CHINA ALLEIN ZU HAUS Das Reich der Mitte in der globalen Weltordnung Von Ho-fung Hung - Rosa Luxemburg Stiftung NYC

Die Seite wird erstellt Leonard Heinze
 
WEITER LESEN
CHINA ALLEIN ZU HAUS Das Reich der Mitte in der globalen Weltordnung Von Ho-fung Hung - Rosa Luxemburg Stiftung NYC
CHINA ALLEIN ZU HAUS
                  Das Reich der Mitte in der globalen Weltordnung
ROSA
LUXEMBURG
STIFTUNG
NEW YORK OFFICE   Von Ho-fung Hung
CHINA ALLEIN ZU HAUS Das Reich der Mitte in der globalen Weltordnung Von Ho-fung Hung - Rosa Luxemburg Stiftung NYC
Inhaltsverzeichnis

    Vom Aufstieg zur Stagnation? Von den Herausgebern..................................................................1

    China allein zu Haus
    Das Reich der Mitte in der globalen Weltordnung...................................................................2

    Von Ho-fung Hung

        Ursprünge und Dynamik des chinesischen Aufschwungs......................................................3

        Die Überakkumulationskrise....................................................................................................11

        Neue Entwicklungsmuster im Globalen Süden......................................................................13

        Chinas geopolitisches Vordringen in Asien und darüber hinaus........................................16

        Zusammenfassung...................................................................................................................25

        Zitierte Literatur.........................................................................................................................27

Veröffentlicht von der Rosa-Luxemburg-Stiftung, Büro New York, Februar 2016

Herausgeber: Stefanie Ehmsen und Albert Scharenberg
Adresse: 275 Madison Avenue, Suite 2114, New York, NY 10016
E-Mail: info@rosalux-nyc.org; Telefon: +1 (917) 409-1040

Gefördert mit Mitteln des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung.

Die Rosa-Luxemburg-Stiftung ist eine international tätige, progressive Non-Profit-Organisation für
politische Bildung. In Zusammenarbeit mit vielen Organisationen rund um den Globus arbeitet sie für
demokratische und soziale Partizipation, die Ermächtigung von benachteiligten Gruppen, Alternativen
zur wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung und für friedliche Konfliktlösungen.

Das New Yorker Büro erfüllt zwei Hauptaufgaben: sich mit Themen der Vereinten Nationen zu befassen
und mit nordamerikanischen Linken in Hochschulen, Gewerkschaften, sozialen Bewegungen und der
Politik zusammenzuarbeiten.

                                          ww w .r osal u x - n yc.or g
Vom Aufstieg zur Stagnation?

Seit mehr als drei Jahrzehnten hat Chinas beachtlicher wirtschaftlicher Aufstieg die Welt umgestal-
tet. Ungeachtet der jüngsten Abschwächung fasziniert diese Wandlung weiterhin; Experten haben
mit zahlreichen Theorien dafür aufgewartet, was der Wandel für das Land, seine Nachbarn und die
Welt bedeutet. Repräsentiert China ein alternatives Wachstumsmodell oder handelt es sich nur um
eine neue Variante des Neoliberalismus? Fordern China und die BRICS-Staaten (Brasilien, Russland,
Indien, China und Südafrika) die derzeitige Weltordnung heraus oder nehmen sie bereitwillig und
aktiv daran teil? Welche Auswirkungen haben Chinas Aktivitäten in Südostasien und andernorts im
Globalen Süden? Wie werden sich die Politik und die globale Positionierung Pekings in der nahen
Zukunft ändern, und welche alternativen Pfade stehen dem Land offen?

Im New Yorker Büro der Rosa-Luxemburg-Stiftung haben wir uns mit der Frage beschäftigt, wie
China und andere große aufstrebende Wirtschaftsmächte des Globalen Südens die Welt und die
globalen Machtbeziehungen verändern. In der von uns veröffentlichten Studie „Neoliberalismus mit
südlichem Antlitz: Der Aufstieg des BRICS-Blocks“ argumentiert Vijay Prashad, dass die Entwicklung
der BRICS Ausdruck eines lang gehegten Traums des Globalen Südens ist, entscheidende politische
Macht auf globaler Ebene auszuüben, auch wenn die BRICS den Status quo bisher eher unterstützt
als in Frage gestellt haben. Walden Bello wiederum bekräftigte in seinem Vortrag in unserem Büro
2015 den ausbeuterischen Charakter bestimmter Praktiken der BRICS im Im- und Ausland. Aller-
dings sah er in den BRICS-Staaten zugleich potenzielle Herausforderer neoliberaler Institutionen
und Ideologie – sofern diese ihre tiefgreifenden internen Widersprüche überwinden können.

Im Kontext dieser Debatten argumentiert Ho-fung Hung, Ostasien-Experte und Professor an der
Johns Hopkins Universitäty, dass der beachtliche Wirtschaftsaufschwung Chinas auf dessen Integra-
tion in die globale Wirtschaftsordnung zurückzuführen ist. Obwohl China diese Ordnung keineswegs
anficht, hat das Land Handelsbeziehungen umgestaltet und das Wirtschaftssystem weiter fragmen-
tiert. Chinas Aufstieg ist außerdem im Vermächtnis maoistischer Entwicklungsstrategien verwurzelt,
ebenso wie in seiner geographischen Nähe zu den exportorientierten ostasiatischen „Tigerstaaten“.
Allerdings lässt sich Chinas Einfluss auf den Globalen Südens nicht vereinfacht erklären – vielmehr
ist er uneinheitlich und von den jeweiligen örtlichen Gegebenheiten und Institutionen geprägt.

Um die Welt verändern zu können, müssen wir sie verstehen. Die vorliegende Studie bietet ein dif-
ferenziertes und scharfsichtiges Verständnis davon, wie sich China als Hauptakteur innerhalb der
Weltpolitik etablieren konnte. Die Zukunft dieser wirtschaftlichen Supermacht wird das Leben sei-
ner mehr als 1,3 Milliarden Bürgerinnen und Bürger beeinflussen – und den Rest der Welt.

                                                            Stefanie Ehmsen und Albert Scharenberg
                                                            Leiter des Büros New York, Februar 2016

                                                1
China allein zu Haus
Das Reich der Mitte in der globalen Weltordnung

Von Ho-fung Hung

Der wirtschaftliche Aufschwung, den China               nen Sektors ermöglichte. Chinas Aufschwung
im Verlauf der letzten drei Jahrzehnte genom-           geht also im Wesentlichen auf die Partizipation
men hat, fasziniert trotz der jüngst zu beob-           des Landes an der durch Freihandel und freien
achtenden Abschwächung viele Beobachter                 Kapitalverkehr gekennzeichneten neoliberalen
und weckt mancherlei Vorstellungen, auf wel-            Weltordnung zurück. Er ist insofern weit davon
che Weise ein ökonomisches Kraftwerk sol-               entfernt, diese Ordnung infrage zu stellen.
chen Formats die Entwicklungsbedingungen
anderer Volkswirtschaften im globalen Süden             Zwar kann der chinesische Aufschwung, da er
beeinflussen könnte. Es gibt Analysen zuhauf,           unter ganz ungewöhnlichen welthistorischen –
die Chinas Aufschwung als Antithese zum Wa-             und übrigens pfadabhängigen – Bedingungen
shington-Konsens darstellen, ja viele sehen die         zustande kam, in anderen Entwicklungslän-
Volksrepublik sogar als Beispiel eines alternati-       dern nicht einfach kopiert werden. Allerdings
ven Entwicklungsmodells, das auch in anderen            beeinflusst er Chinas Nachbarn und andere
Entwicklungsländern funktionieren könnte.               Entwicklungsländer weltweit durchaus, und
Gleichzeitig prognostizieren manche, China              zwar auf widersprüchliche Weise. Einerseits
werde letztlich die geopolitische Vorherrschaft         setzt er andere arbeitsintensiv produzierende
der Vereinigten Staaten überwinden und in               Exportländer unter starken Wettbewerbsdruck
Asien, ja sogar weltweit eine politische Neu-           und veranlasst sie, sich dem sinozentrischen
ordnung herbeiführen.                                   Produktionsnetzwerk und der entsprechenden
                                                        Wertschöpfungskette anzupassen und einzu-
In der vorliegenden Studie vertrete ich die The-        fügen. Andererseits fördert er in diesen Län-
se, dass China seinen Aufschwung der Kon-               dern einen Boom der Industriegüterprodukti-
vergenz zweier Entwicklungslinien verdankt,             on. Geopolitisch sieht Peking sich durch Chinas
deren Ursprung beiderseits des Frontverlaufs            wachsendes Wirtschaftsengagement im globa-
im Kalten Krieg liegt, nämlich einerseits in der        len Süden dazu genötigt, Machtprojektion zu
maoistischen und andererseits in der export-            betreiben, politisch und sogar militärisch, was
orientierten ostasiatischen Entwicklung auf der         aber einen Backlash auslöst: Es treibt Chin-
Gegenseite dieser Front. Dieses Bedingungs-             as Nachbarn und andere Entwicklungsländer
gefüge ist einzigartig und dürfte sich kaum auf         dazu, sich enger an die Vereinigten Staaten zu
andere Entwicklungsländer übertragen lassen.            binden. Insgesamt ergibt sich ein zwiespältiges
Darüber hinaus besteht die eigentliche Quelle           Bild der Auswirkungen, die Chinas Aufschwung
der chinesischen Wirtschaftsdynamik im Ex-              auf die Entwicklungsmöglichkeiten des globa-
portsektor des Landes, in dem (in- und auslän-          len Südens hat. Zwar führt er zu wachsender in-
dische) Privatunternehmen vorherrschen und              terimperialer Rivalität zwischen der Volksrepu-
der fest in die Kreisläufe des Welthandels in-          blik als aufsteigendem geopolitischen Macht-
tegriert ist. Dieser Exportsektor ist es, der die       faktor und den etablierten Mächten des Wes-
Expansion des relativ unprofitablen staatseige-         tens, insbesondere den USA. Chinas Aufstieg

