Digital - Das Magazin 1.20 - Robert Bosch Stiftung
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DAS MAGAZIN 1.20 Editorial 3 Liebe Leserin, lieber Leser, Einsen und Nullen bilden die Basis der digitalen Welt. Aus ihnen setzen sich Bits und Bytes zusammen. Übersetzt in elektrische oder optische Signale – Strom oder kein Strom, Licht oder kein Licht – speichern und transportieren die Einsen und Nullen heute unvorstellbare Datenmengen. Für Einsen und Nullen, Strom und Licht gelten die Regeln von Mathematik und Physik. Die Welt der binären Zahlen ist zunächst eindeutig und logisch. Das gilt aber nur, bis der Mensch dazukommt. Die Digitalisierung macht die Welt für den Menschen nicht einfacher und logischer. Im Gegenteil. Die Auswirkungen von Big Data oder Algorithmen auf fast alle Dimensionen unseres Lebens sind höchst ambivalent. Stärkt der unbe- schränkte Zugang zu Informationen den mündigen Bürger? Oder wird er durch Analyse seiner Daten zum manipulierbaren Objekt? Was bedeutet das für die Demokratie? Fördern die sozialen Medien weiterhin den Frühling der Zivilgesellschaft wie vor ein paar Jahren in den arabischen Ländern? Oder droht uns durch Gesichtserkennung und vollständige Erfas- sung unserer digitalen Spuren die totale Überwachung? Hilft digitale Bildung jedem Kind, sein volles Potenzial zu entfalten, oder verstärkt sie die digitale Spaltung der Gesellschaft? Ob sich eher die Potenziale verwirklichen oder die Risi- ken, ist kein Schicksal. Wir müssen als Gesellschaft gemein- sam die Regeln der Digitalisierung gestalten. Dafür braucht es eine differenzierte Debatte mit einem starken Beitrag der Zivilgesellschaft. Ein paar Anregungen dafür finden Sie hof- fentlich in diesem Heft. Wir wünschen Ihnen viel Freude beim Lesen. Joachim Rogall, Sandra Breka, Hans-Werner Cieslik Geschäftsführung der Robert Bosch Stiftung
4 Inhalt Robert Bosch Stiftung 06 10 18 6 10 18 Fakten Wahlkampf digital Debatte Digitalisierung verändert Wie Wählerbeeinflus Die Digitalisierung bietet unser Leben sung in den sozialen der Zivilgesellschaft Medien funktioniert neue Werkzeuge – 8 und was das mit doch auch Möglichkeiten Anfangen der Demokratie macht der Überwachung und Das Projekt Kontrolle nehmen zu GeschichtsCheck 16 entlarvt historische Infografik 24 Fake News im Netz Hinter Shitstorms Critical Mapping steckt häufig keine große Bürger tragen Informati Masse – sondern onen über ihre Stadtvier eine laute Minderheit tel zu digitalen Karten zusammen, um Verände rungen anzustoßen. Ein Beispiel aus Berlin 28 Essay IT-Wissenschaftlerin Catherine Mulligan über digitale Ungleichheit, Macht und Kryptowäh rungen
DAS MAGAZIN 1.20 5 30 44 30 44 Themen mit Bezug Schule digital Hinter den Kulissen zur Coronakrise Die Coronakrise traf die Wie die Forscherin Julia Die Coronakrise hat vielen Fragen rund Schulen von heute auf Ebner undercover in um Digitalisierung eine neue Dringlichkeit gegeben. An den folgenden Stellen im morgen – Vorteile hatten rechtsextremistische Heft greifen wir solche Fragen auf: die, die schon länger auf Onlineforen abtauchte Debatte über die Chancen und digitales Lernen setzen Gefahren der Digitalisierung – Seite 18 46 Essay über die Ungleichheit beim Zugang zu digitaler Technik – Seite 28 36 Angestiftet Reportage über Unterricht Stiftung der Zukunft Das MESH Collective während der Pandemie – Seite 30 Wir stellen die Themen bringt politische vor, auf die sich unsere Themen dahin, wo Bereiche Gesundheit, sie Jugendliche Bildung und Bürger- erreichen: zu YouTube gesellschaft künftig und Instagram fokussieren werden Illustration: Doreen Borsutzki Impressum HERAUSGEBER Robert Bosch Stiftung GmbH, Heidehofstraße 31, 70184 Stuttgart, magazin@bosch-stiftung.de, www.bosch-stiftung.de | GESCHÄFTSFÜHRUNG Prof. Dr. Joachim Rogall, Sandra Breka, Dr. Hans-Werner Cieslik | VERANTWORTLICH Stefan Schott, Bereichsleiter Kommuni- kation | REDAKTIONSLEITUNG ROBERT BOSCH STIFTUNG Regina Mennig | REDAKTIONSLEITUNG VERLAG Martin Petersen, Nicole Zepter | VERLAG TERRITORY Content to Results GmbH, Bei den Mühren 1, 20457 Hamburg, www.territory.de | GESCHÄFTSFÜHRERIN Sandra Harzer-Kux | PUBLISHING MANAGEMENT Nicola Braun | ART DIREKTION Maja Nieveler, Anne Stiefel | BILDREDAKTION Vanessa Zeeh | DRUCK Merkur Druck GmbH, Oststraße 49, 22844 Norderstedt, merkur-druck.com ISSN-NR. 1865-0910 | COVERILLUSTRATION Tarek Mohamed Mawad
6 Fakten Wie Digitalisierung unser Leben verändert Acht Aspekte, die zeigen, dass Transparenz, Freiheitsrechte und Teilhabe im digitalen Zeitalter Mittlerweile leben mehr als die neu verhandelt werden müssen. Hälfte aller weltweiten Internet- nutzer im globalen Süden. 50 % Nur knapp ein Viertel aller Die Internetfreiheit, die zum Quellen: ICILS-Erhebung 2018, Digital News Report 2019 des Reuters Institute/ University of Oxford, ISD-Studie, Digital News Report 2019, CNBC 2019, US-Organisation Freedom House, Faz.net deutschen Lehrer und Beispiel an der Zensur von Schüler haben an ihren Schulen Inhalten oder Überwachung Zugang zu WLAN. gemessen wird, hat sich welt- weit in 16 Ländern verbessert. der Likes von Hasskommentaren 33 auf Facebook lassen sich auf nur In 5% Ländern der Accounts zurückführen. hat sie sich verschlechtert. 2019 nutzten 34 % 69% der Deutschen verfügen der Deutschen soziale Medien über grundlegende digi- als Nachrichtenquelle. tale Fähigkeiten (E-Mails, Websites aufrufen). Sie 2013 waren es 18 %. Nach konservativen Schätzungen liegen damit über dem eu- verdoppelt sich die global zur Verfügung stehende Datenmenge Ersterer ist der niedrigste ropäischen Durchschnitt alle 20 Monate. Wert in Europa. von 59 Prozent.
