Bildung, Ausbildung, Fortbildung: Herausforderungen aus internationaler Perspektive - ifo Institut

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FORSCHUNGSERGEBNISSE

     Andreas Schleicher* und Ludger Schuknecht**

     Bildung, Ausbildung, Fortbildung:
     Herausforderungen aus internationaler
     Perspektive

     Es gibt zwei internationale Megatrends, die für die Bildungspolitik in Deutschland und
     Europa von besonderer Relevanz sind. 1) Ein hohes Bildungsniveau bleibt der Garant für
     Wohlstand und Wachstum. Aber im internationalen Vergleich nehmen immer mehr asiati-
     sche Länder die Spitzenplätze bei den Erhebungen der OECD ein. Einige europäische Län-
     der fallen nicht nur relativ, sondern auch absolut zurück. 2) Der technische Fortschritt und
     insbesondere die Digitalisierung werden weiterhin die Arbeitswelt verändern und andere
     Kompetenzen als in der Vergangenheit erfordern. Gleichzeitig wird eine weiter wach-
     sende Lebenserwartung und Lebensarbeitszeit das lebenslange Lernen notwendiger denn
     je machen. Das bedeutet große Herausforderungen für die Bildungspolitik in Deutschland
     und international, die wir angehen müssen, um international an der Spitze zu bleiben.

     BILDUNG UND WOHLSTAND: SPITZE BLEIBEN                                   ler erfasst. Darüber hinaus misst die OECD die Fähig­
                                                                             keiten der Vorschulkinder und erfasst die Situation
     Die Rolle von Bildung und Kompetenzen                                   und Motivation der Lehrer (TALIS) sowie die Kompe­
                                                                             tenzen von Erwachsenen (PIACC).
     Wer Wachstum und Wohlstand von Gesellschaf­                                  Der Aus- und Aufbau der schulischen und beruf­
     ten erklären und vorhersagen will, der kann sich im                     lichen Bildung und der damit einhergehende Fort­
     Wesentlichen auf ein Thema konzentrieren, näm­                          schritt im Bildungsniveau erklären einen erhebli­
     lich Bildung und Kompetenzen (vgl. Schleicher 2018;                     chen Teil des Wachstums und des Aufholprozesses in
     Hanushek und Woessmann 2015).1 Auch das persön­                         den Volkswirtschaften der Welt (vgl. Abb. 1). Hanus­
     liche Wohlbefinden und gesellschaftliche Teilhabe                       hek und Woessmann nennen es Wissenskapital. Die
     hängen hiermit zusammen.                                                PISA-In­dikatoren für Schülerleistungen sind dafür
          Ohne Erkenntnis über die Stärken und Schwä­                        besonders aussagekräftig.
     chen eines Bildungssystems ist es jedoch schwierig,                          Die Korrelation zwischen Wissenskapital und
     das Bildungssystem zu verbessern, und eine regel­                       wirtschaftlicher Konvergenz zeigt sich in dieser Ab­­
     mäßige Bestandsaufnahme ist deshalb sinnvoll.                           bildung. Viele asiatische Volkswirtschaften kenn­
     Dabei sind internationale Vergleichsstudien beson­                      zeichnet ein hohes Bildungsniveau, das mit einem
     ders nützlich, weil wir dadurch von der Erfahrung                       rasanten wirtschaftlichen Aufholprozess einhergeht.
     anderer profitieren können, ohne nationale Beson­                       Am anderen Ende des Spektrums liegen vor allem
     derheiten zu vernachlässigen.                                           südamerikanische und einige andere Schwellen­
          Die OECD ist deshalb von ihren Mitgliedsländern                    länder, die ein niedriges Bildungsniveau und wenig
     mit der internationalen Erhebung von Bildungs- und                      catching up kennzeichnet. Der größte Teil Europas
     Kompetenzniveaus beauftragt worden. Am bekann­                          sowie Deutschland liegen im breiten Mittelfeld: mitt­
     testen sind sicher die Ergebnisse der PISA-Studie,                      lere bis gute Bildung auf hohem Wohlstandsniveau
     die die kognitiven Leistungen der 15- jährigen Schü­                    mit mäßiger Dynamik. Zu berücksichtigen ist dabei,
                                                                             dass bei PISA lediglich ein Teil der für wirtschaft­
     * Andreas Schleicher ist Direktor des Direktorats für Bildung bei der
     OECD, Paris.
                                                                             lichen und sozialen Erfolg wichtigen Kompetenzen
     ** Ludger Schuknecht ist Stellvertretender Generalsekretär der          gemessen wird. Würden weitere zentrale Bestand­
     OECD, Paris.
     Wir danken Jens Fischer-Kottenstede, Manuel Loesel, Christian Luft,
                                                                             teile des Wissenskapitals berücksichtigt, wie z.B.
     Herbert Puels, Rainer Schulz und Ludger Wößmann für hilfreiche          soziale Kompetenzen, Fremdsprachenkenntnisse,
     Kommentare und Julia Himstedt und Vincent Siegerink für ihre Un­
     terstützung.
                                                                             oder politisches und wirtschaftliches Wissen, so
     1
        Günstige institutionelle Rahmenbedingungen und Rechtssicher­         wäre der Zusammenhang zwischen den PISA-Ergeb­
     heit sind ebenfalls wichtig, weil sie tendenziell eine Voraussetzung
     für gute Bildung und ein hohes Kompetenzniveau sind (vgl. Acemo­
                                                                             nissen und den wirtschaftlichen und sozialen Erträ­
     glou und Robinson 2012).                                                gen wahrscheinlich noch stärker.

20   ifo Schnelldienst   15 / 2019   72. Jahrgang   8. August 2019
FORSCHUNGSERGEBNISSE

Abb. 1                                                                                                                          Der rasante Anstieg des
Wissenskapital und Wachstum                                                                                                Bildungs- und Kompetenz­
        Wirtschaftswachstum
                                                                                                                           niveaus in vielen Schwellen­
7,0                                                                                                                        ländern und insbesondere in
                                                                                            SGP
                                                                                                                           Asien ist mit einem ebenso
6,0                                                                                                TWN
                                                                                                                           rasanten Anstieg des globa­
                                                                                      KOR                                  len Wohlstands, einem An­     ­
5,0                                                             HKG
                                                  PRT                                                                      wachsen der globalen Mittel­
                                         TUN        THA            CHN
4,0                                                       MYS                                                              klasse und einem Rückgang
                                     CYP     ITA ISL
                                                 BEL IRN                                                                   der extremen Armut einher-
                              USA MAR IDN       ESP         FIN
                                           TUR
                                            CANIRL EGY
3,0                         NOR BRA AUT                 FRA                                                                gegangen (vgl. Abb. 2 a–c).
                           MEX GRC DNK      AUS
                                                      NLD
                                            CHE IND JPN
                          SLV
                           ISR GTM GBR SWE                                                                                 Seit 1960 hat sich das reale
2,0          PAN ZAF CHL      DEU      URY NZL
                         VEN
                            COL                                                                                            Pro-Kopf-Einkommen          der
                PRY      ARG        GHA           CRI
                    PER ROM               JOR                                                                              Weltbevölkerung fast verdrei­
1,0          ECU
                             HND ZWE                                                                                       facht, von un­­  ter 4 000 Dol­
                BOL    PHL
0,0                                                                                                                        lar US-Dollar pro Kopf bis
       0,0            0,5           1,0            1,5           2,0            2,5             3,0         3,5            auf fast 12 000 US-Dollar pro
                                                                                            Bildungsleistungen             Kopf 2017. Der Anteil der Be­­
Anmerkung: Durchschnittliche jährliche Wachstumsrate des Bruttoinlandsprodukts pro Kopf in Prozent, 1960–                  völkerung in extremer Armut
2000. Bildungsleistungen: Leistungen in allen internationalen Mathematik- und Naturwissenschaftstests zwischen             ist über den gleichen Zeit­
1964 und 2003 in exponentiellen PISA-Punkten. Zusammenhang nach Herausrechnung weiterer Einflussfaktoren.
Quelle: Basierend auf Hanushek und Woessmann (2015).                                                     © ifo Institut
                                                                                                                           raum von 35% auf 10% gesun­
                                                                                                                           ken, während der Anteil der
                                                                                                                           globalen Mittelklasse von ca.
Abb. 2a                                                                                                                    15% auf fast 50% gestiegen
Weltweites Bruttoinlandsprodukt pro Kopf                                                                                   ist. Das sind wahrhaft ein­
1960‒2017                                                                                                                  drucksvolle Zahlen, und wei­
                                                                                                                           terer Fortschritt in Wohlstand
              Weltweites Bruttoinlandsprodukt ( 2010 in US -Dollar)
12 000                                                                                                                     und Inklusivität bahnt sich an.
                                                                                                                                Wenn man sich die
10 000                                                                                                                     PISA-Ergebnisse noch etwas
                                                                                                                           genauer anschaut, zeigen sich
 8 000
                                                                                                                           viele Herausforde­  r ungen für
                                                                                                                           Europa. Bei den mathemati­
 6 000
                                                                                                                           schen und naturwissenschaft­
 4 000                                                                                                                     lichen Kompetenzen sind eine
                                                                                                                           Reihe von asiatischen Län­
 2 000                                                                                                                     dern den Europäern weit vor­
                                                                                                                           aus (vgl. Abb. 3). Die meisten
                                                                                                                           europäischen Länder liegen
             1960   1965    1970    1975    1980    1985     1990       1995   2000     2005      2010    2015
                                                                                                                           um den OECD-Durchschnitt.
Quelle: World Bank national accounts data, and OECD National Accounts data files.                         © ifo Institut   Es gibt zudem wenig Bewe­
Abb. 2b                                                                                                                    gung nach oben, wenn man
Weltweite Rate der extremen Armut                                                                                          von Portugal absieht. 2015 lag
1981‒2015                                                                                                                  Deutschland etwa 15 Punkte
                                                                                                                           über dem Durchschnitt und
         Anteil der Menschen, die weniger als 1,90 US-Dollar pro Tag zur Verfügung haben (2011 PPPᵃ)
  45                                                                                                                       damit im europäischen obe­
  40                                                                                                                       ren Mittelfeld.
  35                                                                                                                            Nach dem PISA-Schock
  30                                                                                                                       hatten sich die Ergebnisse
  25
                                                                                                                           zwischen 2001 und 2006
  20
                                                                                                                           deutlich verbessert. Aber vor
                                                                                                                           allem seit 2012 stagnieren
  15
                                                                                                                           sie    oder     gehen     sogar
  10
                                                                                                                           zurück. 2015 lag Deutsch­
   5
                                                                                                                           land 30 Punkte hinter Japan
   0
       1975         1980     1985         1990      1995       2000        2005        2010        2015         2020
                                                                                                                           und 50 Punkte hinter Sin­
                                                                                                                           gapur. Letzteres entspricht
ᵃ PPP = Purchasing Power Parity.
Quelle: PovcalNet (online analysis tool), World Bank, Washington, DC,                                                      eineinhalb Schuljahren an
http//iresearch.worldbank.org/PovcalNet.                                                                  © ifo Institut   Leistungsrückstand.

