CHINA ALLEIN ZU HAUS Das Reich der Mitte in der globalen Weltordnung Von Ho-fung Hung - Rosa Luxemburg Stiftung NYC
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CHINA ALLEIN ZU HAUS Das Reich der Mitte in der globalen Weltordnung ROSA LUXEMBURG STIFTUNG NEW YORK OFFICE Von Ho-fung Hung
Inhaltsverzeichnis Vom Aufstieg zur Stagnation? Von den Herausgebern..................................................................1 China allein zu Haus Das Reich der Mitte in der globalen Weltordnung...................................................................2 Von Ho-fung Hung Ursprünge und Dynamik des chinesischen Aufschwungs......................................................3 Die Überakkumulationskrise....................................................................................................11 Neue Entwicklungsmuster im Globalen Süden......................................................................13 Chinas geopolitisches Vordringen in Asien und darüber hinaus........................................16 Zusammenfassung...................................................................................................................25 Zitierte Literatur.........................................................................................................................27 Veröffentlicht von der Rosa-Luxemburg-Stiftung, Büro New York, Februar 2016 Herausgeber: Stefanie Ehmsen und Albert Scharenberg Adresse: 275 Madison Avenue, Suite 2114, New York, NY 10016 E-Mail: info@rosalux-nyc.org; Telefon: +1 (917) 409-1040 Gefördert mit Mitteln des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung. Die Rosa-Luxemburg-Stiftung ist eine international tätige, progressive Non-Profit-Organisation für politische Bildung. In Zusammenarbeit mit vielen Organisationen rund um den Globus arbeitet sie für demokratische und soziale Partizipation, die Ermächtigung von benachteiligten Gruppen, Alternativen zur wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung und für friedliche Konfliktlösungen. Das New Yorker Büro erfüllt zwei Hauptaufgaben: sich mit Themen der Vereinten Nationen zu befassen und mit nordamerikanischen Linken in Hochschulen, Gewerkschaften, sozialen Bewegungen und der Politik zusammenzuarbeiten. ww w .r osal u x - n yc.or g
Vom Aufstieg zur Stagnation? Seit mehr als drei Jahrzehnten hat Chinas beachtlicher wirtschaftlicher Aufstieg die Welt umgestal- tet. Ungeachtet der jüngsten Abschwächung fasziniert diese Wandlung weiterhin; Experten haben mit zahlreichen Theorien dafür aufgewartet, was der Wandel für das Land, seine Nachbarn und die Welt bedeutet. Repräsentiert China ein alternatives Wachstumsmodell oder handelt es sich nur um eine neue Variante des Neoliberalismus? Fordern China und die BRICS-Staaten (Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika) die derzeitige Weltordnung heraus oder nehmen sie bereitwillig und aktiv daran teil? Welche Auswirkungen haben Chinas Aktivitäten in Südostasien und andernorts im Globalen Süden? Wie werden sich die Politik und die globale Positionierung Pekings in der nahen Zukunft ändern, und welche alternativen Pfade stehen dem Land offen? Im New Yorker Büro der Rosa-Luxemburg-Stiftung haben wir uns mit der Frage beschäftigt, wie China und andere große aufstrebende Wirtschaftsmächte des Globalen Südens die Welt und die globalen Machtbeziehungen verändern. In der von uns veröffentlichten Studie „Neoliberalismus mit südlichem Antlitz: Der Aufstieg des BRICS-Blocks“ argumentiert Vijay Prashad, dass die Entwicklung der BRICS Ausdruck eines lang gehegten Traums des Globalen Südens ist, entscheidende politische Macht auf globaler Ebene auszuüben, auch wenn die BRICS den Status quo bisher eher unterstützt als in Frage gestellt haben. Walden Bello wiederum bekräftigte in seinem Vortrag in unserem Büro 2015 den ausbeuterischen Charakter bestimmter Praktiken der BRICS im Im- und Ausland. Aller- dings sah er in den BRICS-Staaten zugleich potenzielle Herausforderer neoliberaler Institutionen und Ideologie – sofern diese ihre tiefgreifenden internen Widersprüche überwinden können. Im Kontext dieser Debatten argumentiert Ho-fung Hung, Ostasien-Experte und Professor an der Johns Hopkins Universitäty, dass der beachtliche Wirtschaftsaufschwung Chinas auf dessen Integra- tion in die globale Wirtschaftsordnung zurückzuführen ist. Obwohl China diese Ordnung keineswegs anficht, hat das Land Handelsbeziehungen umgestaltet und das Wirtschaftssystem weiter fragmen- tiert. Chinas Aufstieg ist außerdem im Vermächtnis maoistischer Entwicklungsstrategien verwurzelt, ebenso wie in seiner geographischen Nähe zu den exportorientierten ostasiatischen „Tigerstaaten“. Allerdings lässt sich Chinas Einfluss auf den Globalen Südens nicht vereinfacht erklären – vielmehr ist er uneinheitlich und von den jeweiligen örtlichen Gegebenheiten und Institutionen geprägt. Um die Welt verändern zu können, müssen wir sie verstehen. Die vorliegende Studie bietet ein dif- ferenziertes und scharfsichtiges Verständnis davon, wie sich China als Hauptakteur innerhalb der Weltpolitik etablieren konnte. Die Zukunft dieser wirtschaftlichen Supermacht wird das Leben sei- ner mehr als 1,3 Milliarden Bürgerinnen und Bürger beeinflussen – und den Rest der Welt. Stefanie Ehmsen und Albert Scharenberg Leiter des Büros New York, Februar 2016 1
China allein zu Haus Das Reich der Mitte in der globalen Weltordnung Von Ho-fung Hung Der wirtschaftliche Aufschwung, den China nen Sektors ermöglichte. Chinas Aufschwung im Verlauf der letzten drei Jahrzehnte genom- geht also im Wesentlichen auf die Partizipation men hat, fasziniert trotz der jüngst zu beob- des Landes an der durch Freihandel und freien achtenden Abschwächung viele Beobachter Kapitalverkehr gekennzeichneten neoliberalen und weckt mancherlei Vorstellungen, auf wel- Weltordnung zurück. Er ist insofern weit davon che Weise ein ökonomisches Kraftwerk sol- entfernt, diese Ordnung infrage zu stellen. chen Formats die Entwicklungsbedingungen anderer Volkswirtschaften im globalen Süden Zwar kann der chinesische Aufschwung, da er beeinflussen könnte. Es gibt Analysen zuhauf, unter ganz ungewöhnlichen welthistorischen – die Chinas Aufschwung als Antithese zum Wa- und übrigens pfadabhängigen – Bedingungen shington-Konsens darstellen, ja viele sehen die zustande kam, in anderen Entwicklungslän- Volksrepublik sogar als Beispiel eines alternati- dern nicht einfach kopiert werden. Allerdings ven Entwicklungsmodells, das auch in anderen beeinflusst er Chinas Nachbarn und andere Entwicklungsländern funktionieren könnte. Entwicklungsländer weltweit durchaus, und Gleichzeitig prognostizieren manche, China zwar auf widersprüchliche Weise. Einerseits werde letztlich die geopolitische Vorherrschaft setzt er andere arbeitsintensiv produzierende der Vereinigten Staaten überwinden und in Exportländer unter starken Wettbewerbsdruck Asien, ja sogar weltweit eine politische Neu- und