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Energie&Umwelt Magazin der Schweizerischen Energie-Stiftung SES – 3/2021 Suffizienz – wie bitte? > Suffizienz muss eine Rolle spielen > Freeday for future > Schockierende AKW-Fehlerkultur
INHALT Suffizienz – wie bitte? 4 Suffizienz muss eine Rolle spielen Eine wirksame Klima- und Ressourcenpolitik ist nur möglich, wenn nebst Effizienz und nachhaltigen Technologien auch die Suffizienz eine Rolle spielt. Speziell auch die Wirtschaft und Politik sind gefordert. 6 «Wir brauchen Störenfriede, die aus dem Mainstream ausbrechen» Postwachstumsökonom Niko Paech gilt als Enfant Terrible der Wirtschaftszunft. Die SES hat sich mit ihm über Genügsamkeit und Wachstumswahn ausgetauscht. 8 Energie aktuell 10 Suffizienz-Tipps für Anfänger:innen und Profis In der Schweiz verursachen wir alle überdurchschnittlich viel Umweltbelastung. Es braucht sowohl von Politik als auch uns Individuen eine neue Suffizienz-Praxis. Das Gute ist, dass jede:r unmittelbar und wirksam handeln kann. 12 Free day for future! Arbeiten schadet dem Klima. Also lassen wir es doch. Ein Plädoyer für die Viertagewoche. 14 Es gilt, die Menschen ins Zentrum zu stellen Energieszenarien liefern zwar wichtige Erkenntnisse, aber rein technologische Model lierungen reichen nicht, um die Energiewende zum Erfolg zu führen. Auch gesellschaft- liche Aspekte müssen mitberücksichtigt werden. 16 Und wie halten Sie es mit der Suffizienz? Sozialpsychologin Corinne Moser, der Historiker und Umweltjournalist Marcel Hänggi und die GLP-Kantonsrätin und IKEA-Nachhaltigkeitschefin Franziska Barmettler disk utieren über das Für, Wie und Wider der Suffizienz. 18 Das ist noch kein Solargesetz Die Energiewende in der Schweiz harzt. Ein Schub für den Ausbau der erneuerbaren Energien ist dringend nötig. Kann das neue Energiegesetz es richten? 20 SES aktuell 22 Schockierende AKW-Fehlerkultur Fast 30 Jahre lang blieb ein Montagefehler in der Notstromversorgung des AKW Beznau unentdeckt. So wurden Risikoanalysen jahrzehntelang unter falschen Annahmen getroffen. Schweizerische Energie-Stiftung SES 044 275 21 21, info@energiestiftung.ch, energiestiftung.ch Spenden-Konto 80-3230-3, IBAN CH69 0900 0000 8000 3230 3 2 Energie & Umwelt 3 /2021
EDITORIAL Vom Überfluss zum guten Mass Liebe Leserinnen und Leser Sich einschränken, sich mässigen. Diese Losung hören Doch wer so denkt, steckt fest im «Weiter-wie-bisher». wir gerade, was unseren verschwenderischen Umgang Denkt weder zeitgemäss noch zukunftsfähig und ver- mit Energie und Ressourcen betrifft, oft. Wohl nicht zu passt die Chancen: Nämlich die Bereicherungen, den Unrecht: Trotz gut gemeinter Bemühungen für Klima- Blick aufs Wesentliche im Leben. Das wäre schade, schutz und Energieeffizienz steigen die Treibhausgas- meinen wir, und haben deshalb ein paar Artikel und emissionen, Umweltbelastung und Biodiversitätsver- Anregungen zusammengestellt, mit denen Sie indi lust weiter an. Ob Technik alleine die Lösung bringen viduell Ihren Alltag suffizient gestalten und neue Be- wird, ist – optimistisch ausgedrückt – fraglich. reicherungen erleben können. Es braucht neue Indikatoren, an denen sich Politik und Auch die Politik soll als Adressat nicht zu kurz kom- Gesellschaft auf der Suche nach dem guten Leben orien men. An der kommenden SES-Abendveranstaltung tieren können. Es braucht konsequentere Ansätze in vom 31. August widmen wir den gesamten Abend der unserer Produktions- und Konsumweise, die das Be- Suffizienz und spielen – in Gedanken – mit verschie- mühen um einen möglichst geringen Rohstoff- und denen Suffizienzmassnahmen (Infos S. 13). Unsere Energieverbrauch ins Zentrum stellen. In der Nach- Veranstaltungspartnerin, der Thinktank Massfabrik, haltigkeitsforschung gibt es dafür den Fachbegriff der plädiert in ihrem Leitartikel ebenso für die Verantwor- «Suffizienz». Das Wort stammt aus dem Lateinischen tung von Politik und Wirtschaft (S. 4), während Post- und bedeutet so viel wie «ausreichen». Wer nach alltags- wachstumsökonom Niko Paech im Interview an den sprachlichen Synonymen im Deutschen sucht, stösst moralischen Selbstanspruch appelliert (S. 6). auf Begriffe wie «Genügsamkeit», «Selbstbegrenzung», «Verzicht» oder «Bescheidenheit». Ebenfalls im Ange- Die SES jedenfalls wird sich weiterhin für den Wandel bot: «Entschleunigung», «rechtes Mass» oder gar «Ent- einsetzen – in der bundesbernischen Wandelhalle und rümpelung». Auch wenn das eine oder andere durch- in unser aller Köpfen. aus passabel klingen mag: Irgendwie bleibt da überall etwas Strenges, Calvinistisches, für den Mainstream Ich wünsche Ihnen eine bereichernde Lektüre! weder Freiheit- noch Fortschrittversprechendes anhaf- ten. Die Konklusion ist schnell gezogen: Mass halten Tonja Iten ist nichts für die Masse. Die Mehrheit will mehr. Wissenschaftliche Mitarbeiterin der SES Energie & Umwelt 3 /2021 3
Suffiziente Lebensstile möglich und attraktiv machen: Städte, Gemeinden, Wirtschaft und Politik haben enormen Spielraum und sind gefordert. NEUE LEBENSSTILE Suffizienz muss eine Rolle spielen Eine wirksame Klima- und Ressourcenpolitik ist nur möglich, wenn nebst Effizienz und nachhaltigen Technologien auch die Suffizienz eine Rolle spielt. Suffizienz ist aber nicht lediglich als Anleitung für persönliches Konsumver- halten zu verstehen. Speziell auch die Wirtschaft und Politik sind gefordert. Von Matthias Gallati, Definition des Wuppertal-Instituts, die 2002 veröffent- Kommunikationsberater und Vorstand Massfabrik, licht wurde und nach wie vor Gültigkeit hat: «Suffizi- enz ist die Frage nach dem rechten Mass. Gemeint ist und Michèle Bättig, Beraterin für Energie, Klima und damit eine Lebens- und Wirtschaftsweise, die dem Nachhaltigkeit; Co-Präsidentin Massfabrik Überverbrauch von Gütern und damit von Stoffen und Energie ein Ende setzt.» «Ich überlege mir immer öfter, ob ich ein neues Gerät wirklich brauche, denn eigentlich macht es mich glück- Aus dieser Formulierung geht hervor, dass Suffizienz licher, wenn ich mich nicht in die Funktion eines neuen nicht nur als Anleitung für persönliches Konsumver- Gadgets eindenken muss», sagt Petra Walser. Die Studen halten verstanden werden darf. Es braucht weniger von tin handelt suffizient, wenn sie auf den Kauf des Geräts allem und zwar sowohl auf individueller Ebene als verzichtet und damit Zeit und Geld für andere Dinge auch in der Wirtschaft und der Gesellschaft, denn tech- gewinnt – vorausgesetzt, dass sie beides nicht für um- nische Innovationen, sparsame Gebäude und effiziente weltschädliche Tätigkeiten einsetzt (Rebound-Effekt). Haushalte etwa werden nicht ausreichen, um den Ener- Das Beispiel zeigt, dass es bei der Suffizienz nicht um gieverbrauch auf ein verträgliches Mass zu reduzieren technische Lösungen geht, sondern darum, wie der und den CO2-Verbrauch auf Netto Null zu senken. Eine Mensch handelt und was sein Handeln bewirkt. wirksame Klima- und Ressourcenpolitik ist nur mög- lich, wenn neben Effizienz und Konsistenz auch die Suffizienz ist die Frage nach dem rechten Mass Suffizienz eine Rolle spielt. Was aber bedeutet Suffizienz genau? In den letzten Jah- ren haben verschiedene Forschungsinstitute den Be- Während aber Effizienz und Konsistenzmassnahmen griff umschrieben. Wir beschränken uns hier auf eine in der politischen Diskussion um Klimaschutz und Res- 4 Energie & Umwelt 3 /2021