                                                                                                            ifo Schnelldienst   15 / 2019   72. Jahrgang   8. August 2019   21
FORSCHUNGSERGEBNISSE

     Abb. 2c                                                                                                                     Da Wissenskapital in einer
     Die weltweite Mittelschicht wächst                                                                                     Gesellschaft aus der Summe
     1950‒2030
                                                                                                                            aller     Schülergenerationen
                 Weltweite Mittelschicht als                                             Weltweite Mittelschicht            besteht und sich nur langsam
                 Anteil der Weltbevölkerung                                              Weltbevölkerung
                                                                                                                            aufbaut, sind diese Ergebnisse
             % der Weltbevölkerung                                                Personenanzahl in Billionen               nicht ohne Brisanz. Wenn die
      100                                                                                                             10
                                                                                                                            bisherigen Trends in absehba­
       80                                                                                                             8     rer Zeit so weitergehen, dann
       60                                                                                                             6
                                                                                                                            wird Europa beim Wachs­
                                                                                                                            tum weiter zurückfallen und
       40                                                                                                             4     beim Wohlstand seinen Vor­
       20                                                                                                             2
                                                                                                                            sprung einbüßen. Was das für
                                                                                                                            die Zukunft von Gesellschaft,
        0                                                                                                             0     Arbeit und Einkommen heißt,
          1950 1955 1960 1965 1970 1975 1980 1985 1990 1995 2000 2005 2010 2015 2020 2025 2030
                                                                                                                            ist klar: Die meisten europäi­
     Quelle: Kharas, H. (2017), "The unprecedented expansion of the global middle class, an update",
     https://www.brookings.edu/wp-content/uploads/2017/02/global_20170228_global-middle-class.pdf.                          schen Länder werden nicht an
     Kharas, H. (2010), "The emerging middle class in developing countries",                                                der Weltspitze bleiben. Und
     https://www.oecd.org/dev/44457738.pdf.                                                                © ifo Institut
                                                                                                                            ob wir uns dann weiter den
                                                                                                                            größten Wohlfahrtsstaat der
            Deutschland zählt laut PISA zu den Ländern mit                                  Welt   leisten   können,      ist fraglich.
     einem hohen Anteil an Zuwanderern und verzeichnet                                            Es gibt weitere Herausforderungen für viele
     zudem seit einigen Jahren eine erneute, starke Zu­­ europäische Länder, die nicht nur das Niveau, son­
     wanderung mit Schwerpunkt aus den neuen EU-Mit­ dern auch die Leistungsspreizung betreffen. In vielen
     gliedsstaaten. Die daraus resultierende schnelle Ländern erreicht ein erheblicher Anteil der Jugend­
     Zunahme der Hete­rogenität der Schülerschaft ist lichen nicht einmal das Mindestkomptenzniveau
     eine Herausforderung. Aber die Veränderungen (PISA-Kompetenzniveau 2), das für die Teilhabe an
     im sozio­ökonomischem Umfeld einschließlich des einer modernen Volkswirtschaft nötig ist (vgl. Abb. 4).
     Anteils von Schülern mit Migrationshintergrund In Deutschland liegt der Anteil der Schüler unter dem
     erklären nicht den Mangel an Fortschritt.                                              PISA-Kompetenzniveau 2 bei ca. 15%. Das ist besser
            Was den Abstand zur Spitzengruppe betrifft, als der OECD-Durchschnitt von 20%. Aber der Wert
     stimmt es, dass sich Japan von Deutschland durch ein liegt über dem Niveau der europäischen Spitzenlän­
     sehr viel homogeneres sozioökonomisches Umfeld der Finnland und Estland und deutlich über dem von
     auszeichnet. In Singapur dagegen liegt der Anteil von Japan oder Teilen Chinas (ca. 5%). Der US-Anteil ist
     Schülern aus bildungs­fernen Schichten oder Schü­ ähnlich wie der deutsche. Einige andere europäische
     lern mit Migrationshintergrund, die zuhause nicht Länder haben sogar deutlich höhere Raten von sehr
     die Unterrichtssprache sprechen, deutlich über dem schwachen Schülern. Aber das sollte kein Trost sein
     entsprechenden Anteil in Deutschland. In einigen und vergrößert nur die Herausforderung für Europa.
     leistungsstarken asiatischen Staaten, wie z.B. Japan                                         Wie viel uns die hohe Zahl leistungsschwacher
     und Korea, leiden allerdings das Wohlbefinden der Schüler kostet, kann man ausrechnen (vgl. Hanushek
     Schüler, das in Deutschland im guten Mittelfeld liegt. und Woessmann 2015). Selbst in Singapur, dem Land
                                                                                                                            mit den höchsten PISA-Leis­
     Abb. 3                                                                                                                 tungen, wäre der mögliche
     Pisa­Ergebnisse                                                                                                        Wohlstandsgewinn noch 86%
     Deutschland erzielt gute Testergebnisse, aber asiatische Länder sind starke Konkurrenten (PISA 15-                     des BIP über einen Zeitraum
     jährige SchülerInnen in Naturwissenschaften)
                                                                                                                            von 80 Jahren, wenn auch die
                                                                                                                            letzten 5% leistungsschwa­
                  Deutschland             Japan           Portugal           OECD-Durchschnitt-34           Singapur
                                                                                                                            cher Schüler auf das Mindest­
            Punkte                                                                                                          niveau kämen. In Deutsch­
     570                                                                                                                    land, Großbritannien und
     550                                                                                                                    den USA sind die potenziel­
                                                                                                                            len Gewinne erheblich höher.
     530
                                                                                                                            In Mexiko und der Türkei wür­
     510                                                                                                                    den 4 bis 5 Jahreseinkommen
     490                                                                                                                    zusätzlich erwirtschaftet.
                                                                                                                                 Aber man kann den
     470
                                                                                                                            Gedanken noch weiterspin­
     450                                                                                                                    nen: Weil alle Schüler ein hö­­
                    PISA 2006                  PISA 2009                  PISA 2012                  PISA 2015              heres Bildungsniveau errei­
     Quelle: OECD, PISA Database.                                                                          © ifo Institut   chen, würde das Angebot an

22   ifo Schnelldienst   15 / 2019   72. Jahrgang   8. August 2019
FORSCHUNGSERGEBNISSE

