Bukarest Hauptstadt der Vielfalt - Deutsche Vertretungen in Rumänien

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Bukarest Hauptstadt der Vielfalt - Deutsche Vertretungen in Rumänien
Nina May
George Dumitriu

                  Bukarest
                  Hauptstadt
                  der Vielfalt
Bukarest Hauptstadt der Vielfalt - Deutsche Vertretungen in Rumänien
Inhalt

                             Vorwort
                               S. 4

        Auf der Suche nach dem deutschen Bukarest
         Wie Zuwanderer aus dem deutschen Sprachraum
               die rumänische Hauptstadt prägten
                              S. 6

          Spaziergang durch das jüdische Bukarest
Vom prächtigen Choral-Tempel bis zum schlichten Holocaust-Mahnmal
                              S. 14

            Mit Manuc Bei durch die Hauptstadt
            Auf den Spuren der Armenier în Bukarest
                             S. 20

               Rund um den Universitätsplatz
           Im Karussell von Geschichte und Geschichten
                              S. 26

              Heimliche Hauptstadt der Kirchen
    Über die faszinierende Vielfalt der christlichen Gotteshäuser
                                S. 32

            Die verlorene, wiedergefundene Stadt
             Architektonischer Streifzug durch Bukarest
        zwischen alt und modern, Geschichte und Gegenwart
                                S.40

                  Bukarest - mal von oben!
                 Mit dem City Tour Doppeldecker
                      durch die Hauptstadt
                              S. 48
Bukarest Hauptstadt der Vielfalt - Deutsche Vertretungen in Rumänien
Vorwort

          Bukarest ist eine Hauptstadt, die „entdeckt“ werden will
          – und zwar in des Wortes ursprünglicher Bedeutung.
          Eine Stadt, deren Schönheit sich dem Betrachter beson-
          ders dann erschließt, wenn der Blick hinter die Fassaden
          dringt.
          Dies ist zunächst ganz praktisch zu verstehen: Man
          muss von den großen Achsen abbiegen und in die ver-
          winkelten Ecken der Stadtviertel und Hinterhöfe vor-
          dringen, um den wahren Zauber der Stadt zu erfahren.
          Aber es gilt auch im übertragenden Sinne: Man sollte
          sich dafür die historischen Hintergründe der plurikultu-
          rellen, religiösen und architektonischen Vielfalt dieser
          Stadt erschließen.
          Für manche dieser Entdeckungen braucht es den Blick
          des „alten Bukaresters“. Für andere dagegen gerade den
          frischen, unbeschwerten Blick des neu Hinzugezoge-
          nen, der die Faszination von Dingen erkennt, die erste-
          rem womöglich gar nicht mehr auffallen oder dem sie
          zumindest als nichts Besonderes erscheinen.
          Durch ihre Vita verfügen Nina May und George Du-
          mitriu über beide Blickwinkel zugleich – sozusagen in
          Personalunion. Und sie haben uns daran über mehrere
          Jahre teilhaben lassen in einer bunten Artikelserie der
          Allgemeinen Deutschen Zeitung für Rumänien. Mit an-
          regenden Titeln wie: „Architektonischer Streifzug durch
          Bukarest“, „Spaziergang durch das jüdische Bukarest“,
          „Heimliche Hauptstadt der Kirchen“ und „Auf der Su-
          che nach dem deutschen Bukarest“.

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Bukarest Hauptstadt der Vielfalt - Deutsche Vertretungen in Rumänien
Daraus haben wir nun gemeinsam mit den Autoren ein
kleines Büchlein „Bukarest – Hauptstadt der Vielfalt“
gemacht, das wir allen deutschsprachigen Bukarest-
Liebhabern im Rahmen unserer diesjährigen EU-Rats-
präsidentschaft 2020 präsentieren möchten.
Eine Entdeckungsreise durch die Jahrhunderte auf den
Spuren unterschiedlicher kultureller Wurzeln, darunter
auch der deutschen – mit anderen Worten, eines kleinen
Europas vor seiner Zeit!
Wir wünschen viel Vergnügen auf Ihren Streifzügen mit
diesem Büchlein im Gepäck.

Cord Meier-Klodt
Botschafter der Bundesrepublik Deutschland
in Rumänien

                              Foto: Julia Saßmannshausen

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Bukarest Hauptstadt der Vielfalt - Deutsche Vertretungen in Rumänien
Auf der Suche nach dem deutschen Bukarest
               Wie Zuwanderer aus dem deutschen Sprachraum die
                       rumänische Hauptstadt prägten

  Von wegen Klein-Paris: Bukarest ver-          rathon architektonischer Prachtbau-
 dankt einen großen Teil seiner Anlagen         ten - sondern vielmehr als Suche nach
   deutschen Architekten. Für die ersten        Geschichten, die sich um historische
   Parks – den Cișmigiu, den König Mi-          Stätten und Figuren ranken, als Appe-
chael I. Park und den Botanischen Gar-          tithäppchen für Kenner und Genießer…
   ten, der ursprünglich im Zentrum lag
– rief König Karl I. deutsche Gartenge-                Die Zeit geht anders
stalter ins Land. Der erste Professor für                   in Bukarest
  Bildhauerei, Karl Storck, war ein Ein-
wanderer aus Hanau. Auch seine Söhne            Kaum ein anderer Stadtteil hat in den
    Frederic und Carol haben prägende           letzten Jahren sein Gesicht so gewan-
    Spuren hinterlassen. Der Bukarester         delt wie das Altstadtzentrum. Um 2000
 Markt im Zentrum war vom 16. bis zum           war es noch von verstaubten Antiquitä-
   19. Jh. stark vom Handel mit Leipzig         tenläden, Buchantiquariaten, Brautmo-
  geprägt. Der erste Bierfabrikant, Wil-        degeschäften, einer Glasbläserei zum
helm Höflich, kam aus dem schlesischen          Zuschauen und Läden mit zauberhafter
       Oppeln und ließ sich unter seinem        handgefertigter Glasware geprägt - die
 Spitznamen „Oppler“ hier einbürgern.           jedoch abends ihre Rolläden herunter-
    Sein schärfster Konkurrent, der bay-        ließen und die Straßen einsam und leer
     rische Brauer Erhard Luther, wurde         der Dunkelheit überließen. Heute bro-
  später Hoflieferant des Königshauses.         delt dort das touristische Leben. Bars,
Ja, selbst die rumänische Königsdynas-
                                                                  Strada Smârdan, früher
   tie hat deutsche Wurzeln: Karl I. und
                                                                      deutsches Gässchen
  Ferdinand I. stammten aus dem Hause
             Hohenzollern-Sigmaringen.

Heute allerdings muss man den deut-
schen Einfluss auf das Stadtbild fast
mit der Lupe suchen. Schuld sind
Erdbeben, Umplanung, Modernisie-
rungen oder der Zahn der Zeit. So ge-
staltet sich die Tour auf den Spuren
des deutschen Bukarest nicht als Ma-
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Bukarest Hauptstadt der Vielfalt - Deutsche Vertretungen in Rumänien
Clubs, Restaurants, internationale Ho-                                   Lipscani-Straße im
tels, exquisite Tee-Läden und Mode-                                         Altstadtzentrum
schmuckgeschäfte bevölkern die Stra-              des Walachen war der Markt in Leipzig.
ßen. Die bekanntesten sind Lipscani und           Der Sachse aus Leipzig, ein Uhrmacher,
Smârdan. Letztere hieß bis 1878 „Ulița            reiste in umgekehrter Richtung. In Buka-
Nemțească“ - deutsches Gässchen. Ers-             rest wollte er seine Ware feilbieten und
tere hingegen bezieht ihren Namen von             sich mit seinem Handwerk am Handels-
der sogenannten „lipscanie“, dem Groß-            knotenpunkt zwischen Orient und Okzi-
handel mit Waren aus Leipzig. Lipscani-           dent dauerhaft niederlassen. Dort ange-
Straßen gibt es daher nicht nur in Buka-          kommen, musste er jedoch entdeckten,
rest, sondern z. B. auch in Craiova, Slati-       dass die Uhren auf dem Balkan anders
na, Caracal und Râmnicu Vâlcea.                   gingen... Zeit hatte man in der Walachei
Wie die intensive kommerzielle Bezie-             massenhaft - niemand hatte Interesse an
hung zwischen Leipzig und Bukarest be-            den seltsamen feinmechanischen Mecha-
gann? In der Zeitschrift des Bukarester           nismen. Kurz vor der Verzweiflung be-
Stadtmuseums, „București in 5 Minute“             gegnete er der Karawane des Walachen,
(April 2018), erzählt Museumsdirektor             der gerade aus Leipzig zurückgekehrt
Adrian Majuru die Geschichte der bei-             war. Dieser klagte ihm das umgekehrte
den Händler, die gleichzeitig aus ihrer           Problem: Weil die Händler aus der Wa-
jeweiligen Heimatstadt fortzogen. Ziel            lachei keine Uhren hatten, hatten sie den
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Bukarest Hauptstadt der Vielfalt - Deutsche Vertretungen in Rumänien
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Strada Smârdan, früher
        deutsches Gässchen

