorganisier- ten Handelns, sind Selbstorganisations- dispositionen.“18 Diese Definition, die der Versuch, den Begriff positiv zu be- vor allem auf die Fähigkeit zur Selbstor- setzen und so zu retten, kaum Aussicht ganisation verweist, wird sich noch als auf Erfolg. wesentlich erweisen. Wie kommt es also zu dem unglaub- Abb. 4: www.soft-skills.com Heinrich Roth hat den Kompetenz- lichen Popularitätsschub des Kompe- begriff Anfang der 70er Jahre als erster tenzbegriffs? Denn wer kennt sie nicht: in die pädagogische Diskussion einge- Methodenkompetenz, Rechtschreib- führt, aber dieser wie auch weitere Ver- kompetenz, Lernkompetenz, Medien- ernüchternden Fazit, dass Kompetenz- suche, einen bildungstheoretisch fun- kompetenz, Sozialkompetenz, Selbst- Begriffe heute meist weder theoretisch dierten Kompetenzbegriff zu etablieren, kompetenz, Persönlichkeitskompetenz, noch empirisch fundierte Ad-hoc-Set- blieben folgenlos.19 Solche Ansätze, wie Führungskompetenz, professionelle zungen nach jeweiligem Bedarf sind. etwa Heinz-Werner Wollersheims päda- Kompetenz, Umsetzungskompetenz, Demnach existiere trotz der anfangs gogisch motivierter Kompetenz-Begriff, Humankompetenz, Kritikkompetenz, versuchten begrifflichen Eingrenzung der diesen als „Befähigung zur Bewäl- mentale Kompetenz – und Kernkompe- keine einheitliche Begriffsdefinition. tigung“ verstanden haben wollte, wer- tenz? Die Begriffe sind so populär, dass Zugleich wird aber mit dem Verspre- den hier bewusst ausgeklammert. Es ist bereits die Werbung auf ihre suggestive chen des Kompetenz-Trainings inner- eben gerade nicht eine solche „Kompe- Wirkung setzt (Abb. 3). Aber könnte je- halb und außerhalb der Schule fleißig tenzerziehung, welche die personale mand einleuchtend definieren, was da- hantiert. So werden Persönlichkeitsei- Existenz des Menschen im Blick hat“20, runter jeweils zu verstehen sein soll? genschaften zu Kompetenzen herunter- die derzeit durchgesetzt wird. Und wie Ich könnte aus meiner momen- gerechnet und als Trainingsbausteine die weitere Darstellung aufzeigt, hat tanen Tätigkeit ad hoc einen weiteren für „Soft Skills“ angeboten. Diese Abbil- Kompetenz-Begriff konstruieren: die dungen (Abb. 4) zeigen recht treffend, 17 Weinert, Franz E.: Vergleichende Lei- „In-Königsfeld-im-Schwarzwald-Sonn- worum es dabei geht: Auch wenn dort stungsmessung in Schulen - eine umstrittene tagmorgens-um-neun-Uhr-Vortrag-hal- von Empathie die Rede ist, ist nicht Em- Selbstverständlichkeit. In: ders. (Hrsg.): Lei- ten-Kompetenz“, und ich würde flugs pathie als menschlicher Wert, gar im stungsmessungen in Schulen. Weinheim und die dazu nötigen Teilkompetenzen de- Sinne der „Ehrfurcht vor dem Leben“ Basel 2001, S. 27f. 18 Erpenbeck, John / von Rosenstiel, Lutz: finieren (Wecker-auf-halb-acht-stellen- als ethische Qualität des Mitfühlens mit (Hrsg.): Handbuch Kompetenzmessung. Er- Kompetenz, Kritisch-über-den-Kompe- dem Anderen gemeint. Nein, hier geht kennen, verstehen und bewerten von Kom- tenz begriff-nachdenken-Kompetenz es um das äußerliche Anpassen an öko- petenzen in der betrieblichen, pädagogischen etc.) und könnte auch gleich einen nomisch verursachte Situationen. Die und psychologischen Praxis. Stuttgart 2003, passenden Bachelor-Studiengang ent- Instruktionsinszenierung weist „Kritik- S. X-XI. werfen, der die nötigen Hard-Facts und kompetenz“ als die Fähigkeit aus, selbst 19 Vgl. Rekus, Jürgen: Kompetenz – ein Soft-Skills trainiert. kritisiert zu werden und andere zu kri- neuer Bildungsbegriff? In: engagement. Zeit- Insofern kommt Hans Dieter Hu- schrift für Erziehung und Schule 3/2007, S. 156. ber nach einer Expedition durch den Kompetenzen. In: ders./ Lockemann, Betti- 20 Wollersheim, Heinz-Werner: Kompetenz- „Dschungel der Kompetenzen“21 zu dem na/ Scheibel, Michael (Hrsg.): Visuelle Netze. erziehung: Befähigung zur Bewältigung. Wissensräume in der Kunst. Ostfildern-Ruit Frankfurt/M. 1993, S. 252. 21 Huber, Hans Dieter: Im Dschungel der 2004, S. 15-29. 92 Fromm Forum 13/2009