Abb. 4
Anteil der Schüler ohne Mindestkompetenzniveau
                                                                                                           mehr Stabilität und Vertrauen
Das Kompetenzniveau ist entscheidend für die Zukunftschancen (Pisa, Naturwissenschaften,
15-jährige SchülerInnen, 2015)                                                                             entwickeln.
                                                                                                                Die positiven Beziehun­
    Unter Level 1b           Level 1b   Level 1a   Level 2   Level 3   Level 4   Level 5    Level 6
                                                                                                           gen zwischen Bildung und
                     Singapur 4                                                                            wirtschaftlichem und gesell­
                     Finnland 3
                         Japan 5                                                                           schaftlichem Wohlbefinden
                        Estland 7
                          Irland 4
                                                                                                           verdeutlichen einige weitere
              Macao (China) 12                                                                             Zahlen. Bürger mit hohem Bil­
          Hongkong (China) 11
                 Deutschland 4                                                                             dungsniveau2 sind mit wesent­
                   Slowenien 7                                                                             lich höherer Wahrscheinlich­
                          Korea 8
                       Schweiz 4                                                                           keit in Beschäftigung und gut
                     Russland 5
                 Niederlande 5
                                                                                                           bezahlt. Das ist nicht über­
          CABA (Argentinien) 0                                                                             raschend. Aber Bildungs­
                          Polen 9
                  Dänemark 11                                                                              bürger sind auch bei besse­
                   Australien 9                                                                            rer Gesundheit, gesellschaft­
                      Taiwan 15
                        Belgien 7                                                                          lich aktiver und effektiver
                Neuseeland 10
                     Kanada 16
                                                                                                           und haben mehr Vertrauen in
                      Spanien 9                                                                            Staat und Gesellschaft (vgl.
                   Norwegen 9
      Tschechische Republik 6                                                                              Abb. 5).
                    Lettland 11                                                                                 Damit zeigen sich die Her­
                   Schweden 6
                    Portugal 12                                                                            ausforderungen für unsere
                   Frankreich 9
        OECD-Durchschnitt 11
                                                                                                           europäischen Gesellschaften,
                         Island 7                                                                          um international nicht den
     Vereinigtes Königreich 16
                      Kroatien 9
                                                                                                           Anschluss an die Spitze zu
                      Litauen 10                                                                           verlieren: Ein Anheben des
                           USA 16
                      Ungarn 10                                                                            Gesamtbildungsniveaus, die
                  Österreich 17
                           Malta 2
                                                                                                           Reduzierung des Anteils von
                 Luxemburg 12                                                                              Schulversagern und eine stär­
                           Israel 6
      Slowakische Repubik 11
                                                                                                           kere Leistungsspitze. Was
                        Italien 20                                                                         sollte man tun (oder nicht
                Griechenland 9
                   Rumänien 7                                                                              tun)?
                   Moldavien 7
             B-S-J-G (China) 36
Vereinigte Arabische Emirate 9                                                                             Prioritäten für Bildungs-
                         Chile 20
                   Bulgarien 19
                                                                                                           erfolg
                    Albanien 16
                          Qatar 7
                    Vietnam 51                                                                                      Überall auf der Welt sind die
                Montenegro 10                                                                                       Lehrkräfte bemüht, durch
                  Jordanien 14
                    Uruguay 28                                                                                      ihren Unterricht die milieube­
      Trinidad und Tobago 24
                       Türkei 30
                                                                                                                    dingte Benachteiligung eini­
                   Georgien 21                                                                                      ger ihrer Schülerinnen und
                 Kolumbien 25
                    Thailand 29                                                                                     Schüler auszugleichen. Den­
                        FYROM 5                                                                                     noch sind manche überzeugt,
                  Costa Rica 37
                      Mexiko 38                                                                                     dass Armut Schicksal ist. Die
                     Tunesien 7
                          Peru 26
                                                                                                                    PISA-Ergebnisse zeigen aber,
                    Brasilien 29                                                                                    dass dies ein Irrglaube ist.
                 Indonesien 32
                     Libanon 34                                                                                     Es ist in keiner Weise vorbe­
                     Algerien 21                                                                                    stimmt, wie gut oder schlecht
                      Kosovo 29
  Dominikanische Republik 32                                                                                        Kinder aus unterschiedli­
                             -100% -80% -60% -40% -20% 0% 20% 40% 60% 80% 100%                                      chen sozialen Gruppen in
Anmerkung: Die Länge jedes Säulenabschnitts ist proportional zu dem Prozentsatz der 15-jährigen SchülerInnen
                                                                                                                    der Schule oder im Leben
der PISA-Stichprobe. Länder und Volkswirtschaften sind absteigend nach dem Anteil von SchülerInnen mit einem        abschneiden.
Testergebnis auf oder über Level 2 geordnet.
                                                                                                                        Die Geschichte hat näm­
Quelle: OECD, PISA 2015 Database.                                                                    © ifo Institut
                                                                                                                    lich zwei Seiten. Einerseits
leistungsschwacher, ungelernter Arbeit sinken und                                                                   ist    in   allen    PISA-Teil­
die Löhne steigen. Die Einkommens­verteilung würde nehmerländern ein Zu­­                                               sammenhang zwischen
sich verbessern. Und wenn mit höherer Bildung dem sozialen Hintergrund der Schülerinnen und
und mehr Gleichheit auch die Kriminalität ab und Schüler sowie der Schulen und den Lernergeb-
die gesellschaftliche Parti­zipation zunimmt, dann 2 Niveau 4–5 im PIAAC Test für Bildungskompetenz der Erwachse­
könnte sich daraus eine positive Dynamik in Richtung nen.

                                                                                            ifo Schnelldienst   15 / 2019   72. Jahrgang   8. August 2019   23
FORSCHUNGSERGEBNISSE

     Abb. 5                                                                                                              und erwarten von allen Schü­
     Gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Erfolg der Bildungsbürger                                                   lerinnen und Schülern, dass
     Wahrscheinlichkeit von positiven sozialen und wirtschaftlichen Resultaten bei Erwachsenen mit
                                                                                                                         sie diesen gerecht werden. Sie
     hohen Bildungskompetenzen (internationaler Durchschnitt)
                                                                                                                         nutzen Unterrichtsmethoden,
           Chancenverhältnis
                                                                                                                         die es Schülerinnen und Schü­
     3,0                                                                                                                 lern unabhängig von ihrem
     2,8
     2,6
                                                                                                                         sozioökonomischen Hinter­
     2,4                                                                                                                 grund ermöglichen, auf die
     2,2                                                                                                                 für sie geeignetste und effek­
     2,0
     1,8                                                                                                                 tivste Art und Weise zu lernen.
     1,6                                                                                                                      Länder müssen in Bil­
     1,4                                                                                                                 dung investieren, wenn ihre
     1,2
     1,0                                                                                                                 Bürgerinnen und Bürger ein
                  Hohes        Hohe politische Teilnahme an Hohes Vertrauen Bestehendes                Gute bis          produktives Leben führen
               Einkommen           Teilnahme        ehrenamtlichen                 Beschäftigungs-    exzellente
                                                      Aktivitäten                     verhältnis     Gesundheit          sollen. Höhere Bildungsin­
     Anmerkung: Chancenverhältnisse sind um die Faktoren Alter, Bildungsabschluss und Migrationshintergrund              vestitionen führen aber nicht
     bereinigt. Hohes Einkommen ist definiert als höhere Stundenlöhne als der Median der Stundenlöhne des Landes.        automatisch zu besseren
     Quelle: Survey of Adult Skills (PIAAC) (2012).                                                       © ifo Institut
                                                                                                                         Bildungsergebnissen.
                                                                                                                              Der PISA-Studie zufolge
     nissen festzustellen – was für Lehrpersonal und                                       besteht     in  den     Ländern,   die aktuell je Schüler im
     Schulen eine große Herausforderung darstellt Alter zwischen sechs und 15 Jahren weniger als
     (vgl. OECD 2016). Andererseits ist dieser Zusam­ 50 000 US-Doller investieren, zwischen den Aus­
     menhang in den einzelnen Bildungssystemen gaben je Schüler und der Qualität der Lernerträge
     sehr unterschiedlich stark ausgeprägt. Dies ist ein ein starker Zusammenhang. In Ländern hingegen,
     Hinweis darauf, dass schlechte Noten sozial be­                                ­ deren Ausgaben diesen Betrag übersteigen – was auf
     nachteiligter Schülerinnen und Schüler nicht un­                               ­ die meisten OECD-Länder zutrifft –, besteht zwischen
     vermeidlich sind. In der PISA-Erhebung 2012 er- den Ausgaben je Schüler und den durchschnittlichen
     zielten die am stärksten benachteiligten 10% der Schülerleistungen kein Zusammenhang.
     15-Jährigen in Shanghai bessere Mathematik-                                                 15-jährige Schülerinnen und Schüler in Un­
     ergebnisse als die am stärksten begünstigten 10% garn, wo je Schüler zwischen sechs und 15 Jahren
     der Schülerinnen und Schüler in den Vereinigten 47 000 US-Dollar aufgewendet werden, schneiden
     Staaten und immer noch bessere Leistungen als genauso gut ab wie Schülerinnen und Schüler in
     durchschnittliche Schüler in Deutschland (vgl. OECD Luxemburg, wo mehr als 187 000 US-Dollar je Schü­
     2013). Natürlich muss bei derartigen Vergleichen ler investiert werden, und zwar selbst nach Berei­
     immer auch der Kontext berücksichtigt werden. In nigung von Unterschieden bei den Kaufkraftparitä­
     einigen asiatischen Staaten leisten auch die Fami­ ten. Anders ausgedrückt, erzielt Luxemburg trotz der
     lien einen wichtigen Beitrag zu den Bildungsergeb­ viermal höheren Ausgaben keine besseren Bildungs­
     nissen ihrer Kinder.                                                                  ergebnisse als Ungarn.
            Wenn also die am stärksten benachteiligten                                           Für den Bildungserfolg ist also nicht allein die
     Schülerinnen und Schüler in Estland, Shanghai und Höhe der Ausgaben maßgeblich, sondern ebenso,
     Vietnam genauso gute Leistungen erzielen wie der wie die bereitgestellten Mittel ausgegeben werden.
     Durchschnitt der Schüler in den westlichen Ländern,                                         Dieses Ergebnis bestätigt sich aus makroöko­
     warum sollten dann die am stärksten benachteilig­ nomischer Perspektive. Japan und Korea geben
     ten Kinder in diesen anderen Ländern nicht genauso nur etwas 3,5% des BIP für öffentliche Bildung
     gut abschneiden wie ihre Altersgenossen in Estland, aus. Damit erreichen sie ähnlich hohe Werte wie
     Shanghai und Vietnam?                                                                 Kanada mit 5% oder Finnland mit 6,5% des BIP. Die
            Kinder aus ähnlichen so­                     zialen Verhältnissen Bildungsaus­gaben sind also in diesen ostasiatischen
     erzielen manchmal sehr unterschiedliche Ergebnisse, Ländern wesentlich effizienter. Deutschland erreicht
     je nachdem welche Schule sie besuchen oder in wel­ ebenfalls gute PISA-Werte mit einem eher unter­
     chem Land sie leben. Länder, in denen benachteiligte durchschnittlichen Ausgabenniveau, ist also recht
     Schülerinnen und Schüler in der Schule Erfolg haben, effizient.
     sind in der Lage, den Einfluss sozialer Ungleichheiten                                      Der Effizienzaspekt wird oft vergessen, wenn
     abzuschwächen. Einigen dieser Länder gelingt es, die wir mehr Ausgaben für Bildung fordern. Aber mehr
     begabtesten Lehrkräfte für die schwierigsten Klassen Geld sollte auch etwas bewirken. Leider haben viele
     und die erfahrensten und fä­­higsten Schulleiterinnen Jahre des Ausgabenanstiegs kaum Auswirkungen
     und Schulleiter für die am stärksten benachteilig­ auf die Leistung gehabt, und das gilt für viele west­
     ten Schulen zu gewinnen. Außerdem stellen sie ihren liche Länder. Ein Großteil der zusätzlichen Investi-
     Pädagogen die nötige Unterstützung zur Verfügung, tionen ging in kleinere Klassen. Sich für kleine Klas­
     um erfolgreich zu sein. Sie setzen hohe Standards sen einzu­s etzen, kann politisch populär sein. Aller­