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Rumänische Kreditbank                          rer waren Händler, Glaser, Schmiede,
von Oskar Maugsch
                                               Drucker, Metzger, Schlosser, Schreiner,
Leipziger Markt verpasst. So wurden sie        Bildhauer, Maler, sogar einen Homöopa-
die ersten Kunden des Deutschen – und          then gab es in Bukarest. Die Wirtschafts-
dieser der erste Uhrmacher Bukarests.          zeitung „România Economică“ erschien
Der Kommerz zwischen den beiden                zweisprachig, deutsch-rumänisch. Aus-
Städten entwickelte sich zu einer neuen        grabungen in der Lipscani Straße förder-
Form des Handels, der „lipscanie“. Im          ten die Ruinen einer „Berliner Bankge-
                                                                                    ge-
18. Jh. führten mehrere Routen nach            sellschaft“ (1910-1930) zutage.
Leipzig: eine von Bukarest entlang der
Donau über Wien; eine nördlich durch                 Deutsche Architektur
Prag und Sachsen; eine von Kronstadt/
Brașov über Siebenbürgen und Ungarn,           Der Spitzname „Klein-Paris“ sei un-
eine über die Karpaten über Krakau und         gerechtfertig, meint Architekt Adrian
Breslau durch Schlesien und eine aus           Crăciunescu. Vielmehr sei Bukarest
dem Norden der Moldau über Ruthenien.          von deutschen Baumeistern geprägt,
Im 19. Jahrhundert war das gesam-              wie eine Flut an Dokumenten be-
te wirtschaftliche Leben in Bukarest           weist. Die französische Hauptstadt
deutsch geprägt. Deutsche Zuwande-             sei nur Verwaltungsvorbild gewesen.
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Bukarest Hauptstadt der Vielfalt - Deutsche Vertretungen in Rumänien
Auf der Suche nach deutscher Architek-             insgesamt 50 Jahre wirkte und die ers-
tur stoßen wir in der Strada Stavropoleos          te Architektenvereinigung Rumäniens
6-8 auf das imposante Gebäude der Ru-              gründete. Für die Vollendung des von
mänischen Kreditbank, erbaut von Oskar             Friedrich Schmidt begonnenen, durch
Maugsch. Der 1857 in Jassy/Iași gebore-            den Unabhängkeitskrieg unterbrochenen
ne Architekt, der in Dresden studiert hat-         Baus der katholischen Kathedrale zum
te und 1894 die rumänische Staatsbürger-           Hl. Josef (Strada Gen. H. M. Berthelot
schaft erhielt, erbaute ferner die Banca de        19) wurde Benisch vom Vatikan mit dem
Scont (1903) an der Kreuzung zwischen              Beinamen „Carol Vallaquiensi“ - „Karl
Lipscani und E. Carada, den BCR-Palast             von der Walachei“ - ausgezeichnet.
(1911-1913) und den Versicherungspa-
last (1907-1914) am Universitätsplatz,                Die Künstlerfamilie Storck
die Villen von Elena G. Cantacuzino
(1899) und der Direktorin der Zentra-              Karl Storck aus Hanau kam 1849 als
len Mädchenschule (1894), beide in der             Graveur und Silberschmied nach Bu-
Strada Polonă (arhivadearhitectura.ro).            karest, wo er für den Juwelier Josef
Der Suțu-Palast (1833-1835), Sitz des              Resch arbeitete. Bald begann er, sich
Bukarester Stadtmuseums, geht auf
                                                                            Storck-Museum
Pläne der Wiener Baumeister Conrad
Schwink und Johann Veit zurück. Das
Museum „Theodor Aman“ (1868) in der
Strada Rosetti 6 stammt vom deutschen
Architekten Franz Schiller, das Außen-
dekor schuf Karl Storck.

     „Karl von der Walachei“

Ein weiterer Name, untrennbar mit Bu-
karest verbunden, ist Carol Benisch,
1822 als Karl Franz Böhnisch im heu-
tigen Tschechien geboren. 1840 war der
knapp 25-Jährige von Prinz Nicolae Bi-
bescu-Brâncoveanu in die Walachei ge-
rufen worden. Er sollte dem Schweizer
Johann Schlatter bei der Restaurierung
der oltenischen Klöster Arnota, Tismana,
Horezu und Bistrița helfen. 1865 wurde
er Chefarchitekt von Bukarest, wo er
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für Stuckkunst zu interessieren und ließ
sich für drei Jahre in München speziell
dafür ausbilden. Fortan fertigte er Büs-
ten und andere Bildhauerarbeiten und
wurde schließlich als erster Professor
für Bildhauerei an die Schule der Schö-
nen Künste berufen, die sein Freund, der
Maler Theodor Aman, gegründet hatte.
Einige Werke Storcks sind im Mu-
seums „Frederic Storck und Cecilia
Cuțescu Storck“ (Strada Vasile Alecsan-
dri 16) zu sehen, der ehemaligen Resi-
denz seines Sohnes Frederic. Andere
zieren die Hauptstadt: die Statue aus
Carrara-Marmor von Mihai Cantacu-
zino vor dem Colțea-Spital, der Arzt
Carol Davila in Bronze vor der Uni-
versität für Medizin und Pharmakolo-
gie. Auch seine Söhne Frederic (Fritz)
und Carol wurden namhafte Bildhauer.                    Im Kulturhaus „Friedrich Schiller“
In deren Schatten steht der kaum be-
kannte Architekt Johann Storck, der die         Heutige Orte der Deutschen
Fachwerk-Villa von Frederic und Cecilia
Storck 1911 konzipierte. Die Friese mit         Ein Stück zeitgenössisches deutsches
zoomorphen und pflanzlichen Motiven             Bukarest bietet das Kulturhaus „Fried-
an der Fassade stammen von Frederic             rich Schiller“ in der Batiștei-Straße
Storck, die Skulpturen und Wandmale-            15. Dort finden nicht nur Deutschkurse
reien realisierten Frederic und Cecilia.        statt, sondern auch Veranstaltungen zur
Die Ausstellung zeigt neben der Kunst-          deutschen Sprache und Kultur. Außen
sammlung des Ehepaars Arbeiten aller            bröckelt die Fassade, doch die Innen-
Storcks.                                        räume der Villa bestechen mit aufwän-
Zu den bekanntesten Werken Frederic             digem Stuck, prächtigen Kachelöfen,
Storcks gehören Porträts von König Karl         riesigen Spiegeln und Kassettendecken.
I. und dessen Gemahlin Elisabeth, die           Am Bau des Komplexes, der einst auch
Statue der „Wahrheit“ auf dem Bukares-          das Nachbarhaus, ehemaliger Sitz der
ter Justizpalast, die Grabdenkmäler sei-        US-Botschaft, umfasste, soll Carol Be-
nes Vaters (Büste) und Bruders auf dem          nisch beteiligt gewesen sein. Ab dem
evangelischen Friedhof,                         19. Jahrhundert logierte dort die Fa-
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milie Blaremberg, die auf Waldemar             tekten A. Mohnbach im eklektischen
(Vladimir) Blaremberg zurückgeht. Der          Stil entworfen - wurde unter den Buka-
Adlige aus Flandern (heute Belgien)            rester Gemeindemitgliedern gesammelt.
war zur Zeit der russischen Besetzung          Bemerkenswert: Wikipedia nennt als
(1828-1834) als hoher Offizier von             berühmte Spender König Friedrich Wil-
Odessa nach Bukarest versetzt worden.          helm IV. von Preußen, aber auch Katho-
1830 heiratete er Pulcheria Ghica, die         liken wie Kaiser Franz Joseph von Öster-
Schwester des später von den Türken            reich oder den Komponisten Franz Liszt,
und Russen zum Herrscher der Walachei          sowie den orthodoxen Prinzen Gheorghe
ernannten Fürsten Alexandru Ghica.             Bibescu. Die große Orgel (1912), ein
Auch die Evangelische Stadtpfarrkir-           Instrument, das in keiner evangelischen
che in der Strada Luterană 2 ist ein           Kirche fehlt, stammt aus der Werkstatt
Treffpunkt der evangelischen deutschen         E. F. Walcker in Ludwigsburg, die auch
Minderheit und germanophiler Buka-             die Orgel für das Bukarester Athenäum
rester. Dort werden noch Gottesdienste         (1932) baute. Die kleine Orgel, 1796
in deutscher Sprache abgehalten, Kon-          von Johannes Prause geschaffen, wurde
zerte und Ausstellungen organisiert.           1995 aus Magarei/Pelișor nach Bukarest
Für den Bau der dreischiffigen Basilika        gebracht.
- 1851 bis 1853 vom deutschen Archi-                             Kathedrale zum hl. Josef