sourcenschonung ihren Platz gefunden haben, haben und Kuchen seine Kleider wäscht und mit Nachbarn Suffizienzmassnahmen einen schweren Stand. Denn einen Schwatz hält, hat mehr vom Leben. Baut der Bau- sie stellen das aktuelle Wirtschafts- und Gesellschafts- herr eine solche Waschbar und verzichtet stattdessen system infrage und zielen darauf ab, den Ressourcen- auf den Einbau von Waschtürmen in jeder Wohnung, verbrauch zu reduzieren. Suffizienz ist jedoch nötig, spart er viel graue Energie. denn die Menge der Güter wie auch das Angebot an energieintensiven Dienstleistungen sind in den letzten Einen anderen Weg geht der grösste Wohnungsanbieter Jahren stetig gewachsen – seit 1998 hat sich der Welt- von Karlsruhe, Volkswohnung e. V.: Der Verein ermög- handel mehr als verdoppelt. licht älteren Menschen mit Umzugs- und Renovations- hilfen den Umzug in kleinere aber für sie besser ge Suffizientes Leben möglich machen legene Wohnungen. Das hat den Energieverbrach der Auf individueller Ebene wird suffizientes Leben heute Siedlungen positiv beeinflusst. Mit Belegungsvorschrif- schon von vielen erprobt und gelebt. Überall in Westeu ten, wie sie Wohnbaugenossenschaften bereits heute ropa schiessen Tauschbörsen, Repair-Cafés und Sharing verbreitet einsetzen, mit Pensionen anstelle von Gäste- konzepte wie Pilze aus dem Boden. Damit solchen suffi zimmern in jeder Wohnung, gemeinsam nutzbaren zienten Massnahmen auf breiter Basis zum Durchbruch Terrassen oder Gemeinschafts-Kühlräumen kann viel verholfen werden kann, sind entsprechende Rahmenbe graue Energie eingespart werden. Foto: Michèle Bättig, Idaplatz Zürich dingungen zu schaffen, denn es ist häufig unbequemer, teurer oder aufwändiger, suffizient zu handeln. Soziale Gewinne nutzen, über Suffizienz reden Solche Massnahmen bringen soziale Gewinne und ma- Städte und Gemeinden haben hier enormen Hand- chen – quasi als Mitnahmeeffekt – ein suffizienteres lungsspielraum: Sie können Suffizienz in ihren Strate- Leben möglich. Häufig steht dabei die Suffizienz gar gien, Leitbildern und Konzepten verankern und somit nicht im Zentrum, sondern die Steigerung der Lebens- die Frage nach dem rechten Mass in allen Bereichen qualität. Diese Beispiele zeigen ein grosses Potenzial und bei all ihren Aktivitäten mitberücksichtigen. Im eben auch bei Massnahmen, die nicht in erster Linie Rahmen der kommunalen Siedlungsentwicklung kön- auf umweltrelevantes Verhalten zielen. So könnten Ver- nen sie sich zum Ziel setzen, Wohnen, Arbeiten, Kultur änderungen von Lebenssituationen wie etwa eine Hei- und Freizeit vermehrt in Fuss- und Velo-Distanz zu rat oder die Geburt des ersten Kindes dazu genutzt konzentrieren und mit den öffentlichen Verkehrsmit- werden, auf suffizientere Lebensstile hinzuweisen. teln zu erschliessen. Die Menschen sind dadurch gut Denn mit der Änderung der Lebensgewohnheiten, die versorgt und können ihre Bedürfnisse innerhalb kurzer durch das Zusammenziehen oder durch ein neues Fa- Distanzen abdecken. Eine attraktive Gestaltung der milienmitglied so oder so passiert, könnte vergleichs- öffentlichen Räume mit viel Grün und Bäumen, Was- weise einfach auch auf suffizientere Ernährung oder serelementen sowie Sitz-, Spiel- und Sportmöglichkei- Mobilität hingewirkt werden. ten, ergänzt mit Läden, Restaurants, Bars und weiteren Freizeitangeboten, erhöht die Lebens- und Aufenthalts- Natürlich gilt auch hier, dass das Verhalten des Einzel- qualität im Quartier und kann gleichzeitig die sozialen nen in grossem Masse durch Gewohnheiten, persönliche Netzwerke stärken. Wer nicht will, muss keine langen Beziehungen und Normen beeinflusst wird, die in be- Reisen auf sich nehmen. stimmten Lebensstilgruppen gelten. Um also Verände- rung auszulösen, kommt dem Dialog eine zentrale Rolle Weitere Ideen für Städte und Gemeinden sind Velo- und zu. Menschen müssen sich mit anderen Menschen aus- Car-Sharing-Angebote, Co-Working-Arbeitsplätze, Bücher tauschen, ihre persönlichen Erfahrungen einbringen schränke oder Bring- und Holtage, damit nicht jeder alles und über ihre Bedenken reden können. Der deutsche selbst besitzen muss oder nicht mehr benötigte Gegen- Soziologe und Sozialpsychologe Harald Welzer bringt es stände weitergeben kann. Um selber ein gutes Vorbild zu auf den Punkt: «Wir sollten gezielt auf die Interessen sein, können Gemeinden ihre Beschaffung überprüfen, und Sorgen von Individuen eingehen, um eine positive fleischlose Tage in der Mensa anbieten oder flexible Ar- gesellschaftliche Entwicklung herbeizuführen.» < beitszeitmodelle und Raumkonzepte einführen. Sowohl kommunale als auch genossenschaftliche und institutionelle Bauherrschaften könnten vermehrt Drei Strategien für Nachhaltigkeit Wohnungen bauen, die mit kleineren Wohnflächen pro n Effizienz: Dank technischem Fortschritt Ressourcen und Person auskommen und damit einen grossen Treiber Energie besser nutzen und die Umweltbelastung senken. des Energieverbrauchs beeinflussen. Die Wohnfläche, die jedem Menschen zur Verfügung steht, hat nämlich n Konsistenz: Dank Kreislaufwirtschaft und erneuerbaren grossen Einfluss auf die benötigte Heizenergie sowie Energien umweltschädigende Verfahren ersetzen und auf auf die Verwendung von Einrichtungen und Apparatu- naturverträgliche Technologien setzen. ren. Weitsichtige Wohnungsanbieter:innen setzen n Suffizienz: Dank Verringerung von Nachfrage und stattdessen auf attraktive Aussenraumgestaltung und Produktion von Gütern den Ressourcenverbrauch und gemeinschaftlich und für vielfältige Dinge nutzbare die Umweltbelastung reduzieren. Räume. Und wer im attraktiven Waschsalon bei Kaffee Energie & Umwelt 3 /2021 5