Bildung als Anpassung? tisieren und dennoch weiter im Team verstehen, zielt das Kompetenz-Konzept es allein um Fähigkeitserwerb zwecks zu funktionieren – eben im Handeln der OECD gerade auf diese Indienst- Funktionieren geht, sind Wertfragen selbstorganisiert zu sein und zu bleiben, nahme. In einer die „Definition und gleichgültig. Das Gelernte ist wert-los ohne aber die Situation selbst in Frage Auswahl von Schlüsselkompetenzen“ in doppelter Hinsicht: Es interessiert zu stellen. zusammenfassenden OECD-Broschüre den Schüler nicht und es vermittelt kei- Dabei unterstellen diese Programme, aus dem Jahr 2005 wird die Antwort ne Werte. Kompetenzen sind flexibel für dass solche Fähigkeiten per „Training“ auf die Frage gegeben: „Welche Kom- jeden Zweck einsetzbar – auch dafür, geradezu technisch machbar seien. Das petenzen benötigen wir für ein erfolg- neue Waffen zu entwickeln oder in den Soziale und die Fähigkeit zur zwischen- reiches Leben und eine gut funktio- Krieg zu ziehen. Volker Ladenthin fasst menschlichen Begegnung beschränken nierende Gesellschaft?“24 Die OECD dies treffend für die von PISA geprüften sich auf eingeübte Kommunikationsre- beansprucht also nicht weniger, als Kompetenzen zusammen: „Schüler sol- geln, der innere Zustand der beteiligten die zweieinhalbtausend Jahre disku- len nach PISA nicht lernen, nach dem Personen bleibt ausgeblendet. Sozi- tierte philosophische Frage nach dem Sinn des Lernens zu fragen, sondern ale Kompetenz ist dann die Fähigkeit, guten Leben und einer gelingenden sie sollen Aufgaben lösen, gleichgültig mit eigentlich menschlich unbefriedi- Gemeinschaft beantworten zu können. welche. Der von PISA als kompetent Ge- genden Situationen zurechtzukommen, Hierzu definiert sie: „Eine Kompetenz prüfte soll später einmal ebenso Baby- sich eben anzupassen an das, was ist. ist mehr als nur Wissen und kognitive nahrung produzieren können wie Land- Soziabilität wird von der Fähigkeit zu Fähigkeiten. Es geht um die Fähigkeit minen. Angesichts der Kriterien von bereichernder zwischenmenschlicher der Bewältigung komplexer Anforde- PISA (und einer auf PISA ausgerichte- Begegnung zu einem Theater der Mas- rungen, indem in einem bestimmten ten Schule) sind beide Aufgaben gleich ken – denn das ist es, was diese Bilder Kontext psychosoziale Ressourcen gültig. Und sie bedürfen der gleichen eigentlich zeigen. Personalität reduziert (einschließlich kognitive Fähigkeiten, Kompetenzen.“26 Wir werden noch se- sich auf den Wortstamm, die persona, Einstellungen und Verhaltensweisen) hen, wie entscheidend dieser Punkt ist. die Rollenmaske des antiken Theaters. herangezogen und eingesetzt werden.“ Die Illusion, dass es sich beim Kom- Kompetenzen bemächtigen sich der Die OECD-Bildungsminister ergänzen, petenz-Konzept um einen dem alten Person, höhlen diese aus zu einer per- dass „der Begriff ‚Kompetenzen’ Wis- gleichwertigen neuen Bildungsbegriff sona, einer Maske für Rollen im Theater sen, Fertigkeiten, Einstellungen und handeln könnte, zerstört aber auch die von Beruf und Alltag, machen den Men- Wertvorstellungen umfasst.