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Spaziergang durch das jüdische Bukarest
                       Vom prächtigen Choral-Tempel bis zum
                          schlichten Holocaust-Mahnmal

 „Zusammengedrängt in kleinen Gassen
 scheinen sie ohne Raum und Luft zu le-
  ben. Im Licht einer rauchenden Lampe
arbeiten sie, bemüht, ein bisschen Wohl-
     stand in ihre kleine Welt zu bringen.
  Doch abends, wenn die Büros und Lä-
  den schließen, wird ihr Viertel auf ein-
mal sehr lebhaft. Das ganze Volk ergießt
     sich in die Straßen, Frauen, Kinder,
  Alte, sie leben miteinander, teilen das-
   selbe Schicksal, alle kennen sich, was
ihnen eine spezielle Art von Vertrautheit
  verleiht... Wen zufällig spät nachts der
  Weg durch diese Viertel führt, der wird
    sehr überrascht sein über das immer
noch intensive Leben, während der Rest
             der Stadt bereits einschläft.“

Selber Ort, andere Zeit: Infernaler Ver-
kehr lähmt die Innenstadt. Gläserne
Hochhausfassaden, Fußgängerauflauf                                            Unirea-Tempel
vor Mc Donalds. Ein Pizzabote schlän-
gelt sich mit dem Rad durch die Blech-             tel, das sich damals bis auf den Unirea-
lawine. Der U-Bahn-Ausgang vor dem                 Platz erstreckte; die Teestuben, die sich
Kaufhaus Unirea spuckt unaufhörlich                ab sechs Uhr abends füllten, wo religiöse
Menschen in die Straße. „Taxi?“ ruft der           Lieder aus knarzenden Grammophonen
Mann vor der Reihe gelber Autos den                dröhnten; die Milchsammelstellen und
vorbeihastenden Passanten zu. Bukarest             koscheren Schlachtereien; die fliegenden
ist Metropole geworden: eine parallele             Händler, die nach und nach die Straßen
Welt zu jener Zeit, die der 1872 bis 1907          der Altstadt eroberten – erst Gabroveni
in der Hauptstadt lebende französische             und Lipscani, dann Carol, Șelari und
Journalist Frédéric Damé eingangs so               Smârdan, zuerst mieteten sie die Läden,
pittoresk beschreibt. Das jüdische Vier-           dann kauften sie sie von bulgarischen,
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griechischen und rumänischen Händ-               stattfindet: Konzerte der Bukarester
lern. Nichts scheint heute davon übrig           Klezmer Band, Theater, Ausstellungen,
zu sein. Bukarest hat sein Gesicht einer         Vorträge, Buchvorstellungen. Wie die
anderen Zeitdimension zugekehrt: jener           jüdische Bevölkerung Rumäniens früher
der Malls, Straßencafés und Nachtclubs.          auf dem Land lebte, erfährt man im Bu-
Doch eine Stadt gehört niemals nur einer         karester Dorfmuseum „Dimitrie Gusti“:
Zeit...                                          Auf der Allee der Minderheiten steht in
                                                 der nach dem jüdischen Mediziner und
   Tore zu einer anderen Welt                    Staatsmann Nicolae Cajal benannten
                                                 Gasse ein bescheidenes Holzhaus aus
Immer gibt es Tore, die wie Hawkings             der Maramuresch. Unser Spaziergang
Wurmlöcher zu parallelen Dimensionen             endet in der Strada Anghel Saligny 1:
führen. Hier und dort durchbohren sie            Wie eine rostige Schmerzensnadel sticht
das Zeitgewebe des modernen Buka-                die Säule des von Peter Jacobi entworfe-
rest, Nadeln aus der Vergangenheit, die          nen Holocaust-Mahnmals in die Wunde
von unten die Gegenwart anpieksen: der           des rumänischen Kollektivbewusstseins
Choral-Tempel in der Sfânta Vineri Stra-
ße 9, größte Synagoge des Landes, 1864                 Der heilige Schrein im Unirea-Tempel
nach dem Modell des großen Tempels in
Wien errichtet; die davor größte „Große
Synagoge“ der aus Polen eingewander-
ten Aschkenasen, 1847 in der Strada Va-
sile Adamachi 11 erbaut, heute zwischen
hohen Wohnblocks eingepfercht; der
Unirea-Tempel in der Strada Mămulari
3, 1836 von der Schneiderzunft errichtet,
er beherbergt das Museum für jüdische
Geschichte; nicht zu vergessen das jüdi-
sche Staatstheater, ein imposantes gelbes
Gebäude in der Strada Iuliu Barasch 15,
heute wichtigste Einrichtungen für die
Bewahrung der jiddischen Sprache. Ein
Meilenstein dort ist die weltbekannte
Schauspielerin Maia Morgenstern. Kon-
zentriert ist die Bukarester jüdische Ge-
meinschaft mit ihren kulturellen Aktivi-
täten auf dem ProEtnica Festival vertre-
ten, das jährlich in Schäßburg/Sighișoara
                                            15
- als materialisiertes Eingeständnis, dass        deutscher Dialekt, doch mit hebräischen
der Holocaust auch hierzulande statt-             Schriftzeichen geschrieben. Die Sprache
gefunden hat. 280.000 rumänische und              der Sepharden nennt sich Ladino. Typi-
ukrainische Juden und 25.000 Roma                 sche Berufe der Bukarester Juden waren
wurden zwischen 1940-44 nach Transni-             Arzt und Händler, ab dem 19. Jahrhun-
strien deportiert, wo viele in den Lagern         dert auch Schneider, Schuster, Zinngie-
starben. Aus Siebenbürgen schickte die            ßer und Getränkefabrikant. Erst mit dem
ungarische Armee 135.000 Juden nach               Aufkommen der antisemitischen Politik
Auschwitz.                                        wurden ihre Dienstleistungen geächtet.
                                                  Keine andere ethnische Gruppe erlebte
      Das jüdische Bukarest                       einen so starken demographischen Nie-
                                                  dergang in so kurzer Zeit wie die jüdi-
In Bukarest leben heute nach Angaben              sche Gemeinschaft Rumäniens: Wurden
der Föderation der jüdischen Gemein-              1930 landesweit 728.115 Juden gezählt
schaften in Rumänien (FCER) noch an               - in Bukarest stellten sie zur Zwischen-
die 3500 Bürger mosaischen Glaubens.              kriegszeit sogar elf Prozent der Bevöl-
Die meisten sind Nachfahren der Asch-             kerung dar - waren es nach dem Zwei-
kenasen, Einwanderer aus dem deutsch-             ten Weltkrieg nur noch einige Tausend.
sprachigen europäischen Raum, Polen               Viele wanderten später nach Israel aus.
und Russland, bedingt durch verschiede-           Auch vom jüdischen Viertel in Buka-
ne Wellen der Verfolgung. Die ersten Ju-          rest ist nicht viel übrig geblieben: die
den, die sich Ende des 15. Jahrhunderts in        kompakte Siedlung, die sich am linken
Bukarest niederließen, waren jedoch die           Dâmbovița-Ufer von der Calea Văcărești
aus Spanien vertriebenen jüdischen Se-            bis zur Calea Dudești hinzog, war in den
pharden. Weil die Aschkenasen zahlen-             80er Jahren eine der am stärksten von
mäßig dominierten, wurde in Bukarest              den Demolierungen Ceaușescus betrof-
vor allem Jiddisch gesprochen, eine Art           fenen Zonen. Zwischen 1977 und 1989
                                                  wurden über 60 jüdische Tempel und
Große Synagoge
                                                  Synagogen zerstört. Ein Ort, wo sich
                                                  Geschichte und Gegenwart treffen, ist
                                                  das jüdische Staatstheater: Hier hatte
                                                  sich 1877 Avram Goldfaden mit sei-
                                                  ner Theatergruppe niedergelassen. Der
                                                  Schriftsteller aus Jassy/Iași gilt als Be-
                                                  gründer des heute weltweit verbreiteten
                                                  jüdischen Theaters. Mit seinem Ensem-
                                                  ble tourte er damals durch die Städte,
                                                  bis sie 1876 mit großem Erfolg in Bu-
                                             16
karest spielten – und blieben. Einer der                          Choral-Tempel
Zuschauer der ersten Aufführung in der
                                       turerbes, 2007-2015 umfassend restau-
Hauptstadt war kein geringerer als Mihai
Eminescu. Nach dem Zweiten Weltkrieg   riert. Errichtet wurde er zwischen 1864
durften eine zeitlang nur rumänische   und 1866 nach den Plänen des Wiener
Stücke aufgeführt werden, 1949 wurde   Architekten Ludwig von Forster als
das Theater Kulturinstitution des Staats.
                                       Replikat der Synagoge in der Wiener
Seither wurden dort über 200 Stücke ge-Tempelgasse. Mehrmals von Erdbeben
spielt, sowohl auf Rumänisch als auch  beschädigt oder zerstört, zuletzt von der
auf Jiddisch. Das Esemble nimmt häufig Legionärsbewegung im Januar 1941,
                                       wurde er 1945 wieder instandgesetzt und
an internationalen Festivals und Tourne-
en teil. Das Theater und seine Vertreter
                                       gilt als Denkmal nationalen Rangs. Bis
wurden 2019 von Staatspräsident Klaus  heute ist der Tempel spirituelles Zent-
Johannis mit hohen Kulturorden ausge-  rum der jüdischen Gemeinschaft, der
zeichnet.                              Sitz des FCER liegt auf dem Gelände.
                                       Das Innere des Tempels wirkt monu-
         Verborgene Pracht             mental: Zwei Etagen Balkone im neu-
                                       gotischen und maurischen Stil dienten
Wir beginnen unseren Spaziergang beim früher den Frauen als Betraum. Heute
Choral-Tempel, dem wohl imposantes- wird wegen der geringen Anzahl der
ten Teil des Bukarester jüdischen Kul- verbliebenen Gläubigen während des
                                            17
Gottesdienstes einfach ein transparenter
Vorhang zwischen der Seite der Män-
ner und der Frauen aufgezogen. Wän-
de und Decke sind mit Ornamenten
in eklektischem Stil mit maurischem
Einfluss in warmen Orangetönen reich
bemalt. Das Herzstück jeder Synagoge,
der heilige Schrein oder Aron Kodesch,
in dem die Tora-Rollen aufbewahrt
werden, ist ein wahres Schmuckstück.
Weiter geht es zur Großen Synagoge, de-
ren Pracht sich nur von innen erschließt.
Bemerkenswert auch hier: Balkone,
ornamentale Deckenbemalung, ver-
zierte Leuchter und bunte Glasfenster.
Ihr Bau wurde 1846 von den aus Polen
eingewanderten Aschkenasen bean-
tragt, als Komplex mit Tempel, Schu-
le und Spital, wegen Reklamationen
christlicher Nachbarn vorübergehend
eingestellt und 1847 mit Genehmigung
von Gheorghe Bibescu mit Ausnahme                                      Holocaust Mahnmal
des Spitals fortgesetzt. Seit 1992 be-           nutzt, Besucher sind bei den Konzerten,
findet sich in dem denkmalgeschütz-              Buchpräsentationen oder Konferenzen
ten Gebäude das Holocaust-Museum.                stets willkommen. Bewusst wird eine
Der Unirea-Tempel, 2014-2016 umfas-              Kultur der Offenheit gepflegt: Ange-
send restauriert, beherbergt das Muse-           sichts der schwindenden jüdischen Ge-
um der jüdischen Geschichte, benannt             meinschaft soll zumindest ihr Kulturerbe
nach dessen Gründer, Oberrabbiner Dr.            als Erinnerung erhalten bleiben.
Moses Rosen. Für Gruppen können Füh-
rungen beantragt werden. Über Einwan-                          Ausklang
derungsgeschichte, Bräuche, Religion,
Feste, Speisen und andere Belange des            Im Kontrast zu den prächtigen Gottes-
jüdischen Lebens von einst und heute             häusern steht das Holocaust-Mahnmal.
erzählt Direktorin Carmen Iovițu lebhaft         Rostiger Stahl, klare Formen, Monu-
und beantwortet bereitwillig Fragen.             mentalität und Symbolismus bestimmen
Die Synagogen werden heute auch als              das 2009 eröffnete Ensemble, wo am 9.
interkulturelle Orte der Begegnung ge-           Oktober, dem nationalen Holocaust-Ge-
                                            18
erinnert an die Opfer aus ihren Reihen.
                                                Ein Sarg mit rohen Bruchsteinen, der
                                                Epitaph, steht für namenlose Massengrä-
                                                ber. Der gebrochene Davidstern aus zwei
                                                verkeilten Dreiecken wirft genau am 9.
                                                Oktober einen ganzen, sternförmigen
                                                Schatten. Über unregelmäßige Stufen
                                                in Serpentinen steigt man vorsichtig in
                                                die Gedenkhalle hinunter, vorbei an dem
                                                Fenster mit Grabstelen aus dem zerstör-
                Holocaust Mahnmal, innen
                                                ten Friedhof in der Bukarester Sevas-
                                                topol-Straße. An den Wänden in der
denktag, Staatsmänner Kränze nieder-            Halle lesen wir die Namen der Opfer...
legen. Neben der Gedenksäule umfasst            Stellen uns vor, wie sie einst aus den Lä-
der Komplex weitere fünf Skulpturen:            den, den Teestuben, den Werkstätten und
die Via Dolorosa, eine aus rosa Gra-            Büros auf die bereits belebte Straße des
nit realisierte Wagenspur, sie steht für        nächtlichen Viertels strömten. Und ihr
die Schienen, auf denen die Waggons             Bukarest wird wieder lebendig, zumin-
mit den Deportierten nach Transnistri-          dest für einen geträumten Augenblick.
en oder Auschwitz entschwanden. Das
liegende Wagenrad, Symbol der Roma,
                                                          Eingang zum Holocaust Mahnmal