INTERVIEW MIT NIKO PAECH «Wir brauchen Störenfriede, die aus dem Mainstream ausbrechen» Der Ökonom Niko Paech theoretisiert über und lebt selbst die Suffizienz. Erst einmal hat er – gezwungenermassen – ein Flugzeug bestiegen. Mit seiner Wachstumskritik gilt er als Enfant Terrible der Wirtschaftszunft. Die SES hat sich mit ihm über Genügsamkeit und Wachstumswahn ausgetauscht. Interview von Tonja Iten Kein Überleben ohne Entsagung klingt ziemlich dras Wissenschaftliche Mitarbeiterin SES tisch. Wie kommen wir als Gesellschaft dorthin? Ganz einfach – oder ganz schwer, je nach Betrachtung. «Small is Beautiful» lautet eine Redewendung, um das Der Homo Sapiens ist ein soziales Wesen. Er beobachtet Prinzip der Suffizienz zu übersetzen. Was halten Sie andere, imitiert deren Praktiken, wird umgekehrt von von diesem Prinzip? anderen beobachtet. Diese soziale Interaktion ist das Medium, durch das sich neue Dinge verbreiten. Die Foto: zvg Als junger Mensch war ich begeistert vom gleichnami- Letzteren entstammen Nischen, Reallaboren, sozialen gen Buch von Ernst Friedrich Schumacher, 1973 vor- Experimentierfeldern, aus denen heraus Pioniere oder gelegt. Darin geht es um eine ganz andere Arbeits- und Störenfriede, die aus dem Mainstream ausbrechen, eine Technikwelt, dezentral und auf kleinen Einheiten be- völlig neue, suffiziente Praxis vorleben. Das kann auf ruhend. Also vorderhand nicht um Suffizienz, doch als Widerstände und Ignoranz stossen, dennoch ist dies in Anhänger der buddhistischen Wirtschaftslehre hat er Demokratien der Weg jeglicher gesellschaftlichen Ver- Konzepte der Genügsamkeit als Basis gelegt. Das Buch änderung. Damit sich Mehrheiten für neue Daseins- propagiert eine technikkritische Haltung und eine so- formen bilden, müssen diese von Eliten erprobt und genannte mittlere Technologie, d.h. Werkzeuge sollen praktiziert werden, so dass ihre Funktionsfähigkeit die Menschen zusammenbringen und ihre Arbeit ver- und Vorzüge sichtbar werden. Eine avantgardistische stärken, aber nicht ersetzen. Die Arbeit selbst habe erst Suffizienz-Minderheit kann niemals Wahlen gewin- mal den Zweck, dass Menschen sich entwickeln und nen. Doch sie kann vollendete Tatsachen schaffen, bei- gemeinsam etwas erschaffen, und dient erst an dritter spielsweise ohne SUV, Fliegen, Fleisch, Eigenheim oder Stelle der Einkommenserzielung, folglich einer beschei- Apple-Endgerät glücklich existieren. deneren Ausformung von Wirtschaft und Dasein. Gleichzeitig wird uns ja dauernd das Gegenteil ver Und welche Rolle spielt die Suffizienz in Ihrem Wirt klickert, ohne SUV & Co. sei kein glückliches Leben schaftskonzept, der sogenannten Postwachstums möglich. Wie kommt der Mensch dagegen an? Und ökonomie? ist denn der skizzierte Prozess schnell genug, um die akuten Umweltprobleme zu meistern? Suffizienz kennt drei Erscheinungsformen: Erstens die Reduktion eines bestimmten quantitativen Konsum- Die Frage ist irrelevant, weil es keine Alternative gibt. nachfrageniveaus, z.B. den Fleischkonsum zu reduzie- Die Coronakrise, Finanzkrise, Fukushima-GAU, Im ren – was nicht heisst, gar kein Fleisch mehr zu essen. migrationskrise, jetzt das Hochwasser-Desaster waren Zweitens die Selbstbegrenzung, etwa ein einmal er- Eruptionen, die uns zeigen, dass unsere derzeitige Da- reichtes Konsumniveau nicht weiter zu steigern – auch seinsform nicht zukunftsfähig sein kann. Von Klima- wenn es finanziell möglich wäre. Drittens die grund- und Biodiversitätsproblemen gar nicht erst zu spre- sätzliche, ja radikale Entsagung, also gewisse Dinge chen… Krisen werden zum Treiber der Veränderung kategorisch aus dem Leben rauszuhalten, beispielsweise und zum Selektionsmechanismus, sodass aktuelle Le- niemals zu fliegen. bensgewohnheiten auf den Prüfstand gestellt werden. Und das, was derzeit nur eine Avantgarde praktiziert, Jedes Nachhaltigkeitskonzept, das nicht zuvorderst auf könnte sich als überlebensfähig herausstellen, wenn Suffizienz abstellt, ist nicht das Papier wert, auf dem es die Eruptionen und Krisen näher rücken. gedruckt steht. Denn keine Technologie ist auch nur theoretisch in der Lage, unseren derzeitigen Wohlstand Und die Politik: Was kann und muss diese tun? von ökologischen Schäden zu entkoppeln. Suffizienz ist nicht alles – aber ohne Suffizienz, ist alles, was wir Die Menschheit steht nicht nur am ökologischen Ab- im Nachhaltigkeitsdiskurs diskutieren, nichts. grund, sondern zusätzlich an einem anderen Wende- 6 Energie & Umwelt 3 /2021
Prof. Dr. Niko Paech lehrt und forscht an der Universität Siegen. Lesen Sie das gesamte Interview auf www.energiestiftung.ch/paech. punkt: Die Versuche, den modernen Lebensstils von doch eine verantwortbare Politik wählen sollen. Wer ökologischen Schäden zu entkoppeln, misslingen nicht wählt eine Politik, die einem etwas aufoktroyiert, dass nur systematisch, sondern verstärken das Problem. Was er freiwillig nicht zu tun gedenkt? Hier liegt ein Grund- heisst das? Bislang wurden Parteien immer dafür ge- widerspruch des Nachhaltigkeitsdiskurses, den wir wählt, dass sie den Menschen Umweltschutz verspra- noch nicht verarbeitet haben. chen – unter dem Vorbehalt, dass der Wohlstand da- durch nicht gefährdet würde. Genau dieses Versprechen Der moralische Selbstanspruch muss wachsen. Ist un ist nicht mehr einzuhalten. Aber wenn die Technik ver- sere Kultur zu mehr Moral einfach nicht fähig? sagt, an die das Problem bislang delegiert wurde, müss- te die Politik die Wählermehrheit zu einem genügsa Natürlich, aber Kultur ist ja nicht Granit, sondern ver- meren Lebensstil nötigen. Sie müsste also die seit dem änderbar. Veränderungsprozesse sind manchmal lang- Zweiten Weltkrieg vorherrschende Maxime jeglicher wierig und schwierig, doch gibt es keinen anderen Weg. Politik – bedingungslose Steigerung aller Wohlstands- Aber wenn meine Prognose stimmt, werden auch die optionen – ins glatte Gegenteil umkehren. Das entsprä- Widersprüche unserer Lebensweise jeden Tag offen- che dem perfekten politischen Selbstmord, ausser es sichtlicher. Noch verdrängen wir sie, weil wir hier in findet sich bereits eine hinreichende Quantität an Men- Europa eine Insel der Glückseligen geschaffen haben, schen, die bereit und fähig ist, genügsamer zu leben, aber diese werden wir von den Konsequenzen unserer sodass sich die Politik auf diese berufen kann. Lebensweise nicht länger freihalten können. Dieser Druck wird es sein, der die Menschheit verändert. Braucht es ein grundlegend anderes Politsystem? Aber dies ist kein Grund, fatalistisch zu werden. Wenn Ich halte mehr direkte Demokratie, die in der Schweiz ein breites Spektrum an Lebens- und Versorgungsweisen bereits existiert, für sinnvoll. Aber Politik ist nicht alles. existiert, sind mehr Krisenbewältigungsmittel verfüg- Sie muss versagen, wenn schon das Bildungssystem bar. Egal ob diese von einer Mehr- oder Minderheit jegliche Individualethik pulverisiert, indem jungen in Szene gesetzt werden. Darum ist es so wichtig, die Menschen technologischer Fortschritt und politische Widerstandsnester der Wachstumsverweigerer zu wah- Rahmenbedingungen als Allheilmittel verkauft wer- ren und würdigen. Noch werden sie verlacht, aber den. Individuelle Verantwortung ist aus meiner Sicht warten wir mal bis zur nächsten Überschwemmungska- nicht verhandelbar. Damit will ich nicht sagen, dass tastrophe oder Pandemie. Wir denken, wir können sie jegliche Verantwortung beim Individuum liegt. Aber wegimpfen – eine kurzfristige Schönheitsoperation. es ist schizophren, wenn denjenigen, denen individu- Langfristig werden wir das Mensch-Natur-Verhältnis elle Verantwortung abgesprochen wird, dann zugetraut verändern müssen. Mit unserer aktuellen Lebensweise werden muss, dass sie über den Umweg der Politik eben können wir dem Druck nicht standhalten. < Energie & Umwelt 3 /2021 7