24   ifo Schnelldienst   15 / 2019   72. Jahrgang   8. August 2019
FORSCHUNGSERGEBNISSE

Abb. 6
Bildungsausgaben pro Schüler und PISA
Ausgaben pro SchülerIn zwischen sechs und 15 Jahren und Kompetenzniveau in Naturwissenschaften

                           Länder und Volkswirtschaften, deren kumulative Ausgaben pro SchülerIn weniger als 50 000 US-Dollar betrugen
                           Länder und Volkswirtschaften, deren kumulative Gesamtausgaben pro SchülerIn mehr als 50 000 US-Dollar betrugen

   600       Erbrachte Leistung in Naturwissenschaften (Punkteanzahl)

                                                                   Australien
                                                                                                                                Singapur
                                                              Deutschland
   550                                                                                      Japan
                                              Taiwan
                                                                                                    Finnland
                                                                                         Kanada                 Niederlande
                                                              Estland           Korea        Slowenien        Vereinigtes Königreich                                           R² = 0,01
                                             Russland                  Neuseeland                          Dänemark             Belgien
                                                              Polen      Portugal                 Irland
   500                                                                                                                                   Norwegen                Schweiz
                                             Litauen                      Spanien        Frankreich Schweden USA                    Österreich
                                                            Lettland
                                            Ungarn                                                                                                                         Luxemburg
                                                       Kroatien                         Italien
                                                                       Israel                               Island
                                Bulgarien                 Slowak. Republik Tschech. Republik                      Malta
   450                                         Chile
                           Uruguay
                       Thailand     Türkei
                   Kolumbien                         Costa Rica
                                Mexiko
             Georgien          Montenegro
   400              Peru               Brasilien

              R² = 0,41
   350
                      Dominikanische Republik

   300
         0                 20               40               60                   80                 100                  120              140          160            180                 200
                                                                  Durchschnittsausgaben pro SchülerIn zwischen sechs und 15 Jahren (in 1 000 US-Dollar, PPP)

Anmerkung: Nur Länder mit verfügbaren Daten sind dargestellt. Die dünne Linie stellt eine signifikante Korrelation (P < 0,10) dar. Die dicke Linie stellt eine nicht-
signifikante Korrelation (P > 0,10) dar.
Quelle: OECD, PISA 2015 Database.                                                                                                                                                 © ifo Institut

dings gibt es keine internationalen Vergleichsda­                                                      Lehrkräfte, Eltern und Bildungspolitiker bevorzu­
ten, die belegen würden, dass eine Reduzierung der                                                     gen kleine Klassen, da sie in ihren Augen der Schlüs­
Klassengröße der beste Weg ist, um bessere Ergeb­                                                      sel zu einer besseren, stärker auf die Bedürfnisse
nisse zu er­­zielen. Kleinere Klassen können vielmehr                                                  des Einzelnen zugeschnittenen Bildung sind. Unter
bedeuten, dass hierfür Mittel ausgegeben werden,                                                       dem Druck der öffentlichen Meinung sowie demo­
die dann an anderer Stelle fehlen – z.B. für höhere                                                    grafischer Veränderungen wurden die Klassen-
Gehälter, mit denen bessere Lehrkräfte bezahlt wer­                                                    größen im Sekundarbereich I zwischen 2005 und
den könnten.                                                                                           2014 im OECD-Durchschnitt um 6% verringert (vgl.
     Es ist in der Tat so, dass die in PISA am besten                                                  OECD 2017).
abschneidenden Bildungssysteme der Qualität der                                                            Die Lehrergehälter sind im Sekundarbereich I
Lehrkräfte in der Regel Vorrang vor der Klassen­                                                       in etwa demselben Zeitraum – zwischen 2005 und
größe geben. Wenn sie zwischen kleineren Klassen                                                       2015 – im OECD-Durchschnitt hingegen real nur
und Investitionen in ihr Lehrpersonal wählen müs­                                                      um 6% gestiegen. In einem Drittel der OECD-Län-
sen, entscheiden sie sich für letztere.                                                                der sind sie sogar gesunken. Lehrkräfte im Sekund­
     Es mag durchaus sein, dass Klassenverkleine­                                                      arbereich I verdienen heute nur 88% dessen, was
rungen Möglichkeiten für neue und effizientere                                                         andere Vollzeitkräfte mit Hochschulabschluss bezie­
Unterrichtsmethoden eröffnen und dass kleinere                                                         hen.3 Solange die Lehrergehälter nicht wettbewerbs­
Klassen bei sonst gleichen Bedingungen zu besse­                                                       fähig sind, wählt so mancher potenziell gute Lehrer
ren Ergebnissen führen. Diese Betrachtungsweise                                                        einen anderen Beruf. Oder die Lehrkräfte investie­
erweist sich aber häufig als falsch, denn schließlich                                                  ren nicht in ihre Weiterbildung. Tun sie es dennoch,
kann jeder Euro oder Dollar nur einmal ausgegeben                                                      wechseln sie anschließend mit recht großer Wahr­
werden. Klassen verkleinern bedeutet, dass weni­                                                       scheinlichkeit in andere Berufe, in denen ihr Fach­
ger Geld zur Verfügung steht, um die Leh­rergehälter
zu erhöhen, um Lehrkräften die Möglichkeit zu bie­
                                                                                                       3
                                                                                                          Die Lehrergehälter im Verhältnis zu den Gehältern ganzjährig
ten, auch anderes zu machen als nur zu unterrichten,                                                   Vollzeitbeschäftigter mit tertiärem Bildungsabschluss im Alter von
oder um die Lernzeit der Schüler zu erhöhen.                                                           25–64 Jahren werden anhand der durchschnittlichen Jahresgehälter
                                                                                                       (einschließlich Zulagen und Gratifikationen) von Lehrkräften zwi­
     Trotz fehlender Belege für die Vorteile kleinerer                                                 schen 25 und 64 Jahren berechnet. Wegen Daten und Methoden vgl.
Klassen bleiben sie in vielen Ländern eine Priorität.                                                  OECD (2017).

                                                                                                                                ifo Schnelldienst   15 / 2019   72. Jahrgang    8. August 2019     25
FORSCHUNGSERGEBNISSE

     Abb. 7
     Lernzeit und Lernerfolg
     Lernzeit und Leistungsniveau in Naturwissenschaften (PISA) hängen nicht miteinander zusammen.

         Lernzeit nach der Schule (Stunden)              Geplante Lernzeit in der Schule (Stunden)   Punkteanzahl in Naturwissenschaften pro Lernzeitstunde

            Stunden                                                                                                     Punkteanzahl pro Lernzeitstunde
      70                                                                                                                                                     16
                                                                                                                                                             15
      60
                                                                                                                                                             14
      50                                                                                                                                                     13
      40                                                                                                                                                     12
                                                                                                                                                             11
      30                                                                                                                                                     10
      20                                                                                                                                                     9
                                                                                                                                                             8
      10
                                                                                                                                                             7
        0                                                                                                                                                    6

                           Dänemark
                   Tschech. Republik

                              Lettland

                  OECD-Durchschnitt

                             Brasilien

                         Montenegro
                          Neuseeland

                               Kanada

                           Costa Rica
                           Schweden

                                 Korea

                                   Chile
                           Frankreich

                    Slowak. Republik

                             Kroatien

                                   Peru
                           Österreich
                               Belgien

                                  Israel

                                Italien
                              Schweiz

                            Norwegen

                               Taiwan

                             Russland
                               Estland

            Dominikanische Republik
                             Tunesien
                             Finnland

              Vereinigtes Königreich

                            Bulgarien

                      B-S-J-G (China)
                                Japan

                             Thailand
                            Australien

                           Slowenien

                                 Irland

                                    USA

                        Griechenland
                         Deutschland

                         Niederlande

                                 Island
                          Luxemburg

             Vereinigte Arab. Emirate
                       Macau (China)

