Energie&Umwelt Suffizienz - wie bitte? - Suffizienz muss eine Rolle spielen Freeday for future Schockierende AKW-Fehlerkultur ...

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Energie&Umwelt Suffizienz - wie bitte? - Suffizienz muss eine Rolle spielen Freeday for future Schockierende AKW-Fehlerkultur ...
Energie&Umwelt
Magazin der Schweizerischen Energie-Stiftung SES – 3/2021

Suffizienz – wie bitte?
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Energie&Umwelt Suffizienz - wie bitte? - Suffizienz muss eine Rolle spielen Freeday for future Schockierende AKW-Fehlerkultur ...
INHALT

                                         Suffizienz – wie bitte?

                                      4 Suffizienz muss eine Rolle spielen
                                         Eine wirksame Klima- und Ressourcenpolitik ist nur möglich, wenn nebst Effizienz
                                         und nachhaltigen Technologien auch die Suffizienz eine Rolle spielt. Speziell auch die
                                         Wirtschaft und Politik sind gefordert.

                                    6 «Wir brauchen Störenfriede, die aus dem
                                   		 Mainstream ausbrechen»
                                         Postwachstumsökonom Niko Paech gilt als Enfant Terrible der Wirtschaftszunft.
                                         Die SES hat sich mit ihm über Genügsamkeit und Wachstumswahn ausgetauscht.

                                      8 Energie aktuell

                                    10 Suffizienz-Tipps für Anfänger:innen und Profis
                                         In der Schweiz verursachen wir alle überdurchschnittlich viel Umweltbelastung.
                                         Es braucht sowohl von Politik als auch uns Individuen eine neue Suffizienz-Praxis.
                                         Das Gute ist, dass jede:r unmittelbar und wirksam handeln kann.

                                    12 Free day for future!
                                         Arbeiten schadet dem Klima. Also lassen wir es doch. Ein Plädoyer für die Viertagewoche.

                                    14 Es gilt, die Menschen ins Zentrum zu stellen
                                         Energieszenarien liefern zwar wichtige Erkenntnisse, aber rein technologische Model­
                                         lierungen reichen nicht, um die Energiewende zum Erfolg zu führen. Auch gesellschaft-
                                         liche Aspekte müssen mitberücksichtigt werden.

                                    16 Und wie halten Sie es mit der Suffizienz?
                                         Sozialpsychologin Corinne Moser, der Historiker und Umweltjournalist Marcel Hänggi
                                         und die GLP-Kantonsrätin und IKEA-Nachhaltigkeitschefin Franziska Barmettler
                                         dis­k utieren über das Für, Wie und Wider der Suffizienz.

                                    18 Das ist noch kein Solargesetz
                                         Die Energiewende in der Schweiz harzt. Ein Schub für den Ausbau der erneuerbaren
                                         Energien ist dringend nötig. Kann das neue Energiegesetz es richten?

                                   20 SES aktuell

                                   22 Schockierende AKW-Fehlerkultur
                                         Fast 30 Jahre lang blieb ein Montagefehler in der Notstromversorgung des
                                         AKW Beznau un­entdeckt. So wurden Risikoanalysen jahrzehntelang unter falschen
                                         Annahmen getroffen.

Schweizerische Energie-Stiftung SES
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2   Energie & Umwelt 3 /2021
Energie&Umwelt Suffizienz - wie bitte? - Suffizienz muss eine Rolle spielen Freeday for future Schockierende AKW-Fehlerkultur ...
EDITORIAL

Vom Überfluss zum guten Mass

            Liebe Leserinnen und Leser

            Sich einschränken, sich mässigen. Diese Losung hören       Doch wer so denkt, steckt fest im «Weiter-wie-bisher».
            wir gerade, was unseren verschwenderischen Umgang          Denkt weder zeitgemäss noch zukunftsfähig und ver-
            mit Energie und Ressourcen betrifft, oft. Wohl nicht zu    passt die Chancen: Nämlich die Bereicherungen, den
            Unrecht: Trotz gut gemeinter Bemühungen für Klima-         Blick aufs Wesentliche im Leben. Das wäre schade,
            schutz und Energieeffizienz steigen die Treibhausgas-      meinen wir, und haben deshalb ein paar Artikel und
            emissionen, Umweltbelastung und Biodiversitätsver-         Anregungen zusammengestellt, mit denen Sie indi­
            lust weiter an. Ob Technik alleine die Lösung bringen      viduell Ihren Alltag suffizient gestalten und neue Be-
            wird, ist – optimistisch ausgedrückt – fraglich.           reicherungen erleben können.

            Es braucht neue Indikatoren, an denen sich Politik und     Auch die Politik soll als Adressat nicht zu kurz kom-
            Gesellschaft auf der Suche nach dem guten Leben orien­     men. An der kommenden SES-Abendveranstaltung
            tieren können. Es braucht konsequentere Ansätze in         vom 31. August widmen wir den gesamten Abend der
            unserer Produktions- und Konsumweise, die das Be-          Suffizienz und spielen – in Gedanken – mit verschie-
            mühen um einen möglichst geringen Rohstoff- und            denen Suffizienzmassnahmen (Infos S. 13). Unsere
            Energieverbrauch ins Zentrum stellen. In der Nach-         ­Veranstaltungspartnerin, der Thinktank Massfabrik,
            haltigkeitsforschung gibt es dafür den Fachbegriff der      plädiert in ihrem Leitartikel ebenso für die Verantwor-
            «Suffizienz». Das Wort stammt aus dem Lateinischen          tung von Politik und Wirtschaft (S. 4), während Post-
            und bedeutet so viel wie «ausreichen». Wer nach alltags-    wachstumsökonom Niko Paech im Interview an den
            sprachlichen Synonymen im Deutschen sucht, stösst           moralischen Selbstanspruch appelliert (S. 6).
            auf Begriffe wie «Genügsamkeit», «Selbstbegrenzung»,
            «Verzicht» oder «Bescheidenheit». Ebenfalls im Ange-       Die SES jedenfalls wird sich weiterhin für den Wandel
            bot: «Entschleunigung», «rechtes Mass» oder gar «Ent-      einsetzen – in der bundesbernischen Wandelhalle und
            rümpelung». Auch wenn das eine oder andere durch-          in unser aller Köpfen.
            aus passabel klingen mag: Irgendwie bleibt da überall
            etwas Strenges, Calvinistisches, für den Mainstream        Ich wünsche Ihnen eine bereichernde Lektüre!
            weder Freiheit- noch Fortschrittversprechendes anhaf-
            ten. Die Konklusion ist schnell gezogen: Mass halten       Tonja Iten
            ist nichts für die Masse. Die Mehrheit will mehr.          Wissenschaftliche Mitarbeiterin der SES

                                                                                                     Energie & Umwelt 3 /2021   3
Energie&Umwelt Suffizienz - wie bitte? - Suffizienz muss eine Rolle spielen Freeday for future Schockierende AKW-Fehlerkultur ...
Suffiziente Lebensstile möglich und attraktiv machen:
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                                                                                        enormen Spielraum und sind gefordert.

NEUE LEBENSSTILE

Suffizienz muss eine Rolle spielen
Eine wirksame Klima- und Ressourcenpolitik ist nur möglich, wenn nebst
Effizienz und nachhaltigen Technologien auch die Suffizienz eine Rolle spielt.
Suffizienz ist aber nicht lediglich als Anleitung für persönliches Konsumver-
halten zu verstehen. Speziell auch die Wirtschaft und Politik sind gefordert.

                      Von Matthias Gallati,                                       Definition des Wuppertal-Instituts, die 2002 veröffent-
                      Kommunikationsberater und Vorstand Massfabrik,              licht wurde und nach wie vor Gültigkeit hat: «Suffizi-
                                                                                  enz ist die Frage nach dem rechten Mass. Gemeint ist
                      und Michèle Bättig, Beraterin für Energie, Klima und        damit eine Lebens- und Wirtschaftsweise, die dem
                      Nachhaltigkeit; Co-Präsidentin Massfabrik                   Überverbrauch von Gütern und damit von Stoffen und
                                                                                  Energie ein Ende setzt.»
                      «Ich überlege mir immer öfter, ob ich ein neues Gerät
                      wirklich brauche, denn eigentlich macht es mich glück-      Aus dieser Formulierung geht hervor, dass Suffizienz
                      licher, wenn ich mich nicht in die Funktion eines neuen     nicht nur als Anleitung für persönliches Konsumver-
                      Gadgets eindenken muss», sagt Petra Walser. Die Stu­den­    halten verstanden werden darf. Es braucht weniger von
                      tin handelt suffizient, wenn sie auf den Kauf des Ge­räts   allem und zwar sowohl auf individueller Ebene als
                      verzichtet und damit Zeit und Geld für andere Dinge         auch in der Wirtschaft und der Gesellschaft, denn tech-
                      gewinnt – vorausgesetzt, dass sie beides nicht für um-      nische Innovationen, sparsame Gebäude und effiziente
                      weltschädliche Tätigkeiten einsetzt (Rebound-­Effekt).      Haushalte etwa werden nicht ausreichen, um den Ener-
                      Das Beispiel zeigt, dass es bei der Suffizienz nicht um     gieverbrauch auf ein verträgliches Mass zu reduzieren
                      technische Lösungen geht, sondern darum, wie der            und den CO2-Verbrauch auf Netto Null zu senken. Eine
                      Mensch handelt und was sein Handeln bewirkt.                wirksame Klima- und Ressourcenpolitik ist nur mög-
                                                                                  lich, wenn neben Effizienz und Konsistenz auch die
                      Suffizienz ist die Frage nach dem rechten Mass              Suffizienz eine Rolle spielt.
                      Was aber bedeutet Suffizienz genau? In den letzten Jah-
                      ren haben verschiedene Forschungsinstitute den Be-          Während aber Effizienz und Konsistenzmassnahmen
                      griff umschrieben. Wir beschränken uns hier auf eine        in der politischen Diskussion um Klimaschutz und Res-