Energie aktuell > IEA fordert Ende des Ölzeitalters > ElCom warnt vor Klumpenrisiko AKW © stock.adobe.com / lovelyday12 © IEA 2021 ti. Im Mai hat die Internationale Energieagentur IEA fl. 60-jährige AKW-Laufzeiten sind in der Schweiz längst ihre Roadmap für Netto Null bis 2050 vorgelegt. Mit kein Tabu mehr. Die Argumente, die für den riskanten unüblicher Klarheit skizziert die IEA, welcher Mass- Langzeitbetrieb vorgeschoben werden, drehen sich ein- nahmen es bedarf: Ab sofort dürfe weltweit kein Geld mal mehr um die Versorgungssicherheit. Tatsächlich mehr in die fossile Infrastruktur investiert, ab 2035 zeigen aber umfassende Studien, wie zuletzt eine gross keine Autos mit Verbrennungsmotoren zugelassen wer- angelegte Modellierung von Stressszenarien der Eidge- den. Und ein Ausbau von Sonnen- und Windkraft in nössischen Elektrizitätskommission (ElCom), dass die bisher ungesehenem Ausmass sei nötig. Das erfordert alternden Reaktoren vielmehr zum Klumpenrisiko für eine Verdoppelung der Investitionen im Energiesektor die Stromversorgung werden. Ungeplante Ausfälle wer- bis 2030 auf rund fünf Billionen US-$ jährlich. Dies sei den mit jedem Betriebsjahr wahrscheinlicher – auch im gut investiertes Geld und schaffe Millionen neuer Jobs. Winter. Statt also auf die Wunder einer längst über Zu bemängeln bleibt: Neben 90 % Erneuerbaren im holten Technologie zu setzen, muss mit aller Kraft er- 2050 soll laut IEA die Atomkraft den Rest decken. Dass neuerbare Winterproduktion zugebaut werden, denn dies gar nicht nötig ist, rechnen andere Institute vor. der Langzeitbetrieb uralter AKW verschärft das Problem, das er angeblich lösen soll. > Die Schweiz ist kein Klima-Musterland > Wir Zufussgehende sind «Nützlinge» © wikimedia / Wilfredor © SES / fischer design fb. Kaum jemand leugnet heute noch den menschen- fb. Mobilität bewegt uns alle, die täglichen Wege zeigen gemachten Klimawandel, die Argumente gegen Klima- uns aber auch die Grenzen auf. Das Bundesamt für schutz sind meist andere: Die Schweiz würde ja bereits Raumentwicklung berechnet regelmässig die externen eine Vorreiterrolle einnehmen und eine Reduktion Kosten und Nutzen der verschiedenen Verkehrsmittel. unseres CO2-Ausstosses hätte keine Auswirkungen auf Diese von uns Verursacher:innen nicht getragenen Um- das Weltklima. welt- und Gesundheitskosten sind erneut gestiegen, was Gemäss BAFU wurde hier zu Lande nicht einmal das Ver- hauptsächlich auf eine Zunahme im Flug- und Auto- minderungsziel bei den CO2-Emissionen aus Brennstof- verkehr zurückzuführen ist. Dagegen zeigt sich, dass fen erreicht, wie energate-messenger.ch berichtet. Der der Fussverkehr die Mobilitätsform ist, deren Nutzen Ausstoss aus Treibstoffen ist zwar etwas stärker gesun- die Kosten übersteigt. Allein der Gesundheitsnutzen lag ken, dabei sind die Emissionen des internationalen Flug- bei 907 Mio. Franken, während diese Verkehrsform nur und Schiffverkehrs aber nicht berücksichtigt. Apropos 427 Mio. Franken externe Kosten verursachte. international: Die Emissionen im Ausland, die wir durch Konsumgüter und Rohstoffe importieren und mitver- Wir Menschen zu Fuss sind laut «Fussverkehr Schweiz» ursachen, übersteigen jene im Inland deutlich. Es führt also «Nützlinge». Auch das Velofahren hat eine positive kein Weg daran vorbei: Auch die Schweiz muss ihren externe Bilanz. Diese beiden Formen der Mobilität soll- Beitrag leisten. ten folglich verstärkt gefördert werden. 8 Energie & Umwelt 3 /2021
> 100 % erneuerbar bis 2030 > Wie viel ist der lokal produzierte Strom wert? © ADEV Energiegenossenschaft © Andreas Schantl on Unsplash fn. Österreich hat beschlossen, bis 2030 auf 100 % fn. Der «Rückliefertarif» ist der Betrag, den lokale Pro- erneuerbaren Strom zu setzen. Alle Parteien im Parla- duzenten vom Verteilnetzbetreiber pro eingespeiste kWh ment ausser die FPÖ stimmten dafür. Damit setzt sich vergütet erhalten. Einige Verteilnetzbetreiber, z.B. die unser Nachbarland das ambitionierteste Ökostromziel Berner BKW, zahlen sehr tiefe Rückliefertarife (Über- in Europa. Bis 2040 soll Österreich ganz klimaneutral sicht: www.pvtarif.ch). Sie orientieren sich am Ein- werden. Magnus Brunner, der Staatssekretär im Um- kaufspreis für «Graustrom» ohne ökologischen Mehr- weltministerium, sieht das Erneuerbaren-Ausbau-Ge- wert. Die ElCom hat nun in einer Verfügung klarge- setz (EAG) als «Investitionspaket für und in die heimi- macht, dass sich die Vergütungshöhe auch an den sche Wirtschaft». Indes schlägt unser Bundesrat vor, Gestehungskosten der eigenen Produktionsanlagen zu Netto Null erst 2050 zu erreichen und die Hauptan- richten hat. Die Verfügung ist noch nicht rechtskräftig. strengung auf die Zeit nach 2035 zu verschieben. Die Gemäss energate-messenger.ch ging es im konkreten Schweiz als Hort der Pünktlichkeit? Mitnichten. So Streitfall um Wasserkraftwerke der ADEV Energiege- verpassen wir den Anschluss. Bleibt zu hoffen, dass sich nossenschaft im Kanton Bern. Der Verteilnetzbetreiber unser Parlament das EAG zu Gemüte führt, bevor es das ist die BKW oder ihre Tochterfirma onyx. Ob diese die Schweizer Energiegesetz berät. Verfügung gerichtlich anfechten, ist noch offen. > Agriphotovoltaik: zwei Fliegen auf einen Schlag > In Gedenken an Hans-Peter Guggenbühl © BayWa r.e. © Beatrix Mühlethaler vs. Agriphotovoltaik umschreibt die effiziente Doppel- vs. Der unerwartete Unfalltod von Hanspeter Guggen- nutzung landwirtschaftlicher Fläche. So ersetzen Solar- bühl (2. Februar 1949 – 26. Mai 2021) ist ein herber Ver- panels beispielsweise Folientunnels zur Beschattung von lust für den Energiejournalismus. Er war ein ausgespro- Plantagen, Weidezäune werden als Solarflächen genutzt. chener Kenner der Schweizer Energiepolitik mit einer Während in umliegenden Ländern zahlreiche Anlagen klaren Haltung, wie seine Bücher belegen. Auch wenn bestehen, gibt es in der Schweiz bislang erst Pilotpro er die Stossrichtung der SES befürwortete, kritisierte er jekte, etwa in Conthey im Wallis. Denn für eine breite an M ediengesprächen oder per E-Mail immer wieder, Anwendung sind die Hürden in der Schweiz noch hoch: dass die Energieeffizienz und -suffizienz in unserer Kom Nach der Rechtsauffassung des Raumplanungsgesetzes munikation zu wenig zum Tragen kämen – auch wenn können solche Anlagen nicht «landwirtschaftlich be- wir das selber nicht so sahen. Oder er wies in belehren- gründet» werden und sind in der Landwirtschaftszone der wie auch erfrischender Manier auf Rechtschreib nicht erlaubt. Die SES hat zusammen mit Swissolar und fehler oder die unkorrekte Verwendung von Begriffen der ZHAW die raumplanerischen Hürden, die es zu be- und Redewendungen hin. Unvergessen bleibt, wie Hans seitigen gilt, in der Publikation «Schriften zum Energie- peter anlässlich der SES-Fachtagung 2013 mit handge- recht: Raumplanung und Photovoltaik» analysiert. zeichneten Folien eine der stringentesten Präsentationen abhielt. Wir werden Dich vermissen! » www.energiestiftung.ch/studien Energie & Umwelt 3 /2021 9