veranlasst sie, sich dem sinozentrischen ordnung herbeiführen. Produktionsnetzwerk und der entsprechenden Wertschöpfungskette anzupassen und einzu- In der vorliegenden Studie vertrete ich die The- fügen. Andererseits fördert er in diesen Län- se, dass China seinen Aufschwung der Kon- dern einen Boom der Industriegüterprodukti- vergenz zweier Entwicklungslinien verdankt, on. Geopolitisch sieht Peking sich durch Chinas deren Ursprung beiderseits des Frontverlaufs wachsendes Wirtschaftsengagement im globa- im Kalten Krieg liegt, nämlich einerseits in der len Süden dazu genötigt, Machtprojektion zu maoistischen und andererseits in der export- betreiben, politisch und sogar militärisch, was orientierten ostasiatischen Entwicklung auf der aber einen Backlash auslöst: Es treibt Chin- Gegenseite dieser Front. Dieses Bedingungs- as Nachbarn und andere Entwicklungsländer gefüge ist einzigartig und dürfte sich kaum auf dazu, sich enger an die Vereinigten Staaten zu andere Entwicklungsländer übertragen lassen. binden. Insgesamt ergibt sich ein zwiespältiges Darüber hinaus besteht die eigentliche Quelle Bild der Auswirkungen, die Chinas Aufschwung der chinesischen Wirtschaftsdynamik im Ex- auf die Entwicklungsmöglichkeiten des globa- portsektor des Landes, in dem (in- und auslän- len Südens hat. Zwar führt er zu wachsender in- dische) Privatunternehmen vorherrschen und terimperialer Rivalität zwischen der Volksrepu- der fest in die Kreisläufe des Welthandels in- blik als aufsteigendem geopolitischen Macht- tegriert ist. Dieser Exportsektor ist es, der die faktor und den etablierten Mächten des Wes- Expansion des relativ unprofitablen staatseige- tens, insbesondere den USA. Chinas Aufstieg 2
HO-FUNG HUNG CHINA IN DER GLOBALEN WELTORDNUNG hat jedoch, anders als viele erwarteten, keine schaffen; vielmehr verstärkt er die Fragmentie- neue politisch-ökonomische Weltordnung ge- rung der bestehenden. Ursprünge und Dynamik des chinesischen Aufschwungs Nach verbreiteter Auffassung begann der ka- keth und Zhu 1997; Ross 2005: S. 1-13). Außer pitalistische Aufschwung Chinas, als das Land während der vom „Großen Sprung nach vorn“ mit der zentralen Wirtschaftsplanung der Mao- ausgelösten Hungersnot 1959-61 führte der zeit radikal brach. Bei näherer Betrachtung maoistische Entwicklungspfad fast durchgän- zeigt sich jedoch, dass der Aufschwung ohne gig zu hohen BIP-Wachstumsraten, bis Mitte das vielfältige Erbe jener Ära und ohne die Ver- der 1970er Jahre die Wachstumsdynamik des bindung mit dem exportorientierten Industrie- Zentralplanungssystems erschöpft war und kapital, das in der Hochzeit des Kalten Krieges die Wirtschaft zum Stillstand kam. Doch im anderswo in Asien entstand, nicht möglich ge- Ergebnis verfügte China jetzt über eine Men- wesen wäre. Chinas Aufschwung resultierte, ge staatlichen Kapitals und eine gewaltige wie gesagt, daraus, dass die Ergebnisse der Reserve gesunder und gut ausgebildeter Ar- maoistischen Entwicklung und des export- beitskräfte auf dem Land. Und es hatte einen orientierten Wachstumsmodells anderer ost- starken Staatsapparat aufgebaut, der weniger asiatischer Länder eine einzigartige Verbin- als in anderen Entwicklungsländern und sozia- dung miteinander eingingen. listischen Staaten mit Auslandsschulden belas- tet war. Diese Entwicklungsresultate bildeten eine solide Grundlage für die Marktreform, die Vom maoistischen Sozialvertrag zur Maos Nachfolger Ende der 1970er Jahre ein- neoliberalen Diktatur leiteten, um die wirtschaftliche Stagnation zu überwinden (Naughton 1995: S. 55). In der Maozeit schaffte es der von der kommu- nistischen Partei geprägte Staat, karge Agrar- Die Marktreform begann mit einer Entkollek- überschüsse abzuschöpfen und zu kumulie- tivierung und der Wiederherstellung einer ren. Durch die Kollektivierung der Landwirt- bäuerlichen Landwirtschaft Anfang der 1980er schaft und „Preisscheren“ zwischen landwirt- Jahre, gefolgt von der Reform der Staatsunter- schaftlichen und industriellen Erzeugnissen nehmen in den Städten und einer Preisreform gelang der Aufbau eines ausgedehnten Netz- Ende des gleichen Jahrzehnts. In den 1990ern werks staatseigenen Industriekapitals in den beschleunigte sich die Reform der industriel- Städten (Selden 1993; Friedman u.a. 1991; Wen len Staatsunternehmen, und die besonders 2000: S. 141-271). Zwar fesselte das System der umstrittene Privatisierungsfrage rückte in den Haushaltsregistrierung, das die Möglichkeiten Vordergrund. Während dieser Stadien richte- der Bauern, aus dem Geburtsort wegzuzie- te sich der Hauptstoß der Reform auf die De- hen, beschnitt, diese an ihre Dörfer, doch ihre zentralisierung ökonomischer Planungs- und Lebenserwartung und Alphabetisierungsrate Regulierungsbefugnisse und eine Öffnung der nahm im Ergebnis staatlicher Investitionen Wirtschaft – zunächst für Kapital aus der chi- in die ländliche Grundschulausbildung und nesischen Diaspora in Asien und schließlich für Gesundheitsversorgung erheblich zu (Hes- transnationale Kapitalzuflüsse aus aller Welt. 3
HO-FUNG HUNG CHINA IN DER GLOBALEN WELTORDNUNG Die Dezentralisierung als Antriebskraft für das arbeitsintensive und exportorientierte industrielle Wachstum des Im Vordergrund der ersten Reformphase stand Landes eine wichtige Rolle (vgl. Lin 1997, 2000 eine Dezentralisierung, die wirtschaftliche Ent- und Hsing 1998). Beim Stand von 2004 wurden scheidungsbefugnisse auf örtliche Verwaltun- fast 60 Prozent der chinesischen Exportpro- gen übertrug und diesen zugleich Subventio- dukte in Unternehmen mit ausländischer Be- nen der Zentralregierung entzog (Shirk 1993: teiligung erzeugt, und dieser Prozentsatz liegt S. 334f.). Durch Gewinnmöglichkeiten verlockt bei Produkten mit höherer Wertschöpfung entwarfen lokale Verwaltungseinheiten ange- sogar noch darüber. Diese Zahl ist verblüffend sichts der je unterschiedlichen Ressourcen- hoch, vergleicht man sie mit den Angaben für ausstattung unterschiedliche Strategien zur andere „asiatische Tiger“ in vergleichbaren Kapitalakkumulation. Einige betreiben in eige- Entwicklungsstadien – 20 Prozent für Taiwan ner Regie kollektive Kommunalunternehmen und 25 Prozent für Südkorea Mitte der 1970er oder wandeln in ihrem Verwaltungsbereich Jahre, sogar nur 6 Prozent für Thailand Mitte gelegene Staatsbetriebe in gewinnorientierte der 1980er. Am Verhältnis zwischen auslän- Firmen um. (Diese Version lokaler Entwicklung dischen Direktinvestitionen (FDI) und Brutto- wird als „lokaler Korporatismus“ oder „loka- anlageinvestitionen gemessen ist China unter les Staatsunternehmertum“ bezeichnet; vgl. den ost- und südostasiatischen Staaten seit beispielsweise Oi 1999; Lin 1995; Walder 1995 den 1990er Jahren mit am stärksten von Aus- oder Duckett 1998.) Andere spielen eine Art landskapitalzuflüssen abhängig (Hughes 2005; Schiedsrichterrolle, statt sich unmittelbar als Gilboy 2004; Huang 2003: S. 4-35). „Player“ in das lokale Wirtschaftsgeschehen einzuschalten. Sie fördern die