                                           19
Mit Manuc Bei durch die Hauptstadt
                            Auf den Spuren der Armenier
                                     in Bukarest

   Er galt als der reichste Ausländer sei-
      ner Zeit in der Walachei. Metropolit
        Dosoftei lobte ihn in den höchsten
     Tönen, denn er hatte die Hauptstadt
  und ihre Bojaren gerettet, indem er die
 türkischen Banden des Manav-Ibrahim
 vertrieb. Im Russisch-Türkischen Krieg
(1806-1812) spielte der 1808 von Sultan
Mustafa IV. zum Bei (Prinz) der Moldau
    und der Walachei ernannte Diplomat
    eine wichtige Rolle: geachtet von den
      Türken, respektiert von den Russen,

                                                                                      Wikipedia
  zudem Gastgeber der Truppen des Za-
  ren, die sich 1810 in seiner Bukarester
   Karawanserei einquartieren. Wer war
   dieser Manuc Bei? 1769 als Emanuel
                                                  Emanuel Martirosi Mârzaian, „Manuc Bei“
       („Manuc“) Martirosi Mârzaian in
 Ruse (Bulgarien) geboren, beide Eltern   in Bukarest nieder, wo er schon vor 1800
   Armenier aus der Region Ararat, kam    auf dem ehemaligen Gelände des alten
   er einst als Gehilfe eines armenischen Fürstenhofes eine Karawanserei erbaut
                 Händlers nach Jassy/Iași.hatte: Hanul lui Manuc. Dort, in der
                                          Bukarester Altstadt, beginnen wir un-
Dort lernte er erst mal Rumänisch, dann sere Tour auf den Spuren der Armenier.
Französisch und Russisch. Bald sollte
der als schlau, höflich und hilfsbereit            Das Schicksal der
bekannte junge Armenier zwölf Fremd-                  Karawanserei
sprachen beherrschen, verrät die Beilage
„Armenische Persönlichkeiten“ der Zeit- Nach Ende des Russisch-Türkischen
schrift „Ararat“, herausgegeben von der Krieges (1806-1812) verlässt Manuc Bei
armenischen Minderheit. Manuc träum- die Hauptstadt und zieht auf sein Anwe-
te glühend von Reichtum - tatsächlich sen in Hincești. Weil nach seinem Tode
gelang es ihm, ein imposantes Vermögen 1817 alle Kinder noch minderjährig sind,
anzuhäufen. 1806 ließ er sich schließlich wird die Karawanserei von kirchlichen
                                             20
Bevollmächtigten verwaltet, bis Sohn
Murat 1841 das Erbe antreten kann. In-
zwischen vom Erdbeben 1838 ernsthaft
beschädigt, sieht sich dieser gezwungen,
das stark reparaturbedürftige Gebäude zu
verkaufen. Nach mehreren Wechseln der
Besitzer erwirbt es 1862 Lambru Vasile-
scu, investiert in den Wiederaufbau und
ändert den Namen auf „Grand Hotel Da-
cia“, wo bald die Reichen und Schönen
Bukarests rauschende Feste feiern. 1881
von der Familie Cantacuzino erworben,
steckt Nachfahre Constantin Cantacu-
zino um das Jahr 2000 eine respektable
Summe in die Restaurierung der alten
Karawanserei und ihre Modernisierung
als Gaststätte. Heute ist der Komplex
mit exklusivem Restaurant, Weinstube
und romantischem Gastgarten gegen-
über dem alten Fürstenhof wieder eine
der touristischen Hauptattraktionen Bu-
                                                          Hanul lui Manuc, innen
karests.
                                         Dank als Mitglied in die Rumänische
         Museale Kleinode                Akademie aufgenommen. In dem ex-
                                         quisiten Museum in der Strada Muzeu-
Ein weiterer berühmter Armenier, der lui Zambaccian 21A (Nähe Dorobanți-
der Hauptstadt eine Sehenswürdigkeit
hinterlassen hat, ist der Textilhändler,                        Hanul lui Manuc
Kunstsammler, Mäzen und Kunstkriti-
ker Kricor H. Zambaccian (1889-1962).
Der Kunstliebhaber und Autodidakt auf
diesem Gebiet förderte nicht nur bilden-
de Künstler seiner Zeit, sondern auch
Musiker und Schriftsteller. Für seine
Sammlung – angeblich bis heute eine der
wertvollsten des Landes – errichtete er
um 1940 eigens ein Museum. 1947 ver-
macht er dieses dem Staat und wird zum
                                           21
berühmten armenischen Architekten Ja-
                                                  kob Melik und erbte das Haus. Sie hin-
                                                  terließ es der armenischen Gemeinschaft
                                                  unter der Bedingung, dort ein Heim für
                                                  verarmte Witwen einzurichten, was auch
                                                  geschah. Heute befindet sich die Casa
                                                  Melik nicht mehr im Besitz der armeni-
                                                  schen Minderheit, sondern dient als Sitz
                                                  des Museums des rumänischen Malers
                                                  Theodor Pallady.