                              Spanien

                           Kolumbien

                               Mexiko
                             Portugal
                             Uruguay

                                  Polen
                               Litauen

                               Ungarn
                   Hongkong (China)

                             Singapur

                                Türkei

                                  Katar
     Quelle: OECD, PISA 2015 Database, Tabellen I.2.3, I.4.3, I.5.3, II.6.32 und II.6.41.                                                          © ifo Institut

     wissen besser genutzt, stärker gewürdigt und höher                                     und Schüler hohe Standards erreichen können. Diese
     bezahlt wird.                                                                          Überzeugungen machen sich häufig im Verhalten der
          Auch die Summe der Zeit, die Schüler in Unter­                                    Schüler und Lehrer bemerkbar. Es ist diesen Län-
     richt und Hausaufgaben investieren, ist kein guter                                     dern gelungen, aus Systemen, die Talente sortie­
     Indikator für hohe Bildungsleistungen. Finnische                                       ren, Systeme zu machen, die Talente zur Entfaltung
     Schüler mit im Schnitt Topleistungen verbringen die                                    bringen.
     geringste Zeit mit Schulbildung. Deutschland hat                                            In vielen Bildungssystemen werden Schüle-
     auch eine hohe Inputeffizienz (vgl. Abb. 7). In man­                                   rinnen und Schüler mit unterschiedlichen Bedürf­
     chen Ländern dagegen fallen schlechte Indikatoren                                      nissen in einheitlicher Weise unterrichtet. Erst­
     und hoher Zeitaufwand zusammen.                                                        klassige Schulsysteme begegnen den vielfältigen
          Bildungspolitiker können sich internationale                                      Schüler­b edürfnissen in der Regel mit differenzierten
     Vergleiche zunutze machen. Sie können verschie­                                        pädagogischen Ansätzen – ohne Abstriche an den
     dene Formen des Benchmarkings anwenden, indem                                          Standards zu machen. Dort ist man sich bewusst,
     sie beispielsweise Unterschiede analysieren, die sie                                   dass gewöhnliche Schülerinnen und Schüler außer­
     in Bezug auf die Bildungsqualität, -gerechtigkeit und                                  gewöhnliche Talente haben können, und der Un­­
     -effizienz gegenüber anderen Ländern beobachten.                                       terricht wird nach individuellen Bedürfnissen ge­­
     Ferner können sie untersuchen, inwieweit die Unter­                                    staltet, so dass alle Schülerinnen und Schüler hohe
     schiede mit bestimmten Merkmalen der Bildungs­                                         Standards erfüllen können. Darüber hinaus rich­
     systeme dieser Länder zusammenhängen.                                                  ten die Lehrkräfte in diesen Systemen ihre Anstren­
          Eine erste Erkenntnis ist, dass die Politikverant­                                gungen nicht nur auf den schulischen Erfolg ihrer
     wortlichen in leistungsstarken Bildungssystemen                                        Schülerinnen und Schüler, sondern auch auf ihr
     ihre Bürger davon überzeugt haben, dass es sich                                        Wohlbefinden.
     eher lohnt, mit Bildung in die Zukunft zu investieren,                                      Nirgendwo ist ein Schulsystem besser als die
     als Geld für unmittelbare Leistungen und Konsum                                        Lehrkräfte, die es beschäftigt. Ausgezeichnete Schul­
     auszugeben, und dass es besser ist, in Bezug auf die                                   systeme wählen und bilden ihre Lehrkräfte sorgfäl­
     Qualität der Arbeit konkurrenzfähig zu sein als hin­                                   tig aus. Sie helfen Lehrkräften, die Schwierigkeiten
     sichtlich der Arbeitskosten. Deutschland hat in den                                    haben, ihre Leistung zu verbessern und gestalten,
     letzten Jahren zu Recht die Förderung von Bildung,                                     wie schon gesagt, die Lehrergehälter so, dass sie den
     Ausbildung und Fortbildung betont, um weiterhin an                                     Berufsstandards entsprechen. Sie bieten ein Umfeld,
     der Spitze zu bleiben. Aber es wurde auch viel fiskali­                                in dem die Lehrerinnen und Lehrer gemeinsam an
     scher Spielraum für Konsum verbraucht, der uns viel­                                   guten Praktiken arbeiten, und ermutigen Lehrkräfte,
     leicht bald fehlen wird.                                                               sich beruflich weiterzuentwickeln.
          Dabei ist der hohe Stellenwert, den die Bildung                                        Besonders leistungsstarke Schulsysteme legen
     genießt, nur eine Seite der Medaille. Die andere                                       ehrgeizige Ziele fest, sie haben klare Vorstellun­
     Seite ist die Überzeugung, dass jeder Schüler ler­                                     gen davon, wozu die Schülerinnen und Schüler in
     nen kann. In so unterschiedlichen Ländern wie Est­                                     der Lage sein sollten, und ermöglichen es den Lehr­
     land, Kanada, Finnland und Japan sind Eltern und                                       kräften herauszufinden, welches Rüstzeug sie brau­
     Lehrkräfte davon überzeugt, dass alle Schülerinnen                                     chen, um ihren Unterricht zu gestalten. Sie sind von

26   ifo Schnelldienst     15 / 2019   72. Jahrgang      8. August 2019
FORSCHUNGSERGEBNISSE

Abb. 8a
Leistungsschwäche und frühkindliche Bildung
Verteilung von 15-jährigen SchülerInnen mit niedrigem Kompetenzniveau im Verhältnis zu verbrachten Jahren in frühkindlicher Bildung (PISA
2015)

                                        0 bis 1 Jahr                 1 bis 2 Jahre                   2 bis 3 Jahre               3 Jahre oder älter
        %
 100
  90
  80
  70
  60
  50
  40
  30
  20
  10
   0

                        Bulgarien
                          Lettland

                         Finnland

                         Singapur

                            Italien

                             Island

                      Luxemburg

               Tschech. Republik

                              Katar

                         Thailand

                               Peru
               Hongkong (China)

                          Uruguay
                            Japan

                           Zypern
                           Taiwan

                    Griechenland

                Slowak. Republik
                         Russland

          Vereinigtes Königreich

                            Türkei

                     Montenegro

                           Belgien

                           Mexiko
                          Schweiz
                       Dänemark

                       Schweden
                           Kanada

                     Deutschland

                         Brasilien

                         Tunesien
                               Chile
                        Norwegen

                       Costa Rica
                           Estland
                             Korea

                         Kroatien

                          Spanien

                       Österreich

                       Kolumbien
         Vereinigte Arab. Emirate
                        Australien

                  B-S-J-G (China)

              OECD-Durchschnitt

                              Israel
                         Portugal

        Dominikanische Republik
                       Frankreich

                           Ungarn
                             Irland
                       Slowenien

                                USA

                           Litauen

                      Neuseeland

                  Macao (China)

Anmerkung: Länder und Volkswirtschaften sind aufsteigend nach dem Anteil der SchülerInnen mit niedrigem Kompetenzniveau geordnet, die an keiner oder
weniger als einem Jahr an frühkindlicher Bildung (ISCED 0) teilgenommen haben.
Quelle: OECD (2017a), PISA online education database, OECD, Paris, http://www.oecd.org/pisa/data/.                                                       © ifo Institut

adminis­t rativer Kontrolle und Rechenschaftslegung eine qualitativ hochwertige Bildung, so dass jeder
abgekommen und auf professionelle Formen der Schüler einen exzellenten Unterricht genießt. Hier­
Arbeitsorganisation übergegangen.                                    für gewinnen diese Länder die besten Schulleiter für
     Sie ermutigen ihre Lehrkräfte dazu, innovativ zu die schwierigsten Schulen und die talentiertesten
sein, ihre eigenen Leistungen und die ihrer Kollegen Lehrkräfte für die schwierigsten Klassen.
zu steigern und an beruflichen Weiterbildungsmaß­                          Besonders wichtig für die Verhinderung
nahmen teilzunehmen, die ihre Unterrichtspraxis von Schulversagen oder Schulabbrechern erscheint
verbessern. In besonders leistungsstarken Schulsys­ die frühkindliche Bildung. Der Anteil an Kin-
temen geht es weniger darum, den Blick innerhalb dern, die bei PISA nicht das Mindestniveau er-
der Verwaltung des Schulsystems nach oben zu rich­ reichen, ist wesentlich geringer, wenn Kinder
ten. Vielmehr geht es darum, den Blick nach außen zu den Kindergarten besucht haben (vgl. Abb. 8a).
richten, auf die Kollegen und Schulen nebenan, um Für den OECD-Durchschnitt ist die Wahrschein-
eine Kultur der Zusammenarbeit und starke Innova­ lichkeit, ungenügende PISA-Werte mit drei Jah­
tionsnetzwerke zu schaffen.                                          ren Kindergarten zu erreichen, weniger als 10%.
     Mehr Autonomie für Schulen und Lehrer be­deu­ Bei weniger als einem Jahr liegt er jedoch bei 20%,
tet höhere Werte in den Naturwissenschaften. Das und in vielen Ländern ist der Unterschied noch
gilt aber eher in Industrieländern als in armen Län­ viel größer.
dern, und nur dann, wenn die
                                  Abb. 8b
Anreize stimmen. Account­
                                  Frühkindliche Bildung und Bildungsleistungen in Naturwissenschaften
ability, also Rechenschafts­      Eintrittsalter in frühkindliche Bildung und Kompetenzniveau in Naturwissenschaften (PISA)
pflicht gegenüber Schulträ­       nach sozioökonomischem Status
gern, sowie Autonomie über                                                              Niedriger sozioökonomischer Status
Ressourcenverwendung, den                                                               Niedriger bis mittlerer sozioökonomischer Status
Lehrplan, Disziplin und Leis­            Leistungsniveau in                             Mittlerer bis hoher sozioökonomischer Status
tungsbewertung        scheinen           Naturwissenschaften                            Hoher sozioökonomischer Status
                                  580
besonders wichtig. Auch zent­
rale Standards und Leistungs­     530
überprüfungen sind tenden­
ziell mit deutlich besseren       480
PISA-Ergebnissen verknüpft
(vgl. Hanushek und Woess­         430

mann 2013).
                                  380
     Die am besten abschnei­
                                           1 Jahr oder         2 Jahre          3 Jahre          4 Jahre            5 Jahre          6 Jahre
denden Schulsysteme bie­                      jünger
                                                                                                         Eintrittsalter in frühkindliche Bildung
ten allen Schülerinnen und
Schülern im gesamten System       Quelle: OECD (2017a), PISA online education database, OECD, Paris, http://www.oecd.org/pisa/data/.    © ifo Institut