Entwicklung vor Das in der Mao-Ära massenhaft akkumulierte Ort durch klassische Mittel staatlicher Entwick- Staatskapital kam ausländischen Investoren lungspolitik wie Ausschlussregeln und Bereit- überaus gelegen, gestattete es ihnen doch, stellung der geeigneten Infrastruktur, um die sich in ein bereits bestehendes industrielles Wachstumschancen ausgewählter Industrie- Netzwerk einfach einzuklinken, indem sie Joint sektoren zu verbessern, von denen das lokale Ventures oder vielschichtige Zulieferbeziehun- Steueraufkommen abhängt. (Zur Diskussion gen mit lokalen Staats- oder Kollektivbetrie- über den „lokalen Entwicklungsstaat“ in Chi- ben eingingen. So begannen transnationale na vgl. Blecher und Shue 2001; Wei 2002; Zhu Industriegiganten wie Boeing, Volkswagen und 2004 sowie Segal und Thun 2001.) Toyota ihre Geschäfte in China ursprünglich dadurch, dass sie einfach mit bestehenden Weil es sowohl an technischem und Manage- staatseigenen Flugzeug- oder Autoproduzen- ment-Knowhow als auch an Vertriebsnetzen ten kooperierten (Chin 2003). Der „grenzen- auf Auslandsmärkten mangelt, sind die meis- lose“ Nachschub gesunder und gut ausgebil- ten lokalen Staatsaktivitäten auf entwicklungs- deter Arbeitskräfte aus den ländlichen Gebie- politischem oder unternehmerischem Gebiet ten, ein weiteres Erbe der Mao-Zeit, hält die stark abhängig von Arbeitskräfte suchendem Löhne beständig weit unter internationalen transnationalem Kapital, zumeist aus der ost- Standards. Was Chinas Anziehungskraft auf asiatischen Region, wenn es um die Schaffung Kapital aus aller Welt weiter erhöht, ist der und Erhaltung von Wirtschaftswachstum vor Konkurrenzdruck der örtlichen Verwaltungs- Ort geht. Obwohl ausländische Direktinvestitio- einheiten untereinander, die zur Steigerung nen angesichts der kontinentalen Dimension des BIP-Wachstums miteinander darum wett- der chinesischen Volkswirtschaft quantitativ eifern, ausländischen Investoren bestmögliche weniger ins Gewicht fallen, spielen sie doch Bedingungen zu bieten, von Steuervergüns- 4
HO-FUNG HUNG CHINA IN DER GLOBALEN WELTORDNUNG tigungen bis zu kostenlosen Industrieansied- tiger und verschärfte so das Phänomen des lungsflächen. „verkehrten Föderalismus“ (Mertha 2005). Die Dynamik der andauernden Stärkung der loka- len Autoritäten gegenüber der Zentrale lässt Ein fragmentierter Autoritarismus sich nicht ohne Weiteres umkehren, weil die- ser Prozess integraler Bestandteil der Mark- Eine Konsequenz der ökonomischen Dezen- treform selbst ist. tralisierung besteht im nachlassenden Einfluss der Zentralregierung. Während die örtlichen Verwaltungseinheiten zu den führenden Be- Soziale Polarisierung treibern oder unmittelbaren Organen der Ka- pitalakkumulation werden, zieht die Zentralre- Der Übergang zu Marktverhältnissen zerstör- gierung sich in die Rolle indirekter Einflussnah- te den Sozialvertrag aus Maos Zeiten, welcher me zurück, indem sie sich auf den Zuschnitt auf kostenloser Gesundheitsversorgung, Bil- des makroökonomischen Hintergrunds spezi- dung, lebenslanger Beschäftigung und ande- alisiert, vor dem die lokalen Verwaltungen die ren durch staatseigene Betriebe und Land- Entwicklung vorantreiben, auf die Festlegung kommunen bereitgestellten sozialen Basis- von Zinssätzen und Wechselkursen beispiels- diensten beruht hatte. Kompensiert wurde die weise oder die gezielte Förderung bestimmter Auflösung dieses Sozialvertrags zunächst bis Regionen und Sektoren. Der Machtverlust der tief in die 1980er Jahre hinein durch steigende Zentralregierung gegenüber den lokalen Auto- Einkommen, die neue Marktchancen auf dem ritäten, was die unmittelbare Wirtschaftspoli- Lande eröffneten, und den Übergang von der tik und -verwaltung angeht, veranlasst manche Mangel- zur Konsumwirtschaft in den Städten. Beobachter, Chinas politische Ökonomie als Im ersten Stadium der Reform bis Mitte der „fragmentierten Autoritarismus“ zu bezeich- 1980er Jahre konnte es heißen „alle gewinnen“, nen (so etwa Lieberthal 1992). da die meisten Bevölkerungsgruppen von ihr profitierten (Wang 2000). Im Lauf der 1990er Jahre versuchte die Zen- tralregierung, die Macht des Zentrums auf den Doch seit Mitte der 1980er Jahre, als die Re- Gebieten administrativer Regulierung, des Fi- form in den Städten an Tempo zunahm, hat nanzwesens und der Warenwirtschaft wieder sich deren soziale Dynamik dramatisch gewan- zu stärken. Auch die Fiskalreform von 1994 delt. Die Crux der Reform in den Städten be- sicherte der Zentralregierung einen größeren stand darin, aus staatseigenen Betrieben auto- Anteil am Steueraufkommen. Doch die Rezen- nome Profitzentren zu machen, indem man die tralisierung gelang bestenfalls teilweise, ja „weiche Budgetbeschränkung“ der Betriebe blieb im Grunde auf halbem Wege stecken. „härtete“, ihnen also staatliche Subventionen Zwar konnte Verwaltungsmacht von der Ebene und Verlustübernahmen entzog. Unter dem der Landkreise und Gemeinden auf die Provinz- neu geschaffenen Druck, Gewinne zu erzielen, ebene zurückverlagert werden, nicht aber von begannen viele staatseigene Betriebe, Sozial- dort nach Peking. Zum Ausgleich für eine Ver- leistungen für ihre Beschäftigten abzuschaf- minderung ihres Anteils am Steueraufkom- fen und lebenslange Beschäftigungsgarantien men gewährte man den Provinzregierungen durch befristete Arbeitsverträge abzulösen. mehr Autonomie in Sachen Wirtschafts- und Die Verminderung der Einkommen der Indus- Einkommenswachstum. Im Ergebnis machte triearbeiter und ihrer Arbeitsplatzsicherheit der (Re-)Zentralisierungsversuch die Provinz- ging einher mit galoppierender Inflation und regierungen gegenüber Peking noch mäch- grassierender Korruption, ausgelöst durch 5
HO-FUNG HUNG CHINA IN DER GLOBALEN WELTORDNUNG die Preisreform. Diese Reform – die mit ei- In den 1990er Jahren nahmen die wirtschaftli- nem „zweigleisigen“ System begonnen hatte, che Liberalisierung und die ihr folgende soziale mit der Koexistenz festgesetzter Planpreise Polarisierung erheblich schärfere Formen an und ungebundener Marktpreise für solche als in den 1980ern. Eine Welle von Massenent- Schlüsselgüter wie Benzin, Zement, Stahl und lassungen in den staatseigenen Unternehmen, andere knappe Grundstoffe – ermöglichte es die in profitorientierte kapitalistische Firmen Regierungsvertretern und Staatsbetriebslei- umgewandelt oder gleich privatisiert wurden, tern, diese Güter zu niedrigen Planpreisen erfasste alle großen Städte. Hierdurch und anzukaufen, sie zu horten und dann zu explo- durch die damit verbundene vollständige Auf- dierenden Marktpreisen weiter zu verkaufen. lösung des in den öffentlichen Unternehmen Auf diese Art häuften viele Kader – oder deren verankerten Systems sozialer Sicherung ent- Familienangehörige und Protégés – enorme stand eine rasch wachsende städtische Unter- Privatvermögen an und verwandelten sich so schicht. Das Wissen, dass den Staatsbetrieben binnen weniger Jahre in die erste Generation eine Privatisierungswelle bevorstand, eröff- der chinesischen „Kader-Kapitalistenklasse“ nete Führungskadern und ihren Vertrauten in oder „bürokratischen Kapitalisten“ (Wen 2004: den 1990er Jahren die Möglichkeit, durch „In- S. 37). 