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sourcenschonung ihren Platz gefunden haben, haben           und Kuchen seine Kleider wäscht und mit Nachbarn
                                        Suffizienzmassnahmen einen schweren Stand. Denn             einen Schwatz hält, hat mehr vom Leben. Baut der Bau-
                                        sie stellen das aktuelle Wirtschafts- und Gesellschafts-    herr eine solche Waschbar und verzichtet stattdessen
                                        system infrage und zielen darauf ab, den Ressourcen-        auf den Einbau von Waschtürmen in jeder Wohnung,
                                        verbrauch zu reduzieren. Suffizienz ist jedoch nötig,       spart er viel graue Energie.
                                        denn die Menge der Güter wie auch das Angebot an
                                        energieintensiven Dienstleistungen sind in den letzten      Einen anderen Weg geht der grösste Wohnungsanbieter
                                        Jahren stetig gewachsen – seit 1998 hat sich der Welt-      von Karlsruhe, Volkswohnung e. V.: Der Verein ermög-
                                        handel mehr als verdoppelt.                                 licht älteren Menschen mit Umzugs- und Renovations-
                                                                                                    hilfen den Umzug in kleinere aber für sie besser ge­
                                        Suffizientes Leben möglich machen                           legene Wohnungen. Das hat den Energieverbrach der
                                        Auf individueller Ebene wird suffizientes Leben heute       Siedlungen positiv beeinflusst. Mit Belegungsvorschrif-
                                        schon von vielen erprobt und gelebt. Überall in Westeu­     ten, wie sie Wohnbaugenossenschaften bereits heute
                                        ropa schiessen Tauschbörsen, Repair-Cafés und Sharing­      verbreitet einsetzen, mit Pensionen anstelle von Gäste-
                                        konzepte wie Pilze aus dem Boden. Damit solchen suffi­      zimmern in jeder Wohnung, gemeinsam nutzbaren
                                        zienten Massnahmen auf breiter Basis zum Durchbruch         Terrassen oder Gemeinschafts-Kühlräumen kann viel
                                        verholfen werden kann, sind entsprechende Rah­men­be­       graue Energie eingespart werden.
Foto: Michèle Bättig, Idaplatz Zürich

                                        dingungen zu schaffen, denn es ist häufig unbequemer,
                                        teurer oder aufwändiger, suffizient zu handeln.             Soziale Gewinne nutzen, über Suffizienz reden
                                                                                                    Solche Massnahmen bringen soziale Gewinne und ma-
                                        Städte und Gemeinden haben hier enormen Hand-               chen – quasi als Mitnahmeeffekt – ein suffizienteres
                                        lungsspielraum: Sie können Suffizienz in ihren Strate-      Leben möglich. Häufig steht dabei die Suffizienz gar
                                        gien, Leitbildern und Konzepten verankern und somit         nicht im Zentrum, sondern die Steigerung der Lebens-
                                        die Frage nach dem rechten Mass in allen Bereichen          qualität. Diese Beispiele zeigen ein grosses Potenzial
                                        und bei all ihren Aktivitäten mitberücksichtigen. Im        eben auch bei Massnahmen, die nicht in erster Linie
                                        Rahmen der kommunalen Siedlungsentwicklung kön-             auf umweltrelevantes Verhalten zielen. So könnten Ver-
                                        nen sie sich zum Ziel setzen, Wohnen, Arbeiten, Kultur      änderungen von Lebenssituationen wie etwa eine Hei-
                                        und Freizeit vermehrt in Fuss- und Velo-Distanz zu          rat oder die Geburt des ersten Kindes dazu genutzt
                                        konzentrieren und mit den öffentlichen Verkehrsmit-         werden, auf suffizientere Lebensstile hinzuweisen.
                                        teln zu erschliessen. Die Menschen sind dadurch gut         Denn mit der Änderung der Lebensgewohnheiten, die
                                        versorgt und können ihre Bedürfnisse innerhalb kurzer       durch das Zusammenziehen oder durch ein neues Fa-
                                        Distanzen abdecken. Eine attraktive Gestaltung der          milienmitglied so oder so passiert, könnte vergleichs-
                                        öffentlichen Räume mit viel Grün und Bäumen, Was-           weise einfach auch auf suffizientere Ernährung oder
                                        serelementen sowie Sitz-, Spiel- und Sportmöglichkei-       Mobilität hingewirkt werden.
                                        ten, ergänzt mit Läden, Restaurants, Bars und weiteren
                                        Freizeitangeboten, erhöht die Lebens- und Aufenthalts-      Natürlich gilt auch hier, dass das Verhalten des Einzel-
                                        qualität im Quartier und kann gleichzeitig die sozialen     nen in grossem Masse durch Gewohnheiten, persönliche
                                        Netzwerke stärken. Wer nicht will, muss keine langen        Beziehungen und Normen beeinflusst wird, die in be-
                                        Reisen auf sich nehmen.                                     stimmten Lebensstilgruppen gelten. Um also Verände-
                                                                                                    rung auszulösen, kommt dem Dialog eine zentrale Rolle
                                        Weitere Ideen für Städte und Gemeinden sind Velo- und       zu. Menschen müssen sich mit anderen Menschen aus-
                                        Car-Sharing-Angebote, Co-Working-Arbeitsplätze, Bücher­     tauschen, ihre persönlichen Erfahrungen einbringen
                                        schränke oder Bring- und Holtage, damit nicht jeder alles   und über ihre Bedenken reden können. Der deutsche
                                        selbst besitzen muss oder nicht mehr benötigte Gegen-       Soziologe und Sozialpsychologe Harald Welzer bringt es
                                        stände weitergeben kann. Um selber ein gutes Vorbild zu     auf den Punkt: «Wir sollten gezielt auf die Interessen
                                        sein, können Gemeinden ihre Beschaffung überprüfen,         und Sorgen von Individuen eingehen, um eine positive
                                        fleischlose Tage in der Mensa anbieten oder flexible Ar-    gesellschaftliche Entwicklung herbeizuführen.»       <
                                        beitszeitmodelle und Raumkonzepte einführen.

                                        Sowohl kommunale als auch genossenschaftliche und
                                        institutionelle Bauherrschaften könnten vermehrt                      Drei Strategien für Nachhaltigkeit
                                        Wohnungen bauen, die mit kleineren Wohnflächen pro
                                                                                                              n Effizienz: Dank technischem Fortschritt Ressourcen und
                                        Person auskommen und damit einen grossen Treiber
                                                                                                                Energie besser nutzen und die Umweltbelastung senken.
                                        des Energieverbrauchs beeinflussen. Die Wohnfläche,
                                        die jedem Menschen zur Verfügung steht, hat nämlich                   n Konsistenz: Dank Kreislaufwirtschaft und erneuerbaren
                                        grossen Einfluss auf die benötigte Heizenergie sowie                    Energien umweltschädigende Verfahren ersetzen und auf
                                        auf die Verwendung von Einrichtungen und Apparatu-                      naturverträgliche Technologien setzen.
                                        ren. Weitsichtige Wohnungsanbieter:innen setzen                       n Suffizienz: Dank Verringerung von Nachfrage und
                                        stattdessen auf attraktive Aussenraumgestaltung und                     Produktion von Gütern den Ressourcenverbrauch und
                                        gemeinschaftlich und für vielfältige Dinge nutzbare                     die Umweltbelastung reduzieren.
                                        Räume. Und wer im attraktiven Waschsalon bei Kaffee

                                                                                                                                                     Energie & Umwelt 3 /2021   5
Energie&Umwelt Suffizienz - wie bitte? - Suffizienz muss eine Rolle spielen Freeday for future Schockierende AKW-Fehlerkultur ...
INTERVIEW MIT NIKO PAECH

«Wir brauchen Störenfriede, die aus dem
Mainstream ausbrechen»
Der Ökonom Niko Paech theoretisiert über und lebt selbst die Suffizienz.
Erst einmal hat er – gezwungenermassen – ein Flugzeug bestiegen. Mit seiner
Wachs­tumskritik gilt er als Enfant Terrible der Wirtschaftszunft. Die SES hat
sich mit ihm über Genügsamkeit und Wachstumswahn ausgetauscht.