“25 Hier be- OECD selbst gründlich, wenn sie defi- schen für jede Rolle verfügbar. Damit stätigt sich die obige Vermutung: Kom- niert, Schlüsselkompetenzen sollten zerfällt der Mensch zugleich in nicht petenzen beschreiben nicht nur Wissen dazu befähigen, „sich an eine durch integrierte Teilbereiche, er ist nicht In- und Können, sondern funktionale Per- Wandel, Komplexität und wechselsei- dividuum, sondern Dividuum. sönlichkeitseigenschaften. tige Abhängigkeit gekennzeichnete Welt Hiervon lässt sich mancher Pädago- anzupassen.“27 „Welche anpassungsfä- ge und Didaktiker täuschen: War denn higen Eigenschaften werden benötigt, b) Die Kompetenz der OECD nicht dies, also Persönlichkeitsbildung, um mit dem technologischen Wandel Gerade dieses Kompetenzverständnis gerade das Kernanliegen des humani- Schritt zu halten?“28 Bildung ist hier wird nun aber zu einem Schlüssel- stischen Bildungsbegriffs? Beschreiben also eine Anpassungsleistung an ökono- begriff gemacht. Nach Huber waren Kompetenzen nicht einfach Konkreti- mische Erfordernisse bzw. an das, was 2004 70% aller Buchpublikationen, die sierungen des Bildungsbegriffs? Nein, die OECD dafür hält. Anpassung war je- „Kompetenz“ im Titel führen, in den denn im Unterschied zur Kompetenz doch gerade nicht das Ziel eines huma- letzten sieben Jahren erschienen.22 In war Bildung immer an Inhalte gebun- nistischen Bildungskonzepts, sondern der Popwelt nennt man so etwas einen den: die zentrale Frage war immer die Mitmenschlichkeit, Vernunftfähigkeit, „Hype“, und man weiß genau, wie die- der Auswahl bildungswirksamer Inhalte, Kritikfähigkeit. Kompetenzen zielen da- ser mit PR-Strategien medial inszeniert die in der personalen Vermittlung per- gegen gerade nicht auf einen kritisch- und forciert wird. Und der fällt just in sönlichkeitswirksam werden konnten. reflexiven Weltbezug, sondern fördern den Zeitraum vor und nach der ersten Kompetenzen sind jedoch reine Funk- die Affirmation der gegebenen Umstän- PISA-Studie. Allein diese zeitliche Koin- tionsfähigkeiten, die wertunabhängig de. Ihr Wert wird von der OECD ganz zidenz, die noch nichts beweist, deutet sind: Lesekompetenzen kann ich an klar mit dem „messbaren Nutzen sowohl jedoch an, dass der Kompetenz-Begriff „Faust“ oder an der Betriebsanleitung in wirtschaftlicher als auch in sozialer maßgeblich durch die OECD gesetzt, für einen MP3-Player erwerben. Bislang Hinsicht“ angegeben. Wenn also an an- forciert und implizit definiert wurde. waren wir aber davon ausgegangen, derer Stelle als Kern der Schlüsselkom- Während wir in einem personalen dass Betriebsanleitungen nicht den glei- petenzen „die Fähigkeit zum eigenstän- Bildungsverständnis das „Attribut des chen Bildungswert haben wie Goethes digen Denken als Ausdruck moralischer Personalen [als] die radikale Absage Schriften, weshalb letztere auf dem an alle Versuche ihrer Indienstnahme“23 Lehrplan standen, erstere nicht. Wenn 26 Ladenthin, Volker: PISA und Bil- dung? Volker Ladenthin im Interview mit Rolf-Michael Simon. Neue Ruhr Zeitung, 22 Huber, a.a.O., S. 15. Bildung. Winfried Böhm zum 22. März 2002. 18.11.2007. 23 Heitger, Marian: Personale Pädagogik. Würzburg 2002, S. 61. 27 OECD: Definition und Auswahl von Rückfall in Dogmatismus oder neue Mög- 24 OECD: Definition und Auswahl von Schlüsselkompetenzen. Zusammenfassung. lichkeit der Grundlegung? In: Harth-Peter, Schlüsselkompetenzen. Zusammenfassung. 2005, www.oecd.org, S. 9 (Hervorhebung J. Waltraud / Wehner, Ulrich / Frell, Frithjof 2005, www.oecd.org, S. 6. K.). (Hrsg.): Prinzip Person. Über den Grund der 25 Ebd. 28 Ebd., S. 8 (Hervorhebung J. K.). Fromm Forum 13/2009 93