1988 hatten Inflation, Korruption und sider-Privatisierung“ sehr schnell ungeheuer Klassenpolarisierung krisenhafte Ausmaße reich zu werden. So kündigte sich die Bildung angenommen, was den großen Unruhen von einer neuen Klasse von Oligarchen des russi- 1989 den Boden bereitete (Naughton 1995: S. schen Typs an (Walder 2002, 2003; Li und Ro- 269f.; Wang 2003, S. 46-77; Selden 1993: S. 206- zelle 2000, 2003). Die Reform machte aus vie- 230; Zhao 2001: S. 39-52; Saich 1990; Hartford len Staatsunternehmen profitorientierte kapi- 1990; Baum (Hg.) 1991). talistische Konzerne, deren Aktien mehrheit- lich der Staat hielt. Einige dieser Unternehmen Mit der blutigen Niederschlagung der Tienan- waren an chinesischen und ausländischen Bör- men-Revolte brach Chinas Weg zu politischer sen, so etwa in Hongkong, Singapur und New Liberalisierung ab. Zugleich beschleunigte sie York, notiert. Ohne den festen Griff, in dem der den neoliberalen Angriff auf die Rechte der In- autoritäre Post-Tienanmen-Staat die chinesi- dustriearbeiter. Das Blutbad auf dem Platz des sche Gesellschaft hielt, wäre die störungsfreie Himmlischen Friedens bewirkte die internatio- Liberalisierung der Wirtschaft unmöglich ge- nale Isolation des Landes. Um diese zu durch- wesen, zumindest nicht ohne soziale Unruhen brechen, griff Deng auf neue KP-Führer zurück. und in diesem Tempo erfolgt. Die aus Schanghai stammenden Jiang Zemin und Zhu Rongji verfolgten dann die ganzen 1990er Jahre hindurch eine scharf neolibera- Kapitalismus in China le Agenda, wobei sie sich geflissentlich an den Washington-Konsens hielten und vom US-Fi- In den 1990er Jahren hatte sich der Kapitalis- nanzkapital beraten ließen. Damit bot man der mus in China fest etabliert. Die neuen Reichen, Clinton-Administration Anreiz und Rechtferti- zu denen die Klasse der Kader-Kapitalisten, gung dafür, alle Zweifel über das chinesische Selfmade-Geschäftsleute, Fachkräfte aus der Parteiregime nach der Tienanmen-Nieder- Mittelschicht und ähnliche Gruppen zählen, schlagung beiseite zu lassen und im Namen sind die Hauptgewinner des neuen Politikkon- einer Förderung der Menschenrechte durch senses der Partei in den 1990er Jahren und wirtschaftliche Öffnung und Stärkung der öko- bilden deren neue soziale Grundlage. Diese nomischen Freiheiten politisch auf China zuzu- Profiteure der Marktreform sind eher Gegner gehen. als Pioniere einer politischen Reform. Aus groß 6
HO-FUNG HUNG CHINA IN DER GLOBALEN WELTORDNUNG angelegten Meinungsumfragen der letzten aufzunehmen. Zwar war der Exportsektor Zeit geht immer wieder hervor, dass die meis- dank des beginnenden Zuflusses von Indust- ten Angehörigen der Mittelschicht ebenso wie riekapital aus Hongkong schon in den 1980ern die meisten Unternehmer in China sich ent- entstanden, aber zunächst schwach ausge- schieden gegen eine politische Liberalisierung prägt, da die meiste auf dem Land verfügbare wenden, weil sie fürchten, diese würde zu ei- Arbeitskraft noch in den ländlichen Kollektiv- ner Tyrannei der Unterschichten führen und betrieben („township and village enterprises“, ihre privaten Profite bedrohen (so z.B. Chen oder TVEs) und in dem florierenden Agrarsek- 2002 und Tsai 2007). So hat Chinas Partei-Staat tor gebunden war. Doch 1994 wurde dann der sich in aller Stille aus einem autoritär-sozia- Renminbi (RMB, die chinesische Währung) mit listischen Staat, der ein planwirtschaftliches einem Schlag um über 30 Prozent gegenüber System unterhielt und die Akkumulation von dem Dollar abgewertet und anschließend an Staatskapital förderte, in einen autoritär-kapi- diesen gekoppelt, was China für den Export be- talistischen Staat verwandelt, welcher die pri- stimmter Industrieprodukte einen gewaltigen vate Kapitalakkumulation der Privilegierten si- Schub gab. chert und Widerstand von unten gegen diesen Akkumulationsprozess in Schach hält. Am Aufdrehen des chinesischen Exportmo- tors haben mehrere Faktoren ihren Anteil. Der scharfe Wettbewerb der lokalen Verwal- Das wegweisende Handelsabkommen der tungseinheiten um ausländische Investitionen Clinton-Administration mit China von 1999 hat ebenso wie der kapitalfreundliche autori- senkte die Handelsbarrieren für Güter aller täre Staat, der Forderungen der arbeitenden Art, während China, das seine Aufnahme in die Klassen entgegentrat, dazu beigetragen, China Welthandelsorganisation WTO beantragte und für das globale Kapital attraktiv zu machen – 2001 Mitglied wurde, im Gegenzug zur Öffnung besonders für das Industriekapital, das sich der amerikanischen und europäischen Märkte in Japan und den „Tigerstaaten“ während des für chinesische Produkte den eigenen Markt ostasiatischen Nachkriegsaufschwungs entwi- öffnete. Unerlässlich für den Erfolg der Export- ckelt hatte. Zwischen 1990 und 2005 machten orientierung war allerdings, dass die Lohnkos- Investitionen aus Hongkong, Taiwan, Südkorea, ten der chinesischen Industrieproduktion auf- Japan und Singapur zusammengenommen 71 grund des „unbegrenzten“ Nachschubs „über- Prozent der ausländischen Direktinvestitionen zähliger“ Arbeitskräfte aus den ländlichen Ge- in China aus. Viele dieser Investitionen sind ex- bieten anhaltend niedrig blieben. portorientiert und verwandeln das Land in die „Werkbank der Welt“. Sie erweisen das chine- Chinas Fähigkeit, sich unter Bedingungen un- sische Wirtschaftswunder als Fortsetzung des begrenzter Versorgung mit Arbeitskräften zu vorausgegangenen ostasiatischen „Wunders“ entwickeln, ist nicht etwa, wie viele annehmen, und binden China fest in das globale Netzwerk ein natürliches Phänomen, das auf der Bevöl- des Freihandels ein. Sie sind die Hauptquellen kerungsstruktur des Landes beruht. Es handelt der chinesischen Wirtschaftsdynamik und Pro- sich vielmehr um eine Folge der staatlichen fitabilität. Agrarpolitik und der Behandlung der ländli- chen Gebiete in China, die – gewollt oder unge- wollt – letztere ruinieren und zu einem anhal- Die zentrale Rolle des Exportsektors tenden Exodus der Landbevölkerung führen. Seit den 1990er Jahren konzentriert sich die In den 1990er Jahren begann die exportori- Investititionstätigkeit der chinesischen Regie- entierte Industrieproduktion in China Fahrt rung im Wesentlichen auf die Küstenstädte 7