                      Interview von Tonja Iten                                     Kein Überleben ohne Entsagung klingt ziemlich dras­
                      Wissenschaftliche Mitarbeiterin SES                          tisch. Wie kommen wir als Gesellschaft dorthin?

                                                                                   Ganz einfach – oder ganz schwer, je nach Betrachtung.
                      «Small is Beautiful» lautet eine Redewendung, um das         Der Homo Sapiens ist ein soziales Wesen. Er beobachtet
                      Prinzip der Suffizienz zu übersetzen. Was halten Sie         andere, imitiert deren Praktiken, wird umgekehrt von
                      von diesem Prinzip?                                          anderen beobachtet. Diese soziale Interaktion ist das
                                                                                   Medium, durch das sich neue Dinge verbreiten. Die

                                                                                                                                               Foto: zvg
                      Als junger Mensch war ich begeistert vom gleichnami-         Letzteren entstammen Nischen, Reallaboren, sozialen
                      gen Buch von Ernst Friedrich Schumacher, 1973 vor-           Experimentierfeldern, aus denen heraus Pioniere oder
                      gelegt. Darin geht es um eine ganz andere Arbeits- und       Störenfriede, die aus dem Mainstream ausbrechen, eine
                      Technikwelt, dezentral und auf kleinen Einheiten be-         völlig neue, suffiziente Praxis vorleben. Das kann auf
                      ruhend. Also vorderhand nicht um Suffizienz, doch als        Widerstände und Ignoranz stossen, dennoch ist dies in
                      Anhänger der buddhistischen Wirtschaftslehre hat er          Demokratien der Weg jeglicher gesellschaftlichen Ver-
                      Konzepte der Genügsamkeit als Basis gelegt. Das Buch         änderung. Damit sich Mehrheiten für neue Daseins-
                      propagiert eine technikkritische Haltung und eine so-        formen bilden, müssen diese von Eliten erprobt und
                      genannte mittlere Technologie, d.h. Werkzeuge sollen         praktiziert werden, so dass ihre Funktionsfähigkeit
                      die Menschen zusammenbringen und ihre Arbeit ver-            und Vorzüge sichtbar werden. Eine avantgardistische
                      stärken, aber nicht ersetzen. Die Arbeit selbst habe erst    Suffizienz-Minderheit kann niemals Wahlen gewin-
                      mal den Zweck, dass Menschen sich entwickeln und             nen. Doch sie kann vollendete Tatsachen schaffen, bei-
                      gemeinsam etwas erschaffen, und dient erst an dritter        spielsweise ohne SUV, Fliegen, Fleisch, Eigenheim oder
                      Stelle der Einkommenserzielung, folglich einer beschei-      Apple-Endgerät glücklich existieren.
                      deneren Ausformung von Wirtschaft und Dasein.
                                                                                   Gleichzeitig wird uns ja dauernd das Gegenteil ver­
                      Und welche Rolle spielt die Suffizienz in Ihrem Wirt­        klickert, ohne SUV & Co. sei kein glückliches Leben
                      schaftskonzept, der sogenannten Postwachstums­               möglich. Wie kommt der Mensch dagegen an? Und
                      ökonomie?                                                    ist denn der skizzierte Prozess schnell genug, um die
                                                                                   akuten Umweltprobleme zu meistern?
                      Suffizienz kennt drei Erscheinungsformen: Erstens die
                      Reduktion eines bestimmten quantitativen Konsum-             Die Frage ist irrelevant, weil es keine Alternative gibt.
                      nachfrageniveaus, z.B. den Fleischkonsum zu reduzie-         Die Coronakrise, Finanzkrise, Fukushima-GAU, Im­
                      ren – was nicht heisst, gar kein Fleisch mehr zu essen.      migrationskrise, jetzt das Hochwasser-Desaster waren
                      Zweitens die Selbstbegrenzung, etwa ein einmal er-           Eruptionen, die uns zeigen, dass unsere derzeitige Da-
                      reichtes Konsumniveau nicht weiter zu steigern – auch        seinsform nicht zukunftsfähig sein kann. Von Klima-
                      wenn es finanziell möglich wäre. Drittens die grund-         und Biodiversitätsproblemen gar nicht erst zu spre-
                      sätzliche, ja radikale Entsagung, also gewisse Dinge         chen… Krisen werden zum Treiber der Veränderung
                      kategorisch aus dem Leben rauszuhalten, beispielsweise       und zum Selektionsmechanismus, sodass aktuelle Le-
                      niemals zu fliegen.                                          bensgewohnheiten auf den Prüfstand gestellt werden.
                                                                                   Und das, was derzeit nur eine Avantgarde praktiziert,
                      Jedes Nachhaltigkeitskonzept, das nicht zuvorderst auf       könnte sich als überlebensfähig herausstellen, wenn
                      Suffizienz abstellt, ist nicht das Papier wert, auf dem es   die Eruptionen und Krisen näher rücken.
                      gedruckt steht. Denn keine Technologie ist auch nur
                      theoretisch in der Lage, unseren derzeitigen Wohlstand       Und die Politik: Was kann und muss diese tun?
                      von ökologischen Schäden zu entkoppeln. Suffizienz
                      ist nicht alles – aber ohne Suffizienz, ist alles, was wir   Die Menschheit steht nicht nur am ökologischen Ab-
                      im Nachhaltigkeitsdiskurs diskutieren, nichts.               grund, sondern zusätzlich an einem anderen Wende-

6   Energie & Umwelt 3 /2021
Energie&Umwelt Suffizienz - wie bitte? - Suffizienz muss eine Rolle spielen Freeday for future Schockierende AKW-Fehlerkultur ...
Prof. Dr. Niko Paech lehrt und forscht an der Universität Siegen. Lesen Sie das gesamte Interview auf www.energiestiftung.ch/paech.

punkt: Die Versuche, den modernen Lebensstils von                doch eine verantwortbare Politik wählen sollen. Wer
ökologischen Schäden zu entkoppeln, misslingen nicht             wählt eine Politik, die einem etwas aufoktroyiert, dass
nur systematisch, sondern verstärken das Problem. Was            er freiwillig nicht zu tun gedenkt? Hier liegt ein Grund-
heisst das? Bislang wurden Parteien immer dafür ge-              widerspruch des Nachhaltigkeitsdiskurses, den wir
wählt, dass sie den Menschen Umweltschutz verspra-               noch nicht verarbeitet haben.
chen – unter dem Vorbehalt, dass der Wohlstand da-
durch nicht gefährdet würde. Genau dieses Versprechen            Der moralische Selbstanspruch muss wachsen. Ist un­
ist nicht mehr einzuhalten. Aber wenn die Technik ver-           sere Kultur zu mehr Moral einfach nicht fähig?
sagt, an die das Problem bislang delegiert wurde, müss-
te die Politik die Wählermehrheit zu einem genügsa­              Natürlich, aber Kultur ist ja nicht Granit, sondern ver-
me­ren Lebensstil nötigen. Sie müsste also die seit dem          änderbar. Veränderungsprozesse sind manchmal lang-
Zweiten Weltkrieg vorherrschende Maxime jeglicher                wierig und schwierig, doch gibt es keinen anderen Weg.
Politik – bedingungslose Steigerung aller Wohlstands-            Aber wenn meine Prognose stimmt, werden auch die
optionen – ins glatte Gegenteil umkehren. Das entsprä-           Widersprüche unserer Lebensweise jeden Tag offen-
che dem perfekten politischen Selbstmord, ausser es              sichtlicher. Noch verdrängen wir sie, weil wir hier in
findet sich bereits eine hinreichende Quantität an Men-          Europa eine Insel der Glückseligen geschaffen haben,
schen, die bereit und fähig ist, genügsamer zu leben,            aber diese werden wir von den Konsequenzen unserer
sodass sich die Politik auf diese berufen kann.                  Lebensweise nicht länger freihalten können. Dieser
                                                                 Druck wird es sein, der die Menschheit verändert.
Braucht es ein grundlegend anderes Politsystem?
                                                                 Aber dies ist kein Grund, fatalistisch zu werden. Wenn
Ich halte mehr direkte Demokratie, die in der Schweiz            ein breites Spektrum an Lebens- und Versorgungsweisen
bereits existiert, für sinnvoll. Aber Politik ist nicht alles.   existiert, sind mehr Krisenbewältigungsmittel verfüg-
Sie muss versagen, wenn schon das Bildungssystem                 bar. Egal ob diese von einer Mehr- oder Minderheit
­jegliche Individualethik pulverisiert, indem jungen             in Szene gesetzt werden. Darum ist es so wichtig, die
 Menschen technologischer Fortschritt und politische             ­Widerstandsnester der Wachstumsverweigerer zu wah-
 Rahmenbedingungen als Allheilmittel verkauft wer-                ren und würdigen. Noch werden sie verlacht, aber
 den. Individuelle Verantwortung ist aus meiner Sicht             ­warten wir mal bis zur nächsten Überschwemmungska-
 nicht verhandelbar. Damit will ich nicht sagen, dass              tastrophe oder Pandemie. Wir denken, wir können sie
 jegliche Verantwortung beim Individuum liegt. Aber                wegimpfen – eine kurzfristige Schönheitsoperation.
 es ist schizophren, wenn denjenigen, denen individu-              Langfristig werden wir das Mensch-Natur-Verhältnis
 elle Verantwortung abgesprochen wird, dann zugetraut              ­verändern müssen. Mit unserer aktuellen Lebensweise
 werden muss, dass sie über den Umweg der Politik eben              können wir dem Druck nicht standhalten.          <