                                                                                                         ifo Schnelldienst   15 / 2019   72. Jahrgang   8. August 2019    27
FORSCHUNGSERGEBNISSE

          Allerdings scheint frühkindliche Bildung nicht                         dem technischen Fortschritt hervorgehen wird, auch
     unbedingt die sozial Schwachen überproportional                             wenn es historisch betrachtet bislang stets der Fall
     zu begünstigen. Eher steigen die Leistungen aller                           war. Die Kinder, die mit einem großartigen Smart­
     Gruppen von einem unterschiedlichen Niveau um                               phone, aber schlechter Bildung aufwachsen, werden
     einen ähnlichen Wert an, nach dem Motto »early                              sich beispiellosen Herausforderungen gegenüber­
     childhood education lifts all boats« (vgl. Abb. 8b). Für                    sehen. Uns Gedanken über die Bildung zu machen,
     die Gruppe von Kindern mit einem niedrigen Sozial­                          die diese Kinder benötigen, ist das Mindeste, was wir
     status bedeuten drei Jahre Kindergarten ca. 60 PISA-                        nun tun können.
     Punkte mehr. Das ist enorm viel, aber der Anstieg ist                            Vor der industriellen Revolution spielten für die
     »nur« von 390 auf 450 im Schnitt. Für die Gruppe mit                        überwiegende Mehrheit der Menschen weder Bil­
     hohem Sozialstatus ist der Anstieg noch ein bisschen                        dung noch Technik eine große Rolle. Als in jener Zeit
     größer, von knapp 480 auf 550. Dies entspricht der                          jedoch der technische Fortschritt der Bildung plötz­
     PISA-Spitzengruppe auf Länderebene.                                         lich davongaloppierte, blieben die Menschen in gro­
          Nicht zuletzt ist es in allen leistungsstarken Sys­                    ßer Zahl zurück. Unermessliches soziales Leid war
     temen in der Regel so, dass Bildungspolitik und Bil­                        die Folge (vgl. Goldin und Katz 2007). Es dauerte ein
     dungspraxis im gesamten Schulsystem aufeinander                             Jahr­hundert, bis die staatliche Politik mit schrittwei­
     abgestimmt sind. Es wird gewährleistet, dass die                            sen Maßnahmen reagiert hatte, um jedem Kind den
     Maßnahmen über längere Zeiträume konsistent blei­                           Zugang zu schulischer Bildung zu ermöglichen. Dieses
     ben und konsequent umgesetzt werden.                                        Ziel ist heute für einen Großteil der Welt zum Greifen
                                                                                 nahe. Inzwischen hat sich die Welt jedoch verändert,
     DIGITALER FORTSCHRITT IN ALTERNDEN                                          und weder der Zugang zu schulischer Bildung noch
     GESELLSCHAFTEN: INNOVATIV UND ANPAS-                                        ein Schulabschluss sind Erfolgsgaranten. Im Digital­
     SUNGSFÄHIG BLEIBEN!                                                         zeitalter läuft der technische Fortschritt den Kompe­
                                                                                 tenzen der Menschen erneut davon.
     Bildung und Digitalisierung: Chancen und
     Herausforderungen                                                           Prioritäten für Digitalisierung und Bildung

     Seit dem Beginn der industriellen Revolution hat Wie meistern wir die Digitalisierung, und
     technischer Fortschritt unsere Gesellschaft und welche Rolle spielen dabei Bildung, Ausbildung und
     Arbeitswelt ständig verändert. Ob dies heute schnel­ Fortbildung? Deshalb zunächst die Frage: Was be-
     ler geschieht als früher, ist unklar, denn wir unterlie­ deutet die Digitalisierung für die Nachfrage nach
     gen alle dem Trugschluss, dass die Zeit schneller ver­ Arbeit und Kompetenzen? Es wird erwartet, dass
     geht, wenn man älter wird. Das Produktivitätswachs­ Computer in naher Zukunft vieles besser können als
     tum – Ausdruck des technischen Fortschritts in der Menschen mit mittlerem Qualifikationsniveau. Nur
     Wirtschaft – ist in den letzten Jahrzehnten eher Tätigkeiten, die hohe nicht algorithmisierbare Kom­
     zurückgegangen. Daran hat auch die Digitalisierung, petenzen erfordern, lassen sich (noch) nicht compu­
     eine der umwälzendsten Veränderungen seit Beginn terisieren. Unser Bildungssystem wird sich deshalb
     der industriellen Revolution, nichts geändert. Und darauf eistellen müssen, und unsere Anpassungs­
     gleichzeitig altern unsere
                                          Abb. 9
     Gesellschaften massiv, weil
                                         Veränderungen in der Arbeitswelt durch Digitalisierung.
     wir alle viel länger leben und      Unsere Jobs verändern sich und erfordern mehr digitale Kompetenzen. Fast die Hälfte aller Jobs
     die geburtenstarken Jahr­           könnte von Automatisierung betroffen sein.
     gänge in Rente gehen.                                                                        Risiko einer signfikanten Veränderung (50‒70%)
          Unsere Bildungssysteme                                                                  Hohes Risiko der Automatisierung (> 70%)
                                               %
     haben mit den Veränderun­            70
     gen und Herausforderungen            60
                                          50
     in der Vergangenheit Schritt
                                          40
     gehalten und waren oft sogar
                                          30
     Vorreiter. Dennoch stellt sich       20
     die Frage, ob das weiterhin          10
     so bleibt und ob unser Sys­           0
                                                                           Finnland

                                                                              Italien
                                                                           Singapur

                                                                             Spaien
                                                                 Tschech. Republik

                                                                              Japan
                                                                       Niederlande

                                                                  Slowak. Republik
                                                             Vereinigtes Königreich

                                                                            Belgien

                                                                          Slowenia

                                                                              Türkei
                                                                         Schweden

                                                                         Dänemark

                                                                            Kanada

                                                                       Deutschland
                                                                Russian Federation

                                                                                 Chile
                                                                         Norwegen

                                                                            Estland
                                                                               Korea

                                                                         Österreich

                                                                       Grichenland
                                                                         Australien

                                                                                Israel
                                                                OECD Durchschnitt

                                                                         Frankreich
                                                                               Irland

                                                                               Polen
                                                                                  USA

                                                                            Litauen
                                                                       Neuseeland

     tem aus Bildung, Ausbildung
     und Fortbildung den heuti­
     gen, geänderten Anforderun­
     gen weiter angepasst werden
     muss.
          Es gibt keine Garantie,        Quelle: Basierend auf OECD (2012; 2015), Survey of Adult Skills (PIAAC) (database),
                                         www.oecd.org/skills/piaac/publicdataandanalysis/ Nedelkoska, L. und G. Quintini (2018),
     dass Bildung weiterhin als          Automation, skills use and training, OECD Social, Economic and Migration Working Papers, No. 202,
     Sieger aus dem Rennen mit           OECD Publishing, Paris.                                                                           © ifo Institut