HO-FUNG HUNG CHINA IN DER GLOBALEN WELTORDNUNG und -regionen, um verstärkt ausländische In- hatten, überwog in den 1990er Jahren und vestitionen anzuziehen und den Exportsektor danach stets die Zahl der Politbüromitglieder zu stärken. Die Investitionen in ländliche Ge- aus den Küstengebieten, mit der 2007er Ko- biete und Landwirtschaft hinken dagegen weit horte als einziger Ausnahme. Es sticht beson- hinterher. Auch die staatseigenen Banken ha- ders hervor, dass zwei der drei Spitzenleute ben schwerpunktmäßig die städtisch-industri- nach 1989, nämlich Jiang Zemin und Xi Jinping, elle Entwicklung finanziert, während die Finan- viele Jahre lang in sehr wichtigen exportori- zierung ländlicher Aktivitäten darniederlag. entierten Stadtregionen an der Küste tätig Die Herausbildung dieses Ungleichgewichts gewesen waren, in Schanghai der eine und der chinesischen Entwicklung liegt zumindest der andere in Zhejiang/Fujian (vgl. Hung 2015: teilweise daran, dass eine mächtige städtisch- Tab. 3.4). industrielle Elite aus den südlichen Küstenre- gionen bei der Integration Chinas in die Welt- wirtschaft den Ton angibt. Diese Elite, die nach Bevorzugte Entwicklung städtischer der Öffnung des Landes entstand, nahm mit Regionen dem Exportboom zahlenmäßig, an finanzi- ellen Mitteln und an politischem Einfluss zu Eine Konsequenz dieser eigendynamisch zu- und vermochte es immer besser, die Politik nehmenden urbanen Schlagseite ist die rela- des Zentralstaats auf ihre Interessen zuzu- tive ökonomische Stagnation der ländlichen schneiden (vgl. Zweig 2002; Gallagher 2002; Gebiete und die damit einhergehende Finanz- Kaplan 2006 und Shih 2008: S. 139-188). Ihr not der dortigen Verwaltungseinheiten. Die wachsender Einfluss auf den politischen Ent- Kollektivunternehmen auf dem Lande hatten scheidungsprozess der Zentrale sorgte dafür, während der Frühzeit der Marktreform in den dass die Stärkung der chinesischen Wettbe- 1980er Jahren in Gestalt lokaler – kleinstädti- werbsfähigkeit in Sachen Export und die An- scher und dörflicher – Betriebe als dynamische ziehungskraft des Landes auf ausländische Beschäftigungsgeneratoren fungiert. Ihr Ver- Investoren zu Lasten der ländlich-agrarischen schwinden und die Verschlechterung der länd- Entwicklung Priorität genoss. Die durch Hype- lichen Einkommenssituation und Verwaltungs- rinflation und Verschlechterung der Lebens- verhältnisse hat seit den 1990er Jahren die verhältnisse in den Städten ausgelösten Revol- meisten jungen Arbeitskräfte auf dem Lande ten der Stadtbevölkerung von 1989 bestärkten genötigt, in die Städte abzuwandern. So ent- den Partei-Staat nur noch darin, in den 1990er stand ein Teufelskreis, der in den ländlichen Jahren und darüber hinaus die wirtschaftliche Gebieten eine soziale Krise auslöste. Prosperität und Stabilität der Großstädte auf Kosten der ländlichen Regionen zu sichern Chinas ländlich-agrarischer Sektor wurde nicht (Yang und Cai 2000). allein vernachlässigt, sondern zudem zuguns- ten des städtisch-industriellen Wachstums Der Griff der Küstenelite nach der Staats- ausgebeutet. Zur Finanzierung des letzteren macht lässt sich anhand des Hintergrunds der entzog man ihm zwischen 1978 und 2000 KPCh-Führer illustrieren, die seit 1989 Spit- finanzielle Ressourcen in beträchtlichem und zenpositionen erlangten. Während der stän- zunehmendem Ausmaß. Es handelt sich um dige Ausschuss des Politbüros – das höchste Transfers mit Hilfe des Fiskalsystems (durch Entscheidungsgremium der KPCh – zu unge- Besteuerung und staatliche Ausgabenpolitik), fähr gleichen Anteilen mit Leuten besetzt war, des Finanzwesens (durch Spareinlagen und die zuvor entweder in den Küstenprovinzen Kredite) und anderer Mittel, wie etwa Getrei- oder im agrarischen Inland eine Rolle gespielt devermarktung und Rücküberweisungen der 8
HO-FUNG HUNG CHINA IN DER GLOBALEN WELTORDNUNG in die Städte Abgewanderten (vgl. Hung 2015: Verbrauchermarkts behindert und dessen Abb. 3.2; siehe auch Huang 2000 und Wen Abhängigkeit von der Konsumnachfrage der 2005). (über)entwickelten Länder verstärkt. Deren Wachstum hängt zunehmend davon ab, dass Die kostengünstige, arbeitsintensive, export- diese Länder sich bei China und anderen asi- orientierte Industrieproduktion zählt seit Mit- atischen Exportländern massiv verschulden. te der 1990er zu den wesentlichen Triebkräf- Dieses Wachstumsmuster, das sich in starke ten des chinesischen Wirtschaftsbooms. Der Abhängigkeit von der Außennachfrage – insbe- massive Außenhandelsüberschuss, den der sondere der Nachfrage amerikanischer Konsu- Exportsektor erzeugt, sorgt für die Liquidität menten – begibt, ist eindeutig riskant. Doch so des Bankensystems – in der Form einer zuneh- lange die Verbrauchermärkte in den Vereinig- menden Versorgung mit Devisen-, hauptsäch- ten Staaten und Europa weiter expandieren, lich Dollar-gedeckten Renminbi – und damit wie es während des kreditfinanzierten Hy- für die Zunahme der hauptsächlich von Staats- per-Konsumismus in den 1990er und 2000er unternehmen getätigten Anlageinvestitionen. Jahren fast durchgängig geschah, garantiert So bleibt das Bankensystem trotz der nicht Chinas beeindruckende Exportmaschine das sonderlich eindrucksvollen Leistungsbilanz der Wirtschaftswachstum und den staunenswer- staatseigenen Unternehmen, die von einer la- ten ökonomischen Erfolg des Landes, für den schen Kreditvergabepraxis staatlicher Banken sie steht. profitieren, liquide. Es ist geradezu charakte- ristisch für die chinesische Variante kapitalisti- Mancher mag meinen, angesichts des hohen scher Entwicklung geworden, sich auf den Ex- Anteils investiver Ausgaben im chinesischen port, Anlageinvestitionen und ein Niedriglohn- BIP werde das Wirtschaftswachstum des Lan- regime, das den Konsum zügelt, zu verlassen. des mindestens so stark wie durch den Export Wie früher schon für die Asiatischen Tiger stell- durch die Inlandsinvestitionen chinesischer ten die Vereinigten Staaten den mit Abstand Staatsunternehmen und verschiedener Ebe- wichtigsten Exportmarkt dar, worin sie erst vor nen der Staatstätigkeit angetrieben. Allerdings kurzem von der EU (insgesamt) übertroffen darf man nicht vergessen, dass die meisten An- wurden. Die rapide Expansion seiner Export- lageinvestitionen in der chinesischen (Binnen-) industrie hat China bereits zur Nummer 1 unter Wirtschaft durch Bankkredite finanziert sind den asiatischen Exportländern gemacht (Hung und dass ein beträchtlicher Teil der Liquidität 2015: Tab. 3.6). des chinesischen Bankensystems aus einem „Sterilisierungs“-Prozess stammt, bei dem Alles in allem ist also das die Stadtregionen be- Exporteure die erwirtschafteten Devisen im vorzugende Entwicklungsmuster, welches das Austausch gegen einen äquivalenten Betrag ländliche China ruinierte und die Dorfbevölke- in Renminbi, der von der chinesischen Zen- rung zur Abwanderung zwang, der Ursprung tralbank ausgegebenen Landeswährung, sowohl der anhaltenden „unbegrenzten“ staatlichen Banken übertragen. Die Liquidität Versorgung mit (ehemals) ländlichen Arbeits- im chinesischen Bankensystem entstammt kräften als auch der damit einhergehenden also, anders gesagt, großenteils dem wuchern- Lohnstagnation, welche das exportgetriebene den Außenhandelsüberschuss. Auf seinem Hö- chinesische Wirtschaftswunder kennzeichnen. hepunkt im Jahr 2007 belief sich Chinas Leis- Andererseits haben die durch ebendiese Stra- tungsbilanzüberschuss auf 47 Prozent des – in tegie bewirkten niedrigen Industriearbeiter- der Geldmenge M2 gemessenen – Volumens, löhne wie auch der schlechte Lebensstandard um das die Geldversorgung der chinesischen auf dem Lande die Expansion des heimischen Volkswirtschaft in jenem Jahr ausgeweitet wur- 9