DAS MAGAZIN 1.20 7 Weltweit überwachen 770 Millionen Kameras öffentliche Bereiche. Mehr als die Hälfte davon steht in China – bezogen auf die Einwohnerzahl weisen allerdings die USA die höchste Dichte auf. Text und Recherche: Jan Abele | Fotos: Kent Andreasen, Per Swantesson/Stocksy, Heinrich Holtgreve/OSTKREUZ, Getty Images
Theo Müller durchforstet als Wissenschaftler nicht nur das Netz nach historischen Unwahrheiten – mit der gebotenen Faktentreue treibt der 28-Jährige gerade seine Dissertation an der Universität Heidelberg und an der École des Hautes Études en Sciences S ociales in Paris voran.
DAS MAGAZIN 1.20 Anfangen 9 Mit Fakten gegen den Unsinn Der Historiker Theo Müller begegnet mit dem Projekt GeschichtsCheck.de Internetnutzern, die historische Fake News im Netz verbreiten. Geschichte arbeiten. Wir wollen Die Website ist über Schlagworte E zeigen, dass HistorikerInnen nicht bei Suchmaschinen leicht zu finden nur in Archiven sitzen und Bücher und gibt den NutzerInnen ein Werk- schreiben, die niemand liest, sondern zeug an die Hand, das sie befähigt, ganz im Gegenteil einen wichtigen historische Tatsachen von Lügen zu Beitrag für ein besseres Diskussions- unterscheiden. Wir durchleuchten klima in unserer Gesellschaft leisten regelmäßig das Netz um zu sehen, können. Mit einigem Eifer begannen welche historischen Verdrehungen wir auf allen Kanälen mit unserer gerade verbreitet werden, und Mission. Wir kommentierten, erklär- schreiben entsprechende Artikel, ten, rückten Dinge zurecht. Ich begann die dann auf GeschichtsCheck.de ein langes Streitgespräch auf Twitter erscheinen. Häufig geht es da um ganz mit eben jenem User, der die These grundlegende Fragen; ob Deutschland vom zuwanderungsfreien Wirtschafts- ein souveräner Staat ist, warum die wunder vertrat, und stieß schnell an Europäische Union gegründet wurde Grenzen. Sobald ich seine Argumenta- oder was der Begriff „rassistisch“ tion widerlegt hatte, konfrontierte eigentlich genau meint. er mich mit neuen haarsträubenden Manchmal wird es aber auch s war auf dem Höhepunkt der Behauptungen. Am Ende gab ich schwieriger. So verspüre ich gerade sogenannten Flüchtlingskrise vor mit der ernüchternden Erkenntnis auf, in der letzten Zeit eine deutliche etwa vier Jahren. In den sozialen dass es aussichtslos ist, die Netztrolle Zunahme bei antisemitischen Inhalten. Medien registrierten wir eine neue selbst mit Argumenten zu überzeu- Wir versuchen, den oft aggressiven Qualität an offenem Rassismus, gen. Aber wenn die Fakten nicht zu Verunglimpfungen mit Sachlichkeit zu Hassreden und Agitationen. Viele den Verschwörungstheoretikern und begegnen, indem wir ihnen eine der Verfasser untermauerten ihre Hetzern dringen, dann müssen wir faktengesicherte Antwort entgegen- menschenverachtenden Argumenta- eben das mitlesende Publikum zu den stellen. Wir werden das Fake-News- tionen dabei mit vermeintlich histori- Fakten holen. Auf GeschichtsCheck.de Problem nämlich nur dann wirksam schen Zusammenhängen. Das gab stellen wir Faktenwissen für all bekämpfen, wenn wir dafür sorgen, ihnen einen gefährlichen Anstrich jene zur Verfügung, die im Netz mit dass denjenigen, die Unwahrheiten im von Seriosität. So begründete ein historischen Behauptungen kon- Netz verbreiten, der Nährboden User seine ablehnende Haltung frontiert werden und wissen wollen, entzogen wird – weil die breite Öffent- gegenüber der Zuwanderung damit, was wirklich dran ist. lichkeit einfach zu schlau für sie ist. dass Deutschland sein Wirtschafts- wunder in den 50er-Jahren schließ- lich auch ohne Migranten verwirk- licht habe. Das ist nur ein Beispiel für GeschichtsCheck.de und Das NETTZ Text: Jan Abele | Foto: Anne-Sophie Stolz viel historischen Unsinn, der in Gegen hasserfüllte Kommentare, Verunglimpfungen und die Verbreitung von Fake News dieser Zeit im Netz auftauchte und wirkt das Team von GeschichtsCheck.de nicht nur online. Das Projekt beinhaltet auch den wir als HistorikerInnen so nicht analoge Workshops für Schulklassen, in denen Schüler und Schülerinnen lernen, stehen lassen konnten. Aber was sich kritischer mit Netzinhalten auseinanderzusetzen. Die Ende 2017 gegründete Initiative sollten wir tun? Das NETTZ – Vernetzungsstelle gegen Hate Speech unterstützt GeschichtsCheck.de und „Wir“, das sind die Mitglieder andere Projekte und Initiativen, die sich für mehr gegenseitigen Respekt, Menschlichkeit und eine positive Diskussionskultur im Netz engagieren. Förderer von Das NETTZ sind des Vereins Open History, einem die Robert Bosch Stiftung und die Stiftung Mercator. Netzwerk von Menschen, die an unterschiedlichen Orten an und mit
DAS MAGAZIN 1.20 11 Wahlkampf findet, besonders in den USA, immer stärker in den sozi alen Medien statt, die dafür maßgeschneiderte Werkzeuge liefern. Ein Blick in den Werkzeugkasten der digitalen Wahlkampfindustrie – und auf die Auswirkungen ihrer Methoden auf die Demokratie.