                                                  Armenisches Leben schnuppern

                                                  Das armenische Viertel besucht man am
                                                  besten im August, wenn das bunte Stra-
                                                  ßenfest stattfindet, das diese Minderheit
                                                  in Bukarest seit drei Jahren regelmäßig
                                                  organisiert. Dann duftet es nach Kaffee
                                                  in Kännchen im heißen Sand, nach tra-
                                                  ditionellen Speisen, Süßigkeiten und
                                                  Branntwein. Musik wabert durch die
Casa Melik
                                                  sommerlichen Straßen, bunte Stände
Platz) findet man Gemälde von heimi-              reihen sich aneinander wie einst, als
schen Malern wie Teodor Aman, Grigo-              Armenier, Juden und Griechen dort ihre
rescu, Tonitza, Pallady, Skulpturen von           exotischen Waren feilboten. Heute kann
Brâncuși, aber auch Werke ausländischer           man Bücher, Teppiche, Schmuck und
Größen wie Cezanne, Picasso, Renoir.              Handarbeiten erstehen. Der Granatapfel,
Ein weiteres Museums-Kleinod ist die                                     Strada Armenească
Casa Melik im armenischen Viertel in
der Strada Spătarului 22. Zwischen 1750
und 1760 errichtet, gilt die Villa des ar-
menischen Händlers Kevork Nazaretog-
lu als ältestes Privatgebäude Bukarests.
Das Schmuckstück traditioneller wala-
chischer Baukunst besticht mit einem
hohen Kellergewölbe, einer geräumigen
Veranda und gewaltigen Holztreppen.
Nazaretoglus Nichte Ana heiratete den
                                             22
Symbol der Einheit unter den Armeni-                                      Alter Fürstenhof
ern, ziert T-Shirts, Einkaufstaschen, Ob-
jekte aus Keramik oder Glas. Geboten             wurden. In einem Dokument, 1281
werden auch Theater-Veranstaltungen              von König Ladislaus IV. unterzeich-
bis hin zu Stadtführungen durch das ar-          net, ist von „Terra Armenorum“ und
menische Viertel (zum Programm siehe             einem armenischen Kloster die Rede.
www.stradaarmeneasca.ro) .                       Einwanderungswellen gab es zur Zeit
                                                 Alexander des Guten (1400-1431), der
  In Rumänien tief verwurzelt                    Armenier aus Polen zur Belebung des
                                                 Handels in die Moldau einlud und sie
Die armenische Minderheit blickt auf             von Steuern befreite. Auch zur Zeit Ste-
eine lange Geschichte im Raum des                fans des Großen (1457-1504) kamen
heutigen Rumänien zurück. Das äl-                an die 10.000 Armenier in die Moldau.
teste Zeugnis ihrer Anwesenheit ist              Der Historiker Nicolae Iorga bezeich-
ein Grabstein aus dem Jahr 967 in der            net sie sogar als Mitbegründer des Für-
Moldau. Zur selben Zeit erwähnt ein              stentums Moldau, denn sie hatten die
ungarischer Chronist eine armenische             Handelswege geschaffen, auf deren
Siedlung in Siebenbürgen, wo mehre-              Basis es entstanden war. Moldauische
ren Armeniern vom ungarischen König              Herrscher armenischer Abstammung
Stefan (997-1038) Adelstitel verliehen           waren Garabet Ioan Potcoavă (1592)
                                            23
und Ioan Vodă-Armeanu der Schreck-
liche (1572-1574). Petru Rareș hat-
te einen armenischen Berater namens
Petru Vartic und Michael der Tapfere
einen diplomatischen Agenten, Petru
Armeanu. Erinnern wir uns auch wieder
an Manuc Bei, der zum moldauisch-
walachischen Prinzen (Bei) avancierte.
In der Walachei siedelten die Armenier
im 14. bis 15. Jahrhundert vor allem in
Bukarest, Târgoviște, Pitești, Craiova
und Giurgiu. Ab dem 15. Jahrhundert
erreichten sie auch die Dobrudscha. Um
1700 errichten Armenier in Siebenbür-
gen sogar eine eigene Stadt: Armenopo-
lis bei Gherla. Für die Erlaubnis mussten

Armenischer Teppich im Kirchenkomplex
                                                                 Museum Zambaccian

                                             sie 25.000 Gulden an Kaiser Leopold I.
                                             in Wien zahlen. Die zweitgrößte arme-
                                             nische Siedlung Siebenbürgens hieß Eli-
                                             sabethstadt, das heutige Dumbrăveni bei
                                             Schäßburg/Sighișoara.
                                               Die größte Einwanderungswelle der
                                             Armenier aber fand Anfang des 20. Jahr-
                                             hunderts statt, nach dem Völkermord
                                             von 1915 im Osmanischen Reich.

                                                  Uralte Büchtertradition

                                             Wohin würde uns Manuc Bei jetzt
                                             führen, um uns armenische Kultur in
                                             Bukarest näherzubringen? Sicher zur
                                             prächtigen Kathedrale der Erzengel Mi-
                                             chael und Gabriel im armenischen Kir-
                                             chen- und Kulturkomplex, der im Kapiel
                                        24
„Heimliche Hauptstadt der Kirchen“                reich verzierte, armenische Bibel von
ausführlicher beschrieben wird, hätte er          Voskan Erevanți aus dem Jahr 1666 be-
deren Bau noch erlebt. Bestimmt würde             staunen, die 160 Stiche von Christoffel
er uns auch energisch am Ärmel in die             van Sichel dem Jüngeren enthält, ein
1927 vom armenischen Historiker und               Teil davon nach Vorlagen von Rafael,
Orientalisten H. Siruni gegründete ar-            Albrecht Dürer und anderer großer euro-
menische Zentralbibliothek ziehen, die            päischer Meister. Neugierig geworden?
der Bei zwar auch nicht kennen kann,              Dann, so flüstert mir Manuc Bei gerade
doch Buchkultur war bei den Armeniern             ins Ohr, lohnt sich vielleicht ein Besuch
schon seit der Erfindung ihres Alpha-             am Sitz der Vertretung der armenischen
bets im 5. Jahrhundert groß in Mode.              Minderheit, wo Zeitschriften und Bro-
Der Buchdruck hat seit 1512 Tradition,            schüren noch mehr über diese interes-
nachdem Hakob Meghapart in Venedig                santen Einwanderer verraten, die so tief
die erste armenische Druckerei gegrün-            mit unserem Land verwurzelt sind.
det hatte. Über 1000 alte Bücher sind
allein in Bukarest archiviert, ca. 400 da-
von stammen von vor 1800. Im Museum
„Dudian“ des Komplexes kann man die
                                                                     Armenische Kathedrale

                                             25
Rund um den Universitätsplatz
                           Im Karussell von Geschichte
                                und Geschichten