HO-FUNG HUNG CHINA IN DER GLOBALEN WELTORDNUNG de. Diese Liquidität fließt im Kontext der hohen te zu einer neuen, sinozentrischen Ordnung, Sparrate Chinas größtenteils in Bankkredite zur in der die meisten Volkswirtschaften Asiens Finanzierung von Anlageinvestitionen durch vermehrt (wie etwa Korea und Taiwan) Kompo- Staatsbetriebe und örtliche Verwaltungsein- nenten und Teile mit hoher Wertschöpfung so- heiten. Wer sagt, dass Chinas Exportsektor wie (wie Japan) Kapitalgüter nach China liefer- die Mutter seines kapitalistischen Booms ist, ten, wo diese Kapitalgüter und Komponenten übertreibt nicht. dann der Assemblage von Fertigprodukten für den Export auf die Märkte der reichen Länder dienten (Haddad 2007; Baldwin 2006; Ando Produktionsgeographien 2006). Chinas boomender Exportsektor hat die Pro- Im Laufe der 1990er Jahre überflügelten die duktionsgeographie Ostasiens neu konfigu- Exporte Südkoreas, Honkongs und Taiwans riert, indem er die älteren Exportländer dort nach China deren Ausfuhren in die Vereinigten durch die Regionalisierung der Industriepro- Staaten, während auch Japans und Singapurs duktion zunehmend in die chinesische Ex- Chinaexporte rasch anwuchsen und sich dem portmaschine integrierte. Kaum hatte China Gewicht ihrer Ausfuhren in die USA annäher- begonnen, sich in den 1990er Jahren als der ten (vgl. Hung 2015: Abb. 3.7). 2005 war es wettbewerbstärkste asiatische Exporteur – soweit, dass an die Stelle des auf Japan ausge- unterschiedlich hoch entwickelter – technolo- richteten „Fluggänsemodells“ des asiatischen gischer Erzeugnisse zu etablieren, da gerieten Regionalismus (das einer Flugformation dieser ältere Exportländer der Region, wie Japan und Vögel glich) ein sinozentrisches Produktions- die „Vier Tiger“, zusammen mit einer Gruppe netzwerk getreten war. In diesem hatte Chi- aufstrebender Exporteure in Südostasien, wie na sich auf der Basis der Belieferung mit den etwa Malaysia und Thailand, unter enormen zur Assemblage der Endprodukte benötigten Anpassungsdruck. Die Konkurrenzfähigkeit Komponenten und Maschinen durch seine asi- der chinesischen Exportwirtschaft wirkte als atischen Nachbarn zum größten Exporteur von Anreiz, erhebliche Teile der Exportproduktion Fertigwaren für den Konsum im globalen Nor- anderer asiatischer Volkswirtschaften nach den entwickelt. China zu verlagern. Manche behaupten sogar, die Erosion der industriellen Profitabilität unter Durch dieses sinozentrische Produktionsnetz- dem chinesischen Wettbewerbsdruck sei eine werk und die zunehmende Abhängigkeit des der tieferen Ursachen der asiatischen Finanz- ostasiatischen Exportwachstums von China krise von 1997-98 gewesen (so Krause 1998). werden die Begrenzungen und Schwachstellen des chinesischen Entwicklungsmodells – an- Während das industriewirtschaftliche Erstar- gesichts seiner übergroßen Abhängigkeit von ken der Volksrepublik die bestehende export- schuldenfinanzierter Konsumnachfrage in den orientierte Industrielandschaft der ganzen Re- reichen Ländern und des lethargischen Wachs- gion durcheinander wirbelte, bauten Chinas tums seines Binnenmarkts – unvermeidlich Nachbarn ihre Exportmaschinen zielbewusst auch auf andere asiatische Volkswirtschaften derart um, dass sie die frontale Konkurrenz übertragen. Die Nachhaltigkeit der chinesi- mit China reduzieren und von dessen Aufstieg schen Entwicklung und ihre Grenzen betreffen profitieren konnten. In der alten industriellen daher keineswegs nur das Wirtschaftswachs- Ordnung Ostasiens hatte jedes Land spezifi- tum der Volksrepublik. Es geht zugleich um die sche Sortimente zum Verbrauch bestimmter gemeinsame Zukunft Ostasiens als integrier- Fertigwaren hergestellt. Chinas Aufstieg führ- ter Wirtschaftsblock. 10
HO-FUNG HUNG CHINA IN DER GLOBALEN WELTORDNUNG Die Überakkumulationskrise Als 2008 die Finanzblase und mit ihr die schul- schlimmert ist die Eskalation des bäuerlichen denfinanzierte Konsumblase in den Vereinig- Widerstands und der Arbeiterunruhen in Chi- ten Staaten platzten und die US-Wirtschaft in na seit den 1990er Jahren. Sie zwangen den ein tiefes und langes Tal trieb, kollabierte auch Parteistaat, Zugeständnisse zu machen und Chinas exportgetriebene Wirtschaft. Doch Pe- die wirtschaftlichen Verhältnisse auf dem Lan- king brachte schon bald – 2009/2010 – einen de zu verbessern (was letztlich den Zustrom starken Wiederaufschwung zustande, indem ländlicher Wanderarbeiter in die Exportsek- es die Staatsbank(en) veranlasste, die Kredit- toren an der Küste drosselt), desgleichen die schleusen weit zu öffnen, hauptsächlich für Arbeitsbedingungen in der Industrie. Diese Zu- Anlageinvestitionen durch Staatsunterneh- geständnisse bewirken Lohnsteigerungen und men und lokale Verwaltungseinheiten. Die- bringen die Profitabilität des Kapitals stärker ser starke Wiederaufschwung Chinas mitten unter Druck. im amerikanischen Abschwung ist es, der die Vorstellung aufkommen ließ, China habe die Industriekapazitäten, Infrastruktur, Wohnun- Vereinigten Staaten als eigentlicher Motor des gen, Kohlengruben, Stahlhütten etc. – sie alle globalen Kapitalismus abgelöst. vermehrten sich während der Boomjahre und des Wiederaufschwungs nach 2008 rapide, Allerdings haben die Schwächung der chine- wodurch allenthalben Überkapazitäten ent- sischen Exportmaschine und die waghalsige standen und die Profitrate absank. Hierdurch Ausweitung der Investitionen während des gerät China in eine typische Überakkumula- Wiederaufschwungs von 2009/2010 eine ge- tionskrise, von der die vielen Geisterstädte waltige Schuldenblase anschwellen lassen, der und stillgelegten Fabriken überall im Lande keine entsprechende Ausweitung der chinesi- zeugen. Den Verlust an Dynamik, den die chi- schen Devisenreserven mehr gegenübersteht. nesische Wirtschaft nach dem Wiederauf- Zwischen 2008 und Anfang 2015 schossen die schwung von 2009/2010 erlitt, veranschaulicht offenstehenden Schulden in China von 148 die Entwicklung des PMI (Purchasing Manu- Prozent des BIP auf 282 Prozent empor, womit facturing Index), eines Leitindikators, der den sie das Verschuldungsniveau in den USA und Zustand des industriellen Sektors misst (siehe in den meisten anderen Entwicklungsländern Abb. 1, folgende Seite). Ein PMI über 50 Punk- übertrafen. Chinas Devisenreserve, die lange te zeigt eine Expansion der Industrieproduk- immer nur angewachsen war, begann 2014 zu tion an, ein Wert unter 50 Punkte hingegen schrumpfen. Dabei werden die vielen überflüs- deren Schrumpfung. Nach dem Wiederauf- sigen Bauten und Infrastruktureinrichtungen, schwung von 2009/2010 ist der Index stetig die im Zuge des schuldenfinanzierten Wie- gesunken. Derzeit pendelt er um die Stagna- deraufschwungs entstanden, keine Gewinne tionsmarke von 50 Punkten – ein bezeichnen- abwerfen, zumindest nicht kurzfristig. Ob die der Unterschied zu den Zeiten anhaltender Ex- Schulden bedient und abgebaut werden kön- pansion vor 2008. nen, ist zweifelhaft, so dass eine tickende Zeit- bombe geschaffen wurde. China hat deshalb Diese Überakkumulationskrise hat den kürz- keinen Spielraum mehr dafür, durch Anlagein- lich eingetretenen Verfall der Börsenwerte und vestitionen Wachstum zu generieren, obwohl die beginnende Kapitalflucht ausgelöst, die zu der Exportsektor immer noch zu kämpfen hat. der starken Abwertung der chinesischen Wäh- Was die Situation für das Kapital noch ver- rung im Jahr 2015 führte. 11