SUFFIZIENZ KONKRET Suffizienz-Tipps für Anfänger:innen und Profis In der Schweiz verursachen wir alle überdurchschnittlich viel Umweltbelastung. Bei den Treibhausgas-Emissionen sind es 13,5 Tonnen pro Kopf und Jahr – versus 5,4 Tonnen im globalen Schnitt. Es braucht sowohl von Politik als auch uns Individuen eine neue Suffizienz-Praxis. Das Gute ist, dass jede:r unmittelbar und wirksam handeln kann. Nachfolgend ein paar Anregungen. TIPP: WEG MIT DEM BALLAST 10'000 Gegenstände besitzt ein durchschnittlicher Schweizer Haushalt. Das Übermass an Besitz wird für viele zunehmend zur Last, bewusst oder unbewusst. Wir versinken nicht bloss im Überfluss, sondern verbrauchen auch viel zu viel und immer mehr. Der sogenannte Material-Fussabdruck, das heisst der Rohstoffverbrauch im In- und Ausland, beträgt in der Schweiz 17 Tonnen pro Kopf und Jahr. Nachhaltig ist das nicht, weder für die Umwelt noch fürs Wohlbefinden. Minimalismus als Lebensstil setzt hier an: Bewusst manche Dinge reduzieren, um Platz fürs Wesentliche zu schaffen. WAS TUN? Entrümpeln Sie Ihr Leben! Geniessen Sie das befreiende Gefühl, mit weniger Ballast souverän durchs Leben zu gehen. Ein paar Herangehensweisen zum erfolgreichen Ausmisten für Anfänger:innen: die Korbmethode meint das Gegenteil von Shopping. Also einen Wäschekorb schnappen und Sachen aussortieren, die Sie nicht mehr brauchen, und ins Brocki bringen oder auf andere Weise ein zweites Leben schenken. Die ultimative Minimalismus-Methode für Profis: Behalten Sie nur die Dinge, die glücklich machen. TIPP: KURZSTRECKENFLÜGE NUR FÜR INSEKTEN UND VÖGEL Jede Schweizer Person fliegt im Durchschnitt 9000 Kilometer pro Jahr. Damit trägt der Flugverkehr mit 18 % zu den inländischen Treibhausgasemissionen bei. Tendenz steigend – trotz Flugscham. Kaum eine andere (legale) Handlung verursacht eine solch grosse Umweltschädigung in der gleichen Zeit. Klar ist: Würde die ganze Welt- bevölkerung so viel herumfliegen wie der Durchschnittsschweizer, wäre die Erde bereits kollabiert. (Global gesehen ist der Anteil der Fliegerei am gesamten Treibhaus- gasausstoss mit 5 % zwar weitaus tiefer. Doch das liegt bloss daran, dass weltweit nur 10 bis 20 % der Menschheit je ein Flugzeug von innen gesehen haben.) Dabei liessen sich die Flugmeilen leicht reduzieren, denn glücklicherweise kennen wir die techni- sche Alternative bereits. Sie heisst Reisen per Bahn. WAS TUN? Trotz lockerem Pandemiemodus, das Ferienmotto sollte bei Zug statt Flug bleiben. Das bedeutet für Anfänger:innen: Wenn immer möglich das Flugzeug ersetzen und auf den Zug umsteigen. Für Profis heisst das: In der Nähe verweilen, statt in die Ferne düsen. In die Tiefe statt in die Weite gehen. Nachhaltig den geistigen Horizont statt irrsinnig das Flugmeilenkonto zu erweitern. Klammerbemerkung: Denn diese beiden korrelieren nicht. «Souverän ist nicht, wer viel hat, sondern wer wenig braucht.» Postwachstumsökonom Niko Paech 10 Energie & Umwelt 3 /2021
TIPP: WENIGER WURST, MEHR ZUKUNFT! Fleisch: die ineffizienteste Art der Kalorienaufnahme. Denn dabei wird die Nahrungs- kette über das Tier, das sich selbst von Pflanzen ernährt, verlängert. Entsprechend schwerwiegend sind die Umweltauswirkungen der Nutztierproduktion, die nicht auf den Treibhauseffekt beschränkt bleiben: Ammoniakemissionen, Stickstoffüberdün- gung, übersäuerte Böden, zerstörte Gewässer sowie übermässiger Wasser- und Land- verbrauch sind die Folgen. Der massive Futtermittelanbau führt andernorts zu Regen- waldrodung und konkurriert Anbauflächen für Lebensmittel. WAS TUN? Es gibt nur eine Lösung: Reduktion. Sie müssen ja nicht gleich wie Einstein, Gandhi, da Vinci oder Paul McCartney dem Fleischkonsum komplett entsagen. Aber etwas weniger, das freut Tiere, Umwelt und Ihre Gesundheit. Rezept für Anfänger:innen: Zum Einstieg empfiehlt sich das Konzept Abendbrot (kein Fleisch vor 18 Uhr) oder das Konzept Sonntagsbraten (kein Fleisch vor Sonntag). Rezept für Profis: Fleisch vollständig vom Speisezettel streichen, weitere tierische Produkte zunehmend re duzieren und ganz auf Pflanzen setzen. P.S. bei Mahlzeiten ausser Haus die guten Vorsätze nicht über Bord werfen. TIPP: DAS MANTRA VOR JEDEM KAUF: RRRRR! Rethink, Reduce, Reuse, Repair, Recycle. So lauten die fünf R der Kreislaufwirtschaft. Und geben die folgenden Denkanstösse: Rethink – Braucht Mensch das begutachtete Konsumgut tatsächlich? Reduce: Können Verpackung und Konsum reduziert werden? Reuse: Gibt es Alternativen zu Wegwerfbechern und Plastikbesteck? Was eignet sich für die Mehrwegnutzung? Repair: Kann ich die Hose, das Velo, Gerät X oder Gegen- stand Y selbst flicken oder reparieren lassen und dadurch die Lebensdauer verlängern? Recycle: Da sind die Schweizer:innen zwar ziemlich gut, kann ich dennoch was ver- bessern? Sorge ich dafür, dass wirklich alle wertvollen Rohstoffe wieder in den Kreis- lauf zurückgeführt werden? WAS TUN? Wann immer Sie im Laden stehen, eine Konsumentscheidung oder Wegwerf handlung ansteht: gekonnt ein lautes RRRRR rollen. Und nachdenken. Falls es eine neue An- schaffung braucht, setzen Sie auf Qualität, Langlebigkeit und Reparierfähigkeit. TIPP: BURN CALORIES, NOT ELECTRICITY Mindestens 10'000 Schritte pro Tag empfehlen die Gesundheitsexpert:innen. So blei- ben Sie fit, fühlen sich pudelwohl, beugen Übergewicht und Krankheiten vor. Am einfachsten geht das, indem möglichst viel Bewegung in den Alltag integriert wird. Wenn man den Lift stehen lässt und stattdessen in die Wohnung im vierten Stock hinaufsteigt, spart dies gleich noch 1000 Kilowattstunden Strom im Jahr. Wieso also Atomkerne spalten lassen, bloss um den Lift zu benutzen, wenn man auch die Treppe nehmen kann? WAS TUN? Für Anfänger:innen: Den Lift öfters mal stehen, die Rolltreppe ruhen lassen und zu Fuss gehen. Für Profis: Was für innerhalb des Gebäudes gilt, gilt auch für draussen. Statt das E-Bike und E-Auto zu nutzen, lieber öfters auf den eigenen Antrieb setzen. Fitness for free. Fitness for future. LUST AUF MEHR TIPPS? Weitere Anregungen für angehende- und fortgeschrittene Klima- und Umwelt- schützer:innen finden Sie im Booklet «Ohni Planet isch doof» der SES. Diese können im Alltag kostengünstig, lustvoll und – mehr oder weniger – einfach umgesetzt und bei uns bestellt werden: > energiestiftung.ch/klimatipps Energie & Umwelt 3 /2021 11