                                                    2
HO-FUNG HUNG
                                                           CHINA IN DER GLOBALEN WELTORDNUNG

hat jedoch, anders als viele erwarteten, keine         schaffen; vielmehr verstärkt er die Fragmentie-
neue politisch-ökonomische Weltordnung ge-             rung der bestehenden.

Ursprünge und Dynamik des chinesischen Aufschwungs

Nach verbreiteter Auffassung begann der ka-            keth und Zhu 1997; Ross 2005: S. 1-13). Außer
pitalistische Aufschwung Chinas, als das Land          während der vom „Großen Sprung nach vorn“
mit der zentralen Wirtschaftsplanung der Mao-          ausgelösten Hungersnot 1959-61 führte der
zeit radikal brach. Bei näherer Betrachtung            maoistische Entwicklungspfad fast durchgän-
zeigt sich jedoch, dass der Aufschwung ohne            gig zu hohen BIP-Wachstumsraten, bis Mitte
das vielfältige Erbe jener Ära und ohne die Ver-       der 1970er Jahre die Wachstumsdynamik des
bindung mit dem exportorientierten Industrie-          Zentralplanungssystems erschöpft war und
kapital, das in der Hochzeit des Kalten Krieges        die Wirtschaft zum Stillstand kam. Doch im
anderswo in Asien entstand, nicht möglich ge-          Ergebnis verfügte China jetzt über eine Men-
wesen wäre. Chinas Aufschwung resultierte,             ge staatlichen Kapitals und eine gewaltige
wie gesagt, daraus, dass die Ergebnisse der            Reserve gesunder und gut ausgebildeter Ar-
maoistischen Entwicklung und des export-               beitskräfte auf dem Land. Und es hatte einen
orientierten Wachstumsmodells anderer ost-             starken Staatsapparat aufgebaut, der weniger
asiatischer Länder eine einzigartige Verbin-           als in anderen Entwicklungsländern und sozia-
dung miteinander eingingen.                            listischen Staaten mit Auslandsschulden belas-
                                                       tet war. Diese Entwicklungsresultate bildeten
                                                       eine solide Grundlage für die Marktreform, die
Vom maoistischen Sozialvertrag zur                     Maos Nachfolger Ende der 1970er Jahre ein-
neoliberalen Diktatur                                  leiteten, um die wirtschaftliche Stagnation zu
                                                       überwinden (Naughton 1995: S. 55).
In der Maozeit schaffte es der von der kommu-
nistischen Partei geprägte Staat, karge Agrar-         Die Marktreform begann mit einer Entkollek-
überschüsse abzuschöpfen und zu kumulie-               tivierung und der Wiederherstellung einer
ren. Durch die Kollektivierung der Landwirt-           bäuerlichen Landwirtschaft Anfang der 1980er
schaft und „Preisscheren“ zwischen landwirt-           Jahre, gefolgt von der Reform der Staatsunter-
schaftlichen und industriellen Erzeugnissen            nehmen in den Städten und einer Preisreform
gelang der Aufbau eines ausgedehnten Netz-             Ende des gleichen Jahrzehnts. In den 1990ern
werks staatseigenen Industriekapitals in den           beschleunigte sich die Reform der industriel-
Städten (Selden 1993; Friedman u.a. 1991; Wen          len Staatsunternehmen, und die besonders
2000: S. 141-271). Zwar fesselte das System der        umstrittene Privatisierungsfrage rückte in den
Haushaltsregistrierung, das die Möglichkeiten          Vordergrund. Während dieser Stadien richte-
der Bauern, aus dem Geburtsort wegzuzie-               te sich der Hauptstoß der Reform auf die De-
hen, beschnitt, diese an ihre Dörfer, doch ihre        zentralisierung ökonomischer Planungs- und
Lebenserwartung und Alphabetisierungsrate              Regulierungsbefugnisse und eine Öffnung der
nahm im Ergebnis staatlicher Investitionen             Wirtschaft – zunächst für Kapital aus der chi-
in die ländliche Grundschulausbildung und              nesischen Diaspora in Asien und schließlich für
Gesundheitsversorgung erheblich zu (Hes-               transnationale Kapitalzuflüsse aus aller Welt.

                                                   3
HO-FUNG HUNG
                                                           CHINA IN DER GLOBALEN WELTORDNUNG

Die Dezentralisierung                                  als Antriebskraft für das arbeitsintensive und
                                                       exportorientierte industrielle Wachstum des
Im Vordergrund der ersten Reformphase stand            Landes eine wichtige Rolle (vgl. Lin 1997, 2000
eine Dezentralisierung, die wirtschaftliche Ent-       und Hsing 1998). Beim Stand von 2004 wurden
scheidungsbefugnisse auf örtliche Verwaltun-           fast 60 Prozent der chinesischen Exportpro-
gen übertrug und diesen zugleich Subventio-            dukte in Unternehmen mit ausländischer Be-
nen der Zentralregierung entzog (Shirk 1993:           teiligung erzeugt, und dieser Prozentsatz liegt
S. 334f.). Durch Gewinnmöglichkeiten verlockt          bei Produkten mit höherer Wertschöpfung
entwarfen lokale Verwaltungseinheiten ange-            sogar noch darüber. Diese Zahl ist verblüffend
sichts der je unterschiedlichen Ressourcen-            hoch, vergleicht man sie mit den Angaben für
ausstattung unterschiedliche Strategien zur            andere „asiatische Tiger“ in vergleichbaren
Kapitalakkumulation. Einige betreiben in eige-         Entwicklungsstadien – 20 Prozent für Taiwan
ner Regie kollektive Kommunalunternehmen               und 25 Prozent für Südkorea Mitte der 1970er
oder wandeln in ihrem Verwaltungsbereich               Jahre, sogar nur 6 Prozent für Thailand Mitte
gelegene Staatsbetriebe in gewinnorientierte           der 1980er. Am Verhältnis zwischen auslän-
Firmen um. (Diese Version lokaler Entwicklung          dischen Direktinvestitionen (FDI) und Brutto-
wird als „lokaler Korporatismus“ oder „loka-           anlageinvestitionen gemessen ist China unter
les Staatsunternehmertum“ bezeichnet; vgl.             den ost- und südostasiatischen Staaten seit
beispielsweise Oi 1999; Lin 1995; Walder 1995          den 1990er Jahren mit am stärksten von Aus-
oder Duckett 1998.) Andere spielen eine Art            landskapitalzuflüssen abhängig (Hughes 2005;
Schiedsrichterrolle, statt sich unmittelbar als        Gilboy 2004; Huang 2003: S. 4-35).
„Player“ in das lokale Wirtschaftsgeschehen
einzuschalten. Sie fördern die Entwicklung vor         Das in der Mao-Ära massenhaft akkumulierte
Ort durch klassische Mittel staatlicher Entwick-       Staatskapital kam ausländischen Investoren
lungspolitik wie Ausschlussregeln und Bereit-          überaus gelegen, gestattete es ihnen doch,
stellung der geeigneten Infrastruktur, um die          sich in ein bereits bestehendes industrielles
Wachstumschancen ausgewählter Industrie-               Netzwerk einfach einzuklinken, indem sie Joint
sektoren zu verbessern, von denen das lokale           Ventures oder vielschichtige Zulieferbeziehun-
Steueraufkommen abhängt. (Zur Diskussion               gen mit lokalen Staats- oder Kollektivbetrie-
über den „lokalen Entwicklungsstaat“ in Chi-           ben eingingen. So begannen transnationale
na vgl. Blecher und Shue 2001; Wei 2002; Zhu           Industriegiganten wie Boeing, Volkswagen und
2004 sowie Segal und Thun 2001.)                       Toyota ihre Geschäfte in China ursprünglich
                                                       dadurch, dass sie einfach mit bestehenden
Weil es sowohl an technischem und Manage-              staatseigenen Flugzeug- oder Autoproduzen-
ment-Knowhow als auch an Vertriebsnetzen               ten kooperierten (Chin 2003). Der „grenzen-
auf Auslandsmärkten mangelt, sind die meis-            lose“ Nachschub gesunder und gut ausgebil-
ten lokalen Staatsaktivitäten auf entwicklungs-        deter Arbeitskräfte aus den ländlichen Gebie-
politischem oder unternehmerischem Gebiet              ten, ein weiteres Erbe der Mao-Zeit, hält die
stark abhängig von Arbeitskräfte suchendem             Löhne beständig weit unter internationalen
transnationalem Kapital, zumeist aus der ost-          Standards. Was Chinas Anziehungskraft auf
asiatischen Region, wenn es um die Schaffung           Kapital aus aller Welt weiter erhöht, ist der
und Erhaltung von Wirtschaftswachstum vor              Konkurrenzdruck der örtlichen Verwaltungs-
Ort geht. Obwohl ausländische Direktinvestitio-        einheiten untereinander, die zur Steigerung
nen angesichts der kontinentalen Dimension             des BIP-Wachstums miteinander darum wett-
der chinesischen Volkswirtschaft quantitativ           eifern, ausländischen Investoren bestmögliche
weniger ins Gewicht fallen, spielen sie doch           Bedingungen zu bieten, von Steuervergüns-