HO-FUNG HUNG CHINA IN DER GLOBALEN WELTORDNUNG Abb. 1: Chinas Einkaufsmanagerindex (PMI) für das verarbeitende Gewerbe, 2006-2015 Offiziell HSBC/Caixin Überakkumulationskrisen sind so alt wie der besonders in Afrika und Südostasien, chine- Kapitalismus selbst. Wie Lenin einst in seinem sische Staatskonzerne an vorderster Front. Buch „Der Imperialismus als höchstes Stadium Meist handelt es sich dabei um Energiefirmen des Kapitalismus“ diagnostizierte, treibt eine und solche, die Infrastrukturbauten ausfüh- Überakkumulationskrise im eigenen Land die ren. Auch chinesische Unternehmen haben Kapitalisten dazu, auf der Suche nach Gegen- Produktionsbereiche in Länder wie Tansania den, in denen die Profitrate höher liegt, Kapital und Vietnam ausgelagert, wo die Löhne nied- zu exportieren. So geschah es auch, als Indust- riger liegen. Der gleiche Drang, überschüssiges riekapital aus den Kernländern des Systems seit Kapital zu exportieren, erklärt chinesische Am- den 1970er Jahren nach Asien und China abzu- bitionen, jetzt eine „neue Seidenstraße“ („One wandern begann. Jetzt aber ist China an der Rei- Belt, One Road“) anzulegen, ein zweisträngiges he, Opfer einer Überakkumulation zu werden, Netzwerk aus Häfen, Eisenbahnstrecken und und bekommt den Drang zum Kapitalexport zu Fernstraßen, das quer durch Zentralasien und spüren. Indessen ist Chinas Kapitalexport seit den Indischen Ozean China auf dem See- wie Anfang der 2000er Jahre ständig gewachsen. auf dem Landweg mit Europa verbinden soll. Das Volumen der chinesischen Direktinvesti- Nach Lenins Vorhersage veranlasst der Kapital- tionen im Ausland stieg von 28 Mrd. US-Dollar exportdrang die Ursprungsstaaten dieser Ka- im Jahr 2000 auf 298 Mrd. 2012, auch wenn es pitalien allerdings zwangsläufig zur Projektion im Vergleich zum Kapitalexport kleinerer fort- ihrer politischen und militärischen Macht, um geschrittener Volkswirtschaften wie Singapur so den Akkumulationsprozess des exportier- immer noch gering ist (vgl. Hung 2015: Tab. 5.4). ten Kapitals schützen zu können. Dies wiede- rum führe zu imperialistischer Expansion und Gestützt auf die gewaltigen Devisenreserven, inter-imperialistischer Rivalität mit anderen die der Exportsektor einbrachte, agierten bei kapitalexportierenden Mächten. Wir werden Chinas Investitionen in den globalen Süden, darauf zurückkommen. 12
HO-FUNG HUNG CHINA IN DER GLOBALEN WELTORDNUNG Die nächsten beiden Kapitel sollen zeigen, wie dieses Landes, Kapital in alle Welt zu expor- Chinas wirtschaftlicher Aufstieg, vorangetrie- tieren, den entwicklungspolitischen Kontext ben durch exportorientiertes Wachstum und und die geopolitischen Kräfteverhältnisse in binnenländische Anlageinvestitionen glei- Asien, aber auch weit darüber hinaus, verän- chermaßen, wie auch der wachsende Drang dern. Neue Entwicklungsmuster im Globalen Süden Chinas wirtschaftlicher Aufschwung wurde, sie mit Auflagen zu verknüpfen. Andere Auto- wie wir sahen, durch einzigartige Vorausset- ren hingegen beschuldigen China, es sei nichts zungen und Begleitumstände gefördert, die anderes als eine weitere (Neo-)Kolonialmacht, sich kaum auf andere Entwicklungsländer die die Bodenschätze anderer Entwicklungs- übertragen lassen. Die Frage ist, wie ein sol- länder für ihre eigenen Entwicklungsbedürf- cher Aufschwung die weltwirtschaftlichen nisse auszubeuten suche, ohne Rücksicht auf Verhältnisse wandelt(e), die die Entwicklungs- die langfristigen Folgen für eine nachhaltige aussichten in anderen Volkswirtschaften des Entwicklung der betreffenden Länder selbst. Globalen Südens konditionieren. Die Auswir- Ja, China wird, schlimmer noch, als merkanti- kungen des China-Booms auf Afrika, Latein- listischer Staat betrachtet, der seinen Export- amerika und Asien sind, um es gleich zu sa- markt auf Kosten der Industrien anderer Län- gen, widersprüchlich. der aggressiv auszuweiten sucht. Manche kla- gen, Chinas wachsender Appetit auf Rohstoffe Im Verlauf der letzten zehn Jahre haben Chinas und seine Billigexporte industrieller Güter hät- expandierende Handels- und Investitionsbe- ten viele Volkswirtschaften im globalen Süden ziehungen mit anderen, insbesondere afrikani- faktisch deindustrialisiert und diese so in die schen Entwicklungsländern zunehmende Auf- Abhängigkeit vom Rohstoffexport zurückge- merksamkeit auf sich gezogen und eine heftige stoßen. Debatte ausgelöst, die sowohl in der Entwick- lungs- wie in der entwickelten Welt geführt Ernsthaftere wissenschaftliche Untersuchun- wird. In den zahlreichen Medienberichten und gen, die sich mit diesen widersprüchlichen Polemiken zu diesen Fragen finden sich solche, Behauptungen über Chinas Einfluss auf an- in denen China als neuer Erlöser der Entwick- dere Entwicklungsländer auseinandersetzen, lungswelt erscheint, der unterdrückte Ent- gibt es erst seit einigen Jahren. Sie ergeben ein wicklungsländer aus der neokolonialistischen vielschichtigeres Bild als die polemischen Ein- Tyrannei westlicher Mächte befreit. Anders als schätzungen mancher Politiker und Kommen- westliche Länder und die von den Vereinigten tatoren. Staaten und Europa dominierten internationa- len Finanzorganisationen, die Hilfen, Kredite, Investitionen und Handelsabkommen häufig Rohstoff- vs. Industriegüterexporteure mit Reformforderungen verknüpfen und politi- sche Schritte verlangen, die westliche Interes- Die Entwicklungsforschung hat eine Fülle von sen begünstigen, erweist sich China angeblich Studien hervorgebracht, die herausstellen, als Alternativangebot: Diese Wirtschaftsmacht wie sehr es Entwicklungsländern nützt, sich biete Handels- und Investitionschancen, ohne durch Diversifizierung vom bloßen Rohstoff- 13