12 Feature Robert Bosch Stiftung die Frage: SHOULD WE DEPORT ausgibt. Der Grund für diese Summe ist, ILLEGALS?, am unteren wird dass wichtige Personen im Umfeld des N der Betrachter aufgefordert: HAVE US-Präsidenten überzeugt sind: Die YOUR SAY. Wahl 2016 wurde nicht zuletzt über die So sieht die erste von über sozialen Medien gewonnen. Eine 1.000 fast identischen Anzeigen der Einschätzung, die Facebooks Topma- Kampagne aus. Die nächste ist ein nager Andrew Bosworth offenbar teilt. Hochformat. Die Toilettenhäuschen „Er wurde gewählt, weil er die beste sind abgeschnitten. Bei der dritten digitale Anzeigenkampagne geführt ist der Text etwas anders: ANSWER hat, die ich je von einem Werbetreiben- NOW steht nun unten. den gesehen habe“, schrieb der Etwa 30.000 verschiedene Vertraute von Mark Zuckerberg in Anzeigen, die sich teilweise nur in einem geleakten Memo an seine winzigen Details unterscheiden, hat Mitarbeiter. Das Wahlkampfteam der das Trump-Team im Rahmen diverser Gegenkandidatin Hillary Clinton von Kampagnen allein im April 2020 den Demokraten hat, schenkt man auf Facebook verbreitet. Die meisten Bosworth Glauben, sein Budget für von ihnen erreichen nur wenige digitale Anzeigen weit weniger effektiv Hundert Zielpersonen, doch jeder, eingesetzt. Mit Blick auf die Wahl 2020 ur Details unterscheiden die Anzei- der danach sucht, findet sie in Face- macht die Trump-Kampagne unge- gen, die Donald J. Trump an einem Tag books Werbebibliothek, mit der das bremst dort weiter, wo sie vier Jahre im April massenweise auf Facebook Unternehmen seit 2018 alle politischen zuvor Fahrt aufgenommen hat. Ihre schaltet. Sie alle bestehen aus einem Werbeanzeigen transparent macht. unzähligen, fast deckungsgleichen Bild mit darübergelegtem Text. Ein Knapp 38 Millionen US-Dollar hat Anzeigen mit der roten Mauer belegen rot eingefärbtes Stück Mauer, wie es Donald J. Trumps Wahlkampfteam den massiven Einsatz eines Werkzeugs, an der US-amerikanisch-mexikani- allein auf seiner Facebook-Seite in den das erneut den Unterschied machen schen Grenze stehen könnte, ist der vergangenen zwei Jahren für Wahl- kann: Microtargeting. Hingucker in der Bildmitte. Im werbung ausgegeben (Mai 2018 – Mai Gary Wright ist Experte für Hintergrund eine Baustelle mit einer 2020). Das entspricht etwa der Summe, digitale Werbekampagnen. Mit einem Reihe blauer Mobiltoiletten. Am die ein Konzern wie Google in Deutsch- kleinen Team der in Berlin ansässigen oberen Bildrand thront in Fettschrift land pro Jahr für Onlinewerbung Nichtregierungsorganisation Tactical
DAS MAGAZIN 1.20 13 „Die Branche Technology Collective erforscht in Tausenden Varianten ausgespielt er, welche politischen Akteure wird, analysiert ein Algorithmus, welche Arten von Daten verwenden welcher Text, welche Farbe, welcher und wie ihre verschiedenen Metho- den funktionieren. Wrights Team will die Zauber- Bildausschnitt für welchen Nutzer am attraktivsten ist. Das trägt dazu hat ermittelt, dass inzwischen nicht weniger als 300 Unternehmen am formel finden, bei, dass die Anzeige bei immer mehr Zielpersonen zum erwünschten digitalen Wahlkampf in den USA beteiligt sind. Diese Firmen sind wie man die Ergebnis führt – bei der Kampagne mit der roten Mauer ist es die Teilnah- politische Prä- spezialisiert auf das Sammeln und me an einer Umfrage, die auch die Auswerten der Spuren und Informati- E-Mail-Adresse abfragt. Oft wird auch onen, die jeder von uns im Internet die Telefonnummer übermittelt. hinterlässt, auf das Erstellen von Profilen und das Entwickeln und ferenz eines „Gesteuert von erfahrenen Kampag- nenmanagern ist dies ein mächtiges Umsetzen von Strategien, diesen Schatz an Daten in Wählerstimmen zu Wählers ändern Tool“, sagt Wright. „Sobald Sie die Kontaktdaten erfasst haben, können verwandeln. „Die gesamte Branche versucht, die Zauberformel zu finden, kann.“ Sie weitergehen und mit automatisier- ten Telefonanrufen und direktem wie man die politische Präferenz SMS-Kontakt beginnen.“ eines Wählers ändern kann“, sagt Das Kontaktdatensammeln Wright – doch so direkt funktioniere lohnt sich doppelt, denn hat man eine der digitale Wahlkampf nur in E-Mail-Adresse auf diesem Weg, Ausnahmefällen. „Die überzeugten auf Wahlveranstaltungen, bei Unter- Anhänger einer anderen Partei schriftenaktionen, über Newsletter werden zunächst gar nicht ins Visier oder kostenlose Angebote erhalten, genommen, weil es sich hierbei nicht lässt sich die Mobilisierung mithilfe um eine effiziente Verwendung von Facebook und Google poten- von Geld handelt“, erklärt er. Statt- zieren. „Wenn man eine Kontaktdaten- dessen setzen die Profis der Trump- bank hochlädt“, erklärt Wright, Kampagne – zumindest momentan – „schaut Facebook, ob es zu den Einträ- auf andere Strategien. gen ein Profil kennt – was in der Fotos: Hill Street Studios/Getty Images (M, vorherige Seite), Dan Thornberg/EyeEm (M), Zuma Press/action press (M) Regel der Fall ist – und sucht dann mit WÄHLER IDENTIFIZIEREN künstlicher Intelligenz nach ähnlichen Profilen, basierend auf Eigenschaften, UND MOBILISIEREN „Die politische digitale Kampagnenar- beit ist aus dem digitalen Marketing hervorgegangen“, sagt Wright. „Hier gilt das Prinzip: Je besser man seinen Wähler kennt und versteht, desto besser kann man Botschaften erstel- len, die Reaktionen oder Aktionen der Wähler hervorrufen.