SUFFIZIENTER LEBEN – MIT DER VIERTAGEWOCHE Free day for future! Arbeiten schadet dem Klima. Also lassen wir es doch. Ein Plädoyer für die Viertagewoche. Von Quentin Lichtblau Man stelle sich ein Wahlplakat vor: Freier Autor und Journalist aus München «Nie wieder Montag!» Ich weiss nicht, was Sie denken, aber ich sehe es so: Der Schweizer Klimaschutz steckt in einer Sackgasse. Ähn- Nette Idee, aber Spinnerei? Das dachten sicher auch lich verhält es sich in meiner Heimat Deutschland. viele, als in den 50ern die bundesdeutschen Gewerk- Während in Prä-Corona-Zeiten noch so etwas wie schaften herumgesponnen haben: Könnte man den Wechselstimmung in der Luft lag, stellt sich nun Resig Arbeiter nicht vom Joch der Sechstagewoche befreien? Foto: stock.adobe.com / ©ilyaska nation ein: Die deutschen Politiker:innen mit ihren Klimapaketchen handeln zu zaghaft. Das Schweizer Auch fünf Arbeitstage sind kein Gott gegebenes oder CO2-Gesetz war moderat, dennoch hat es die Schweizer nur vernünftiges Mass. In einer Zeit, in der viele Bull- Bevölkerung versenkt. Die Klimastreik-Aktivist:innen, shit-Jobs mehr einer Beschäftigungstherapie als wert- die im Grunde nicht mehr als die Einhaltung verein- schöpfender Arbeit gleichen, ein Burnout fast schon barter Ziele fordern, gelten manchen als nörgelnde zum Standard gehört und Wünsche nach einer gleich- Asketen, die dem kleinen Mann Autofahren und Flug- berechtigten Familien- und Karriereplanung das Voll- Urlaub streichen wollen. zeitmodell ins Wanken bringt, wäre eine geringere Arbeitszeit für alle keine radikale Zukunftswette. Son- Und wir Bürger:innen wenden uns entweder ab oder dern die überfällige Anpassung der Arbeit an die Le- üben uns in Selbstzufriedenheit – nuckeln an wieder- benswelt von Millionen Menschen. verwendbaren Schnabelkaffeetassen, zahlen (wenn es gut kommt) für unsere Urlaubsflüge ein paar Fränkli Vollzeitmenschen – vom Leben entfremdet CO2-Kompensation und hoffen, dass sich so die Luft Versuchen wir es nüchtern. Wie in jedem Text über reinigt. Der globale CO2-Ausstoss steigt trotzdem weiter Innovationen ist es nun Zeit für das, was amerikanische an. Spätestens die Maskenfrage dürfte gezeigt haben: Forscher:innen herausgefunden haben. Diese haben he Selbstverantwortung reicht nicht. Wir brauchen Mass- rausgefunden, dass es einen Zusammenhang zwischen nahmen, die über freiwillige Konsumentscheidungen Arbeitsstunden und Emissionen gibt. Erste Hinweise hinausreichen. Genau davor allerdings schreckt die lieferte 2005 die Bostoner Soziologieprofessorin Juliet Politik zurück – nach dem CO2-Gesetz-Debakel erst Schor. Der Vergleich der durchschnittlichen Arbeits- recht. Verliert man nicht automatisch Wähler:innen, stunden verschiedener Staaten mit deren ökologischem wenn man Verzicht, ob durch Verbote oder Steuern, Fussabdruck enthüllte eine positive Korrelation. Die einfordert? Ökonomen David Rosnick und Mark Weisbrot skizzier- ten 2006 zwei verschiedene Beschäftigungsmodelle: Ein freier Wochentag frei für alle! das amerikanische (viele Arbeitsstunden) und das euro- Sie kennen das alles schon; danke, dass Sie trotzdem päische (weniger bei ähnlicher Leistung). Sie empfah- weiterlesen. Jetzt kommt etwas Neues: Wir müssen den len der US-Wirtschaft die EU als Vorbild: So liessen sich Verzicht nicht dort suchen, wo er wehtut – sondern wo 20 % Energiekosten einsparen. er erträglich ist, wo er regelrecht Freude, gar Freiheit bringt. Wo? Beim Arbeiten. Ich fordere: Free day for Warum lehnen wir uns nicht mal zurück und schauen, future! Einen Wochentag frei für alle. Bei vollem Lohn- was wir da eigentlich fünf Tage die Woche tun? Und ausgleich. was tun Menschen, wenn man sie die Arbeit schwänzen lässt? 2005 untersuchte eine Studie das Verhalten fran- Sie wirken irritiert. Lassen Sie mal Ihren inneren Pro- zösischer Bürger:innen nach der Einführung der 35- testantismus und das Arbeit-als-Selbstverwirklichung- Stunden-Woche. Die meisten gaben an, dass sie die ge- Mantra beiseite: Sie werden mir sicher zustimmen, dass wonnene Freizeit für ihre Familie, Entspannung oder unter all den Tätigkeiten, die weltweit den CO2-Ausstoss Sport nutzen. Energieintensive Tätigkeiten wie Reisen erhöhen, die Arbeit die unbeliebteste ist. Ganze Kaffee- oder Konsum wurden seltener genannt, noch nach der tassenindustrien leben von lustigen Sprüchlein über Ausübung von Ehrenämtern. Ebenso änderte sich auch die Fürchterlichkeit des Montagmorgens, der uns all- das Verhalten im öffentlichen Raum: Die täglichen wöchentlich aus der Selbstbestimmtheit reisst und der Rushhours verflüchtigten sich. Die Franzosen legten Lohnarbeit ausliefert. Ob Bauarbeiter oder Ärztin: Jede:r mehr Wege mit dem Fahrrad oder zu Fuss zurück, sie würde sich über mehr Freizeit freuen – völlig unab- kochten daheim selbst, weil nun die Zeit dafür da war hängig davon, wie er oder sie zur Klimakrise steht. – und die Autos, PCs oder Maschinen ruhten. 12 Energie & Umwelt 3 /2021
Oft höre ich von Vollzeitmenschen, so einen freien Tag Wichtigster Vorreiter ist Island: Nach zwei erfolgrei- bräuchten sie schon, um ihre vermüllten Wohnungen chen Gross-Feldversuchen – kürzere Arbeitszeit, hö- einigermassen in Schuss zu bringen. Dass sie Putzkräf- here Produktivität – mit beinahe 3000 Teilnehmen- te einstellen, um die eigene Job-Performance nicht zu den haben viele isländische Gewerkschaften nach den gefährden. Dass sie den Kochlöffel nur in die Hand neh- Ergebnisveröffentlichungen die Arbeitszeiten neu ver- men, um am Samstagabend Freunde zu beeindrucken. handelt. Seit Juli ist die verkürzte Arbeitswoche die Vollzeitmenschen haben sich nicht nur von ihrer Arbeit isländische Norm. entfremdet, sondern auch von ihrem Leben. Europaweit sind 56 % der Arbeitnehmer für die Vier- Gut und schön, mögen Sie sagen; aber da ziehen die tagewoche. Warum nimmt die Politik diese Bürger:in- Arbeitgeber niemals mit. Sie müssten ja den Stunden- nen nicht ernst? Wie laut wäre der Jubel, wenn eine lohn tüchtig erhöhen. Die Sache ist: Sie tun es schon, Partei sich die Idee tatsächlich ins Wahlprogramm probeweise, eine Avantgarde