Menschenbild und Erziehung und intellektueller Reife sowie zur Übernahme von Verantwortung für das eigene Lernen und Handeln“29 genannt wird, so sind dies blumige Worte, die al- lenfalls auf die Verwertbarkeit auch von Moralität in Arbeitsverhältnissen zielt. Gemeint ist nicht, dass etwa moralische und intellektuelle Reife befähigen soll, genau diese Form von Arbeitsverhält- nissen kritisch zu hinterfragen und auf ihre Moralität hin zu bewerten. Derart wird Denken und Fühlen, werden sogar „soziale Beziehungen“ und die „persönliche Identität“30 für vor- gegebene ökonomische Zielsetzungen instrumentalisiert: „Die Bildung von sozialem Kapital ist wichtig“, denn „gute zwischenmenschliche Beziehun- Abb. 5: OECD: Definition und Auswahl von Schlüsselkompetenzen. Zusammenfassung. 2005, gen sind […] zunehmend auch für www.oecd.org, S.7. den wirtschaftlichen Erfolg wichtig.“31 Kreativität, intellektuelle Reflexivität, Emotionalität und Sozialität, also die ganze menschliche Person, werden in Profile dann demnächst zu Bewerbungs- wechselnden Teams entsprechen: Spra- dieses Anforderungsschema integriert.32 unterlagen, vielleicht werden sie sogar che ist wie Computertechnik ein Mittel Sie sollen den „sozialen und beruflichen zentral erfasst. Dass dies nicht schlech- und Medium der Interaktion, man muss Anforderungen der globalen Wirtschaft te Science-Ficiton ist, zeigen Entwick- auf die Zusammenarbeit in heterogenen und der Informationsgesellschaft“ die- lungen in NRW: Die hier gesetzlich Gruppen eingestellt sein, also mit Kol- nen.33 eingeführte „Bildungsdokumentation“ legen unterschiedlicher Kulturen und PISA und andere Studien legen die- für Kindergartenkinder setzt genau an Herkunft umgehen können und benö- se Kompetenzen zugrunde und sollen den genannten Kompetenzen an. Zwar tigt – in gewissem Maße – eigenstän- künftig nicht allein kognitive Fähig- können die Eltern der Anlage dieses dige Handlungsfähigkeit, um Entschei- keiten, sondern „Einstellungen und Portfolios (noch) widersprechen. Und dungen selbständig treffen zu können. Neigungen“ messen34, um die „Erstel- es klingt für sich genommen so harm- Dieses Modell in der Anwendung lung von Kompetenzprofilen“35 jedes los und wohlgemeint, dass es von den verdeutlicht das Kompetenzkonzept Schülers zu ermöglichen. Da es hier, Wohlfahrtsverbänden kräftig unterstützt eines großen deutschen Konzerns: wie gezeigt, um Persönlichkeitsmerk- wird. Doch erhalten dezidierte und Zunächst wird mit blumigen Worten male geht, entsteht also ein Persönlich- regelmäßige Protokolle über Sprach- ein humanistisches Menschenbild als keitsprofil. Dieses soll wiederum nicht kompetenz, Kommunikationsfähigkeit, Grundlage der „Firmenkultur“ beschrie- mehr nur während der Schulbesuchs- Kreativität, soziale Kompetenzen, Selb- ben: Man sieht den Menschen „als auto- zeit erstellt werden, sondern auch den ständigkeit, Emotionalität, Empathie, nomes und individuelles Mitglied einer Erwachsenen bei seinem „lebenslangen Umgang mit Komplexität u.a.m.37 im Gemeinschaft“, er sei „ganzheitlich, als Lernen“ begleiten. So will die OECD hier aufgerissenen Kontext eine ganz emotionales, soziales und kreatives We- „die Bewertung von Kompetenz bei Ju- andere Konnotation: Das Kompetenz- sen mit eigener Sinnstruktur zu sehen“. gendlichen und Erwachsenen anhand Konzept dient der Vereinnahmung der Diese „definierbaren Werte“ bildeten die gemeinsamer Kriterien“ gemäß einem Person für ökonomische Zwecke. Grundlage der Unternehmenskultur und „Modell der mentalen Entwicklung“ zur „lassen sich in Form von Kompetenzen Grundlage „für die Entwicklung einer darstellen“. Aus Werten werden hier kohärenten Gesamtstrategie“ machen.36 4. Kompetenz im neuen Kapitalismus also Kompetenzen, und diese formulie- Im Klartext: Es sollen lebenslange Per- ren ein Anforderungsprofil, oder besser, sönlichkeitsprofile