“ Im Vorder- grund stehe dabei, die eigenen Anhänger zu identifizieren und zu mobilisieren. „Das kann ein Aufruf zum Handeln sein, wie etwa zur Wahl zu gehen, Geld zu spenden oder sich als freiwillige Helfer zu melden.“ Wie das am besten gelingt, zeigt das Beispiel mit dem roten Mauerstück. „Jede Werbung auf Facebook ist an sich schon ein Mechanismus zur Datenerfassung“, sagt der Social-Media-Experte. Während die Anzeige automatisiert
14 Feature Robert Bosch Stiftung die für das Auge nicht sichtbar sind.“ für Sozialforschung untersucht sie Aus einer Zielgruppe mit 30.000 das Spannungsfeld zwischen Demo- Kontakten werden so auf einen Klick kratie und Digitalisierung und hat 60.000. „Lookalike Audiences“ sich intensiv mit Microtargeting heißt das Werkzeug auf Facebook, auf beschäftigt. „Wahlkämpfe sind Deutsch etwa: optische Zwillinge. eigentlich darauf angelegt, dass man Google hat ein vergleichbares Tool, bestimmten Versprechungen oder „Similar Audiences“, das ebenso Aussagen auch widersprechen funktioniert. können muss“, sagt sie. „Aber wenn eine kritische Begleitung von politi- DARK ADS, DIE FALSCH scher Werbung nicht mehr möglich ist, weil sie gar nicht die Öffentlichkeit INFORMIEREN erblickt, dann haben wir ein Problem. Wirkliche Kraft entwickelt das digitale Das ist schädlich, das beeinträchtigt Wahlkampfmarketing dann, wenn den demokratischen Diskurs – es um Mehrheitsentscheidungen nach gerade in Zeiten, wo es auf diesen dem Prinzip „The winner takes it ankommt, weil er unsere Wahlent- all“ geht, denn hier ist jede einzelne scheidung vorbereitet.“ Stimme besonders wertvoll. Das lässt sich im US-Wahlkampf beobachten, ALGORITHMEN, aber auch beim Brexit-Referendum DIE POLARISIEREN 2016. Die Vote-Leave-Kampagne, die sich für den Austritt aus der EU stark Bei Wahlen nach dem Verhältniswahl- machte und deren Führungspersonen recht, wie sie in der EU die Regel heute mehrere Schlüsselrollen in der sind, spielen die Tricks des digitalen Regierung des Vereinigten König- Marketings eine deutlich geringere reichs besetzen, hat über 98 Prozent Rolle. Zwar fließt auch in Europa ihres Budgets für digitale Werbung mittlerweile viel Geld in digitale ausgegeben, wie Kampagnenmanager Wahlwerbung. Zur Europawahl Dominic Cummings in einem Beitrag zwischen März und Mai 2019 wurden für den Spectator offenlegte. Mit dem EU-weit 17 Millionen Euro für ziel- Geld von Vote Leave und anderen gerichtete politische Werbung Pro-Brexit-Kampagnen wurden auch ausgegeben, 2,4 Millionen davon in Dark Ads geschaltet, also Anzeigen, Deutschland. Doch massive Mobili die über Microtargeting extrem sierungskampagnen wie im US-Präsi- kleinen Zielgruppen angezeigt und dentschaftswahlkampf lassen sich zunächst nicht öffentlich wurden. Das bisher nicht beobachten. Dark Ads mit Recherchezentrum Correctiv hat die gezielten Falschinformationen, wie Anzeigen analysiert, die Facebook zum Brexit-Referendum, sollen durch nach langem Tauziehen mit dem Facebooks öffentliche Werbebiblio- britischen Unterhaus 2018 offenlegte. thek und andere Maßnahmen der Sie zeigen, wie die politische Forde- Vergangenheit angehören. „In rung nach einem Ausstieg aus der EU unserem Wahlsystem“, sagt Hofmann, an verschiedene Zielgruppen ange- „ist davon auszugehen, dass der passt wurde und auch, dass darin Einfluss durch Microtargeting nicht Falschmeldungen verbreitet wurden so groß ist.“ wie etwa ein bevorstehender EU- Was Politologen in Europa Beitritt der Türkei. Die Wirkungen an der Wähleransprache über soziale dieser einzelnen Maßnahmen lassen Medien stattdessen nachdenklich sich nicht nachverfolgen, doch der stimmt, ist die Wirkung von Algorith- Erfolg der gesamten Kampagne ist men auf die Meinungsbildung. bekannt. „Jeder in der Forschung weiß“, sagt Jeanette Hofmann ist Professo- Hofmann, „dass zum Beispiel bei rin für Internetpolitik an der Freien YouTube Empfehlungsalgorithmen Universität Berlin, unter anderem dort dazu führen, dass jemand, der und am Wissenschaftszentrum Berlin rechtsradikale Inhalte anguckt, noch