     Wie dicht die Sehenswürdigkeiten in     Doch als Mittelpunkt einer hypotheti-
   unserer Hauptstadt gesät sind! Nimmt      schen Uhr, nach der wir uns in Soldaten-
    man einen beliebigen Platz in der In-    manier orientieren, nahezu ideal: Vor uns
    nenstadt ein und dreht sich 360 Grad     liegt im Norden „zwölf Uhr“. Bereit für
 um die eigene Achse, hat man praktisch      eine spannende Zeitreise?
ein vollständiges Sightseeing-Programm
  vor Augen – noch ohne einen einzigen               Der Armenier, der
                  Schritt getan zu haben!           Bukarest veränderte

Zitternd bleibt die Nadel auf der Stadt- Blickrichtung „fünf vor 12 Uhr“: Vor
karte stecken. Getroffen: Universitäts- uns erhebt sich das Gebäude der Univer-
platz. Theoretische Beobachterposition: sität für Architektur und Stadtplanung
die Blumeninsel im Kreisverkehr, in der
Realität natürlich nicht zu empfehlen.                      Blick auf Colțea-Spital

                                        26
Nationaltheater
„Ion Mincu“, 1912-27 erbaut, Werk des
berühmten Architekten Grigore Cer-               ten, Modelle berühmter Gebäude,
chez (1850-1927), dem die Hauptstadt             Fragmente von den Demolierungen
gleich mehrere bedeutende Gebäude                der 80er Jahre. Generationen von Stu-
verdankt, unter anderem das Odeon-               denten und Professoren befassten sich
Theater, einen Teil des Cotroceni-Palasts        hier mit dem Studium der Entwicklung
oder die Fassade des Museums „Gri-               der rumänischen Architektur. Eine der
gore Antipa“. Der Baumeister gehör-              berühmtesten Studentinnen: Anca Pe-
te der armenischen Minderheit an und             trescu, Chefarchitektin des zweitgröß-
war Verfechter des rumänischen Bau-              ten zivilen Verwaltungsgebäudes der
stils, obwohl er in Paris studiert hatte.        Welt, des heutigen Parlamentspalasts.
In der Universität „Ion Mincu“, Nach-
folgeinstitution der 1904 gegründeten                   Vom Bombenangriff
höheren Schule für Architektur, wird                  zum roten „Röhrenpilz”
nicht nur Baukunst gelehrt, sondern
auch deren Geschichte bewahrt. Das               Drehen wir uns mit dem Minutenzei-
Museum verfügt über ca. 900 Expo-                ger auf „zehn nach 12 Uhr“: Vor uns
nate seit 1916: Projekte von Studen-             liegt das moderne Gebäude des Na-
                                            27
tionaltheaters „Ion Luca Caragiale“:
Das karminrote Dach erinnert an einen
überreifen Röhrenpilz – ein Hingu-
cker! Davor ein Ensemble amüsanter
Bronze-Figuren, der „Narrenwagen“:
Der Namensgeber des Theaters, sitzend,
blickt auf einen Wagen voller Charak-
tere aus seinen eigenen Werken. Ihre
Gesichter ähneln den Schauspielern,
die sie auf der Bühne verkörperten.
Die Institution datiert auf 1852 zurück,
doch lag das alte Nationaltheater auf
der Calea Victoriei. 1944 von deutschen
Fliegern zerbombt – eigentlich sollten
sie den Telefonpalast treffen - konnte es
nicht mehr gerettet werden. Doch eine
Replik der alten Fassade wurde in den
modernen Glasbau des Novotel Hotels
integriert. 1973 entstand das neue Thea-
ter am Universitätsplatz, das den Beina-
men Caragiales erhielt. 1978 durch einen           Constantin Brâncoveanu, Stifter der
Brand beschädigt, wurde es in den letz-              Kirche zum hl. Georg dem Neuen
ten Jahren auf internationalen Standard Schwertführer am walachischen Fürs-
gebracht.                                 tenhof, der 1704 ein Armenkrankenhaus
                                          hinter der Kirche des Klosters Colțea er-
           Armenspital mit                öffnete – das erste Spital der Walachei!
         schwedischem Turm                Behandelt wurden dort Bettler, Bedürf-
                                          tige und Fremde. Neben einem 24-Bet-
In Blickrichtung „fünf vor halb Eins“ ten-Trakt wurden mönchszellenartige
liegt das rot-weiß gestreifte Gebäude Unterkünfte und eine Schule für die ru-
des Colțea-Spitals. Man kann es schon mänische und die slawonische Sprache
aufgrund seiner Architektur nicht über- eingerichtet. Finanziert wurde das Pro-
sehen. Nicht minder faszinierend seine jekt aus den Einkünften des Wirtshauses
Geschichte: Der Name Colțea geht auf Colțea und des Klosters, beide ebenfalls
eine Bukarester Familie zurück, die zur von Mihai Cantacuzino gegründet, so-
Zeit Brâncoveanus (1688-1714) dieses wie aus Spenden mildtätiger Bojaren.
Stadtviertel dominierte. Stifter des Spi- 1709-1714 erbauten Soldaten des
tals ist Mihai Cantacuzino (1640-1716), schwedischen Königs Karl XII. ei-
                                         28
nen Glockenturm von über 50 Me-                  über den Colțea-Turm: die Schweden
tern, den damals höchsten der Stadt,             sollen ihn aus Dankbarkeit erbaut haben.
für die Kirche. Der Colțea-Turm, des-            Eine andere Theorie hingegen besagt,
sen Baukunst in höchsten Tönen ge-               der Turm sei von den Rückkehrern des
rühmt wurde, fiel leider dem Erdbeben            Regiments der „Walloschen“ erbaut wor-
1802 zum Opfer. Die 1700 Kilogramm               den: Walachen, die als Söldner König
schwere Glocke krachte herunter und              Karls XII.von Schweden an der
begrub einen fliegenden Händler unter            Schlacht von Poltava teilgenom-
sich. Sie wurde ins Kloster Sinaia ver-          men hatten. Ihr Kommandant, San-
bracht - auch eine Stiftung von Mihai            du Colțea, soll aus diesem Bukarester
Cantacuzino. Teile des Colțea-Turms              Viertel stammen. In den Bau kann er
- zwei Konsolen der Balustrade - kann            jedoch nicht impliziert gewesen sein,
man noch im Lapidarium im Hof des                denn er war für zehn Jahre in russi-
Stavropoleos Klosters in der Bukarester          sche Kriegsgefangenschaft geraten.
Altstadt bestaunen. Die Grundmauern              Der Historiker G. I. Ionnescu-Gion be-
des Turms liegen heute unter der Fahr-           schreibt das Colțea-Spital, basierend auf
bahn des Bv. Brătianu auf der Spur in               Konsole der Balustrade des Colțea-Turms
Richtung Piața Unirii. Eine Zeit lang                     (heute in der Stavropoleos-Kirche)
markierte ein Viereck aus weißen Stei-
nen vor dem Șuțu-Palast den Grundriss.
Warum aber wurde der Turm von
schwedischen Soldaten errichtet? In
„Geschichte des transalpinischen Da-
ciens“ (Sulzer Verlag Wien 1787) wird
erzählt, Brâncoveanu hätte die Sol-
daten Karls XII. beherbergt, die sich
nach der verlorenen Schlacht von
Poltava auf dem Rückzug befanden.
Interessant ist, dass 1712 eine schwe-
dische Postlinie vom Exil König
Karls XII. in Bender (Osmanisches
Reich) über Jassy, Honigberg und Kron-
stadt führte. 1710 besuchte eine schwe-
dische Delegation Honigberg und über-
brachte der dortigen Kirche als Dank
eine Geldspende, von der Orgel und
Altar finanziert wurden. Eine ähnliche,
aber unbestätigte Geschichte gibt es auch
                                            29
einem Dokument von 1732, als sauber
und gut geführt. Jene die dort sterben,
werden vom Kloster auf eigene Kosten
begraben, egal welcher Religion, wun-
derte er sich. Nach dem Erdbeben von
1802 bleibt auch von dem Krankenhaus
nur eine Ruine. 1837-42 wird nach Plä-
nen des Architekten Heinrich Feiser ein
neuer Bau errichtet - mit 60 Betten, bis
1849 sogar 150. Dort entsteht die erste
Schule für „kleine Chirurgie“ und 1852
schließlich die erste Fakultät für Medizin.
Die Schule für Slawonisch blieb üb-
rigens bis ins 18. Jh. bestehen. Gene-
rationen von Diakonen und Kantoren
wurden dort ausgebildet, bis endlich das
Rumänische als Kultsprache anerkannt
wurde. 1867-1888 wird das Spital nach
Plänen des holländischen Architekten
Joseph Schiffler erneut völlig umgebaut.
Nur wenige Schritte vom Colțea Spital
                                                                                Șuțu-Palast
entfernt liegt in Blickrichtung die ortho-
doxe Kirche des Hl. Georg dem Neuen.               nete man im Mittelalter sämtliche katho-
Das von Constantin Brâncoveanu anstel-             lischen Klöster und Kirchen im Süden
le einer älteren Kirche neu erbaute, we-           und Osten der Karpaten. Die Bukarester
gen seiner prächtigen Innengestaltung              Bărăția stammt aus dem 17. Jh. und gilt
sehr sehensțwerte Gotteshaus, wurde                als ältestes katholisches Gotteshaus der
1707 im Beisein des Patriarchen von Je-            Stadt. Es wurde mehrmals von Bränden
rusalem geweiht. Sechs Jahre nach Brân-            und Erdbeben zerstört und von lokalen
coveanus Hinrichtung in Konstantinopel             Gläubigen und bulgarischen Händlern
1714 ließ seine Gattin Marica dessen               wieder aufgebaut. Der aktuelle Bau da-
sterbliche Überreste, von treuen Chris-            tiert auf 1848.
ten heimlich aus dem Bosporus gerettet
und versteckt, in dieser Kirche bestatten.                 Rauschende Bälle
Gleich daneben liegt die katholische                     im Haus des Griechen
Bărăția-Kirche, deren merkwürdiger
Name sich von „brat“ - Bruder auf sla-             Auf unserer imaginären Uhr drehen wir
wonisch - ableitet. Als Bărăția bezeich-           auf „10 nach halb Eins“: Im Blickfeld
                                              30
liegt nun das schmucke Gebäude des Bu-           Armee, Diplomatie und Regierung: So
karester Stadtmuseums, der Șuțu-Palast.          nannte man byzantinische oder osma-
Als eins der ältesten und am wenigsten           nische Adelsfamilien im Osmanischen
veränderten Bojarenhäuser hat es gut 180         Reich des 17. bis 18. Jh., die im Stadtteil
Jahre auf dem Buckel. Seinen Namen               Phanar von Konstantinopel die Ober-
verdankt es Costache Șuțu, dem Nach-             schicht bildeten.
kommen einer griechischen Familie aus             Die Pläne des 1833-1835 erbauten Șuțu-
Epirus, dessen Ehefrau dort rauschende           Palastes entstammen den Wiener Archi-
Bälle gab. Sie sollen sogar denen des Kö-        tekten Conrad Schwink und Johann Veit.
nigspalasts Konkurrenz gemacht haben.            1956 wurde das Gebäude Sitz des Bu-
Der Familie Șuțu entstammten mehre-              karester Stadtmuseums und beherbergt
re Fürsten der Walachei und der Mol-             nicht nur eine beeindruckende Sammlung
dau aus der Phanariotenzeit. In dieser           zur Stadtgeschichte, sondern gehört auch
- zwischen 1711 (Moldau) bzw. 1715               zu den lebhaftesten Veranstaltungsorten.
(Walachei) und 1821 - hatten die einhei-         Wir haben unser 360-Grad-Sightseeing-
mischen Bojaren nicht mehr das Recht,            Programm vollbracht. Na, schwindlig
einen Fürsten aus ihren Kreisen zu wäh-          geworden auf der Blumeninsel? Dann
len. Statt dessen setzten die Osmanen            tun jetzt vielleicht doch ein paar Schritte
Phanarioten an die wichtigen Posten in           zu Fuß ganz gut.
                                                                    „Ion Mincu“ Universität