mit Einstellungen, Auch dies macht die OECD selbst deut- ein marktstrategisches Anpassungspro- Werten und Haltungen jedes Schülers lich: In einem Diagramm definiert sie gramm für die Mitarbeiter: „Verbindlich und künftigen Arbeitnehmers entste- drei Kategorien von Schlüsselkompe- gelebt, trägt das Wertegerüst dazu bei, hen. Möglicherweise gehören solche tenzen, die auch in ihrer grafischen dass [die Firma] positiv wahrgenommen Darstellung genau den Handlungs- wird und eine ebensolche Ausstrahlung 29 Ebd., S.10. feldern und Anforderungen in einem hat.“ Die Werte „ermöglichen Wettbe- 30 Ebd., S. 14, 16. modernen, globalisierten Unternehmen werbsvorteile und sichern den Erfolg“, 31 Ebd., S. 14. mit flachen Hierarchien und ständig „unser Verhalten spiegelt unsere Iden- 32 Vgl. ebd., S. 10f. tifikation mit den Werten wider. Das 33 Ebd., S. 12. Wertesystem entspricht unserer inneren 37 Vgl. Beobachtungsbogen zur Bildungs- 34 Ebd., S. 18. dokumentation des Caritasverbandes für die Einstellung und Überzeugung, unsere 35 Ebd., S. 19. Diözese Münster e.V., Referat Tageseinrich- Handlungen und Entscheidungen sind 36 Ebd. tungen für Kinder. 2004. darauf abgestimmt.“ 94 Fromm Forum 13/2009
Bildung als Anpassung? Die Corporate Identity wird also aktiviert und zu permanenter Selbstop- Und mancher sich fortschrittlich ausgeweitet auf den Kern der Überzeu- timierung angetrieben werden. „Self- wähnende Pädagoge läuft Gefahr, hier- gungen des Einzelnen, der sich inner- Empowerment“ der Arbeitnehmer ist bei auch noch ungewollt zu assistieren, lich identifizieren muss, um im Konzern gefragt, die flexibel, adaptierbar, lern- denn vieles, was derzeit als „neue Me- arbeiten zu können. Das ist letztlich der bereit und kreativ sein müssen. thoden“ allerorten angepriesen wird, Versuch eines totalitären Zugriffs auf Die scheinbare Humanisierung der spielt jenem „neuen Kapitalismus“ ge- die Person über das Kompetenzmodell. Arbeit, der Zugewinn an Freiheit, Selb- rade in die Hände: Die Auflösung der Schon Michel Foucault und Gilles ständigkeit und Entscheidungskompe- Klassenverbände, Freiarbeit, Stationen- Deleuze haben beschrieben, dass und tenz in flachen Hierarchien, Teamarbeit lernen, Gruppenarbeit, Portfolio-Metho- wie der neuere Kapitalismus dazu neigt, und erhöhte Verantwortung werden de, Lernwerkstatt usw. sowie überhaupt ein Kontrollsystem aufzubauen, das aber erkauft mit einer Kontrolle der In- die Überbetonung der Methodik vor nicht mehr über äußerliche Disziplin nensteuerung des Mitarbeiters: „Umge- der Lehrer-Schüler-Beziehung drohen, funktioniert, sondern über die Selbstak- kehrt dringen die neuen Strukturen, die im Sinne dieser Subjektivierungstech- tivierung und Selbstkontrolle der Arbeit- ein umfassenderes Engagement fordern niken, ökonomisch instrumentalisiert nehmer mittels „Selbsttechnologien“.38 [...], in gewisser Weise gerade aufgrund zu werden. Zugespitzt formuliert: Ge- Grundsätzlich arbeitet diese „postfor- ihrer größeren Menschlichkeit tiefer in nau solche reformpädagogisch zu selb- distische“ Produktionsweise nicht mehr das Seelenleben der Menschen ein, von ständigem Funktionieren erzogene jun- nach dem Muster des Fließbandes, das denen erwartet wird, dass sie – wie es gen Leute braucht die neue Ökonomie. Arbeit in kleinste Teilschritte zerschnei- heißt – sich ihrer Arbeit hingeben. Da- Hartman macht das an der Portfolio- det, die genau überwacht werden und durch ermöglichen sie erst eine Instru- Methode deutlich: „Schon der Name ist den Arbeitenden zum Automaten de- mentalisierung der Mitarbeiter in ihrem der kapitalistischen Ökonomie entnom- gradieren. Vielmehr