                                                                                                                   Energie & Umwelt 3 /2021   7
Energie&Umwelt Suffizienz - wie bitte? - Suffizienz muss eine Rolle spielen Freeday for future Schockierende AKW-Fehlerkultur ...
Energie aktuell
                      > IEA fordert Ende des Ölzeitalters                              > ElCom warnt vor Klumpenrisiko AKW

                                                                                       © stock.adobe.com / lovelyday12
                                                                          © IEA 2021
                      ti. Im Mai hat die Internationale Energieagentur IEA             fl. 60-jährige AKW-Laufzeiten sind in der Schweiz längst
                      ihre Roadmap für Netto Null bis 2050 vorgelegt. Mit              kein Tabu mehr. Die Argumente, die für den riskanten
                      unüblicher Klarheit skizziert die IEA, welcher Mass-             Langzeitbetrieb vorgeschoben werden, drehen sich ein-
                      nahmen es bedarf: Ab sofort dürfe weltweit kein Geld             mal mehr um die Versorgungssicherheit. Tatsächlich
                      mehr in die fossile Infrastruktur investiert, ab 2035            zeigen aber umfassende Studien, wie zuletzt eine gross
                      keine Autos mit Verbrennungsmotoren zugelassen wer-              angelegte Modellierung von Stressszenarien der Eidge-
                      den. Und ein Ausbau von Sonnen- und Windkraft in                 nössischen Elektrizitätskommission (ElCom), dass die
                      bisher ungesehenem Ausmass sei nötig. Das erfordert              alternden Reaktoren vielmehr zum Klumpenrisiko für
                      eine Verdoppelung der Investitionen im Energiesektor             die Stromversorgung werden. Ungeplante Ausfälle wer-
                      bis 2030 auf rund fünf Billionen US-$ jährlich. Dies sei         den mit jedem Betriebsjahr wahrscheinlicher – auch im
                      gut investiertes Geld und schaffe Millionen neuer Jobs.          Winter. Statt also auf die Wunder einer längst über­
                      Zu bemängeln bleibt: Neben 90 % Erneuerbaren im                  holten Technologie zu setzen, muss mit aller Kraft er-
                      2050 soll laut IEA die Atomkraft den Rest decken. Dass           neuerbare Winterproduktion zugebaut werden, denn
                      dies gar nicht nötig ist, rechnen andere Institute vor.          der Langzeitbetrieb uralter AKW verschärft das Problem,
                                                                                       das er angeblich lösen soll.

                      > Die Schweiz ist kein Klima-Musterland                          > Wir Zufussgehende sind «Nützlinge»
                                                                                           © wikimedia / Wilfredor
                       © SES / fischer design

                      fb. Kaum jemand leugnet heute noch den menschen-                 fb. Mobilität bewegt uns alle, die täglichen Wege zeigen
                      gemachten Klimawandel, die Argumente gegen Klima-                uns aber auch die Grenzen auf. Das Bundesamt für
                      schutz sind meist andere: Die Schweiz würde ja bereits           Raumentwicklung berechnet regelmässig die externen
                      eine Vorreiterrolle einnehmen und eine Reduktion                 Kosten und Nutzen der verschiedenen Verkehrsmittel.
                      unseres CO2-Ausstosses hätte keine Auswirkungen auf              Diese von uns Verursacher:innen nicht getragenen Um-
                      das Weltklima.                                                   welt- und Gesundheitskosten sind erneut gestiegen, was
                      Gemäss BAFU wurde hier zu Lande nicht einmal das Ver-            hauptsächlich auf eine Zunahme im Flug- und Auto-
                      minderungsziel bei den CO2-Emissionen aus Brennstof-             verkehr zurückzuführen ist. Dagegen zeigt sich, dass
                      fen erreicht, wie energate-messenger.ch berichtet. Der           der Fussverkehr die Mobilitätsform ist, deren Nutzen
                      Ausstoss aus Treibstoffen ist zwar etwas stärker gesun-          die Kosten übersteigt. Allein der Gesundheitsnutzen lag
                      ken, dabei sind die Emissionen des internationalen Flug-         bei 907 Mio. Franken, während diese Verkehrsform nur
                      und Schiffverkehrs aber nicht berücksichtigt. Apropos            427 Mio. Franken externe Kosten verursachte.
                      international: Die Emissionen im Ausland, die wir durch
                      Konsumgüter und Rohstoffe importieren und mitver-                Wir Menschen zu Fuss sind laut «Fussverkehr Schweiz»
                      ursachen, übersteigen jene im Inland deutlich. Es führt          also «Nützlinge». Auch das Velofahren hat eine positive
                      kein Weg daran vorbei: Auch die Schweiz muss ihren               externe Bilanz. Diese beiden Formen der Mobilität soll-
                      Beitrag leisten.                                                 ten folglich verstärkt gefördert werden.

8   Energie & Umwelt 3 /2021
Energie&Umwelt Suffizienz - wie bitte? - Suffizienz muss eine Rolle spielen Freeday for future Schockierende AKW-Fehlerkultur ...
> 100 % erneuerbar bis 2030                                 > Wie viel ist der lokal produzierte Strom wert?

                                                                © ADEV Energiegenossenschaft
© Andreas Schantl on Unsplash

fn. Österreich hat beschlossen, bis 2030 auf 100 %          fn. Der «Rückliefertarif» ist der Betrag, den lokale Pro-
erneu­erbaren Strom zu setzen. Alle Parteien im Parla-      duzenten vom Verteilnetzbetreiber pro eingespeiste kWh
ment ausser die FPÖ stimmten dafür. Damit setzt sich        vergütet erhalten. Einige Verteilnetzbetreiber, z.B. die
unser Nachbarland das ambitionierteste Ökostromziel         Berner BKW, zahlen sehr tiefe Rückliefertarife (Über-
in Europa. Bis 2040 soll Österreich ganz klimaneutral       sicht: www.pvtarif.ch). Sie orientieren sich am Ein-
werden. Magnus Brunner, der Staatssekretär im Um-           kaufspreis für «Graustrom» ohne ökologischen Mehr-
weltministerium, sieht das Erneuerbaren-Ausbau-Ge-          wert. Die ElCom hat nun in einer Verfügung klarge-
setz (EAG) als «Investitionspaket für und in die heimi-     macht, dass sich die Vergütungshöhe auch an den
sche Wirtschaft». Indes schlägt unser Bundes­rat vor,       Gestehungskosten der eigenen Produktions­anlagen zu
Netto Null erst 2050 zu erreichen und die Hauptan-          richten hat. Die Verfügung ist noch nicht rechtskräftig.
strengung auf die Zeit nach 2035 zu verschieben. Die        Gemäss energate-messenger.ch ging es im konkreten
Schweiz als Hort der Pünktlichkeit? Mitnichten. So          Streitfall um Wasserkraftwerke der ADEV Energiege-
verpassen wir den Anschluss. Bleibt zu hoffen, dass sich    nossenschaft im Kanton Bern. Der Verteilnetzbetreiber
unser Parlament das EAG zu Gemüte führt, bevor es das       ist die BKW oder ihre Tochterfirma onyx. Ob diese die
Schweizer Energiegesetz berät.                              Verfügung gerichtlich anfechten, ist noch offen.

> Agriphotovoltaik: zwei Fliegen auf einen Schlag           > In Gedenken an Hans-Peter Guggenbühl

          © BayWa r.e.