DAS MAGAZIN 1.20 15 „Aus Sicht der rechtsradikalere Inhalte angeboten sozialen Netzwerke in den Dialog mit bekommt, um ihn an das Medium Politik und Gesellschaft treten. Der zu binden. Das ist für die Entwicklung Ort dafür könnte eine noch zu grün- der Demokratie absolut schädlich.“ Aus demokratietheoretischer Sicht Demokratie- dende Agentur sein, in der Plattform- betreiber, Nutzerinnen und Nutzer gehe es immer darum, so die Politolo- gin, eine anspruchsvolle Öffentlich- theorie geht sowie die Politik offen diskutieren und Lösungsansätze ausarbeiten, um keit zu schaffen, die sich ihre Mei- nung bildet und dann wiederum es darum, eine die sozialen Medien und ihre Prinzipi- en im Sinne der demokratischen anspruchsvolle auch einen Einfluss auf das politische Gesellschaft zu verbessern. Entscheiden hat. „Das würde idealty- Im laufenden US-Wahlkampf pischerweise bedeuten, dass wird währenddessen in den sozialen nicht polarisiert, sondern informiert abgewogen wird.“ Öffentlichkeit Medien weiter massiv aufgerüstet. Schon jetzt ist klar, dass die kommen- Dass auch in den Social-Me- dia-Konzernen die gesellschaftlichen zu schaffen.“ de Wahl noch einmal viel stärker durch digitale Werbung beeinflusst und politischen Auswirkungen ihres wird als alle Wahlen zuvor. „Aufgrund Fotos: Melinda Nagy/Shutterstock (M), privat (abgebildete Grafik: Von der Vote-Leave-Kampagne ab dem 27.4.2016 geschaltete Facebook-Anzeige, veröffentlicht auf www.parliament.uk) Angebots zunehmend ein Thema der Coronakrise gibt es jetzt einen sind, belegen inoffizielle und offizielle gewaltigen Schub in Richtung digitale Verlautbarungen. Facebooks CEO Medien“, stellt Gary Wright fest. Mark Zuckerberg wünschte sich etwa Daneben, sagt er, sei auch eine im Februar 2020 in einem Gastbeitrag zunehmende Bereitschaft aller Seiten für die Financial Times mehr Regulie- zu beobachten, bei dieser Wahl so weit rung durch die Politik, auch wenn wie möglich zu gehen, alle Register das „kurzfristigen Schaden für die zu ziehen, um die richtigen Leute dazu Geschäftstätigkeit“ des Unterneh- Unten zu bringen, aktiv zu werden, mens bedeutete. Zugleich verteidigt Mit Anzeigen wie zu spenden und wählen zu gehen. die Facebook-Unternehmensführung dieser hat die In der Facebook-Werbe- die Grundlagen ihres Geschäftsmo- britische Vote-Leave- bibliothek lässt sich ablesen, dass Kampagne gezielt dells, zielgerichtete Werbung und zumindest die Trump-Kampagne Falschinformationen die dazugehörigen Instrumente – an vermutlich bereits in diesem Modus angekommen inklusive der Algorithmen, die den dafür empfängliche ist und die Klaviatur der digitalen Newsfeed speisen. Das Verbreiten von Wähler gesendet. Wähleransprache nach Kräften nutzt. Falschmeldungen ordnen Zuckerberg und seine Co-Geschäftsführerin Sheryl Sandberg als Beitrag zur freien gesellschaftlichen Debatte ein. Für Jeanette Hofmann ist angesichts der ideologischen Diffe- renzen zwischen Europa und den US-amerikanischen Plattformanbie- tern wie Facebook und Google bei Themen wie polarisierenden Algorith- men und Datenschutz die Frage, warum die Europäer das Feld der sozialen Medien nicht selbst bestellen. „Ich würde mir wünschen, dass wir auf europäischer Ebene Geld in die Hand nehmen und alternative Angebote schaffen“, sagt die Forsche- rin, „und zwar Angebote, die nicht Top-down die Bürger beglücken, sondern die unter Einbezug der NutzerInnen wachsen.“ In jedem Fall, plädiert Hofmann, sollten die bestehenden
16 Infografik Robert Bosch Stiftung Der Post Am 10.05.2018 postete der AStA der Uni Köln auf Face- book über Bauarbeiter in Kleidung der rechten Szene. Der Shitstorm Der Post löste einen Shitstorm aus Hass, abwertenden und relativierenden Kommenta- ren aus. Diese negativen Kommentare wurden 6.052 Mal gelikt. 52% Likes von normal aktiven Profilen Laute Minderheit Philip Kreißel von der Aktivistengruppe #ichbinhier hat 18 Facebook-Shitstorms analysiert und festgestellt: Eine kleine Gruppe, die negative Kommentare postet und = 250 Likes Likes dafür vergibt, ist darin geradezu hyperaktiv. Wir zeigen an einem Beispiel-Shitstorm, der von über 220.000 Menschen gesehen wurde, wie viel Lärm = 250 diese Minderheit verursacht. Profile
DAS MAGAZIN 1.20 17 121 haben 6 bis 9 Likes verteilt 109 haben mind. 10 Likes verteilt 48% Likes von 26 haben mind. 20 Likes verteilt hochaktiven 136 waren auch in anderen Profilen untersuchten Shitstorms aktiv Die beteiligten 256 Hochaktive Profile Profile* Fast die Hälfte der Likes für negative Kommentare kamen von einer kleinen Gruppe hochaktiver Profile. 13% Hochaktive Profile* 87% Normal aktive Abgebildet sind alle Akteure, die im Thread aktiv waren und nicht Kreißels Gruppe #ichbinhier angehör- Illustration: Josh Schaub Profile ten, die, als der Shitstorm bereits lief, ebenfalls in die Diskussion ein- stiegen. #ichbinhier bemüht sich bei * Hochaktive Profile sind solche, die mindestens doppelt Hasskonzentration im Netz um Ge- so viel gelikt haben wie der Durchschnitt. genrede.