                                                   4
HO-FUNG HUNG
                                                            CHINA IN DER GLOBALEN WELTORDNUNG

tigungen bis zu kostenlosen Industrieansied-            tiger und verschärfte so das Phänomen des
lungsflächen.                                           „verkehrten Föderalismus“ (Mertha 2005). Die
                                                        Dynamik der andauernden Stärkung der loka-
                                                        len Autoritäten gegenüber der Zentrale lässt
Ein fragmentierter Autoritarismus                       sich nicht ohne Weiteres umkehren, weil die-
                                                        ser Prozess integraler Bestandteil der Mark-
Eine Konsequenz der ökonomischen Dezen-                 treform selbst ist.
tralisierung besteht im nachlassenden Einfluss
der Zentralregierung. Während die örtlichen
Verwaltungseinheiten zu den führenden Be-               Soziale Polarisierung
treibern oder unmittelbaren Organen der Ka-
pitalakkumulation werden, zieht die Zentralre-          Der Übergang zu Marktverhältnissen zerstör-
gierung sich in die Rolle indirekter Einflussnah-       te den Sozialvertrag aus Maos Zeiten, welcher
me zurück, indem sie sich auf den Zuschnitt             auf kostenloser Gesundheitsversorgung, Bil-
des makroökonomischen Hintergrunds spezi-               dung, lebenslanger Beschäftigung und ande-
alisiert, vor dem die lokalen Verwaltungen die          ren durch staatseigene Betriebe und Land-
Entwicklung vorantreiben, auf die Festlegung            kommunen bereitgestellten sozialen Basis-
von Zinssätzen und Wechselkursen beispiels-             diensten beruht hatte. Kompensiert wurde die
weise oder die gezielte Förderung bestimmter            Auflösung dieses Sozialvertrags zunächst bis
Regionen und Sektoren. Der Machtverlust der             tief in die 1980er Jahre hinein durch steigende
Zentralregierung gegenüber den lokalen Auto-            Einkommen, die neue Marktchancen auf dem
ritäten, was die unmittelbare Wirtschaftspoli-          Lande eröffneten, und den Übergang von der
tik und -verwaltung angeht, veranlasst manche           Mangel- zur Konsumwirtschaft in den Städten.
Beobachter, Chinas politische Ökonomie als              Im ersten Stadium der Reform bis Mitte der
„fragmentierten Autoritarismus“ zu bezeich-             1980er Jahre konnte es heißen „alle gewinnen“,
nen (so etwa Lieberthal 1992).                          da die meisten Bevölkerungsgruppen von ihr
                                                        profitierten (Wang 2000).
Im Lauf der 1990er Jahre versuchte die Zen-
tralregierung, die Macht des Zentrums auf den           Doch seit Mitte der 1980er Jahre, als die Re-
Gebieten administrativer Regulierung, des Fi-           form in den Städten an Tempo zunahm, hat
nanzwesens und der Warenwirtschaft wieder               sich deren soziale Dynamik dramatisch gewan-
zu stärken. Auch die Fiskalreform von 1994              delt. Die Crux der Reform in den Städten be-
sicherte der Zentralregierung einen größeren            stand darin, aus staatseigenen Betrieben auto-
Anteil am Steueraufkommen. Doch die Rezen-              nome Profitzentren zu machen, indem man die
tralisierung gelang bestenfalls teilweise, ja           „weiche Budgetbeschränkung“ der Betriebe
blieb im Grunde auf halbem Wege stecken.                „härtete“, ihnen also staatliche Subventionen
Zwar konnte Verwaltungsmacht von der Ebene              und Verlustübernahmen entzog. Unter dem
der Landkreise und Gemeinden auf die Provinz-           neu geschaffenen Druck, Gewinne zu erzielen,
ebene zurückverlagert werden, nicht aber von            begannen viele staatseigene Betriebe, Sozial-
dort nach Peking. Zum Ausgleich für eine Ver-           leistungen für ihre Beschäftigten abzuschaf-
minderung ihres Anteils am Steueraufkom-                fen und lebenslange Beschäftigungsgarantien
men gewährte man den Provinzregierungen                 durch befristete Arbeitsverträge abzulösen.
mehr Autonomie in Sachen Wirtschafts- und               Die Verminderung der Einkommen der Indus-
Einkommenswachstum. Im Ergebnis machte                  triearbeiter und ihrer Arbeitsplatzsicherheit
der (Re-)Zentralisierungsversuch die Provinz-           ging einher mit galoppierender Inflation und
regierungen gegenüber Peking noch mäch-                 grassierender Korruption, ausgelöst durch