begann beim japa- eigentlichen Menschsein“, so Luc Bol- men, ein Begriff für eine Sammelmap- nischen Autobauer Toyota (daher auch tanski und Ève Chiapello in ihrer maß- pe von Vermögens- und Wertpapierbe- die Rede vom „Toyotismus“) in den 80er geblichen Studie über den „neuen Geist ständen. SchülerInnen sollen von der Jahren eine Entwicklung, die die Be- des Kapitalismus“.39 Grundschule an in einer Sammelmappe wältigung komplexerer Produktionspro- Qualitätskontrolle wiederum be- Arbeitsbestände, Lernergebnisse, Quali- zesse Teams von Arbeitern überträgt, deutet nun, die „Selbstkontrolle der fikationen und Arbeitsproben sammeln, um so deren Initiative und Motivation Produzenten“ zu kontrollieren.40 Die laufend selbst neu bewerten und damit und damit Produktivität zu erhöhen. Parallelen zum Testregime in der Fol- Fähigkeiten der Selbstrechenschaft, Statt Außenkontrolle kontrollieren sich ge von PISA sind evident, und auch -orientierung an Leistungsmarken und Teams nun selbst, Qualität entsteht nicht an den Schulen und Hochschulen füh- -vereinbarungen, -evaluation, -steue- durch nachgelagerte Kontrolle, sondern ren angebliche Autonomie und Selbst- rung, -reflexion entwickeln, standardi- durch Selbstkontrolle. Während also im steuerung faktisch zu immer stärkerer sieren und vor allem für die Kontrolle alten Produktionsprozess der Einzelne Kontrolle bzw. Selbstkontrolle. Da nun im Sinne einer totalen Selbstüberant- nur Teil eines mechanischen Ablaufs aber jeder selbst für seinen Erfolg ver- wortung transparent machen.“42 war, gegen den er aber immer noch antwortlich, weil „autonom“ ist, liegen Sehr deutlich formuliert wird dieser seine Subjektivität in Stellung bringen die Defizite immer beim Einzelnen; es Zusammenhang von dem sich selbst als konnte, wird gerade diese Subjektivität lässt sich keine Verantwortung mehr ab- Musterbeispiel einer reformorientierten nun benutzt, um die Produktivität zu wälzen – nicht auf den Chef, nicht auf Schule verstehenden „Institut Beaten- erhöhen. Der Auflösung der Produkti- die Ministerien, die sich damit aus der berg“ in der Schweiz. Auszüge aus der onsstraßen in kooperierende Teams, die Affäre ziehen und Defizite an die „selb- Selbstbewerbung entwerfen eine ver- durchaus humanisierende Aspekte hat, ständigen“ Untereinheiten delegieren. meintlich „fortschrittliche“ Schule, die steht die effizientere Aktivierung aller All die Schlagworte der Bildungs- die Kinder jedoch exakt in die aufge- Ressourcen des Einzelnen gegenüber, ökonomie, die wir zuvor gehört haben, zeigte Ökonomisierung einpasst: der sich nun nicht mehr innerlich ge- von Standards, Evaluationen, Output- „In einer Zeit zunehmender Kom- gen den Produktionsprozess abgrenzen Orientierung, Qualitätssicherung und plexität werden Selbstorganisation, kann: Er ist nun selbst Teil des Unter- Effizienz gehören in dieses betriebswirt- Eigeninitiative und Selbstwirksam- nehmens, im Unternehmen ein Unter- schaftliche Selbst-Kontrollregime.41 keit zu zentralen Aspekten einer nehmer seiner selbst („Intrapreneur“). erfolgreichen Lebensgestaltung. Diese neue Steuerungstechnik wird Grundlage dafür ist der Glaube an 39 Boltanski, Luc / Chiapello, Ève: Der heute unter dem Schlagwort „Total neue Geist des Kapitalismus. Konstanz 2006, die eigenen Fähigkeiten und die Quality Management“ gefasst und wird S. 145. systematische Entwicklung dieser im Zuge der „Bildungsreform“ auch auf 40 Bröckling, Ulrich: Totale Mobilma- Kompetenzen. Das Ziel heisst: Fit die Schule übertragen: Mit Rezepten chung. Menschenführung im Qualitäts- und for Life. von Autonomie, Verantwortung, Flexi- Selbstmanagement. In: Bröckling, Ulrich