18 Debatte Robert Bosch Stiftung Licht und Schatten der Digitalisierung
DAS MAGAZIN 1.20 19 Die beiden Perso- nen, die wir hier in einem Raum zeigen, waren tatsächlich an verschiedenen Orten. Die Debatte wurde per Video- konferenz geführt. Ein Gespräch mit dem deutschen Nachrichtendienst- GESPRÄCH Martin Petersen experten Thorsten Wetzling und dem in Hongkong tätigen US-Journalisten David Bandurski zu den Vorteilen ILLUSTRATIONEN Studio Pong und Gefahren der Digitalisierung für die Zivilgesellschaft.
20 Debatte Robert Bosch Stiftung „Es gibt viele Tools, die von staat- Widerstände und Anfechtungen seitens der Zivilgesellschaft gibt. Meiner Ansicht nach hat die lichen und privaten Akteuren Digitalisierung daran einen Anteil. für verschiedenste Zwecke Welche anderen digitalen Tools haben sich für die Zivilgesellschaft genutzt werden können − für als nützlich erwiesen? Bandurski: Wenn ich kurz nach gute und verwerfliche.” Hongkong wechseln darf: Hier sehen wir, wie clever die bestehenden technischen Mittel oft eingesetzt Thorsten Wetzling werden. So suchte die Polizei beispielsweise nach Leuten, die auf Telegram sichere, verschlüsselte Weltweit macht die digitale Entwick- mit einer Staatsführung zu tun, die Nachrichten schrieben – eine solche lung rasante Fortschritte. Wo liegt nicht nur Informationen kontrollieren Telegram-Gruppe kann beispiels- der größte Nutzen für die Zivilge- will, sondern auch die Zivilge- weise 20.000 Menschen umfassen, sellschaft? sellschaft einschränkt. An sozialen aber man braucht ein sichtbares Wetzling: Zivilgesellschaftlichen Medien gibt es in China Weibo und Admin-Konto. Also wurde ein Bot Organisationen, der Wissenschaft und WeChat. Beide sind höchst effektive geschaffen, der den Host dieses anderen Akteuren bieten sich gute Tools, sowohl zur Überwachung Telegram-Netzwerks quasi anonym Möglichkeiten, sich schneller zusam- als auch zur Interaktion. Deshalb macht. Selbst Apps wie Tinder, die wir menzutun und gemeinsam an Aufga- sind sie so außerordentlich problema- eigentlich nicht als Tools für die ben zu arbeiten. Das gilt zum Beispiel tisch. Wenn wir aber schauen wollen, Zivilgesellschaft betrachten, oder? – für unser eigenes Projekt, bei dem wie Chinesen durch den Einsatz verschiedene digitale Tools zur von Interaktionstechnologie in – Tinder ist eine Dating-Plattform – besseren Koordinierung der Arbeit gewisser Weise vorankommen, ist Bandurski: – In Hongkong wurde mit unseren Forschungspartnern die feministische Bewegung ein gutes diese Plattform genutzt, um beispiels- in Paris und London zum Einsatz Beispiel. Hier wird im Prinzip weise Termine für Demonstrationen kommen. Zudem höre ich, dass interessenbasiert genetzwerkt, aber zu veröffentlichen. Es gibt also diese zivilgesellschaftliche Gruppen sich ohne dass sich eine NGO gründet Art heimlichen Einsatzes von Tech- auch in virtuellen Foren treffen, um oder sich das Netzwerk auf andere nologien, die im Westen weit verbreit- strategische Prozesse zu führen, zum Weise verstetigt, denn die Kommunis- et sind. Ein weiteres gutes Beispiel Beispiel gegen Sicherheitsgesetze. tische Partei Chinas lässt nicht ist die Verwendung von grünen Wenn die Befürchtung besteht, ein zu, dass dauerhafte, echte Netzwerke Laserpointern. Damit lässt sich die Staat sei bei der Beschneidung der entstehen. Gesichtserkennung überlisten. Die Bürgerrechte zu weit gegangen, lassen Protestierenden richten die Laser- sich mit digitalen Tools effektiver Wie kann die Zivilgesellschaft die pointer auf die Kameras und machen nationale Vergleiche anstellen oder Möglichkeiten der Digitalisierung sie so weitgehend wirkungslos. Hier Experten aus dem Ausland konsultie- künftig noch besser nutzen? in Hongkong herrscht ein ständiges ren. Wir können auch gemeinsame Wetzling: Mit dem Blog aboutintel.eu Katz-und-Maus-Spiel, bei dem Datenbanken für Journalisten und versuchen wir zum Beispiel gerade, technische Mittel sowohl zur Überwa- zivilgesellschaftliche Organisationen die Online-Debatte zum Thema chung eingesetzt, aber auch von schaffen, in denen Studien und andere Überwachung