                                                    5
HO-FUNG HUNG
                                                           CHINA IN DER GLOBALEN WELTORDNUNG

die Preisreform. Diese Reform – die mit ei-            In den 1990er Jahren nahmen die wirtschaftli-
nem „zweigleisigen“ System begonnen hatte,             che Liberalisierung und die ihr folgende soziale
mit der Koexistenz festgesetzter Planpreise            Polarisierung erheblich schärfere Formen an
und ungebundener Marktpreise für solche                als in den 1980ern. Eine Welle von Massenent-
Schlüsselgüter wie Benzin, Zement, Stahl und           lassungen in den staatseigenen Unternehmen,
andere knappe Grundstoffe – ermöglichte es             die in profitorientierte kapitalistische Firmen
Regierungsvertretern und Staatsbetriebslei-            umgewandelt oder gleich privatisiert wurden,
tern, diese Güter zu niedrigen Planpreisen             erfasste alle großen Städte. Hierdurch und
anzukaufen, sie zu horten und dann zu explo-           durch die damit verbundene vollständige Auf-
dierenden Marktpreisen weiter zu verkaufen.            lösung des in den öffentlichen Unternehmen
Auf diese Art häuften viele Kader – oder deren         verankerten Systems sozialer Sicherung ent-
Familienangehörige und Protégés – enorme               stand eine rasch wachsende städtische Unter-
Privatvermögen an und verwandelten sich so             schicht. Das Wissen, dass den Staatsbetrieben
binnen weniger Jahre in die erste Generation           eine Privatisierungswelle bevorstand, eröff-
der chinesischen „Kader-Kapitalistenklasse“            nete Führungskadern und ihren Vertrauten in
oder „bürokratischen Kapitalisten“ (Wen 2004:          den 1990er Jahren die Möglichkeit, durch „In-
S. 37). 1988 hatten Inflation, Korruption und          sider-Privatisierung“ sehr schnell ungeheuer
Klassenpolarisierung krisenhafte Ausmaße               reich zu werden. So kündigte sich die Bildung
angenommen, was den großen Unruhen von                 einer neuen Klasse von Oligarchen des russi-
1989 den Boden bereitete (Naughton 1995: S.            schen Typs an (Walder 2002, 2003; Li und Ro-
269f.; Wang 2003, S. 46-77; Selden 1993: S. 206-       zelle 2000, 2003). Die Reform machte aus vie-
230; Zhao 2001: S. 39-52; Saich 1990; Hartford         len Staatsunternehmen profitorientierte kapi-
1990; Baum (Hg.) 1991).                                talistische Konzerne, deren Aktien mehrheit-
                                                       lich der Staat hielt. Einige dieser Unternehmen
Mit der blutigen Niederschlagung der Tienan-           waren an chinesischen und ausländischen Bör-
men-Revolte brach Chinas Weg zu politischer            sen, so etwa in Hongkong, Singapur und New
Liberalisierung ab. Zugleich beschleunigte sie         York, notiert. Ohne den festen Griff, in dem der
den neoliberalen Angriff auf die Rechte der In-        autoritäre Post-Tienanmen-Staat die chinesi-
dustriearbeiter. Das Blutbad auf dem Platz des         sche Gesellschaft hielt, wäre die störungsfreie
Himmlischen Friedens bewirkte die internatio-          Liberalisierung der Wirtschaft unmöglich ge-
nale Isolation des Landes. Um diese zu durch-          wesen, zumindest nicht ohne soziale Unruhen
brechen, griff Deng auf neue KP-Führer zurück.         und in diesem Tempo erfolgt.
Die aus Schanghai stammenden Jiang Zemin
und Zhu Rongji verfolgten dann die ganzen
1990er Jahre hindurch eine scharf neolibera-           Kapitalismus in China
le Agenda, wobei sie sich geflissentlich an den
Washington-Konsens hielten und vom US-Fi-              In den 1990er Jahren hatte sich der Kapitalis-
nanzkapital beraten ließen. Damit bot man der          mus in China fest etabliert. Die neuen Reichen,
Clinton-Administration Anreiz und Rechtferti-          zu denen die Klasse der Kader-Kapitalisten,
gung dafür, alle Zweifel über das chinesische          Selfmade-Geschäftsleute, Fachkräfte aus der
Parteiregime nach der Tienanmen-Nieder-                Mittelschicht und ähnliche Gruppen zählen,
schlagung beiseite zu lassen und im Namen              sind die Hauptgewinner des neuen Politikkon-
einer Förderung der Menschenrechte durch               senses der Partei in den 1990er Jahren und
wirtschaftliche Öffnung und Stärkung der öko-          bilden deren neue soziale Grundlage. Diese
nomischen Freiheiten politisch auf China zuzu-         Profiteure der Marktreform sind eher Gegner
gehen.                                                 als Pioniere einer politischen Reform. Aus groß

                                                   6
HO-FUNG HUNG
                                                            CHINA IN DER GLOBALEN WELTORDNUNG

angelegten Meinungsumfragen der letzten                 aufzunehmen. Zwar war der Exportsektor
Zeit geht immer wieder hervor, dass die meis-           dank des beginnenden Zuflusses von Indust-
ten Angehörigen der Mittelschicht ebenso wie            riekapital aus Hongkong schon in den 1980ern
die meisten Unternehmer in China sich ent-              entstanden, aber zunächst schwach ausge-
schieden gegen eine politische Liberalisierung          prägt, da die meiste auf dem Land verfügbare
wenden, weil sie fürchten, diese würde zu ei-           Arbeitskraft noch in den ländlichen Kollektiv-
ner Tyrannei der Unterschichten führen und              betrieben („township and village enterprises“,
ihre privaten Profite bedrohen (so z.B. Chen            oder TVEs) und in dem florierenden Agrarsek-
2002 und Tsai 2007). So hat Chinas Partei-Staat         tor gebunden war. Doch 1994 wurde dann der
sich in aller Stille aus einem autoritär-sozia-         Renminbi (RMB, die chinesische Währung) mit
listischen Staat, der ein planwirtschaftliches          einem Schlag um über 30 Prozent gegenüber
System unterhielt und die Akkumulation von              dem Dollar abgewertet und anschließend an
Staatskapital förderte, in einen autoritär-kapi-        diesen gekoppelt, was China für den Export be-
talistischen Staat verwandelt, welcher die pri-         stimmter Industrieprodukte einen gewaltigen
vate Kapitalakkumulation der Privilegierten si-         Schub gab.
chert und Widerstand von unten gegen diesen
Akkumulationsprozess in Schach hält.                    Am Aufdrehen des chinesischen Exportmo-
                                                        tors haben mehrere Faktoren ihren Anteil.
Der scharfe Wettbewerb der lokalen Verwal-              Das wegweisende Handelsabkommen der
tungseinheiten um ausländische Investitionen            Clinton-Administration mit China von 1999
hat ebenso wie der kapitalfreundliche autori-           senkte die Handelsbarrieren für Güter aller
täre Staat, der Forderungen der arbeitenden             Art, während China, das seine Aufnahme in die
Klassen entgegentrat, dazu beigetragen, China           Welthandelsorganisation WTO beantragte und
für das globale Kapital attraktiv zu machen –           2001 Mitglied wurde, im Gegenzug zur Öffnung
besonders für das Industriekapital, das sich            der amerikanischen und europäischen Märkte
in Japan und den „Tigerstaaten“ während des             für chinesische Produkte den eigenen Markt
ostasiatischen Nachkriegsaufschwungs entwi-             öffnete. Unerlässlich für den Erfolg der Export-
ckelt hatte. Zwischen 1990 und 2005 machten             orientierung war allerdings, dass die Lohnkos-
Investitionen aus Hongkong, Taiwan, Südkorea,           ten der chinesischen Industrieproduktion auf-
Japan und Singapur zusammengenommen 71                  grund des „unbegrenzten“ Nachschubs „über-
Prozent der ausländischen Direktinvestitionen           zähliger“ Arbeitskräfte aus den ländlichen Ge-
in China aus. Viele dieser Investitionen sind ex-       bieten anhaltend niedrig blieben.
portorientiert und verwandeln das Land in die
„Werkbank der Welt“. Sie erweisen das chine-            Chinas Fähigkeit, sich unter Bedingungen un-
sische Wirtschaftswunder als Fortsetzung des            begrenzter Versorgung mit Arbeitskräften zu
vorausgegangenen ostasiatischen „Wunders“               entwickeln, ist nicht etwa, wie viele annehmen,
und binden China fest in das globale Netzwerk           ein natürliches Phänomen, das auf der Bevöl-
des Freihandels ein. Sie sind die Hauptquellen          kerungsstruktur des Landes beruht. Es handelt
der chinesischen Wirtschaftsdynamik und Pro-            sich vielmehr um eine Folge der staatlichen
fitabilität.                                            Agrarpolitik und der Behandlung der ländli-
                                                        chen Gebiete in China, die – gewollt oder unge-
                                                        wollt – letztere ruinieren und zu einem anhal-
Die zentrale Rolle des Exportsektors                    tenden Exodus der Landbevölkerung führen.
                                                        Seit den 1990er Jahren konzentriert sich die
In den 1990er Jahren begann die exportori-              Investititionstätigkeit der chinesischen Regie-
entierte Industrieproduktion in China Fahrt             rung im Wesentlichen auf die Küstenstädte