                                                                                                                  © Beatrix Mühlethaler

vs. Agriphotovoltaik umschreibt die effiziente Doppel-      vs. Der unerwartete Unfalltod von Hanspeter Guggen-
nutzung landwirtschaftlicher Fläche. So ersetzen Solar-     bühl (2. Februar 1949 – 26. Mai 2021) ist ein herber Ver-
panels beispielsweise Folientunnels zur Beschattung von     lust für den Energiejournalismus. Er war ein ausgespro-
Plantagen, Weidezäune werden als Solarflächen genutzt.      chener Kenner der Schweizer Energiepolitik mit einer
Während in umliegenden Ländern zahlreiche Anlagen           klaren Haltung, wie seine Bücher belegen. Auch wenn
bestehen, gibt es in der Schweiz bislang erst Pilotpro­     er die Stossrichtung der SES befürwortete, kritisierte er
jekte, etwa in Conthey im Wallis. Denn für eine breite      an M­ ediengesprächen oder per E-Mail immer wieder,
Anwendung sind die Hürden in der Schweiz noch hoch:         dass die Energieeffizienz und -suffizienz in unserer Kom­
Nach der Rechtsauffassung des Raumplanungsgesetzes          munikation zu wenig zum Tragen kämen – auch wenn
können solche Anlagen nicht «landwirtschaftlich be-         wir das selber nicht so sahen. Oder er wies in belehren-
gründet» werden und sind in der Landwirtschaftszone         der wie auch erfrischender Manier auf Rechtschreib­
nicht erlaubt. Die SES hat zusammen mit Swissolar und       fehler oder die unkorrekte Verwendung von Begriffen
der ZHAW die raumplanerischen Hürden, die es zu be-         und Redewendungen hin. Unvergessen bleibt, wie Hans­
seitigen gilt, in der Publikation «Schriften zum Energie-   peter anlässlich der SES-Fachtagung 2013 mit handge-
recht: Raumplanung und Photovoltaik» analysiert.            zeichneten Folien eine der stringentesten Präsentationen
                                                            abhielt. Wir werden Dich vermissen!
» www.energiestiftung.ch/studien

                                                                                                              Energie & Umwelt 3 /2021   9
Energie&Umwelt Suffizienz - wie bitte? - Suffizienz muss eine Rolle spielen Freeday for future Schockierende AKW-Fehlerkultur ...
SUFFIZIENZ KONKRET

Suffizienz-Tipps für
Anfänger:innen und Profis
In der Schweiz verursachen wir alle überdurchschnittlich viel Umweltbelastung.
Bei den Treibhausgas-Emissionen sind es 13,5 Tonnen pro Kopf und Jahr – versus
5,4 Tonnen im globalen Schnitt. Es braucht sowohl von Politik als auch uns
Individuen eine neue Suffizienz-Praxis. Das Gute ist, dass jede:r unmittelbar und
wirksam handeln kann. Nachfolgend ein paar Anregungen.

                                   TIPP:   WEG MIT DEM BALLAST
                                           10'000 Gegenstände besitzt ein durchschnittlicher Schweizer Haushalt. Das Übermass
                                           an Besitz wird für viele zunehmend zur Last, bewusst oder unbewusst. Wir versinken
                                           nicht bloss im Überfluss, sondern verbrauchen auch viel zu viel und immer mehr.
                                           Der sogenannte Material-Fussabdruck, das heisst der Rohstoffverbrauch im In- und
                                           Ausland, beträgt in der Schweiz 17 Tonnen pro Kopf und Jahr. Nachhaltig ist das nicht,
                                           weder für die Umwelt noch fürs Wohlbefinden. Minimalismus als Lebensstil setzt
                                           hier an: Bewusst manche Dinge reduzieren, um Platz fürs Wesentliche zu schaffen.

                                WAS TUN?   Entrümpeln Sie Ihr Leben! Geniessen Sie das befreiende Gefühl, mit weniger Ballast
                                           souverän durchs Leben zu gehen. Ein paar Herangehensweisen zum erfolgreichen
                                           Ausmisten für Anfänger:innen: die Korbmethode meint das Gegenteil von Shopping.
                                           Also einen Wäschekorb schnappen und Sachen aussortieren, die Sie nicht mehr
                                           brauchen, und ins Brocki bringen oder auf andere Weise ein zweites Leben schenken.
                                           Die ultimative Minimalismus-Methode für Profis: Behalten Sie nur die Dinge, die
                                           glücklich machen.

        TIPP: KURZSTRECKENFLÜGE NUR FÜR INSEKTEN UND VÖGEL
                 Jede Schweizer Person fliegt im Durchschnitt 9000 Kilometer pro Jahr. Damit trägt
                 der Flugverkehr mit 18 % zu den inländischen Treibhausgasemissionen bei. Tendenz
                 steigend – trotz Flugscham. Kaum eine andere (legale) Handlung verursacht eine
                 solch grosse Umweltschädigung in der gleichen Zeit. Klar ist: Würde die ganze Welt-
                 bevölkerung so viel herumfliegen wie der Durchschnittsschweizer, wäre die Erde
                 bereits kollabiert. (Global gesehen ist der Anteil der Fliegerei am gesamten Treibhaus-
                 gasausstoss mit 5 % zwar weitaus tiefer. Doch das liegt bloss daran, dass weltweit nur
                 10 bis 20 % der Menschheit je ein Flugzeug von innen gesehen haben.) Dabei liessen
                 sich die Flugmeilen leicht reduzieren, denn glücklicherweise kennen wir die techni-
                 sche Alternative bereits. Sie heisst Reisen per Bahn.
 WAS TUN?        Trotz lockerem Pandemiemodus, das Ferienmotto sollte bei Zug statt Flug bleiben.
                 Das bedeutet für Anfänger:innen: Wenn immer möglich das Flugzeug ersetzen und
                 auf den Zug umsteigen. Für Profis heisst das: In der Nähe verweilen, statt in die
                 Ferne düsen. In die Tiefe statt in die Weite gehen. Nachhaltig den geistigen Horizont
                 statt irrsinnig das Flugmeilenkonto zu erweitern. Klammerbemerkung: Denn diese
                 beiden korrelieren nicht.

                                                       «Souverän ist nicht, wer viel hat,
                                                    sondern wer wenig braucht.»
                                                    				Postwachstumsökonom Niko Paech

10   Energie & Umwelt 3 /2021
TIPP: WENIGER WURST, MEHR ZUKUNFT!
            Fleisch: die ineffizienteste Art der Kalorienaufnahme. Denn dabei wird die Nahrungs-
            kette über das Tier, das sich selbst von Pflanzen ernährt, verlängert. Entsprechend
            schwerwiegend sind die Umweltauswirkungen der Nutztierproduktion, die nicht auf
            den Treibhauseffekt beschränkt bleiben: Ammoniakemissionen, Stickstoffüberdün-
            gung, übersäuerte Böden, zerstörte Gewässer sowie übermässiger Wasser- und Land-
            verbrauch sind die Folgen. Der massive Futtermittelanbau führt andernorts zu Regen-
            waldrodung und konkurriert Anbauflächen für Lebensmittel.

WAS TUN? Es gibt nur eine Lösung: Reduktion. Sie müssen ja nicht gleich wie Einstein, Gandhi,
         da Vinci oder Paul McCartney dem Fleischkonsum komplett entsagen. Aber etwas
         weniger, das freut Tiere, Umwelt und Ihre Gesundheit. Rezept für Anfänger:innen:
         Zum Einstieg empfiehlt sich das Konzept Abendbrot (kein Fleisch vor 18 Uhr) oder
         das Konzept Sonntagsbraten (kein Fleisch vor Sonntag). Rezept für Profis: Fleisch
         vollständig vom Speisezettel streichen, weitere tierische Produkte zunehmend re­
         duzieren und ganz auf Pflanzen setzen. P.S. bei Mahlzeiten ausser Haus die guten
         Vorsätze nicht über Bord werfen.

                TIPP: DAS MANTRA VOR JEDEM KAUF: RRRRR!
                       Rethink, Reduce, Reuse, Repair, Recycle. So lauten die fünf R der Kreislaufwirtschaft.
                       Und geben die folgenden Denkanstösse: Rethink – Braucht Mensch das begutachtete
                       Konsumgut tatsächlich? Reduce: Können Verpackung und Konsum reduziert werden?
                       Reuse: Gibt es Alternativen zu Wegwerfbechern und Plastikbesteck? Was eignet sich
                       für die Mehrwegnutzung? Repair: Kann ich die Hose, das Velo, Gerät X oder Gegen-
                       stand Y selbst flicken oder reparieren lassen und dadurch die Lebensdauer verlängern?
                       Recycle: Da sind die Schweizer:innen zwar ziemlich gut, kann ich dennoch was ver-
                       bessern? Sorge ich dafür, dass wirklich alle wertvollen Rohstoffe wieder in den Kreis-
                       lauf zurückgeführt werden?
           WAS TUN? Wann immer Sie im Laden stehen, eine Konsumentscheidung oder Wegwerf handlung
                    ansteht: gekonnt ein lautes RRRRR rollen. Und nachdenken. Falls es eine neue An-
                    schaffung braucht, setzen Sie auf Qualität, Langlebigkeit und Reparierfähigkeit.