HO-FUNG HUNG CHINA IN DER GLOBALEN WELTORDNUNG export zu emanzipieren. Seit der Kolonialära behindert oder ganz zum Erliegen gebracht. und bis in die Zeiten der Unabhängigkeit hin- Zunächst einmal hat Chinas wachsende Nach- ein waren viele Entwicklungsländer Gefange- frage nach Öl, anderen Rohstoffen, Agrarpro- ne einer „Monokultur“-Wirtschaft, die jedes dukten und dergleichen die Weltmarktpreise dieser Länder in der Abhängigkeit vom Export dieser Waren in die Höhe getrieben, was Roh- weniger oder gar eines einzigen Agrarprodukts stoffexporteuren in aller Welt zu enormen Ein- und/oder Rohstoffs in entwickelte Länder be- künften verhalf. Diese profitieren von China ließ. Die gänzlich außerhalb der Kontrolle die- entweder unmittelbar, indem sie dorthin ex- ser monokulturellen Exporteure erfolgenden portieren, oder mittelbar durch den allgemei- Schwankungen der Rohstoffpreise auf dem nen Anstieg der Rohstoffpreise, den die chine- Weltmarkt machten deren Entwicklung extrem sische Nachfrage verursacht. Ein IWF-Bericht instabil (ausgenommen lediglich die der Ölex- bestätigt, dass „China für die Rohstoffmärkte porteure). Doch selbst wenn für die Rohstoffe, immer wichtiger wird. Seine Marktposition die sie exportieren, stabile und angemessene und sein Einfluss auf Welthandel und Preise Preise gezahlt werden, bleiben diese Volkswirt- variieren, je nachdem, um welchen Rohstoff es schaften anfällig für die „holländische Krank- geht; China ist insbesondere zum dominanten heit“ oder den „Rohstoff-Fluch“ – das heißt Importeur von Grundmetallen und landwirt- dafür, dass die Weltnachfrage nach ihren Roh- schaftlichen Rohstoffen geworden, während stoffexporten den Kurs der Landeswährung es auf den Nahrungsmittel- und Energiemärk- in die Höhe treibt, was die Entwicklung ihrer ten eine geringere, aber zunehmende Rolle Exportindustrien behindert und ihre Eliten spielt.“ (Roache 2012: S. 21) dazu verleitet, mit dem Konsum importierter Luxusgüter zu prahlen. Folglich müssen Ent- Der Anstieg der Profite, die Rohstoffexporteure wicklungsländer, die sich um ein ausgewoge- erzielen konnten, hatte überall in der Entwick- nes und nachhaltiges Wirtschaftswachstum lungswelt zur Folge, dass Bergbauindustrien bemühen, den Rohstoffexportsektor ebenso und Agrofirmen boomten und expandierten, wie die mit diesem Sektor verbundenen Inter- womit sie den gängigen Entwicklungsstrate- essengruppen zurückdrängen, um Raum für gien, den Rohstoffexportsektor einzudäm- das Wachstum anderer Sektoren, vor allem men, in vielen Ländern genau entgegenwirk- des industriellen, zu schaffen (vgl. etwa Karl ten. So verdoppelten sich beispielsweise in 1997; Sachs und Warner 1995; Shafer 1994; Ga- Brasilien zwischen 1990 und 2005 die für lagher und Porzecanski 2010). den Sojabohnenanbau genutzten Bodenflä- chen. Diese Flächen wurden bis tief in das Genau darum haben die meisten Entwicklungs- ökologisch hochverletzliche Amazonasge- länder sich in der Nachkriegszeit bemüht: die biet hinein ausgeweitet, um die Nachfra- Abhängigkeit vom Rohstoffexport zu vermin- ge aus China bedienen zu können, die 42,7 dern und sich zu industrialisieren, sei es durch Prozent des brasilianischen Sojabohnenex- Import-Substitution (das heißt durch die Ab- ports ausmachte (Gallagher und Porzecans- schottung gegen ausländische Importgüter, ki 2010: S. 31f.; USDA 2004). In Chile und um einheimischen Industrien zu größeren Bin- anderen lateinamerikanischen Ländern ex- nenmarktanteilen zu verhelfen), sei es durch pandierte in vergleichbarer Zeit auch der eine exportorientierte Industrialisierung (also Kupfererzabbau stark: Zwischen 2000 und durch Subventionierung und Promotion des 2006 wuchs der lateinamerikanische Kupfer- Verkaufs einheimischer Industrieprodukte für export insgesamt um 237,5 Prozent, wobei den Weltmarkt). Chinas Aufstieg hat derartige der Zuwachs größtenteils nach China ging Bestrebungen in vielen Entwicklungsländern (Gallagher und Porzecanski 2010: S. 22 u.a.). 14
HO-FUNG HUNG CHINA IN DER GLOBALEN WELTORDNUNG Das Gleiche geschah in Afrika. Neben Öl pro- in welchem Umfang die gefragten Rohstoffe duzierenden Ländern wie dem Sudan und gefördert bzw. exportiert werden. Sie sind Nigeria profitieren auch Länder mit reichen daher in der Lage, mit China und anderen Ab- Erzvorkommen von der wachsenden chinesi- nehmern zu verhandeln, damit ihre Interes- schen Nachfrage. Das gilt beispielsweise für sen bei Geschäftsabschlüssen weitestmöglich die von China hervorgerufene massive Steige- berücksichtigt werden. rung der sambischen Kupferexporte. Die Staaten können auch Institutionen schaf- Parallel zu dieser Ausweitung der Rohstoff- fen, die Gewinne aus dem boomenden Roh- exporte geriet die Industrieproduktion der be- stoffsektor anderen Verwendungen zuführen, treffenden Länder unter Druck. Für alle großen etwa langfristigen Investitionen, der Förde- Länder Lateinamerikas gilt, dass sie über 80 rung einer wirtschaftlichen Diversifizierung Prozent ihrer Fertigwarenexporte unmittelbar, und der Armutsbekämpfung. Da wären eini- zumindest aber teilweise, durch chinesische ge außerordentliche erfolgreiche Beispiele Exporte bedroht sehen (Ebd.: S. 50). Sowohl anzuführen. So hat beispielsweise die chi- die internationalen als auch die inländischen lenische Regierung einen „Wirtschaftlichen Märkte für lateinamerikanische Fertigwaren und Sozialen Stabilitätsfonds“ eingerichtet, beginnen sich mit chinesischen Erzeugnissen der in Boomzeiten einen Teil der Gewinne zu füllen. aus dem Rohstoffexportsektor absaugt und diese Rücklagen in Schwächeperioden für geldmarktpolitische Maßnahmen, Investiti- Wie andere Entwicklungsländer auf onen und steuerliche Anreize einsetzt. Das den Chinaboom reagieren dämpft das Ausmaß, in dem die Volatilität der Rohstoffpreise sich auf die Gesamtwirt- Indem wir den Trend expandierender Rohstoff- schaft auswirkt, ungeachtet der Tatsache, exporte in seinen Zusammenhang mit einem dass Chile von Rohstoffexporten abhängiger korrespondierenden Trend stellten, nämlich wird (Gallagher und Porzecanski 2010: S. 32- dass die heimischen Industrien unter wach- 37). Ein anderes Beispiel liefert Brasilien, dass senden Wettbewerbsdruck geraten, konnten unter Präsident Lula, als die brasilianische wir zeigen, wie Chinas Aufstieg Verhältnisse Wirtschaft sich, angetrieben von Rohstoffex- schuf, die in der Entwicklungswelt möglicher- porten, kräftig entwickelte, eine Reihe effizi- weise zu Deindustrialisierung und einem Rück- enter Umverteilungseinrichtungen geschaf- fall in die Abhängigkeit vom Export natürlicher fen hat (etwa das bekannte „Bolsa-Familia“- Ressourcen führen. Die Frage, ob und inwie- Sozialprogramm mit seinen Bargeldtransfers weit dieser Wandel den langfristigen Entwick- an die Armen). lungsaussichten einzelner Entwicklungsländer tatsächlich schadet oder ob er ihnen nutzt, ist Derartige Einrichtungen in bestimmten la- allerdings unterschiedlich zu beantworten, je teinamerikanischen Ländern sorgen dafür, nach dem Zuschnitt der politischen Ökonomie dass die Gewinne aus der Rohstoff-Bonanza des jeweiligen Landes. gleichmäßiger verteilt werden und dass Über- schüsse der Industriewirtschaft zur Finan- So haben beispielsweise die meisten latein- zierung langfristiger Investitionen kanalisiert amerikanischen Länder ihre Bergbaukonzer- werden, etwa in Bildung, Infrastruktur und ne reguliert oder in Staatseigentum über- die Stärkung solcher Wirtschaftssektoren, führt, weshalb sie zumindest teilweise be- von denen das nachhaltige Wachstum des einflussen können, zu welchen Preisen und Landes letztlich abhängt. 15
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