                                                    7
HO-FUNG HUNG
                                                           CHINA IN DER GLOBALEN WELTORDNUNG

und -regionen, um verstärkt ausländische In-           hatten, überwog in den 1990er Jahren und
vestitionen anzuziehen und den Exportsektor            danach stets die Zahl der Politbüromitglieder
zu stärken. Die Investitionen in ländliche Ge-         aus den Küstengebieten, mit der 2007er Ko-
biete und Landwirtschaft hinken dagegen weit           horte als einziger Ausnahme. Es sticht beson-
hinterher. Auch die staatseigenen Banken ha-           ders hervor, dass zwei der drei Spitzenleute
ben schwerpunktmäßig die städtisch-industri-           nach 1989, nämlich Jiang Zemin und Xi Jinping,
elle Entwicklung finanziert, während die Finan-        viele Jahre lang in sehr wichtigen exportori-
zierung ländlicher Aktivitäten darniederlag.           entierten Stadtregionen an der Küste tätig
Die Herausbildung dieses Ungleichgewichts              gewesen waren, in Schanghai der eine und
der chinesischen Entwicklung liegt zumindest           der andere in Zhejiang/Fujian (vgl. Hung 2015:
teilweise daran, dass eine mächtige städtisch-         Tab. 3.4).
industrielle Elite aus den südlichen Küstenre-
gionen bei der Integration Chinas in die Welt-
wirtschaft den Ton angibt. Diese Elite, die nach       Bevorzugte Entwicklung städtischer
der Öffnung des Landes entstand, nahm mit              Regionen
dem Exportboom zahlenmäßig, an finanzi-
ellen Mitteln und an politischem Einfluss zu           Eine Konsequenz dieser eigendynamisch zu-
und vermochte es immer besser, die Politik             nehmenden urbanen Schlagseite ist die rela-
des Zentralstaats auf ihre Interessen zuzu-            tive ökonomische Stagnation der ländlichen
schneiden (vgl. Zweig 2002; Gallagher 2002;            Gebiete und die damit einhergehende Finanz-
Kaplan 2006 und Shih 2008: S. 139-188). Ihr            not der dortigen Verwaltungseinheiten. Die
wachsender Einfluss auf den politischen Ent-           Kollektivunternehmen auf dem Lande hatten
scheidungsprozess der Zentrale sorgte dafür,           während der Frühzeit der Marktreform in den
dass die Stärkung der chinesischen Wettbe-             1980er Jahren in Gestalt lokaler – kleinstädti-
werbsfähigkeit in Sachen Export und die An-            scher und dörflicher – Betriebe als dynamische
ziehungskraft des Landes auf ausländische              Beschäftigungsgeneratoren fungiert. Ihr Ver-
Investoren zu Lasten der ländlich-agrarischen          schwinden und die Verschlechterung der länd-
Entwicklung Priorität genoss. Die durch Hype-          lichen Einkommenssituation und Verwaltungs-
rinflation und Verschlechterung der Lebens-            verhältnisse hat seit den 1990er Jahren die
verhältnisse in den Städten ausgelösten Revol-         meisten jungen Arbeitskräfte auf dem Lande
ten der Stadtbevölkerung von 1989 bestärkten           genötigt, in die Städte abzuwandern. So ent-
den Partei-Staat nur noch darin, in den 1990er         stand ein Teufelskreis, der in den ländlichen
Jahren und darüber hinaus die wirtschaftliche          Gebieten eine soziale Krise auslöste.
Prosperität und Stabilität der Großstädte auf
Kosten der ländlichen Regionen zu sichern              Chinas ländlich-agrarischer Sektor wurde nicht
(Yang und Cai 2000).                                   allein vernachlässigt, sondern zudem zuguns-
                                                       ten des städtisch-industriellen Wachstums
Der Griff der Küstenelite nach der Staats-             ausgebeutet. Zur Finanzierung des letzteren
macht lässt sich anhand des Hintergrunds der           entzog man ihm zwischen 1978 und 2000
KPCh-Führer illustrieren, die seit 1989 Spit-          finanzielle Ressourcen in beträchtlichem und
zenpositionen erlangten. Während der stän-             zunehmendem Ausmaß. Es handelt sich um
dige Ausschuss des Politbüros – das höchste            Transfers mit Hilfe des Fiskalsystems (durch
Entscheidungsgremium der KPCh – zu unge-               Besteuerung und staatliche Ausgabenpolitik),
fähr gleichen Anteilen mit Leuten besetzt war,         des Finanzwesens (durch Spareinlagen und
die zuvor entweder in den Küstenprovinzen              Kredite) und anderer Mittel, wie etwa Getrei-
oder im agrarischen Inland eine Rolle gespielt         devermarktung und Rücküberweisungen der

                                                   8
HO-FUNG HUNG
                                                             CHINA IN DER GLOBALEN WELTORDNUNG

in die Städte Abgewanderten (vgl. Hung 2015:             Verbrauchermarkts behindert und dessen
Abb. 3.2; siehe auch Huang 2000 und Wen                  Abhängigkeit von der Konsumnachfrage der
2005).                                                   (über)entwickelten Länder verstärkt. Deren
                                                         Wachstum hängt zunehmend davon ab, dass
Die kostengünstige, arbeitsintensive, export-            diese Länder sich bei China und anderen asi-
orientierte Industrieproduktion zählt seit Mit-          atischen Exportländern massiv verschulden.
te der 1990er zu den wesentlichen Triebkräf-             Dieses Wachstumsmuster, das sich in starke
ten des chinesischen Wirtschaftsbooms. Der               Abhängigkeit von der Außennachfrage – insbe-
massive Außenhandelsüberschuss, den der                  sondere der Nachfrage amerikanischer Konsu-
Exportsektor erzeugt, sorgt für die Liquidität           menten – begibt, ist eindeutig riskant. Doch so
des Bankensystems – in der Form einer zuneh-             lange die Verbrauchermärkte in den Vereinig-
menden Versorgung mit Devisen-, hauptsäch-               ten Staaten und Europa weiter expandieren,
lich Dollar-gedeckten Renminbi – und damit               wie es während des kreditfinanzierten Hy-
für die Zunahme der hauptsächlich von Staats-            per-Konsumismus in den 1990er und 2000er
unternehmen getätigten Anlageinvestitionen.              Jahren fast durchgängig geschah, garantiert
So bleibt das Bankensystem trotz der nicht               Chinas beeindruckende Exportmaschine das
sonderlich eindrucksvollen Leistungsbilanz der           Wirtschaftswachstum und den staunenswer-
staatseigenen Unternehmen, die von einer la-             ten ökonomischen Erfolg des Landes, für den
schen Kreditvergabepraxis staatlicher Banken             sie steht.
profitieren, liquide. Es ist geradezu charakte-
ristisch für die chinesische Variante kapitalisti-       Mancher mag meinen, angesichts des hohen
scher Entwicklung geworden, sich auf den Ex-             Anteils investiver Ausgaben im chinesischen
port, Anlageinvestitionen und ein Niedriglohn-           BIP werde das Wirtschaftswachstum des Lan-
regime, das den Konsum zügelt, zu verlassen.             des mindestens so stark wie durch den Export
Wie früher schon für die Asiatischen Tiger stell-        durch die Inlandsinvestitionen chinesischer
ten die Vereinigten Staaten den mit Abstand              Staatsunternehmen und verschiedener Ebe-
wichtigsten Exportmarkt dar, worin sie erst vor          nen der Staatstätigkeit angetrieben. Allerdings
kurzem von der EU (insgesamt) übertroffen                darf man nicht vergessen, dass die meisten An-
wurden. Die rapide Expansion seiner Export-              lageinvestitionen in der chinesischen (Binnen-)
industrie hat China bereits zur Nummer 1 unter           Wirtschaft durch Bankkredite finanziert sind
den asiatischen Exportländern gemacht (Hung              und dass ein beträchtlicher Teil der Liquidität
2015: Tab. 3.6).                                         des chinesischen Bankensystems aus einem
                                                         „Sterilisierungs“-Prozess stammt, bei dem
Alles in allem ist also das die Stadtregionen be-        Exporteure die erwirtschafteten Devisen im
vorzugende Entwicklungsmuster, welches das               Austausch gegen einen äquivalenten Betrag
ländliche China ruinierte und die Dorfbevölke-           in Renminbi, der von der chinesischen Zen-
rung zur Abwanderung zwang, der Ursprung                 tralbank     ausgegebenen     Landeswährung,
sowohl der anhaltenden „unbegrenzten“                    staatlichen Banken übertragen. Die Liquidität
Versorgung mit (ehemals) ländlichen Arbeits-             im chinesischen Bankensystem entstammt
kräften als auch der damit einhergehenden                also, anders gesagt, großenteils dem wuchern-
Lohnstagnation, welche das exportgetriebene              den Außenhandelsüberschuss. Auf seinem Hö-
chinesische Wirtschaftswunder kennzeichnen.              hepunkt im Jahr 2007 belief sich Chinas Leis-
Andererseits haben die durch ebendiese Stra-             tungsbilanzüberschuss auf 47 Prozent des – in
tegie bewirkten niedrigen Industriearbeiter-             der Geldmenge M2 gemessenen – Volumens,
löhne wie auch der schlechte Lebensstandard              um das die Geldversorgung der chinesischen
auf dem Lande die Expansion des heimischen               Volkswirtschaft in jenem Jahr ausgeweitet wur-

                                                     9
HO-FUNG HUNG
                                                              CHINA IN DER GLOBALEN WELTORDNUNG

de. Diese Liquidität fließt im Kontext der hohen          te zu einer neuen, sinozentrischen Ordnung,
Sparrate Chinas größtenteils in Bankkredite zur           in der die meisten Volkswirtschaften Asiens
Finanzierung von Anlageinvestitionen durch                vermehrt (wie etwa Korea und Taiwan) Kompo-
Staatsbetriebe und örtliche Verwaltungsein-               nenten und Teile mit hoher Wertschöpfung so-
heiten. Wer sagt, dass Chinas Exportsektor                wie (wie Japan) Kapitalgüter nach China liefer-
die Mutter seines kapitalistischen Booms ist,             ten, wo diese Kapitalgüter und Komponenten
übertreibt nicht.                                         dann der Assemblage von Fertigprodukten für
                                                          den Export auf die Märkte der reichen Länder
                                                          dienten (Haddad 2007; Baldwin 2006; Ando
Produktionsgeographien                                    2006).