     TIPP: BURN CALORIES, NOT ELECTRICITY
            Mindestens 10'000 Schritte pro Tag empfehlen die Gesundheitsexpert:innen. So blei-
            ben Sie fit, fühlen sich pudelwohl, beugen Übergewicht und Krankheiten vor. Am
            einfachsten geht das, indem möglichst viel Bewegung in den Alltag integriert wird.
            Wenn man den Lift stehen lässt und stattdessen in die Wohnung im vierten Stock
            hinaufsteigt, spart dies gleich noch 1000 Kilowattstunden Strom im Jahr. Wieso also
            Atomkerne spalten lassen, bloss um den Lift zu benutzen, wenn man auch die Treppe
            nehmen kann?

WAS TUN? Für Anfänger:innen: Den Lift öfters mal stehen, die Rolltreppe ruhen lassen und zu
         Fuss gehen. Für Profis: Was für innerhalb des Gebäudes gilt, gilt auch für draussen.
         Statt das E-Bike und E-Auto zu nutzen, lieber öfters auf den eigenen Antrieb setzen.
         Fitness for free. Fitness for future.

                  LUST AUF MEHR TIPPS?
                  Weitere Anregungen für angehende- und fortgeschrittene Klima- und Umwelt-
                  schützer:innen finden Sie im Booklet «Ohni Planet isch doof» der SES. Diese können
                  im Alltag kostengünstig, lustvoll und – mehr oder weniger – einfach umgesetzt
                  und bei uns bestellt werden: > energiestiftung.ch/klimatipps

                                                                                             Energie & Umwelt 3 /2021   11
SUFFIZIENTER LEBEN – MIT DER VIERTAGEWOCHE

Free day for future!
Arbeiten schadet dem Klima. Also lassen wir es doch. Ein Plädoyer
für die Viertagewoche.

                      Von Quentin Lichtblau                                                    Man stelle sich ein Wahlplakat vor:
                      Freier Autor und Journalist aus München                                               «Nie wieder Montag!»

                      Ich weiss nicht, was Sie denken, aber ich sehe es so: Der
                      Schweizer Klimaschutz steckt in einer Sackgasse. Ähn-       Nette Idee, aber Spinnerei? Das dachten sicher auch
                      lich verhält es sich in meiner Heimat Deutschland.          viele, als in den 50ern die bundesdeutschen Gewerk-
                      Während in Prä-Corona-Zeiten noch so etwas wie              schaften herumgesponnen haben: Könnte man den
                      Wechselstimmung in der Luft lag, stellt sich nun Resig­     Arbeiter nicht vom Joch der Sechstagewoche befreien?

                                                                                                                                              Foto: stock.adobe.com / ©ilyaska
                      nation ein: Die deutschen Politiker:innen mit ihren
                      Klimapaketchen handeln zu zaghaft. Das Schweizer            Auch fünf Arbeitstage sind kein Gott gegebenes oder
                      CO2-Gesetz war moderat, dennoch hat es die Schweizer        nur vernünftiges Mass. In einer Zeit, in der viele Bull-
                      Bevölkerung versenkt. Die Klimastreik-Aktivist:innen,       shit-Jobs mehr einer Beschäftigungstherapie als wert-
                      die im Grunde nicht mehr als die Einhaltung verein-         schöpfender Arbeit gleichen, ein Burnout fast schon
                      barter Ziele fordern, gelten manchen als nörgelnde          zum Standard gehört und Wünsche nach einer gleich-
                      Asketen, die dem kleinen Mann Autofahren und Flug-          berechtigten Familien- und Karriereplanung das Voll-
                      Urlaub streichen wollen.                                    zeitmodell ins Wanken bringt, wäre eine geringere
                                                                                  Arbeitszeit für alle keine radikale Zukunftswette. Son-
                      Und wir Bürger:innen wenden uns entweder ab oder            dern die überfällige Anpassung der Arbeit an die Le-
                      üben uns in Selbstzufriedenheit – nuckeln an wieder-        benswelt von Millionen Menschen.
                      verwendbaren Schnabelkaffeetassen, zahlen (wenn es
                      gut kommt) für unsere Urlaubsflüge ein paar Fränkli         Vollzeitmenschen – vom Leben entfremdet
                      CO2-Kompensation und hoffen, dass sich so die Luft          Versuchen wir es nüchtern. Wie in jedem Text über
                      reinigt. Der globale CO2-Ausstoss steigt trotzdem weiter    Innovationen ist es nun Zeit für das, was amerikanische
                      an. Spätestens die Maskenfrage dürfte gezeigt haben:        Forscher:innen herausgefunden haben. Diese haben he­
                      Selbstverantwortung reicht nicht. Wir brauchen Mass-        rausgefunden, dass es einen Zusammenhang zwischen
                      nahmen, die über freiwillige Konsumentscheidungen           Arbeitsstunden und Emissionen gibt. Erste Hinweise
                      hinausreichen. Genau davor allerdings schreckt die          lieferte 2005 die Bostoner Soziologieprofessorin Juliet
                      Politik zurück – nach dem CO2-Gesetz-Debakel erst           Schor. Der Vergleich der durchschnittlichen Arbeits-
                      recht. Verliert man nicht automatisch Wähler:innen,         stunden verschiedener Staaten mit deren ökologischem
                      wenn man Verzicht, ob durch Verbote oder Steuern,           Fussabdruck enthüllte eine positive Korrelation. Die
                      einfordert?                                                 Ökonomen David Rosnick und Mark Weisbrot skizzier-
                                                                                  ten 2006 zwei verschiedene Beschäftigungsmodelle:
                      Ein freier Wochentag frei für alle!                         das amerikanische (viele Arbeitsstunden) und das euro-
                      Sie kennen das alles schon; danke, dass Sie trotzdem        päische (weniger bei ähnlicher Leistung). Sie empfah-
                      weiterlesen. Jetzt kommt etwas Neues: Wir müssen den        len der US-Wirtschaft die EU als Vorbild: So liessen sich
                      Verzicht nicht dort suchen, wo er wehtut – sondern wo       20 % Energiekosten einsparen.
                      er erträglich ist, wo er regelrecht Freude, gar Freiheit
                      bringt. Wo? Beim Arbeiten. Ich fordere: Free day for        Warum lehnen wir uns nicht mal zurück und schauen,
                      future! Einen Wochentag frei für alle. Bei vollem Lohn-     was wir da eigentlich fünf Tage die Woche tun? Und
                      ausgleich.                                                  was tun Menschen, wenn man sie die Arbeit schwänzen
                                                                                  lässt? 2005 untersuchte eine Studie das Verhalten fran-
                      Sie wirken irritiert. Lassen Sie mal Ihren inneren Pro-     zösischer Bürger:innen nach der Einführung der 35-
                      testantismus und das Arbeit-als-Selbstverwirklichung-       Stun­den-Woche. Die meisten gaben an, dass sie die ge-
                      Mantra beiseite: Sie werden mir sicher zustimmen, dass      wonnene Freizeit für ihre Familie, Entspannung oder
                      unter all den Tätigkeiten, die weltweit den CO2-Ausstoss    Sport nutzen. Energieintensive Tätigkeiten wie Reisen
                      erhöhen, die Arbeit die unbeliebteste ist. Ganze Kaffee-    oder Konsum wurden seltener genannt, noch nach der
                      tassenindustrien leben von lustigen Sprüchlein über         Ausübung von Ehrenämtern. Ebenso änderte sich auch
                      die Fürchterlichkeit des Montagmorgens, der uns all-        das Verhalten im öffentlichen Raum: Die täglichen
                      wöchentlich aus der Selbstbestimmtheit reisst und der       Rushhours verflüchtigten sich. Die Franzosen legten
                      Lohnarbeit ausliefert. Ob Bauarbeiter oder Ärztin: Jede:r   mehr Wege mit dem Fahrrad oder zu Fuss zurück, sie
                      würde sich über mehr Freizeit freuen – völlig unab-         kochten daheim selbst, weil nun die Zeit dafür da war
                      hängig davon, wie er oder sie zur Klimakrise steht.         – und die Autos, PCs oder Maschinen ruhten.