28   ifo Schnelldienst   15 / 2019   72. Jahrgang   8. August 2019
FORSCHUNGSERGEBNISSE

fähigkeit an den technischen Wandel muss sich                                                                                                                                                                                                           biet weiterhin eine wichtige Rolle spielen werden.
verbessern.                                                                                                                                                                                                                                             Innovative und kreative Menschen verfügen in der
     Computer und ICT (information and compu-                                                                                                                                                                                                           Regel in einem Wissensbereich oder einem Hand­
ting technology) werden zunehmend kognitive und                                                                                                                                                                                                         werk über ganz besondere Fertigkeiten. Beim schu­
manuelle Routinetätigkeiten der Menschen über­                                                                                                                                                                                                          lischen Erfolg geht es deshalb nicht mehr um die
nehmen. Ähnlich wie Maschinen die Fließbandarbeit                                                                                                                                                                                                       Wiedergabe inhaltlichen Wissens, sondern darum,
verändert und ersetzt haben, werden Computer und                                                                                                                                                                                                        auf der Basis unserer Kenntnisse zu extrapolie­
ICT so manche Routinearbeit im Büro übernehmen                                                                                                                                                                                                          ren und dieses Wissen in neuen Situationen kre­
oder erleichtern. Die OECD schätzt, dass 15% aller                                                                                                                                                                                                      ativ anzuwenden. Es geht auch um fächerüber-
gegenwärtigen Jobs durch Digitalisierung bedroht                                                                                                                                                                                                        greifendes Denken. Jeder kann Informationen
sind und ein weiteres Drittel von ihr stark verän­                                                                                                                                                                                                      im Internet suchen (und in der Regel auch fin-
dert werden (vgl. Abb. 9). Deutschland liegt dabei im                                                                                                                                                                                                   den); honoriert werden nunmehr die Leistungen der­
Mittelfeld.                                                                                                                                                                                                                                             jenigen, die etwas mit diesem Wissen anzufangen
     Diese Perspektive heißt jedoch nicht, dass es                                                                                                                                                                                                      wissen.
unbedingt weniger Arbeit geben wird. Andere Kom­                                                                                                                                                                                                             Die PISA-Ergebnisse zeigen, dass die vom Aus­
petenzen werden zunehmend nachgefragt. Jobs, die                                                                                                                                                                                                        wendiglernen dominierten Lernstrategien den
einen hohes Maß an ICT-Kompetenzen, sowie Aus­                                                                                                                                                                                                          Schülerinnen und Schülern immer weniger hel­
drucks- und Argumentationsfähigkeit erfordern,                                                                                                                                                                                                          fen, wenn die Aufgaben, die sie lösen müssen, kom­
Jobs mit analytischen, kreativen und sozialen Kompe­                                                                                                                                                                                                    plexer werden und ihnen mehr analytische Nicht­
tenzen entstehen komplementär zur Digitalisierung                                                                                                                                                                                                       routine-Fähigkeiten abverlangen (vgl. Nathan,
und sind kaum ersetzbar. Sie sind schon heute häufig                                                                                                                                                                                                    Pratt und Rincon-Aznar 2015). Lernstrategien, die auf
Mangelberufe. Auf der anderen Seite werden                                                                                                                                                                                                              der Erarbeitung von Inhalten be­r uhen – also auf dem
bestimmte Berufsbilder besonders negativ betrof-                                                                                                                                                                                                        Prozess der Verknüpfung neuen Wissens mit bereits
fen sein, wenn der Anteil der ICT und Nicht-Routine­                                                                                                                                                                                                    bekanntem, des divergierenden und kreativen Nach­
tätigkeiten gering ist (vgl. Abb. 10).                                                                                                                                                                                                                  denkens über neue Lösungen oder über Möglichkei­
     Für Bildungssysteme besteht das Dilemma                                                                                                                                                                                                            ten zur Übertragung von Wissen – helfen den Schüle­
darin, dass die kognitiven Routinekompetenzen,                                                                                                                                                                                                          rinnen und Schülern bei der Lösung der anspruchs­
die sich am einfachsten vermitteln und überprü­                                                                                                                                                                                                         volleren PISA-Aufgaben. Und sie werden besser auf
fen lassen, zugleich auch jene sind, die sich am ein­                                                                                                                                                                                                   die Welt von morgen vorbereitet sein.
fachsten digitalisieren, automatisieren und ausla­                                                                                                                                                                                                           Die Arbeit der Zukunft wird die Intelligenz von
gern lassen. Es steht außer Frage, dass hochaktuelle                                                                                                                                                                                                    Computern mit den kognitiven, sozialen und emo­
Kenntnisse und Kompetenzen auf einem Fachge­                                                                                                                                                                                                            tionalen Kompetenzen kombinieren. Es wird dann

Abb. 10
Effekt der Digitalisierung auf verschiedene Berufe
Intensität von ITC und Nicht-Routinetätigkeiten je nach Berufsfeld

                                                                                                                                                                                                                                                                25. Perzentil                                                                                         Median                                                         75. Perzentil
 1,0
 0,9
 0,8
 0,7
 0,6
 0,5
 0,4
 0,3
 0,2
 0,1
 0,0
                                                                                                                                                                                                                                                                                                               intensiv in Nicht-Routinetätigkeiten

                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                          intensiv in Nicht-Routinetätigkeiten

                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                        intensiv in Nicht-Routinetätigkeiten

                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                 intensiv in Nicht-Routinetätigkeiten
                          intensiv in Nicht-Routinetätigkeiten

                                                                                                                                                                                                                                                        intensiv in Nicht-Routinetätigkeiten
                                                                                 intensiv in Nicht-Routinetätigkeiten

                                                                                                                                          intensiv in Nicht-Routinetätigkeiten

                                                                                                                                                                                                 intensiv in Nicht-Routinetätigkeiten

                                                                                                                                                                                                                                        ICT- intensiv

                                                                                                                                                                                                                                                                                               ICT- intensiv

                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                      ICT- intensiv

                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                     ICT- intensiv

                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                               ICT- intensiv
          ICT- intensiv

                                                                 ICT- intensiv

                                                                                                                          ICT- intensiv

                                                                                                                                                                                 ICT- intensiv

        Führungskräfte                                           Fachpersonal                                           TechnikerInnen Bürofachkräfte     Arbeitskräfte in                                                                                                                     Fachkräfte in                                          Fachkräfte im                                                Fabrik- und                                                    Gering-
                                                                                                                        und technische    und Sach-       Dienstleistungs-                                                                                                                     Landwirtschaft,                                        Handel und im                                                Maschinenfach-                                                 qualifizierte
                                                                                                                        Facharbeitskräfte bearbeiterInnen gewerbe und                                                                                                                          Forstwirtschaft                                        Handwerk                                                     kräfte und                                                     Beschäftigung
                                                                                                                                                          im Verkauf                                                                                                                           und Fischeri                                                                                                        Montagearbeiter

Anmerkung: Für jede Berufsgruppe zeigt das Schaubild das 15., das 50. (Median) und das 75. Perzentil der Verteilung der nicht -routinemäßigen und ICT-intensiven
Indikatoren aller Arbeitskräfte derjenigen Berufsgruppe in dem Land. Zum Beispiel hat eine Führungskraft innerhalb des 15. Perzentils eine ICT-Intensivität von
0,7, wohingegen eine Führungskraft innerhalb des 75. Perzentils eine ICT-Intensivität über 0,85 hat. Geringqualiftzierte Beschäftigung weist die geringste
ICT- und Nicht-Routine-Intensität in dieser Abbildung auf.
Quelle: OECD-Berechnungen basieren auf OECD (2012[1]) and OECD (2015[2]), Survey of Adult Skills (PIAAC),
www.oecd.org/skills/piaac/publicdataandanalysis.                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                 © ifo Institut

                                                                                                                                                                                                                                                                                                                            ifo Schnelldienst                                                                    15 / 2019            72. Jahrgang                                             8. August 2019                           29
FORSCHUNGSERGEBNISSE

     Abb. 11                                                                                                              lediglich Inhalte anzueignen
     Problemlösungsfähigkeit in technikaffinen Umgebungen, nach Alter, 2012 oder 2015                                      (»wissen, was«), die rasch ver­
     Prozentsatz der 16- bis 65-Jährigen mit Testergebnissen auf Level 2 und 3 in jeder Altersgruppe
                                                                                                                          alten. Im Bereich der Mathe­
                                                        Gesamtheit           16‒25 Jahre alt 55‒65 Jahre alt              matik müssen die Schülerin­
           %
     70                                                                                                                   nen und Schüler beispiels­
     60                                                                                                                   weise wissen, wie und warum
     50                                                                                                                   wir Mathematik lernen (epi-
     40                                                                                                                   stemische Überzeugungen),
     30                                                                                                                   mathematisch denken kön­
     20                                                                                                                   nen (epistemisches Verständ­
     10                                                                                                                   nis) und die in der Mathematik
      0                                                                                                                   üblichen Verfahren be­­greifen
                                                                                                                          (methodisches Wissen). Deut­
                         Kanada

                         Estland
          Vereinigtes Königreich

                      Slowenien

                   Griechenland
                           Korea
                        Finnland

           Russische Föderation
               Slowak. Republik
                      Schweden

                    Niederlande

                           Irland
                           Polen
                      Norwegen

                         Litauen
                      Dänemark

                              USA
                      Australien

              Tschech. Republik
                      Österreich
                    Deutschland