Chinas boomender Exportsektor hat die Pro-                Im Laufe der 1990er Jahre überflügelten die
duktionsgeographie Ostasiens neu konfigu-                 Exporte Südkoreas, Honkongs und Taiwans
riert, indem er die älteren Exportländer dort             nach China deren Ausfuhren in die Vereinigten
durch die Regionalisierung der Industriepro-              Staaten, während auch Japans und Singapurs
duktion zunehmend in die chinesische Ex-                  Chinaexporte rasch anwuchsen und sich dem
portmaschine integrierte. Kaum hatte China                Gewicht ihrer Ausfuhren in die USA annäher-
begonnen, sich in den 1990er Jahren als der               ten (vgl. Hung 2015: Abb. 3.7). 2005 war es
wettbewerbstärkste asiatische Exporteur –                 soweit, dass an die Stelle des auf Japan ausge-
unterschiedlich hoch entwickelter – technolo-             richteten „Fluggänsemodells“ des asiatischen
gischer Erzeugnisse zu etablieren, da gerieten            Regionalismus (das einer Flugformation dieser
ältere Exportländer der Region, wie Japan und             Vögel glich) ein sinozentrisches Produktions-
die „Vier Tiger“, zusammen mit einer Gruppe               netzwerk getreten war. In diesem hatte Chi-
aufstrebender Exporteure in Südostasien, wie              na sich auf der Basis der Belieferung mit den
etwa Malaysia und Thailand, unter enormen                 zur Assemblage der Endprodukte benötigten
Anpassungsdruck. Die Konkurrenzfähigkeit                  Komponenten und Maschinen durch seine asi-
der chinesischen Exportwirtschaft wirkte als              atischen Nachbarn zum größten Exporteur von
Anreiz, erhebliche Teile der Exportproduktion             Fertigwaren für den Konsum im globalen Nor-
anderer asiatischer Volkswirtschaften nach                den entwickelt.
China zu verlagern. Manche behaupten sogar,
die Erosion der industriellen Profitabilität unter        Durch dieses sinozentrische Produktionsnetz-
dem chinesischen Wettbewerbsdruck sei eine                werk und die zunehmende Abhängigkeit des
der tieferen Ursachen der asiatischen Finanz-             ostasiatischen Exportwachstums von China
krise von 1997-98 gewesen (so Krause 1998).               werden die Begrenzungen und Schwachstellen
                                                          des chinesischen Entwicklungsmodells – an-
Während das industriewirtschaftliche Erstar-              gesichts seiner übergroßen Abhängigkeit von
ken der Volksrepublik die bestehende export-              schuldenfinanzierter Konsumnachfrage in den
orientierte Industrielandschaft der ganzen Re-            reichen Ländern und des lethargischen Wachs-
gion durcheinander wirbelte, bauten Chinas                tums seines Binnenmarkts – unvermeidlich
Nachbarn ihre Exportmaschinen zielbewusst                 auch auf andere asiatische Volkswirtschaften
derart um, dass sie die frontale Konkurrenz               übertragen. Die Nachhaltigkeit der chinesi-
mit China reduzieren und von dessen Aufstieg              schen Entwicklung und ihre Grenzen betreffen
profitieren konnten. In der alten industriellen           daher keineswegs nur das Wirtschaftswachs-
Ordnung Ostasiens hatte jedes Land spezifi-               tum der Volksrepublik. Es geht zugleich um die
sche Sortimente zum Verbrauch bestimmter                  gemeinsame Zukunft Ostasiens als integrier-
Fertigwaren hergestellt. Chinas Aufstieg führ-            ter Wirtschaftsblock.

                                                     10
HO-FUNG HUNG
                                                             CHINA IN DER GLOBALEN WELTORDNUNG

Die Überakkumulationskrise

Als 2008 die Finanzblase und mit ihr die schul-          schlimmert ist die Eskalation des bäuerlichen
denfinanzierte Konsumblase in den Vereinig-              Widerstands und der Arbeiterunruhen in Chi-
ten Staaten platzten und die US-Wirtschaft in            na seit den 1990er Jahren. Sie zwangen den
ein tiefes und langes Tal trieb, kollabierte auch        Parteistaat, Zugeständnisse zu machen und
Chinas exportgetriebene Wirtschaft. Doch Pe-             die wirtschaftlichen Verhältnisse auf dem Lan-
king brachte schon bald – 2009/2010 – einen              de zu verbessern (was letztlich den Zustrom
starken Wiederaufschwung zustande, indem                 ländlicher Wanderarbeiter in die Exportsek-
es die Staatsbank(en) veranlasste, die Kredit-           toren an der Küste drosselt), desgleichen die
schleusen weit zu öffnen, hauptsächlich für              Arbeitsbedingungen in der Industrie. Diese Zu-
Anlageinvestitionen durch Staatsunterneh-                geständnisse bewirken Lohnsteigerungen und
men und lokale Verwaltungseinheiten. Die-                bringen die Profitabilität des Kapitals stärker
ser starke Wiederaufschwung Chinas mitten                unter Druck.
im amerikanischen Abschwung ist es, der die
Vorstellung aufkommen ließ, China habe die               Industriekapazitäten, Infrastruktur, Wohnun-
Vereinigten Staaten als eigentlicher Motor des           gen, Kohlengruben, Stahlhütten etc. – sie alle
globalen Kapitalismus abgelöst.                          vermehrten sich während der Boomjahre und
                                                         des Wiederaufschwungs nach 2008 rapide,
Allerdings haben die Schwächung der chine-               wodurch allenthalben Überkapazitäten ent-
sischen Exportmaschine und die waghalsige                standen und die Profitrate absank. Hierdurch
Ausweitung der Investitionen während des                 gerät China in eine typische Überakkumula-
Wiederaufschwungs von 2009/2010 eine ge-                 tionskrise, von der die vielen Geisterstädte
waltige Schuldenblase anschwellen lassen, der            und stillgelegten Fabriken überall im Lande
keine entsprechende Ausweitung der chinesi-              zeugen. Den Verlust an Dynamik, den die chi-
schen Devisenreserven mehr gegenübersteht.               nesische Wirtschaft nach dem Wiederauf-
Zwischen 2008 und Anfang 2015 schossen die               schwung von 2009/2010 erlitt, veranschaulicht
offenstehenden Schulden in China von 148                 die Entwicklung des PMI (Purchasing Manu-
Prozent des BIP auf 282 Prozent empor, womit             facturing Index), eines Leitindikators, der den
sie das Verschuldungsniveau in den USA und               Zustand des industriellen Sektors misst (siehe
in den meisten anderen Entwicklungsländern               Abb. 1, folgende Seite). Ein PMI über 50 Punk-
übertrafen. Chinas Devisenreserve, die lange             te zeigt eine Expansion der Industrieproduk-
immer nur angewachsen war, begann 2014 zu                tion an, ein Wert unter 50 Punkte hingegen
schrumpfen. Dabei werden die vielen überflüs-            deren Schrumpfung. Nach dem Wiederauf-
sigen Bauten und Infrastruktureinrichtungen,             schwung von 2009/2010 ist der Index stetig
die im Zuge des schuldenfinanzierten Wie-                gesunken. Derzeit pendelt er um die Stagna-
deraufschwungs entstanden, keine Gewinne                 tionsmarke von 50 Punkten – ein bezeichnen-
abwerfen, zumindest nicht kurzfristig. Ob die            der Unterschied zu den Zeiten anhaltender Ex-
Schulden bedient und abgebaut werden kön-                pansion vor 2008.
nen, ist zweifelhaft, so dass eine tickende Zeit-
bombe geschaffen wurde. China hat deshalb                Diese Überakkumulationskrise hat den kürz-
keinen Spielraum mehr dafür, durch Anlagein-             lich eingetretenen Verfall der Börsenwerte und
vestitionen Wachstum zu generieren, obwohl               die beginnende Kapitalflucht ausgelöst, die zu
der Exportsektor immer noch zu kämpfen hat.              der starken Abwertung der chinesischen Wäh-
Was die Situation für das Kapital noch ver-              rung im Jahr 2015 führte.