12   Energie & Umwelt 3 /2021
Oft höre ich von Vollzeitmenschen, so einen freien Tag      Wichtigster Vorreiter ist Island: Nach zwei erfolgrei-
bräuchten sie schon, um ihre vermüllten Wohnungen           chen Gross-Feldversuchen – kürzere Arbeitszeit, hö-
einigermassen in Schuss zu bringen. Dass sie Putzkräf-      here Produktivität – mit beinahe 3000 Teilnehmen-
te einstellen, um die eigene Job-Performance nicht zu       den haben viele isländische Gewerkschaften nach den
gefährden. Dass sie den Kochlöffel nur in die Hand neh-     Ergebnisveröffentlichungen die Arbeitszeiten neu ver-
men, um am Samstagabend Freunde zu beeindrucken.            handelt. Seit Juli ist die verkürzte Arbeitswoche die
Vollzeitmenschen haben sich nicht nur von ihrer Arbeit      isländische Norm.
entfremdet, sondern auch von ihrem Leben.
                                                            Europaweit sind 56 % der Arbeitnehmer für die Vier-
Gut und schön, mögen Sie sagen; aber da ziehen die          tagewoche. Warum nimmt die Politik diese Bürger:in-
Arbeitgeber niemals mit. Sie müssten ja den Stunden-        nen nicht ernst? Wie laut wäre der Jubel, wenn eine
lohn tüchtig erhöhen. Die Sache ist: Sie tun es schon,      Partei sich die Idee tatsächlich ins Wahlprogramm
probeweise, eine Avantgarde jedenfalls. Und offenbar        schriebe? Natürlich ist mir bewusst, dass ein freier Tag
macht eine Viertagewoche nicht nur die Mitarbeiter          nicht ausreichen wird, um die Schweiz oder Deutsch-
zufriedener, sie steigert auch ihre Produktivität. Das      land ins Zeitalter der Nachhaltigkeit zu katapultieren.
ergab beispielsweise ein Test in Japan. Dort gab Micro-     Und dass viele Selbstständige aus freien Stücken fünf,
soft im Sommer 2019 einen Monat lang die Freitage frei.     sechs, sieben Tage die Woche arbeiten. Umso wichtiger
Mit Erfolg: Die Angestellten leisteten 40 % mehr als im     ist es, ihnen vorzumachen, was Freizeit wert ist, per-
Vergleichsmonat ein Jahr zuvor, gemessen am generier-       sönlich und ökologisch.
ten Umsatz pro Mitarbeiter:in. Auch ein wissenschaft-
lich begleiteter Test beim neuseeländischen Finanz-         Die Viertagewoche wäre ein erster Schritt, um den Er-
dienstleister Perpetual Guardian zeigte keine Leis-         halt unserer Erde als Konsens zu etablieren. Künftig
tungseinbrüche. Die 250 Mitarbeiter fühlten sich nicht      könnten sich alle Generationen am freien Montag beim
gestresst, dass sie effizienter arbeiten mussten, sondern   gemeinsamen Kochen, Picknicken oder Faulenzen ih-
rapportierten eine verbesserte Work-Life-Balance. Die       rer neu gewonnenen Freiheit erfreuen. Von mir aus
Firma hat das Experiment daher zur Norm gemacht.            auch freitags, was sich vom Namen her anböte, auch
                                                            als Dankeschön an die Schulstreikenden. Die genaue
Es gibt keine schönere Art des Verzichts                    Ausgestaltung dieser herrlichen Zukunft überlasse ich
Das alles ist nicht so weit weg, wie es sich vielleicht     der Politik. Es bleibt die Frage, wer sich das institutio-
anhört. In der deutschen Metall- und Elektroindustrie       nalisierte Nichtstun zuerst auf die Plakate druckt. Ich
gibt es seit 2019 für Tarif beschäftigte das Recht auf      jedenfalls kann mir keine schönere Art des Verzichts
eine «verkürzte Vollzeit» bis zu 28 Wochenstunden.          vorstellen. Sie?                                        <
Zwar mit weniger Gehalt. Aber zumindest lässt sich          
sagen, dass auch traditionelle Wirtschaftszweige an             Dieser Artikel erschien ursprünglich in DIE ZEIT Nr. 4 / 2020 und wurde für die
reduzierten Arbeitszeiten kaum zu Grunde gehen.                 vorliegende Publikation aktualisiert und adaptiert.

                                                                                                                           Energie & Umwelt 3 /2021   13
WIESO DIE SUFFIZIENZDEBATTE FÜR ENERGIESZENARIEN ZENTRAL IST

Es gilt, die Menschen ins Zentrum zu stellen
Wie sieht unsere (Energie-)Zukunft aus? Energieszenarien liefern dazu
zwar wichtige Erkenntnisse, aber rein technologische Modellierungen reichen
nicht, um die Energiewende zum Erfolg zu führen. Auch gesellschaftliche
­Aspekte müssen mitberücksichtig werden.

                      Von Dr. Lukas Braunreiter,                                 Technisch machbar und bezahlbar
                      Wissenschaftlicher Mitarbeiter, ZHAW                       Die Kernaussage der Energieperspektiven 2050+ ist,
                                                                                 dass der Umbau des Energiesystems technisch machbar
                      und Dr. Yann Blumer,                                       und aus volkswirtschaftlicher Perspektive bezahlbar
                      Senior Researcher und Dozent, ZHAW,                        ist. Diese Erkenntnis ist zwar wichtig, gleichzeitig sagt

                                                                                                                                              Foto: www.2000watt.swiss
                      beide am «Institute for Innovation and Entrepreneurship»   sie wenig darüber aus, was dies für die Menschen kon-
                                                                                 kret bedeutet und wie sich die Energiewende lokal aus-
                      Während die Klimakrise diesen Sommer durch Tempe-          wirkt. Dieses Vakuum wussten die Gegner:innen des
                      raturrekorde und Starkniederschläge auf sich aufmerk-      CO2-Gesetzes zu nutzen, indem sie eindringlich vor
                      sam macht, fehlt weiterhin eine politisch und gesell-      steigenden – und besonders die ländliche Bevölkerung
                      schaftlich breit abgestützte Vision, wie der notwendige    belastendenden – Benzinpreisen warnten.
                      Übergang zu einer postfossilen Gesellschaft gelingen
                      kann. Energieszenarien könnten dafür wertvolle Er-         Von wegen «nicht politisch»
                      kenntnisse liefern, indem sie basierend auf ausgereiften   Dass Energieszenarien kaum zu einer breit abgestützten
                      Computermodellen die vielfältigen und oftmals kom-         Vision der Energiezukunft beitragen, ist kein Zufall. Sze­
                      plexen Wechselwirkungen zwischen Energienachfrage          narienentwickler:innen und Auftraggeber:innen wollen
                      (z.B. Raumwärme oder Mobilität) und Energieproduk-         sicherstellen, dass Energieszenarien und die darin enthal­
                      tion, Energiespeicherung oder Energieumwandlung            tenen Annahmen möglichst objektiv und nicht poli-
                      simulieren. Dadurch sind Energieszenarien in der Lage      tisch gefärbt sind, damit sie ihre eigene Aussagekraft
                      aufzuzeigen, wie der notwendige Umbau unseres Ener-        nicht torpedieren. Was in der Theorie gut klingt, ist in
                      giesystems ablaufen könnte, ohne dabei die Versor-         der Praxis kaum umsetzbar: Wie, wo und wann wir in
                      gungssicherheit zu gefährden oder unverhältnismässi-       Zukunft Energie produzieren und konsumieren, ist
                      ge Kosten zu verursachen.                                  nicht nur eine technologische oder ökonomische Frage,
                                                                                 sondern untrennbar mit politischen, gesellschaftlichen
                      Energieszenarien als Taktgeber der                         und sozialen Aspekten verwoben. Die Energiezukunft
                      Energie- und Klimapolitik                                  hat Auswirkungen auf nahezu alle Lebensbereiche und
                      Aufgrund dieser Eigenschaften bilden Energieszenari-       kann nicht isoliert betrachtet werden.
                      en in vielen Ländern eine wichtige Basis
                      für die zukünftige Energie- und Klima-
                      politik. So basiert etwa die Energiestra-              Die Krux allerdings ist, dass durch die Trennung
                      tegie 2050 der Schweiz auf den Erkennt-         ­zwischen techno-ökonomischen Faktoren und sozio-­
                      nissen einer umfassenden Szenariostu-             politischen Massnahmen der sogenannte «Möglich-
                      die, welche vom Bundesamt für Energie
                                                                           keitsraum» für die Gestaltung einer nachhaltigen
                      (BFE) in Auftrag gegeben wurde. Mit
                      den Energieperspektiven 2050+ wurde                  Z
                                                                           ­ ukunft eingeschränkt und auf ­Aspekte reduziert
                      die Studie letzten Winter erneuert. Da-                   wird, die in Energieszenarien akzeptiert sind!
                      rin wird antizipiert, wie der Umbau des
                      Energiesystems erfolgen müsste, um
                      das Ziel der Klimaneutralität bis im Jahr 2050 zu So wird beispielsweise im Bereich Verkehr die Elektri-
                      erreichen. Weil weltweit eine Reihe von ähnlichen fizierung der Fahrzeugflotte detailliert und mittels ver-
                      Modellen verwendet wird, um Energieszenarien zu er- schiedener Varianten modelliert, während Suffizienz-
                      stellen, lassen sich deren Ergebnisse wissenschaftlich strategien nicht berücksichtigt werden. Als Konsequenz
                      diskutieren und validieren. Dies wiederum verleiht den wird in Energieszenarien vielfach von einem stetigen
                      Energieszenarien Glaubwürdigkeit in wirtschaftlichen Zuwachs an zurückgelegten Autokilometern ausgegan-
                      und politischen Entscheidungsprozessen. Energiesze- gen, als wäre dies alternativlos. Dabei zeigen Beispiele
                      narien werden deshalb oftmals als Legitimation für aus Amsterdam, Skandinavien und aktuell Paris, dass
                      Massnahmen und Entscheide herangezogen.                  auch im Bereich Mobilität durch Anreize, Verbote oder