unter verschiedenen Aktivisten für ihre Zwecke genutzt Quellen leichter zu finden sind. Interessengruppen zu fördern. werden. Hongkong ist für mich ein Das Thema ist keineswegs auf Asien guter Lackmustest für das, was uns in Herr Bandurski, welche Vorteile beschränkt, denn auch in Europa anderen Kontexten erwarten könnte. bringt die Digitalisierung für Initia- gilt es zu bedenken, dass viele Tools Wir beobachten die Verwandlung von tiven und Bewegungen in aller Welt? von staatlichen und privaten Akteuren Hongkong und die Erosion seiner Bandurski: Im Rahmen unseres für verschiedenste Zwecke genutzt Freiheiten, der wahren Grundlage der China Media Projects arbeiten wir werden können – sowohl für gute als Zivilgesellschaft, die auf Rechtsstaat- mit Journalisten, Intellektuellen und auch für verwerfliche. Allmählich lichkeit, Schutz und Bürgerfreiheiten Akademikern in China zusammen. stellen wir fest, dass die Dialogbereit- beruhen muss. Deshalb spielt die Allerdings haben wir es stets – mittler- schaft der Regierungen zunimmt, Technologie hier jetzt vielleicht eine weile schon seit mehr als 20 Jahren – weil es inzwischen mehr koordinierte größere Rolle als früher.
DAS MAGAZIN 1.20 21 Sehr interessante Beispiele. Herr Wetzling, was sind Ihrer An- sicht nach die größten Gefahren der Digitalisierung für die Zivilge- sellschaft? Wetzling: Wir erleben eine rasche Entwicklung der Überwachungstech- nologie. Vor Snowden ahnte man, dass viele Daten erfasst werden, aber mit der biometrischen Überwachung, Stimmen- und Gesichtserkennung gibt es jetzt eine Vielzahl neuer technologischer Möglichkeiten und zahlreiche Gefahren für die etablier- ten Rechte und demokratischen Grundsätze wie etwa eine effektive, unabhängige Aufsicht und Transpar- enz. Bei der Entwicklung und Konzeption von Technologien werden rechtsstaatliche Verfahren und Grundrechte nicht immer angemes- sen berücksichtigt. Vielmehr heißt es oft: Hey, hier gibt es neue Daten – die sollten wir nutzen. Droht uns eine weltweite Zunahme von staatlicher Überwachung und Kontrolle? Wetzling: Wohin man auch schaut, aktuell sieht man in allen Ecken der Welt Gefahren für die demokratische Praxis. Ich möchte nur einige herausstellen: In Israel beispielsweise erfolgt eine Videoüber- wachung der gesamten Bevölkerung. In Ungarn oder anderen Ländern wurde als Reaktion auf die Corona- Dr. Thorsten Wetzling wicklung der Technologie, die krise der Notstand ausgerufen, und leitet die Forschung nicht Hand in Hand mit Schutz- die Macht, die sich die Regierungen im Bereich Über- maßnahmen geht. Zudem brauchen wachung, Grundrechte damit gesichert haben, geben sie wir strategische Prozessführung, und Demokratie der vielleicht nicht ohne Weiteres wieder Stiftung Neue Verant- wir brauchen Menschen, die an her. Man darf nicht vergessen, wie wortung in Berlin. die Bürgerrechte denken und hinter- lange es in manchen Ländern gedau- Er ist Chefredakteur fragen, ob ein Gesetz wirklich das tut, ert hat, bis Grundrechte und Freiheit- von aboutintel.eu und was es soll. Wir brauchen präzisere en gesichert waren, und wie rasch Gründer des European Gesetze, die durch Sanktionen Intelligence Oversight diese wieder verschwinden können. geschützt sind, für den Fall, dass Network (EION). die Regierung ihre Befugnisse Außerdem ist er Was sollten wir tun? Principal Investigator überschreitet. Und das lässt sich nur Wetzling: Wir brauchen eine starke im gemeinschaftlichen erreichen, wenn die Berichtspflichten Zivilgesellschaft, wir brauchen Forschungsprojekt strenger durchgesetzt werden. Abgeordnete, denen Fachwissen zur GUARDINT, das sich Berichte seitens der Regierung und mit der Kluft zwischen Verfügung steht, damit sie für gesetz- der Sicherheitsdienste sind wichtig, transnationalen Über- liche Sicherungsmaßnahmen sorgen aber auch Berichte von Aufsichts- wachungspraktiken können, bevor sie neue Gesetzes- und nationalen Rechen- gremien über die Instrumente, die sie entwürfe annehmen. Eine große schaftsmechanismen einsetzen, um die Exekutive zur Gefahr besteht in einer Weiterent- befasst. Rechenschaft zu ziehen.