jedenfalls. Und offenbar schriebe? Natürlich ist mir bewusst, dass ein freier Tag macht eine Viertagewoche nicht nur die Mitarbeiter nicht ausreichen wird, um die Schweiz oder Deutsch- zufriedener, sie steigert auch ihre Produktivität. Das land ins Zeitalter der Nachhaltigkeit zu katapultieren. ergab beispielsweise ein Test in Japan. Dort gab Micro- Und dass viele Selbstständige aus freien Stücken fünf, soft im Sommer 2019 einen Monat lang die Freitage frei. sechs, sieben Tage die Woche arbeiten. Umso wichtiger Mit Erfolg: Die Angestellten leisteten 40 % mehr als im ist es, ihnen vorzumachen, was Freizeit wert ist, per- Vergleichsmonat ein Jahr zuvor, gemessen am generier- sönlich und ökologisch. ten Umsatz pro Mitarbeiter:in. Auch ein wissenschaft- lich begleiteter Test beim neuseeländischen Finanz- Die Viertagewoche wäre ein erster Schritt, um den Er- dienstleister Perpetual Guardian zeigte keine Leis- halt unserer Erde als Konsens zu etablieren. Künftig tungseinbrüche. Die 250 Mitarbeiter fühlten sich nicht könnten sich alle Generationen am freien Montag beim gestresst, dass sie effizienter arbeiten mussten, sondern gemeinsamen Kochen, Picknicken oder Faulenzen ih- rapportierten eine verbesserte Work-Life-Balance. Die rer neu gewonnenen Freiheit erfreuen. Von mir aus Firma hat das Experiment daher zur Norm gemacht. auch freitags, was sich vom Namen her anböte, auch als Dankeschön an die Schulstreikenden. Die genaue Es gibt keine schönere Art des Verzichts Ausgestaltung dieser herrlichen Zukunft überlasse ich Das alles ist nicht so weit weg, wie es sich vielleicht der Politik. Es bleibt die Frage, wer sich das institutio- anhört. In der deutschen Metall- und Elektroindustrie nalisierte Nichtstun zuerst auf die Plakate druckt. Ich gibt es seit 2019 für Tarif beschäftigte das Recht auf jedenfalls kann mir keine schönere Art des Verzichts eine «verkürzte Vollzeit» bis zu 28 Wochenstunden. vorstellen. Sie? < Zwar mit weniger Gehalt. Aber zumindest lässt sich sagen, dass auch traditionelle Wirtschaftszweige an Dieser Artikel erschien ursprünglich in DIE ZEIT Nr. 4 / 2020 und wurde für die reduzierten Arbeitszeiten kaum zu Grunde gehen. vorliegende Publikation aktualisiert und adaptiert. Energie & Umwelt 3 /2021 13
WIESO DIE SUFFIZIENZDEBATTE FÜR ENERGIESZENARIEN ZENTRAL IST Es gilt, die Menschen ins Zentrum zu stellen Wie sieht unsere (Energie-)Zukunft aus? Energieszenarien liefern dazu zwar wichtige Erkenntnisse, aber rein technologische Modellierungen reichen nicht, um die Energiewende zum Erfolg zu führen. Auch gesellschaftliche Aspekte müssen mitberücksichtig werden. Von Dr. Lukas Braunreiter, Technisch machbar und bezahlbar Wissenschaftlicher Mitarbeiter, ZHAW Die Kernaussage der Energieperspektiven 2050+ ist, dass der Umbau des Energiesystems technisch machbar und Dr. Yann Blumer, und aus volkswirtschaftlicher Perspektive bezahlbar Senior Researcher und Dozent, ZHAW, ist. Diese Erkenntnis ist zwar wichtig, gleichzeitig sagt Foto: www.2000watt.swiss beide am «Institute for Innovation and Entrepreneurship» sie wenig darüber aus, was dies für die Menschen kon- kret bedeutet und wie sich die Energiewende lokal aus- Während die Klimakrise diesen Sommer durch Tempe- wirkt. Dieses Vakuum wussten die Gegner:innen des raturrekorde und Starkniederschläge auf sich aufmerk- CO2-Gesetzes zu nutzen, indem sie eindringlich vor sam macht, fehlt weiterhin eine politisch und gesell- steigenden – und besonders die ländliche Bevölkerung schaftlich breit abgestützte Vision, wie der notwendige belastendenden – Benzinpreisen warnten. Übergang zu einer postfossilen Gesellschaft gelingen kann. Energieszenarien könnten dafür wertvolle Er- Von wegen «nicht politisch» kenntnisse liefern, indem sie basierend auf ausgereiften Dass Energieszenarien kaum zu einer breit abgestützten Computermodellen die vielfältigen und oftmals kom- Vision der Energiezukunft beitragen, ist kein Zufall. Sze plexen Wechselwirkungen zwischen Energienachfrage narienentwickler:innen und Auftraggeber:innen wollen (z.B. Raumwärme oder Mobilität) und Energieproduk- sicherstellen, dass Energieszenarien und die darin enthal tion, Energiespeicherung oder Energieumwandlung tenen Annahmen möglichst objektiv und nicht poli- simulieren. Dadurch sind Energieszenarien in der Lage tisch gefärbt sind, damit sie ihre eigene Aussagekraft aufzuzeigen, wie der notwendige Umbau unseres Ener- nicht torpedieren. Was in der Theorie gut klingt, ist in giesystems ablaufen könnte, ohne dabei die Versor- der Praxis kaum umsetzbar: Wie, wo und wann wir in gungssicherheit zu gefährden oder unverhältnismässi- Zukunft Energie produzieren und konsumieren, ist ge Kosten zu verursachen. nicht nur eine technologische oder ökonomische Frage, sondern untrennbar mit politischen, gesellschaftlichen Energieszenarien als Taktgeber der und sozialen Aspekten verwoben. Die Energiezukunft Energie- und Klimapolitik hat Auswirkungen auf nahezu alle Lebensbereiche und Aufgrund dieser Eigenschaften bilden Energieszenari- kann nicht isoliert betrachtet werden. en in vielen Ländern eine wichtige Basis für die zukünftige Energie- und Klima- politik. So basiert etwa die Energiestra- Die Krux allerdings ist, dass durch die Trennung tegie 2050 der Schweiz auf den Erkennt- zwischen techno-ökonomischen Faktoren und sozio- nissen einer umfassenden Szenariostu- politischen Massnahmen der sogenannte «Möglich- die, welche vom Bundesamt für Energie keitsraum» für die Gestaltung einer nachhaltigen (BFE) in Auftrag gegeben wurde. Mit den Energieperspektiven 2050+ wurde Z ukunft eingeschränkt und auf Aspekte reduziert die Studie letzten Winter erneuert. Da- wird, die in Energieszenarien akzeptiert sind! rin wird antizipiert, wie der Umbau des Energiesystems erfolgen müsste, um das Ziel der Klimaneutralität bis im Jahr 2050 zu So wird beispielsweise im Bereich Verkehr die Elektri- erreichen. Weil weltweit eine Reihe von ähnlichen fizierung der Fahrzeugflotte detailliert und mittels ver- Modellen verwendet wird, um Energieszenarien zu er- schiedener Varianten modelliert, während Suffizienz- stellen, lassen sich deren Ergebnisse wissenschaftlich strategien nicht berücksichtigt werden. Als Konsequenz diskutieren und validieren. Dies wiederum verleiht den wird in Energieszenarien vielfach von einem stetigen Energieszenarien Glaubwürdigkeit in wirtschaftlichen Zuwachs an zurückgelegten Autokilometern ausgegan- und politischen Entscheidungsprozessen. Energiesze- gen, als wäre dies alternativlos. Dabei zeigen Beispiele narien werden deshalb oftmals als Legitimation für aus Amsterdam, Skandinavien und aktuell Paris, dass Massnahmen und Entscheide herangezogen. auch im Bereich Mobilität durch Anreize, Verbote oder 14 Energie & Umwelt 3 /2021