14   Energie & Umwelt 3 /2021
Lebensraum und Begegnungszone im Hunziker-2000-Watt-Areal: Es gilt, die Ausgestaltung der Energiezukunft,
welche die Lebensrealität der zukünftigen Generationen prägen wird, grundlegend zu diskutieren.

raumplanerische Ansätze signifikante und schnell wir-       Gegenwart. Sie verschonen uns aber nicht davor, die Aus-
kende Verhaltensänderungen möglich sind.                    gestaltung der Energiezukunft, welche die Lebensrealität
                                                            der zukünftigen Generationen prägen wird, grundlegend
Die Zukunft ist nicht planbar, aber gestaltbar              zu diskutieren. Vielmehr sollten wir Energie­szenarien
Energieszenarien sollten offen gegenüber verschiede-        dazu nutzen, eine möglichst breit abgestützte Vision ei-
nen Lösungsansätzen sein, weil ihre Ausrichtung un-         ner erneuerbaren Energiezukunft in evidenzbasierte
gewöhnlich langfristig ist. Das gilt auch für Vorschläge,   Handlungsempfehlungen für politische und wirtschaft-
die aus heutiger Sicht radikal erscheinen. Ansonsten        liche Entscheidungsträger:innen zu übersetzen.
besteht die Gefahr, dass lediglich die gegenwärtig vor-
herrschenden politischen und wirtschaftlichen Macht-        Gleichzeitig steigt die Notwendigkeit, die Diskussion um
verhältnisse in die Zukunft projiziert und durch auf        die Energiezukunft nicht hinter technokratischen Be-
den Energieszenarien basierende Entscheide reprodu-         richten zu verstecken, sondern transparent und parti­zi­
ziert werden. Der Übergang zu einer postfossilen Ge-        pativ zu führen. Während beispielsweise in Frankreich
sellschaft ist aber abhängig davon, sich von gewissen       oder Deutschland Bürgerbeteiligungsformate zu wich-
Strukturen zu lösen und neue Wege zu gehen. Die Zu-         tigen Fragen der (Energie-)Zukunft stattfinden, fehlen
kunft ist nicht etwas, das wir nur passiv erfahren, son-    diese ausgerechnet im Land der direkten Demokratie.
dern etwas, das wir aktiv gestalten können.
                                                            Für eine gesellschaftlich verankerte Vision der Energie-
Das fängt bei der Vorstellungskraft an, das Energie-        zukunft brauchen wir mehr Inklusion und Diskussion.
system der Zukunft neu zu denken. Natürlich müssen          Wenn zentrale Verhaltensaspekte ausgeklammert wer-
Energieszenarien die physikalischen und ökonomi-            den, nutzen wir nicht das ganze Potenzial und riskie-
schen Grenzen aufzeigen, innerhalb derer sich ein zu-       ren, dass Energieszenarien vage und abstrakt bleiben:
künftiges Schweizer Energiesystem bewegen muss.             Potenzial und konkrete Ansätze, wie sie beispielweise
Aber auch innerhalb der Leitplanken um Netto-Null-          Suffizienz-Strategien bieten, die den Energie- und Res-
Emissionen, die uns das Pariser Klimaabkommen setzt,        sourcenverbrauch reduzieren wollen und die Lebens-
gibt es unzählige Ausgestaltungsmöglichkeiten. Diese        qualität der Menschen ins Zentrum stellen.            <
Möglichkeiten können nicht durch techno-ökonomi-
sche Analysen, sondern nur durch gesellschaftliche
Debatten um deren Wünschbarkeit identifiziert und
                                                                      Im Rahmen des «Competence Center for Research in Energy, So-
konkretisiert werden.
                                                                      ciety and Transition» haben die Autoren mit weiteren Forschenden
                                                                      das White Paper «Von Modellen zu Visionen: Ansätze zur Ergän-
Es braucht mehr Inklusion und Diskussion
                                                                      zung von quantitativen Energieszenarien» veröffentlicht.
Energieszenarien und die Modelle, auf denen sie basie-
ren, sind wichtige und nützliche Werkzeuge in der Be-                 Das White Paper #11/2021 ist zu finden auf www.sccer-crest.ch.
wältigung einer der grössten Herausforderung unserer

                                                                                                            Energie & Umwelt 3 /2021   15
DREI FRAGEN AN DREI EXPERT:INNEN

Und wie halten Sie es mit der
Suffizienz?
Anlässlich der SES-Abendveranstaltung «Suffizienz – wie bitte? Vom Überfluss zum guten
Mass» diskutieren die Sozialpsychologin Corinne Moser, der Historiker und Umweltjour­
nalist Marcel Hänggi und die GLP-Kantonsrätin und IKEA-Nachhaltigkeitschefin Franziska
Barmettler über das Für, Wie und Wider der Suffizienz. Im E&U geben die drei Expert:innen
vorab ihre pointierten bis persönliche Einschätzungen ab.

     1.
          Können wir unsere Umwelt- und Klimaziele      Suffizienz kann als Teil des Prozesses eine Rolle spielen, steht aber für mich
          mit rein technikbasierten Lösungsstrate-      nicht im Vordergrund. Die wichtigste Zutat ist der technologische Fort-
          gien erreichen, die sich auf Effizienz- und   schritt: Wir haben heute die technologischen Lösungen, die wir brauchen,
          Konsistenzmassnahmen abstützen, oder          und wir wissen, was wir zu tun haben. Zum Beispiel müssen wir ab sofort
          braucht es auch Suffizienz?                   vermeiden, dass eine fossile Heizung wieder durch eine solche ersetzt wird.
                                                        Dabei mangelt es am gesellschaftlichen Konsens und am politischen Wil-
                                                        len, diese Massnahmen rasch und konsequent umzusetzen. Ebenso wichtig
                                                        sind die richtigen Rahmenbedingungen. Die Mechanismen der Marktwirt-
                                                        schaft bieten durchaus Lösungen für ökologische Probleme: Güter und
                                                        Dienstleistungen sollen dabei aber den richtigen Preis erhalten. Die Politik
                                                        ist gefordert, klare Regeln und Ziele vorzugeben, innerhalb welchen der
                                                        Wettbewerb spielen kann. Natürlich gibt es auch Bereiche, bei denen Suffi­
                                                        zienz ins Spiel kommt – zum Beispiel bei der Wohnfläche pro Person.

     2.

          Wie würden Sie die zwei Begriffe Suffizienz   Während des Lockdowns haben wir ein Bild davon bekommen, wie eine
          und Fortschritt in Beziehung setzen?          Schweiz aussähe, die mit den extremsten Mitteln die Klimaziele erreichen
                                                        würde: mit Verzicht. Der Verkehr stand still und so konnte das Klima kurz-
                                                        fristig aufatmen. Das kann aber nicht der einzige Weg sein, wie wir unseren
                                                        Ressourcenverbrauch nachhaltiger gestalten. Salopp gesagt, ist Suffizienz
                                                        ein «Zurück in die Steinzeit» – wir können doch mehr als das! Das Mass
                                                        der Dinge ist für mich die Lebensqualität. Diese muss mindestens gleich
                                                        bleiben oder sich verbessern. Aktuell gibt es einen Trend hin zu «less is
                                                        more», zum Lokalen, zum bewussten Überlegen: Was brauche ich wirklich?
                                                        Die Motivation dahinter ist aber eine bessere Lebensqualität und nicht die
                                                        Suffizienz.

     3.
          Wo sind Sie im Alltag mit «zu wenig»          «Zu wenig» ist bei mir sicherlich die Zeit und das Aufatmen. «Ein bisschen
          konfrontiert, wo dominiert der Überfluss?     weniger» hätte ich allerdings gerne bei der Abhängigkeit von materiellen
          Wo wäre ein (Mehr vom) Weniger                Gütern, da der Besitz von Dingen oftmals eine zusätzliche Bürde darstellt.
          wünschenswert?
                                                        In Zukunft sollte es daher viel mehr Dienstleistungen geben. So hätte ich
                                                        statt eines eigenen Kühlschranks, dessen Unterhalt und Entsorgung müh-
                                                        sam sein kann, viel lieber die Möglichkeit, eine gewisse Menge an «gekühl-
                                                        ter Fläche» mieten zu können. Das gäbe Hersteller:innen Anreiz, die gute
                                                        Qualität des Geräts sicherzustellen.

16    Energie & Umwelt 3 /2021
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