                                                    11
HO-FUNG HUNG
                                                                   CHINA IN DER GLOBALEN WELTORDNUNG

Abb. 1: Chinas Einkaufsmanagerindex (PMI) für das verarbeitende Gewerbe, 2006-2015

                                                               Offiziell

                                                               HSBC/Caixin

Überakkumulationskrisen sind so alt wie der                  besonders in Afrika und Südostasien, chine-
Kapitalismus selbst. Wie Lenin einst in seinem               sische Staatskonzerne an vorderster Front.
Buch „Der Imperialismus als höchstes Stadium                 Meist handelt es sich dabei um Energiefirmen
des Kapitalismus“ diagnostizierte, treibt eine               und solche, die Infrastrukturbauten ausfüh-
Überakkumulationskrise im eigenen Land die                   ren. Auch chinesische Unternehmen haben
Kapitalisten dazu, auf der Suche nach Gegen-                 Produktionsbereiche in Länder wie Tansania
den, in denen die Profitrate höher liegt, Kapital            und Vietnam ausgelagert, wo die Löhne nied-
zu exportieren. So geschah es auch, als Indust-              riger liegen. Der gleiche Drang, überschüssiges
riekapital aus den Kernländern des Systems seit              Kapital zu exportieren, erklärt chinesische Am-
den 1970er Jahren nach Asien und China abzu-                 bitionen, jetzt eine „neue Seidenstraße“ („One
wandern begann. Jetzt aber ist China an der Rei-             Belt, One Road“) anzulegen, ein zweisträngiges
he, Opfer einer Überakkumulation zu werden,                  Netzwerk aus Häfen, Eisenbahnstrecken und
und bekommt den Drang zum Kapitalexport zu                   Fernstraßen, das quer durch Zentralasien und
spüren. Indessen ist Chinas Kapitalexport seit               den Indischen Ozean China auf dem See- wie
Anfang der 2000er Jahre ständig gewachsen.                   auf dem Landweg mit Europa verbinden soll.
Das Volumen der chinesischen Direktinvesti-                  Nach Lenins Vorhersage veranlasst der Kapital-
tionen im Ausland stieg von 28 Mrd. US-Dollar                exportdrang die Ursprungsstaaten dieser Ka-
im Jahr 2000 auf 298 Mrd. 2012, auch wenn es                 pitalien allerdings zwangsläufig zur Projektion
im Vergleich zum Kapitalexport kleinerer fort-               ihrer politischen und militärischen Macht, um
geschrittener Volkswirtschaften wie Singapur                 so den Akkumulationsprozess des exportier-
immer noch gering ist (vgl. Hung 2015: Tab. 5.4).            ten Kapitals schützen zu können. Dies wiede-
                                                             rum führe zu imperialistischer Expansion und
Gestützt auf die gewaltigen Devisenreserven,                 inter-imperialistischer Rivalität mit anderen
die der Exportsektor einbrachte, agierten bei                kapitalexportierenden Mächten. Wir werden
Chinas Investitionen in den globalen Süden,                  darauf zurückkommen.

                                                        12
HO-FUNG HUNG
                                                           CHINA IN DER GLOBALEN WELTORDNUNG

Die nächsten beiden Kapitel sollen zeigen, wie         dieses Landes, Kapital in alle Welt zu expor-
Chinas wirtschaftlicher Aufstieg, vorangetrie-         tieren, den entwicklungspolitischen Kontext
ben durch exportorientiertes Wachstum und              und die geopolitischen Kräfteverhältnisse in
binnenländische Anlageinvestitionen glei-              Asien, aber auch weit darüber hinaus, verän-
chermaßen, wie auch der wachsende Drang                dern.

Neue Entwicklungsmuster im Globalen Süden

Chinas wirtschaftlicher Aufschwung wurde,              sie mit Auflagen zu verknüpfen. Andere Auto-
wie wir sahen, durch einzigartige Vorausset-           ren hingegen beschuldigen China, es sei nichts
zungen und Begleitumstände gefördert, die              anderes als eine weitere (Neo-)Kolonialmacht,
sich kaum auf andere Entwicklungsländer                die die Bodenschätze anderer Entwicklungs-
übertragen lassen. Die Frage ist, wie ein sol-         länder für ihre eigenen Entwicklungsbedürf-
cher Aufschwung die weltwirtschaftlichen               nisse auszubeuten suche, ohne Rücksicht auf
Verhältnisse wandelt(e), die die Entwicklungs-         die langfristigen Folgen für eine nachhaltige
aussichten in anderen Volkswirtschaften des            Entwicklung der betreffenden Länder selbst.
Globalen Südens konditionieren. Die Auswir-            Ja, China wird, schlimmer noch, als merkanti-
kungen des China-Booms auf Afrika, Latein-             listischer Staat betrachtet, der seinen Export-
amerika und Asien sind, um es gleich zu sa-            markt auf Kosten der Industrien anderer Län-
gen, widersprüchlich.                                  der aggressiv auszuweiten sucht. Manche kla-
                                                       gen, Chinas wachsender Appetit auf Rohstoffe
Im Verlauf der letzten zehn Jahre haben Chinas         und seine Billigexporte industrieller Güter hät-
expandierende Handels- und Investitionsbe-             ten viele Volkswirtschaften im globalen Süden
ziehungen mit anderen, insbesondere afrikani-          faktisch deindustrialisiert und diese so in die
schen Entwicklungsländern zunehmende Auf-              Abhängigkeit vom Rohstoffexport zurückge-
merksamkeit auf sich gezogen und eine heftige          stoßen.
Debatte ausgelöst, die sowohl in der Entwick-
lungs- wie in der entwickelten Welt geführt            Ernsthaftere wissenschaftliche Untersuchun-
wird. In den zahlreichen Medienberichten und           gen, die sich mit diesen widersprüchlichen
Polemiken zu diesen Fragen finden sich solche,         Behauptungen über Chinas Einfluss auf an-
in denen China als neuer Erlöser der Entwick-          dere Entwicklungsländer auseinandersetzen,
lungswelt erscheint, der unterdrückte Ent-             gibt es erst seit einigen Jahren. Sie ergeben ein
wicklungsländer aus der neokolonialistischen           vielschichtigeres Bild als die polemischen Ein-
Tyrannei westlicher Mächte befreit. Anders als         schätzungen mancher Politiker und Kommen-
westliche Länder und die von den Vereinigten           tatoren.
Staaten und Europa dominierten internationa-
len Finanzorganisationen, die Hilfen, Kredite,
Investitionen und Handelsabkommen häufig               Rohstoff- vs. Industriegüterexporteure
mit Reformforderungen verknüpfen und politi-
sche Schritte verlangen, die westliche Interes-        Die Entwicklungsforschung hat eine Fülle von
sen begünstigen, erweist sich China angeblich          Studien hervorgebracht, die herausstellen,
als Alternativangebot: Diese Wirtschaftsmacht          wie sehr es Entwicklungsländern nützt, sich
biete Handels- und Investitionschancen, ohne           durch Diversifizierung vom bloßen Rohstoff-