Lebensraum und Begegnungszone im Hunziker-2000-Watt-Areal: Es gilt, die Ausgestaltung der Energiezukunft, welche die Lebensrealität der zukünftigen Generationen prägen wird, grundlegend zu diskutieren. raumplanerische Ansätze signifikante und schnell wir- Gegenwart. Sie verschonen uns aber nicht davor, die Aus- kende Verhaltensänderungen möglich sind. gestaltung der Energiezukunft, welche die Lebensrealität der zukünftigen Generationen prägen wird, grundlegend Die Zukunft ist nicht planbar, aber gestaltbar zu diskutieren. Vielmehr sollten wir Energieszenarien Energieszenarien sollten offen gegenüber verschiede- dazu nutzen, eine möglichst breit abgestützte Vision ei- nen Lösungsansätzen sein, weil ihre Ausrichtung un- ner erneuerbaren Energiezukunft in evidenzbasierte gewöhnlich langfristig ist. Das gilt auch für Vorschläge, Handlungsempfehlungen für politische und wirtschaft- die aus heutiger Sicht radikal erscheinen. Ansonsten liche Entscheidungsträger:innen zu übersetzen. besteht die Gefahr, dass lediglich die gegenwärtig vor- herrschenden politischen und wirtschaftlichen Macht- Gleichzeitig steigt die Notwendigkeit, die Diskussion um verhältnisse in die Zukunft projiziert und durch auf die Energiezukunft nicht hinter technokratischen Be- den Energieszenarien basierende Entscheide reprodu- richten zu verstecken, sondern transparent und partizi ziert werden. Der Übergang zu einer postfossilen Ge- pativ zu führen. Während beispielsweise in Frankreich sellschaft ist aber abhängig davon, sich von gewissen oder Deutschland Bürgerbeteiligungsformate zu wich- Strukturen zu lösen und neue Wege zu gehen. Die Zu- tigen Fragen der (Energie-)Zukunft stattfinden, fehlen kunft ist nicht etwas, das wir nur passiv erfahren, son- diese ausgerechnet im Land der direkten Demokratie. dern etwas, das wir aktiv gestalten können. Für eine gesellschaftlich verankerte Vision der Energie- Das fängt bei der Vorstellungskraft an, das Energie- zukunft brauchen wir mehr Inklusion und Diskussion. system der Zukunft neu zu denken. Natürlich müssen Wenn zentrale Verhaltensaspekte ausgeklammert wer- Energieszenarien die physikalischen und ökonomi- den, nutzen wir nicht das ganze Potenzial und riskie- schen Grenzen aufzeigen, innerhalb derer sich ein zu- ren, dass Energieszenarien vage und abstrakt bleiben: künftiges Schweizer Energiesystem bewegen muss. Potenzial und konkrete Ansätze, wie sie beispielweise Aber auch innerhalb der Leitplanken um Netto-Null- Suffizienz-Strategien bieten, die den Energie- und Res- Emissionen, die uns das Pariser Klimaabkommen setzt, sourcenverbrauch reduzieren wollen und die Lebens- gibt es unzählige Ausgestaltungsmöglichkeiten. Diese qualität der Menschen ins Zentrum stellen. < Möglichkeiten können nicht durch techno-ökonomi- sche Analysen, sondern nur durch gesellschaftliche Debatten um deren Wünschbarkeit identifiziert und Im Rahmen des «Competence Center for Research in Energy, So- konkretisiert werden. ciety and Transition» haben die Autoren mit weiteren Forschenden das White Paper «Von Modellen zu Visionen: Ansätze zur Ergän- Es braucht mehr Inklusion und Diskussion zung von quantitativen Energieszenarien» veröffentlicht. Energieszenarien und die Modelle, auf denen sie basie- ren, sind wichtige und nützliche Werkzeuge in der Be- Das White Paper #11/2021 ist zu finden auf www.sccer-crest.ch. wältigung einer der grössten Herausforderung unserer Energie & Umwelt 3 /2021 15
DREI FRAGEN AN DREI EXPERT:INNEN Und wie halten Sie es mit der Suffizienz? Anlässlich der SES-Abendveranstaltung «Suffizienz – wie bitte? Vom Überfluss zum guten Mass» diskutieren die Sozialpsychologin Corinne Moser, der Historiker und Umweltjour nalist Marcel Hänggi und die GLP-Kantonsrätin und IKEA-Nachhaltigkeitschefin Franziska Barmettler über das Für, Wie und Wider der Suffizienz. Im E&U geben die drei Expert:innen vorab ihre pointierten bis persönliche Einschätzungen ab. 1. Können wir unsere Umwelt- und Klimaziele Suffizienz kann als Teil des Prozesses eine Rolle spielen, steht aber für mich mit rein technikbasierten Lösungsstrate- nicht im Vordergrund. Die wichtigste Zutat ist der technologische Fort- gien erreichen, die sich auf Effizienz- und schritt: Wir haben heute die technologischen Lösungen, die wir brauchen, Konsistenzmassnahmen abstützen, oder und wir wissen, was wir zu tun haben. Zum Beispiel müssen wir ab sofort braucht es auch Suffizienz? vermeiden, dass eine fossile Heizung wieder durch eine solche ersetzt wird. Dabei mangelt es am gesellschaftlichen Konsens und am politischen Wil- len, diese Massnahmen rasch und konsequent umzusetzen. Ebenso wichtig sind die richtigen Rahmenbedingungen. Die Mechanismen der Marktwirt- schaft bieten durchaus Lösungen für ökologische Probleme: Güter und Dienstleistungen sollen dabei aber den richtigen Preis erhalten. Die Politik ist gefordert, klare Regeln und Ziele vorzugeben, innerhalb welchen der Wettbewerb spielen kann. Natürlich gibt es auch Bereiche, bei denen Suffi zienz ins Spiel kommt – zum Beispiel bei der Wohnfläche pro Person. 2. Wie würden Sie die zwei Begriffe Suffizienz Während des Lockdowns haben wir ein Bild davon bekommen, wie eine und Fortschritt in Beziehung setzen? Schweiz aussähe, die mit den extremsten Mitteln die Klimaziele erreichen würde: mit Verzicht. Der Verkehr stand still und so konnte das Klima kurz- fristig aufatmen. Das kann aber nicht der einzige Weg sein, wie wir unseren Ressourcenverbrauch nachhaltiger gestalten. Salopp gesagt, ist Suffizienz ein «Zurück in die Steinzeit» – wir können doch mehr als das! Das Mass der Dinge ist für mich die Lebensqualität. Diese muss mindestens gleich bleiben oder sich verbessern. Aktuell gibt es einen Trend hin zu «less is more», zum Lokalen, zum bewussten Überlegen: Was brauche ich wirklich? Die Motivation dahinter ist aber eine bessere Lebensqualität und nicht die Suffizienz. 3. Wo sind Sie im Alltag mit «zu wenig» «Zu wenig» ist bei mir sicherlich die Zeit und das Aufatmen. «Ein bisschen konfrontiert, wo dominiert der Überfluss? weniger» hätte ich allerdings gerne bei der Abhängigkeit von materiellen Wo wäre ein (Mehr vom) Weniger Gütern, da der Besitz von Dingen oftmals eine zusätzliche Bürde darstellt. wünschenswert? In Zukunft sollte es daher viel mehr Dienstleistungen geben. So hätte ich statt eines eigenen Kühlschranks, dessen Unterhalt und Entsorgung müh- sam sein kann, viel lieber die Möglichkeit, eine gewisse Menge an «gekühl- ter Fläche» mieten zu können. Das gäbe Hersteller:innen Anreiz, die gute Qualität des Geräts sicherzustellen. 16 Energie & Umwelt 3 /2021
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