                                            31
Heimliche Hauptstadt der Kirchen
                         Über die faszinierende Vielfalt der
                            christlichen Gotteshäuser

          Bukarest, Stadt der Superlative:
        Der Einladung zur Altarweihe der
   höchsten orthodoxen Kirche der Welt,
   der Nationalen Kathedrale, waren am
  25. November 2018 über 30.000 Gläu-
     bige und hohe Vertreter befreundeter
   orthodoxer Kirchen gefolgt. Die Zere-
 monie zelebrierten der rumänische Pat-
 riarch Daniel, Patriarch Bartholomaios
    I. von Konstantinopel und Chrysosto-
      mos, der griechische Erzbischof von
Patras. Das 120 Meter hohe Gotteshaus
  sollte dem zweitgrößten zivilen Verwal-
   tungsgebäude der Welt, dem bis heute
von den Einheimischen eher ungeliebten
 „Haus des Volkes“ aus dem kommunis-
    tischen Ceaușescu-Regime, als neues
   Wahrzeichen den Rang ablaufen. Sind
    die Bukarester glücklich über den gi-
    gantomanischen Bau, der bereits 120
              Millionen Euro verschlang?

Die Meinungen sind geteilt. Richtig                                      Italienische Kirche
traurig aber waren die Kölner: Verweist
doch die weltweit größte und schwerste            gehören 88 Prozent der Bürger des Lan-
freischwingende Glocke der Bukarester             des dieser Konfession an – gibt es eine
Kathedrale den „dicken Pitter“ im Köl-            ganze Reihe ungewöhnlicher christlicher
ner Dom nur noch auf den zweiten Platz.           Gotteshäuser zu entdecken, gegründet
Doch nicht immer geht es darum, wer               von ausländischen Gesandten oder hei-
das Größte hat. Der wahre Charme der              mischen Minderheiten. Ein beachtliches
Hauptstadt verbirgt sich vielmehr in der          Kulturerbe im Schatten der großen Ka-
Vielfalt ihrer Kirchen. Neben unzähli-            thedrale, das es verdient, auch einmal im
gen rumänisch-orthodoxen – immerhin               Rampenlicht zu stehen.
                                             32
Patriarchat Moskau gehörige Gottes-
                                                haus der rumänischen orthodoxen Kir-
                                                che (BOR) übereignet und dient seit
                                                1992 dem Lehrstuhl für Theologie an
                                                der Bukarester Uni als Hauskapelle.
                                                Die Fassade mit rosa Ziegeln und von
                                                Bögen überspannten Mosaiken ist vom
                                                russischen und georgischen Stil inspi-
                                                riert. Die Türme, einst vergoldet, be-
                                                deckt heute goldgestrichenes Blech. Die
                                                Innenmalereien im alten byzantinischen
                                                Stil mit Szenen ähnlich denen der Klös-
                                                ter auf dem Berg Athos realisierte der
                                                russische Maler N. A. Vasiljew. Die ge-
                                                schnitzte, vergoldete und ebenfalls von
                                                diesem bemalte Ikonenwand stammt aus
                                                Moskau und wurde nach dem Vorbild
                                                in der Erzengel-Michael-Kathedrale im
                                                Kreml gestaltet.