Lernen ist eine Dauerbaustelle. bilität und Kreativität sollen Mitarbeiter / Krasmann, Susanne / Lemke, Thomas Deshalb findet sich neben jedem (Hrsg.): Gouvernementalität der Gegenwart. Arbeitsplatz ein Baustellenschild Studien zur Ökonomisierung des Sozialen. mit den wichtigsten Kompetenzra- 38 Vgl. Lemke, Thomas / Krasmann, Su- Frankfurt/M. 2000, S. 136. sanne / Bröckling, Ulrich: Gouvernementali- 41 Zum gesamten Zusammenhang vgl. tät, Neoliberalismus und Selbsttechnologie. Krautz, Jochen: Ware Bildung. Schule und 42 Hartman, Detlef / Geppert, Gerald: Clu- Eine Einleitung. In: Bröckling / Krasmann / Universität unter dem Diktat der Ökonomie. ster. Die neue Etappe des Kapitalismus. Ber- Lemke 2000, S. 7-40. Kreuzlingen/München 2007. lin/Hamburg 2008, S. 204. Fromm Forum 13/2009 95
Menschenbild und Erziehung stern. Sie stecken den fachlichen das sich im Schulbereich doch recht ler Zeiten immer schon gewusst, dass Erwartungshorizont ab und bilden ähnlich dem Klima in der Deut- die Schwächung des menschlichen Be- den Referenzwert für die Arbeiten schen Bank anfühlt. Das ist aller- zugs, die Auflösung der Bindungen die der Schülerinnen und Schüler. [...] dings eine atmosphärische Sache, Herrschaftstechnik der Wahl ist. Nichts Die systematische Förderung die nicht einfach zu beschreiben ist, anderes besagt die alte Maxime „divide persönlicher Lern- und Arbeits- am besten vielleicht noch anhand et impera, solve et coage“: löse die Bin- techniken zählt zu den wichtigen der aufdringlichen, penetranten dungen und separiere die Menschen, Zielen. ‚Gewusst wie’ heisst die De- PR-Sprache, die sich meinem Emp- und du kannst ungehindert Zwang aus- vise. Dazu gehören Reflexion und finden nach in Seminaren und üben und herrschen. Bewusstsein über Lernprozesse Schulen allmählich einschleicht.“ ebenso wie nützliche Selbstfüh- rungs-Instrumente und modernes Ich brauche hier wohl nicht zu betonen, 5. Strategien der Durchsetzung: Von Equipment.“43 dass es mir dabei nicht um die grund- Pisa bis Bertelsmann sätzliche Verwerfung dieser Methoden Jeder Schüler vereinbart dort also geht; vieles davon kann zur Belebung Insofern halte ich das Kompetenz-Kon- mit seinem „Coach“ (früher: Lehrer) des Unterrichts sinnvoll verwendet wer- zept entgegen der Einschätzung mancher seinen individuellen Lernoutput. Sie den. Aber: Unterrichtsmethoden alleine Kritiker in der Erziehungswissenschaft bestimmen den dazu notwendigen In- helfen nicht, Schüler zu erziehen, die nicht allein für ein „Plastikwort“ oder put, ermitteln die Ressourcen und Pro- selbständig denken und moralisch han- einen „Containerbegriff“, den man be- zessvariablen. Dann gehen sie an ihren deln können. liebig formen und füllen kann. Vielmehr Arbeitsplatz, erledigen ihre Lernjobs Dies liegt vor allem daran, weil alle hat sich mit dem Kompetenz-Konzept und produzieren ihren „Output“. In diese Methoden die Lehrer-Schüler-Be- ein ökonomistisches Bildungsverständ- eine Tafel an ihrem Arbeitsplatz tragen ziehung schwächen, also den „pädago- nis in der erziehungswissenschaftlichen sie jeweils ihren Lernfortschritt in ein gischen Bezug“ (H. Nohl)44, und damit Theorie und in der pädagogischen Pra- Kompetenzraster ein. Das soll nun die das Kernstück einer personal verstan- xis sowie in der bildungspolitischen De- „neue“, „humane“ Schule sein? denen Pädagogik. Doch nur in und über batte gezielt an die Macht geputscht. Tatsächlich werden bereits die Beziehung ist Erziehung überhaupt Wie konnte das gelingen? Junglehrer auf diese ökonomisierte Pä- möglich, Freiheit entsteht eben nur aus Das machtvolle Instrument, mit dem dagogik hin trainiert: So