                            Israel

                             Chile
                         Belgien

                           Türkei
                     Neuseeland

                           Japan
                                                                                                                          sche Schüler haben in letzte­
                                                                                                                          ren Bereichen größere Schwä­
                                                                                                                          chen, anders als beim mathe­
                                                                                                                          matischen Fachwissen.
                                                                                                                                Die erwerbstätige Bevöl­
     Quelle: OECD-Berechnungen basieren auf Survey of Adult Skills (PIAAC) Database, September 2018.   © ifo Institut
                                                                                                                          kerung ist sich dieses Fortbil­
                                                                                                                          dungsbedarfs durchaus be­              ­
     auf unsere Innovationsfähigkeit und unser Verant­                                    wusst.     Über  alle     Bildungsschichten        sehen   25–35%
     wortungsbewusstsein ankommen, um die Möglich­ der Beschäftigten mit wenig ICT-Bezug mehr Bedarf
     keiten der künstlichen Intelligenz zur Veränderung an Training. Für ICT-intensive Tätigkeiten liegt dieser
     der Welt zum Besseren zu nutzen. Dies wird die Men­ Anteil um die 40%.
     schen in die Lage versetzen, neue Werte zu schaffen,                                       Leider ist jedoch die Be­­teiligung am Training
     und neue schöpferische Prozesse des Gestaltens, am geringsten, wo der Anpassungsbedarf am größ­
     Erzeugens und Formulierens zu beherrschen. Damit ten ist. Nur 5–25% der Arbeitnehmer mit niedri­
     können wir Ergebnisse hervorbringen, die inno­vativ, gem Bildungsstand nahmen im Jahr 2015 an Trai­
     neu und originell sind und einen inhärent positiven ningsprogrammen teil, während der Anteil der
     Wert haben. Es setzt unternehmerische Ini­t iative im hochgebildeten in vielen Ländern um die 50%
     weitesten Sinne voraus: die Bereitschaft, den Ver­ lag (vgl. Abb. 12a). Deutschland liegt im Mittelfeld.
     such zu wagen, ohne Angst vor dem Scheitern zu                                             Fortbildung ist auch dort weniger verbreitet,
     haben.                                                                               wo die Digitalisierungsrisiken am größten sind. In
           Aus diesem Blickwinkel ist es nicht über­ Sektoren mit niedrigen Automatisierungsrisiken
     raschend, dass die Beschäftigung in Europas Krea­ haben immerhin ca. 60% der Beschäftigten an Fort­
     tivwirtschaft, d.h. in Wirtschaftszweigen, die sich auf bildung teilgenommen (vgl. Abb. 12b). In Sektoren
     die Nutzung von Begabungen für kommerzielle Zwe­ mit hohen Risiken liegt dieser Anteil nur bei ca. 40%
     cke spezialisiert haben, im Schlüsselzeitraum 2011– im Durchschnitt. Nordische und einige angelsäch­
     2013 ein Wachstum von 3,6%
     verzeichnete – zu einer Zeit,                     Abb. 12a
     als viele Wirtschaftszweige in                    Geringqualifizierte Arbeitskräfte nehmen mit geringerer Wahrscheinlichkeit an
     Europa Arbeitsplätze abbau­                       Weiterbildungsmaßnahmen teil
     ten oder die Beschäftigungs­                      Anteil der Arbeitnehmer, die an Weiterbildungsmaßnahmen innerhalb ihrer beruflichen Tätigkeit im
                                                       vorherigen Kalenderjahr teilgenommen haben, nach Literalitätsgrad (%)
     quoten bestenfalls stagnier­
     ten. In mehreren führenden                                                                                       Auf oder unter Level 1   Level 4/5
                                                               %
     europäischen Ländern über­                        100
     holte das Wachstum bei den                         80
     Kreativjobs den Beschäfti­
     gungszuwachs in anderen                            60

     Sektoren, darunter im Verar­                       40
     beitenden Gewerbe.
                                                        20
           Je rascher sich die Inhalte
     eines Fachgebiets fortentwi­                         0
                                                                      Griechenland

                                                                          Slowenien

                                                                              Estland
                                                                         Frankreich

                                                                             Kanada
                                                                 OECD Durchschnitt
                                                                                Korea
                                                                   Slowak. Republik

                                                                            Finnland
                                                                             Litauen
                                                                                Polen

                                                                             Spanien

                                                                          Schweden

                                                                                Irland

                                                                       Niederlande
                                                                  Flandern (Belgien)

                                                              England/N. Irland (UK)

                                                                          Norwegen

                                                                                   USA
                                                                          Österreich

                                                                          Australien

                                                                          Dänemark
                                                                                 Israel

                                                                  Tschech. Republik
                                                                               Türkei

                                                                       Deutschland

                                                                                  Chile
                                                                           Singapur

                                                                        Neuseeland
                                                                               Italien

                                                                               Japan

     ckeln, desto wichtiger ist es
     zudem, dass die Schülerinnen
     und Schüler die strukturel­
     len und konzep­tuellen Grund­
     lagen eines Fachs ver­stehen
     (»wissen, wie«), statt sich                       Quelle: OECD, PISA.                                                                          © ifo Institut

30   ifo Schnelldienst   15 / 2019   72. Jahrgang   8. August 2019
FORSCHUNGSERGEBNISSE

Abb. 12b                                                                                                        hohe Sozialleistungen genie­
Teilnahme an berufsrelevanter Weiterbildung für Erwachsene, nach Risiko der                                     ßen wollen, und darauf sollten
Automatisierung                                                                                                 wir uns und unser Bildungs­
Anteil der Arbeitnehmer, die an Erwachsenenbildung teilgenommen haben (letzten zwölf Monaten)
                                                                                                                system einstellen.
                                                         Signifikantes Risiko       Geringes Risiko                   Was sind die größten Hin­
      %
 80                                                                                                             dernisse, für Bildung, Fortbil­
 70                                                                                                             dung und lebenslanges Ler­
 60                                                                                                             nen? Angebots­         s eitig gibt es
 50                                                                                                             in  vielen    Ländern      keine über­
 40                                                                                                             greifende        Strategie,      die die
 30                                                                                                             verschiedenen            Herausforde­
 20                                                                                                             rungen berücksichtigt. Es
 10
                                                                                                                gibt viele Akteure beim Staat,
                                                                                                                den Sozialpartnern und in
  0
                                                                                                                der Wirtschaft, deren Akti­v i­

               Griechenland
                      Estland

                  Slowenien

                  Frankreich
      Vereinigtes Königreich

                     Kanada

                        Korea
           Slowak. Republik
                    Finnland

                        Polen
                      Zypern
                  Schweden

                        Irland

                     Spanien

                      Litauen
                Niederlande
                  Norwegen
                           USA
                  Dänemark

                  Österreich

                         Israel
          Tschech. Republik
                Deutschland

                          Chile

                       Türkei
                      Belgien
                    Singapur
                 Neuseeland

                       Italien
                       Japan

                                                                                                                täten oft nicht aufeinander
                                                                                                                abstimmt sind. Die Inhalte
                                                                                                                und Methoden sind oft nicht
                                                                                                                auf dem neuesten Stand.
                                                                                                                      Nachfrageseitig              haben
Quelle: OECD.                                                                                © ifo Institut     OECD-Erhebungen                ergeben,
                                                                                                                dass es meistens nicht die Kos­
sische Länder stehen am besten da, Deutschland                              ten    sind,  die    Beschäftigte        von der Fortbildung abhal­
ist überdurchschnittlich. Für einige Schwellen- und ten. Dagegen spielt der Zeitmangel eine große Rolle.
Industrieländer sind die Indikatoren jedoch recht Hier zeigt sich vielleicht ein Bedarf an mehr Langfris­
besorgniserregend.                                                          torientierung bei vielen Arbeitgebern und -nehmern.
      Die Herausforderungen der Digitalisierung müs­ Zudem scheinen mittlere und große Unter­nehmen
sen mit den Herausforderungen für unsere altern­ besser vorbereitet, wenn es um bedarfsorientierte
den Gesellschaften zusammen gesehen werden. Die Fortbildung geht (vgl. OECD 2019, Skills Strategy,
Notwendigkeit von Fortbildung und lebenslan- z.B. Abb. 6.5).
gem Lernen wächst mit einer längeren Lebensar­
beitszeit. Das wäre auch ohne Digitalisierung so. POLITIKIMPLIKATIONEN
Nur wenn wir unsere Produktivität weiter erhöhen
und über ein längeres Arbeitsleben erhalten, blei- Was sind die wichtigsten Ergebnisse? Erstens, wenn
ben unsere Sozialversicherungssysteme mit ange­ wir international in der wirtschaftlichen Dynamik
messener Rente, Gesundheitsversorgung und Pflege und dem Wohlstand Spitze bleiben, die Chancen­
finanzierbar (vgl. Schuknecht und Zemanek 2018).                            gerechtigkeit verbessern und dabei unsere sozialen
      Die Dramatik der Bevölkerungsalterung zeigt Errungenschaften erhalten wollen, müssen wir uns
sich besonders deutlich im internationalen Vergleich. an den besten Partnerländern orientieren. Und die
Während heute in Deutschland auf jeden Bürger über sind zunehmend in Asien!
65 drei Bürger im erwerbsfä­
higen Alter (gemessen 15–65)               Abb. 13
kommen, so sind es in 30 Jah­               Alterung der Bevölkerung
ren nur noch knapp zwei (vgl.              Altersbedingtes Abhängigkeitsverhältnis (Anteil der 65+/15‒64 pro 100 Personen)
Abb. 13). Italien, Japan und
                                                                                                                                          2015     2050
Korea werden eine noch dra­
matischere Alterung erfahren.                            Frankreich
In Frankreich und den USA                              Deutschland
wird die Situation nur mäßig                                   Italien
besser sein. Schon heute kom­                                  Japan
men in Deutschland auf jeden                                    Korea
Rentner nur zwei Erwerbs­                   Vereinigtes Königreich
tätige. Diese Zahl könnte in                                      USA
den nächsten 30 Jahren auf                                      China
wenig über eins sinken, wenn                                    EU 28
wir nicht alle deutlich län­
                                                                       0         10       20         30        40        50         60       70         80 %
ger arbeiten. Bis 2050 ist die
                                           Anmerkung: Das altersbedingte Abhängigkeitsverhältnis ist als Anzahl von 65-jährigen Personen und über
Rente mit 70 wahrscheinlich                100 arbeitende Personen zwischen 20 und 64 Jahren definiert.
die Norm, wenn wir weiterhin               Quelle: United Nations, World Population Prospects – 2017 Revision.                                  © ifo Institut

                                                                                                   ifo Schnelldienst   15 / 2019   72. Jahrgang   8. August 2019   31
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