                                                 Katholischer Gruß aus Mailand
Ehemalige russische Kirche
                                                Für die italienische katholische Kirche
     Russische Zwiebeltürme                     am Bv. Nicolae Bălcescu 28 stand das
           am Uni-Platz                         Mailänder Gotteshaus Santa Maria del-
                                                le Grazie Modell. Erbaut wurde sie von
Der Zuckerbäckerstil der ehemaligen             Mario Stoppa und Giuseppe Trabosch
russischen Kirche in der Ion Ghica Stra-        für die italienischen Einwanderer, die
ße 3, direkt gegenüber der Universität,         König Karl I. als Arbeitskräfte ins Land
springt ins Auge: zarte Pastellfarben,          gerufen hatte. Zur Zeit des Kommunis-
Gold, Zwiebeltürmchen. Erbaut wurde             mus war sie meist geschlossen, nur ge-
sie 1905-1909 auf Initiative des rus-           legentlich konnten italienische Diploma-
sischen Botschafters zur Zeit von Zar           ten dort Gottesdienste feiern. Seit 1989
Nikolaus II. und ist deshalb seinem             für alle Besucher geöffnet, wird sie bis
Namensvetter, dem Heiligen Niko-                heute von der italienischen Minderheit
laus, geweiht. Hier sollten die Ange-           genutzt. Auch kulturelle Veranstaltungen
hörigen der russischen diplomatischen           wie Konzerte der Barock-, Renaissance-
Vertretung beten. 1957 wurde das zum            oder Kirchenmusik finden dort statt.
                                           33
In der Kirche im Komplex des orthodo-           ein eigenes Stadtviertel hatten, besuchen
xen Patriarchen ruhen die Gebeine des           auch rumänische orthodoxe Kirchen.
hl. Dimitrie, Beschützer von Bukarest
                                                Von Griechen gegründet wurde auch die
                                                Kirche des Klosters Stavropoleos in der
 Neue und alte Glaubensstätten                  gleichnamigen Straße des historischen
         der Griechen                           Altstadtzentrums – eines der schönsten
                                                Gebäude der Hauptstadt im Brâncovea-
Die Kirche der Griechen in der Strada           nu-Stil. 1720 gründete der Grieche Ioa-
Pache Protopopescu kann von Nichtmit-           nichie Stratonikeas aus Epirus dort eine
gliedern leider nur von außen betrachtet        Karawanserei, aus deren Einnahmen er
werden. 1901 wurde sie auf Veranlas-            1724 im Hof die Kirche und ein Kloster
sung griechischer Diplomaten nach Plä-          errichtete und finanzierte – durchaus üb-
nen des deutschen Architekten A. Lardel         lich im damaligen Bukarest. 1726 wurde
erbaut. Die Fassade bestimmen ionische          er während der Herrschaft des Fürsten
Säulen. Von den Erdbeben 1940 und               Nicolae Mavrocordat (1719-1730), der
1977 schwer beschädigt und im Kommu-            die sogenannte Phanariotenzeit einlei-
nismus vernachlässigt, wurde sie nach           tete, zum Metropoliten von Stauropolis
der Restaurierung 2002 neu eingeweiht.          gewählt – daher der Name des heute
Doch die Bukarester Griechen, die nie           rumänisch-orthodoxen Klosters.
                                           34
Der armenische Kirchen-                      Staat der Welt. Der Heilige Gregor, der
      und Kulturkomplex                          301 König Tiridat bekehrte, gilt als Be-
                                                 gründer der Armenisch Apostolischen
An der gewaltigen Kathedrale von Et-             Kirche, die auch in Rumänien mehrere
schimiadsin – heute Wagharschapat – in           Klöster und Gotteshäuser unterhält. Der
Armenien inspirierte sich Dimitrie Mai-          armenische Baustil zeichnet sich durch
marola, als er die Pläne für die Bukares-        reichhaltiges Dekor aus. Die Fassadenor-
ter armenische Kathedrale am Bv. Carol           namente sind den Motiven der im 10.
I. entwarf. 1911 bis 1915 erbaut und den         Jahrhundert zerstörten Gregor-Kathe-
Heiligen Erzengeln Michael und Gabriel           drale in Zvartnoz in der zentralarmeni-
geweiht, besteht sie aus einer dreischif-        schen Provinz Armawir nachempfunden,
figen Basilika, einem 12-seitigen Turm           die mehrere Male nachgeahmt wurde.
über dem Naos und einem quadratischen            Zum armenischen Komplex in Bukarest
Glockenturm über dem Eingangsbe-                 gehören ferner: die 1927 von Hagop Si-
reich. Sie wird von der armenischen              runi gegründete armenische Zentralbi-
Minderheit genutzt, die seit fast 1000
Jahren auf dem heutigen Gebiet Rumä-                Die Kirche zum hl. Georg dem Neuen am
niens existiert. Immerhin rühmen sich                „Kilometer Null“war früher spirituelles
die Armenier mit dem ersten christlichen                    Zentrum des orthodoxen Landes

                                            35
Armenische Kirche, Details
bliothek mit über 1100 alten Büchern,
ein Pfarrmuseum mit Gegenständen aus
armenischen Kirchen in Muntenien und
der Moldau, das Gebäude der ehemali-
gen armenischen Schule, heute Sitz der
Vertretung dieser Minderheit in Rumäni-
en, sowie das Kulturhaus, benannt nach
dessen Stiftern Hovsep und Victoria Du-
dian. Die Armenier in Bukarest waren
meist Händler, die schnell zu Wohlstand
kamen. Sie brachten Textilien und Tep-
piche aus dem Orient an die Fürsten-
häuser der Walachei. Bekannt sind die
armenischen „Paradiesfarben“, typisch
ein violettes Rot, das aus Insekten, die
auf einer armenischen Eichenart leben,
gewonnen wurde.
Armenische Kirche - Details
                                           36
von orthodoxen Albanern frequentiert
                                                wurde, ist sie auch als „albanische Kir-
                                                che“ bekannt. Tatsächlich wurde sie je-
                                                doch 1702 von Fürstin Marica gestiftet,
                                                der Ehefrau Constantin Brâncoveanus,
                                                und spiegelt den typischen Baustil aus
                                                der Zeit des walachischen Herrschers
                                                wider. Hier wirkte für kurze Zeit der be-
                                                rühmte Albaner Theofan Stylian „Fan“
                                                Noli (1882-1965) als Pfarrer, der 1908
                                                als erster Priester eine Messe in albani-
                                                scher Sprache hielt und später orthodo-
                                                xer Bischof wurde. Außerdem war Noli
                                                Schriftsteller, Historiker und Politiker,
                                                1924 bekleidete er kurz das Amt des al-
                                                banischen Ministerpräsidenten.

                                                       Die Kirche der Bulgaren und Albaner

Armenische Kirche - Fassadendekor

          Den Bulgaren
     und Albanern übergeben

Das heute als bulgarische Kirche be-
kannte Gotteshaus liegt auf dem Gelän-
de des ehemaligen Klosters Colțea in der
Strada Doamnei. 1725 erbaut, wurde sie
dem Seher und Heiligen Ilie Tesviteanul
geweiht, benannt nach der Burg Tesvi in
seiner Heimat Gilead am Jordan. 1954
der bulgarischen Gemeinschaft über-
geben, die am Rande Bukarests lebte,
wurde sie von den Patriarchen Rumäni-
ens und Bulgariens hierfür extra neu ge-
weiht. Weil die Nikolaus-Kirche an der
Kreuzung der Straßen Academiei und
Biserica Enei zwischen 1911 und 1947
                                           37
Schlichte reformierte Kirchen

Schlichtheit zeichnet die reformier-
ten Kirchen, beide in der Strada
Luterană, aus. Nur der Vollständigkeit
halber wird die 1972 erbaute ungari-
sche Calvinistenkirche erwähnt, für
den Touristen wenig spektakulär und
außerdem fast immer geschlossen.
Die evangelische Stadtpfarrkirche hin-
gegen, Kultort vor allem der evangeli-
schen deutschen Minderheit, besticht
mit bunten Glasfenstern, zwei alten
Orgeln und einem schönen Altar. Ar-
chitektonisch verbindet das von A.
Mohnbach konzipierte Gebäude auf
einzigartige Weise Elemente mehrerer          Evangelische Stadtpfarrkirche in
Stilrichtungen: neugotisch, romanisch,                   der Strada Luterana

                                         38
Stavropoleos Kloster
Neorenaissance      und     byzantinisch.
Bukarest ist eine Stadt, die das Streben
nach „dem Größten“ gar nicht nötig hat.
Statt dessen könnte man sich mehr mit
seiner einzigartigen Vielfalt rühmen -
zum Beispiel auch als „heimliche Haupt-
stadt der Kirchen“.

                       Griechische Kirche
                                            39
Die verlorene, wiedergefundene Stadt
                 Architektonischer Streifzug durch Bukarest:
             zwischen alt und modern, Geschichte und Gegenwart

       Bei diesem architektonischen Spa-
    ziergang durch Bukarest stehen nicht
   unbedingt die klassischen Sehenswür-
  digkeiten im Mittelpunkt. Es geht viel-
  mehr darum, einen Bogen zu schlagen
    zwischen alt und modern, Geschichte
    und Gegenwart, Bekanntem und Ent-
 deckenswertem. Um zwölf ausgewählte
  Bauwerke, die eine interessante Meta-
morphose hinter sich haben, architekto-
nisch oder historisch. Um das verlorene
   - und wiedergefundene Bukarest: Das
    Porträt einer lebendigen Hauptstadt,
  voll spannender historischer Facetten,
von Bukarester Architekten im Laufe der
     Zeit immer wieder neu interpretiert.

   Die Kirche „Bucur Ciobanu”

Benannt ist die Hauptstadt nach dem                       Kirche „Bucur Ciobanu“
Hirten Bucur – wohl von „bucurie“, auf
rumänisch Freude – der auf einem Hü- Dâmboviţa ein Holzkirchlein errichtet
gel im dichten Wald nahe der glitzernden haben soll. So beginnen auch wir unse-
                                         ren Spaziergang bei der Kirche „Bucur
                                         Ciobanu” în der Strada Radu Vodă Nr.
                                         33: Archäologische Funde aus dem Jahr
                                         2007 – drei steinerne Treppenstufen un-
                                         ter der Erde – bestätigen das Alter des
                                         Baus, der von Mircea dem Alten 1416
                                         durch eine Steinkirche ersetzt worden
                                         war. „Hier liegt die Wiege der Festung,“
                                         sagte Nicolae Iorga 1939, indem er sich
                                         auf Überlieferungen berief.
                                            40
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