berichtet ein Bindung, nicht aus Alleinelassen. Schü- der neue Bildungsbegriff durchgesetzt Studienreferendar, der zuvor ein Trai- ler brauchen und wollen nicht „Modera- wird, ist die PISA-Studie der OECD. nee-Programm bei der Deutschen Bank toren selbstgesteuerter Lernprozesse“, Schon der inhaltliche Charakter abgebrochen hatte, weil ihm dieses die sich aus dem Unterrichtsgeschehen der Testfragen zeichnet das Bild eines effizienzorientierte, menschenferne weitgehend zurückziehen, sondern Leh- vor allem auf seine Markttauglichkeit Training nicht zusagte und er statt des- rer müssen als ganze Menschen, eben als hin überprüften Menschen, so Manfred sen mit Schülern pädagogisch arbeiten „fleischgewordenes Wort“ den Schülern Fuhrmann: wollte, dass er im Referendariat ein bö- ein Gegenüber sein.45 Oder wie Albert „Der PISA-Test zielt auf den homo ses Erwachen hatte: Schweitzer sagt: „Wo kein inneres Le- oeconomicus. Es geht darin um die „Man kommt ins Seminar, und was ben ist, gibt es keine erziehende Kraft. materiellen Bedingungen des Le- man dort vorfindet, erinnert einen Darüber kann alle äußerliche Erzie- bens, um Nutzen und Profit. (…) direkt an die Deutsche Bank: erst hungskunst nicht hinwegtäuschen.“46 Der Idealtyp des PISA-Tests ist der- Brainstorming, dann Gruppenar- Sonst bleiben äußerlich vor sich hin- jenige, der sich später einmal am beit in Teams, dann Präsentati- werkelnde, aber innerlich fragmentierte besten in Industrie, der Technik und on mit Hilfe von Powerpoint und und isolierte Individuen zurück, die der Wirtschaft auskennen wird. Von Mindmapping, schließlich noch sich gemäß konstruktivistischer Leh- allen übrigen Bereichen der Kultur eine Evaluation und Qualitätssi- re vermeintlich „autopoietisch“ selbst (…) sieht der Test rigoros ab.“47 cherung. [...] Dieselben Methoden steuern. Dabei haben die Herrscher al- sollen die Referendare natürlich im Dieses Menschenbild und sein Funk- Unterricht anwenden. Denn Grup- 44 Vgl. Nohl, Hermann (1933): Die Theorie tionsprogramm wird mittels normati- penarbeit fördert Kreativität und Ef- der Bildung. In: Nohl, Hermann/Pallat, Lud- ver Empirie verbindlich gemacht, denn fizienz und trainiert die soft skills, wig (Hrsg.): Handbuch der Pädagogik. Erster PISA testet nicht gelerntes Wissen: Band: Die Theorie und die Entwicklung des die sozialen Kompetenzen. Viele Nicht einmal die konkreten Aufgaben Bildungswesens. Weinheim/Bergstraße, S. der Begriffe, die ich erstmals bei 20–26. in Lesen und Schreiben, Mathematik der Deutschen Bank kennen gelernt 45 Vgl. Krautz, Jochen: Personale Bildkom- und Naturwissenschaften stimmen mit habe, tauchen in Seminaren oder petenz. Zur Phänomenologie des Vor-Bildes den Lehrplänen der Länder überein. Pädagogikbüchern wieder auf [...]. in der pädagogischen Situation. In: Pädago- Da überall dieselben Aufgaben gestellt Eigentlich sind es aber weniger die- gische Rundschau 2/2006, S. 167–176. werden, ist ein Eingehen auf nationale se Begriffe und Methoden selbst, 46 Schweitzer, Albert: Predigt über Erzie- Besonderheiten nicht möglich und auch sondern vielmehr ist es das Klima, hung, 2.7.1911. Zit. nach Günzler, Claus: gar nicht gewollt. PISA testet also Fähig- „Nachdenklich machen ist die tiefste Art zu begeistern“. Zur Pädagogik in Schweitzers 43 http://www.institut-beatenberg.ch/ Ethik. In: Albert Schweitzer – ein Jahrhun- 47 Fuhrmann, Manfred: Der europäische 2004/Uber_uns/Philosophie/philosophie. dertmensch mit Zukunft. Albert-Schweitzer- Bildungskanon. Frankfurt/M., Leipzig 2004, html. Rundbrief Nr. 100/2008, S. 38. S. 222. 96 Fromm Forum 13/2009
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