                                                  13
HO-FUNG HUNG
                                                            CHINA IN DER GLOBALEN WELTORDNUNG

export zu emanzipieren. Seit der Kolonialära            behindert oder ganz zum Erliegen gebracht.
und bis in die Zeiten der Unabhängigkeit hin-           Zunächst einmal hat Chinas wachsende Nach-
ein waren viele Entwicklungsländer Gefange-             frage nach Öl, anderen Rohstoffen, Agrarpro-
ne einer „Monokultur“-Wirtschaft, die jedes             dukten und dergleichen die Weltmarktpreise
dieser Länder in der Abhängigkeit vom Export            dieser Waren in die Höhe getrieben, was Roh-
weniger oder gar eines einzigen Agrarprodukts           stoffexporteuren in aller Welt zu enormen Ein-
und/oder Rohstoffs in entwickelte Länder be-            künften verhalf. Diese profitieren von China
ließ. Die gänzlich außerhalb der Kontrolle die-         entweder unmittelbar, indem sie dorthin ex-
ser monokulturellen Exporteure erfolgenden              portieren, oder mittelbar durch den allgemei-
Schwankungen der Rohstoffpreise auf dem                 nen Anstieg der Rohstoffpreise, den die chine-
Weltmarkt machten deren Entwicklung extrem              sische Nachfrage verursacht. Ein IWF-Bericht
instabil (ausgenommen lediglich die der Ölex-           bestätigt, dass „China für die Rohstoffmärkte
porteure). Doch selbst wenn für die Rohstoffe,          immer wichtiger wird. Seine Marktposition
die sie exportieren, stabile und angemessene            und sein Einfluss auf Welthandel und Preise
Preise gezahlt werden, bleiben diese Volkswirt-         variieren, je nachdem, um welchen Rohstoff es
schaften anfällig für die „holländische Krank-          geht; China ist insbesondere zum dominanten
heit“ oder den „Rohstoff-Fluch“ – das heißt             Importeur von Grundmetallen und landwirt-
dafür, dass die Weltnachfrage nach ihren Roh-           schaftlichen Rohstoffen geworden, während
stoffexporten den Kurs der Landeswährung                es auf den Nahrungsmittel- und Energiemärk-
in die Höhe treibt, was die Entwicklung ihrer           ten eine geringere, aber zunehmende Rolle
Exportindustrien behindert und ihre Eliten              spielt.“ (Roache 2012: S. 21)
dazu verleitet, mit dem Konsum importierter
Luxusgüter zu prahlen. Folglich müssen Ent-             Der Anstieg der Profite, die Rohstoffexporteure
wicklungsländer, die sich um ein ausgewoge-             erzielen konnten, hatte überall in der Entwick-
nes und nachhaltiges Wirtschaftswachstum                lungswelt zur Folge, dass Bergbauindustrien
bemühen, den Rohstoffexportsektor ebenso                und Agrofirmen boomten und expandierten,
wie die mit diesem Sektor verbundenen Inter-            womit sie den gängigen Entwicklungsstrate-
essengruppen zurückdrängen, um Raum für                 gien, den Rohstoffexportsektor einzudäm-
das Wachstum anderer Sektoren, vor allem                men, in vielen Ländern genau entgegenwirk-
des industriellen, zu schaffen (vgl. etwa Karl          ten. So verdoppelten sich beispielsweise in
1997; Sachs und Warner 1995; Shafer 1994; Ga-           Brasilien zwischen 1990 und 2005 die für
lagher und Porzecanski 2010).                           den Sojabohnenanbau genutzten Bodenflä-
                                                        chen. Diese Flächen wurden bis tief in das
Genau darum haben die meisten Entwicklungs-             ökologisch hochverletzliche Amazonasge-
länder sich in der Nachkriegszeit bemüht: die           biet hinein ausgeweitet, um die Nachfra-
Abhängigkeit vom Rohstoffexport zu vermin-              ge aus China bedienen zu können, die 42,7
dern und sich zu industrialisieren, sei es durch        Prozent des brasilianischen Sojabohnenex-
Import-Substitution (das heißt durch die Ab-            ports ausmachte (Gallagher und Porzecans-
schottung gegen ausländische Importgüter,               ki 2010: S. 31f.; USDA 2004). In Chile und
um einheimischen Industrien zu größeren Bin-            anderen lateinamerikanischen Ländern ex-
nenmarktanteilen zu verhelfen), sei es durch            pandierte in vergleichbarer Zeit auch der
eine exportorientierte Industrialisierung (also         Kupfererzabbau stark: Zwischen 2000 und
durch Subventionierung und Promotion des                2006 wuchs der lateinamerikanische Kupfer-
Verkaufs einheimischer Industrieprodukte für            export insgesamt um 237,5 Prozent, wobei
den Weltmarkt). Chinas Aufstieg hat derartige           der Zuwachs größtenteils nach China ging
Bestrebungen in vielen Entwicklungsländern              (Gallagher und Porzecanski 2010: S. 22 u.a.).

                                                   14
HO-FUNG HUNG
                                                           CHINA IN DER GLOBALEN WELTORDNUNG

Das Gleiche geschah in Afrika. Neben Öl pro-           in welchem Umfang die gefragten Rohstoffe
duzierenden Ländern wie dem Sudan und                  gefördert bzw. exportiert werden. Sie sind
Nigeria profitieren auch Länder mit reichen            daher in der Lage, mit China und anderen Ab-
Erzvorkommen von der wachsenden chinesi-               nehmern zu verhandeln, damit ihre Interes-
schen Nachfrage. Das gilt beispielsweise für           sen bei Geschäftsabschlüssen weitestmöglich
die von China hervorgerufene massive Steige-           berücksichtigt werden.
rung der sambischen Kupferexporte.
                                                       Die Staaten können auch Institutionen schaf-
Parallel zu dieser Ausweitung der Rohstoff-            fen, die Gewinne aus dem boomenden Roh-
exporte geriet die Industrieproduktion der be-         stoffsektor anderen Verwendungen zuführen,
treffenden Länder unter Druck. Für alle großen         etwa langfristigen Investitionen, der Förde-
Länder Lateinamerikas gilt, dass sie über 80           rung einer wirtschaftlichen Diversifizierung
Prozent ihrer Fertigwarenexporte unmittelbar,          und der Armutsbekämpfung. Da wären eini-
zumindest aber teilweise, durch chinesische            ge außerordentliche erfolgreiche Beispiele
Exporte bedroht sehen (Ebd.: S. 50). Sowohl            anzuführen. So hat beispielsweise die chi-
die internationalen als auch die inländischen          lenische Regierung einen „Wirtschaftlichen
Märkte für lateinamerikanische Fertigwaren             und Sozialen Stabilitätsfonds“ eingerichtet,
beginnen sich mit chinesischen Erzeugnissen            der in Boomzeiten einen Teil der Gewinne
zu füllen.                                             aus dem Rohstoffexportsektor absaugt und
                                                       diese Rücklagen in Schwächeperioden für
                                                       geldmarktpolitische Maßnahmen, Investiti-
Wie andere Entwicklungsländer auf                      onen und steuerliche Anreize einsetzt. Das
den Chinaboom reagieren                                dämpft das Ausmaß, in dem die Volatilität
                                                       der Rohstoffpreise sich auf die Gesamtwirt-
Indem wir den Trend expandierender Rohstoff-           schaft auswirkt, ungeachtet der Tatsache,
exporte in seinen Zusammenhang mit einem               dass Chile von Rohstoffexporten abhängiger
korrespondierenden Trend stellten, nämlich             wird (Gallagher und Porzecanski 2010: S. 32-
dass die heimischen Industrien unter wach-             37). Ein anderes Beispiel liefert Brasilien, dass
senden Wettbewerbsdruck geraten, konnten               unter Präsident Lula, als die brasilianische
wir zeigen, wie Chinas Aufstieg Verhältnisse           Wirtschaft sich, angetrieben von Rohstoffex-
schuf, die in der Entwicklungswelt möglicher-          porten, kräftig entwickelte, eine Reihe effizi-
weise zu Deindustrialisierung und einem Rück-          enter Umverteilungseinrichtungen geschaf-
fall in die Abhängigkeit vom Export natürlicher        fen hat (etwa das bekannte „Bolsa-Familia“-
Ressourcen führen. Die Frage, ob und inwie-            Sozialprogramm mit seinen Bargeldtransfers
weit dieser Wandel den langfristigen Entwick-          an die Armen).
lungsaussichten einzelner Entwicklungsländer
tatsächlich schadet oder ob er ihnen nutzt, ist        Derartige Einrichtungen in bestimmten la-
allerdings unterschiedlich zu beantworten, je          teinamerikanischen Ländern sorgen dafür,
nach dem Zuschnitt der politischen Ökonomie            dass die Gewinne aus der Rohstoff-Bonanza
des jeweiligen Landes.                                 gleichmäßiger verteilt werden und dass Über-
                                                       schüsse der Industriewirtschaft zur Finan-
So haben beispielsweise die meisten latein-            zierung langfristiger Investitionen kanalisiert
amerikanischen Länder ihre Bergbaukonzer-              werden, etwa in Bildung, Infrastruktur und
ne reguliert oder in Staatseigentum über-              die Stärkung solcher Wirtschaftssektoren,
führt, weshalb sie zumindest teilweise be-             von denen das nachhaltige Wachstum des
einflussen können, zu welchen Preisen und              Landes letztlich abhängt.

                                                  15
Sie können auch lesen