22 Debatte Robert Bosch Stiftung Die Europäische Union und ihre Mitgliedsstaaten gelten als strenge Verfechter des Datenschutzes. Werden sie diesem Ruf gerecht? Wetzling: Auch in Europa gibt es eindeutig große Risiken. Bei uns gibt es zwar eine Datenschutzrichtlinie, und wir haben Datenschutz- maßnahmen in unseren Gesetzen in größerem Umfang festgeschrieben als andere Länder, doch das heißt noch lange nicht, dass dies in der Praxis umgesetzt wird oder dass die eu- ropäischen Regierungen nicht versucht sind, beispielsweise die Verbreitung verschlüsselter Kommu- nikation einzuschränken. Wie weit gehen die EU-Staaten, um aktiv Daten ihrer Bürgerinnen und Bürger zu sammeln? Wetzling: Ich will nicht behaupten, dass jeder Verstoß gegen unsere Rechte mit finsteren Absichten erfolgt, aber natürlich haben zahlre- iche Akteure – sowohl auf Unterneh- mens- als auch auf Regierungsseite – nachweislich Interesse daran, so viele Daten der Bevölkerung zu erfassen, wie es legal möglich ist. Allerdings möchte ich auch sagen, dass oft die Prämisse gesetzt wird, dass Europa sich selbst keinen Gefallen tut, wenn es so viel in den Datenschutz investiert, weil Coronapatienten. Interessanterweise dieser viele Dinge erschwert. Diese hat die Regierung irgendwann Prämisse halte ich für falsch, da angehalten und verkündet, sie habe Datenschutz und Effizienz keine ihre Ansicht geändert. Obwohl man Gegensätze sind. Es sind viele bereits in die Entwicklung einer App interessante Fortschritte möglich, investiert hatte, die auf einen zen- und wir haben bei der Entwicklung David Bandurski tralen Server setzte, wurde die Arbeit einiger Apps gesehen, dass es einen ist Forscher und daran eingestellt. Jetzt konzentriert ganzen Markt für von Grund auf Lehrbeauftragter am man sich auf eine Lösung mit lokal eingebauten Datenschutz gibt und für Journalism and Media gespeicherten Daten, die dem die Nutzung von digitaler Technolo- Studies Centre (JMSC) Datenschutz hoffentlich angemessen der Universität gie unter Bedingungen, bei denen Rechnung tragen wird. Zumindest Hongkong und die Nutzer eigene Entscheidungen gab es Gesprächsbereitschaft, einen ehemaliger Richard von treffen und Mitsprache haben. Weizsäcker Fellow der gemeinsamen Lernprozess und ein Robert Bosch Academy offenes Ohr für verschiedene Argu- Können Sie uns ein positives in Berlin. Seit über zwölf mente, und wenn das so läuft, sind wir Beispiel nennen, bei dem Jahren leitet er das alle hinterher stärker. Datenschutz und Effizienz zusam- unabhängige China Media Project, eine menkommen? Herr Bandurski, Herr Wetzling hat weltweit führende Wetzling: In Deutschland gab es zum Institution zur bereits erwähnt, dass alle Staaten Beispiel eine heiße Debatte über Medienlandschaft Interesse an der Erfassung von die Entwicklung der Tracking-App für Chinas. Daten ihrer Bürger haben. Könnte
DAS MAGAZIN 1.20 23 man noch einen Schritt weiter gehen Wie wird der Einsatz all dieser bewerten und die Nachteile nicht zu und argumentieren, die Daten- Technologien in der Bevölkerung beachten. Wir in unseren offenen analyse sei für eine Gesellschaft aufgenommen? Gesellschaften sehen vermutlich eher generell von Vorteil? Bandurski: Wir müssen uns vor Augen die dunkle Seite, die Möglichkeiten Bandurski: Das behaupten die führen, dass China einen gewaltigen des Missbrauchs. Aber da es keine chinesischen Behörden jede Sekunde Sprung gemacht und sich direkt in Diskussion gibt und die Mechanismen eines jeden Tages. Ich würde sagen, eine mobilfunkgesteuerte Ära fehlen, von denen Thorsten gespro- Chinas größtes technisches Projekt katapultiert hat. Verbraucherkredite, chen hat, sehen die Menschen diese ist die Kontrolle der Information und Einkäufe mit dem Handy, all diese Gefahren häufig nicht. Sie kennen sich der öffentlichen Meinung – und das Dinge sind hier auch im Jahr 2020 damit nicht aus. Das soll nicht heißen, verkauft man der Öffentlichkeit als immer noch neu und aufregend. Und dass wir in Deutschland oder in Vorteil für die Gesellschaft. China die Chinesen weisen zu Recht darauf Europa oder in den USA sehr viel hat noch zwei andere große Projekte: hin, dass ihr Leben in gewisser besser Bescheid wüssten, aber Das eine heißt Sharp Eyes, im Chine- Hinsicht besser ist. Sie können sich zumindest gibt eine Diskussion sischen wird es als Projekt Dazzling äußern, und das meine ich im grund- darüber. Um auf das zurückzukom- Snow bezeichnet. Dabei handelt es legendsten Sinne, sie können eigene men, was Thorsten gesagt hat: Vieles sich um ein Projekt für den ländlichen Inhalte erstellen, und sei es in Tik- davon fand ich sehr ermutigend. Wir Raum mit dem Ziel, etwa 200 Mil- Tok-Videos oder in Chats, in denen sie in unseren Gesellschaften sollten lionen Kameras zu installieren. Für berichten, was sie sich tagsüber unbedingt zeigen, wie wir mit diesen den städtischen Raum gibt es noch gekauft haben. Alle haben das Gefühl, Technologien bessere und effektivere ein weiteres Projekt namens Skynet. weitaus mehr Möglichkeiten zu haben demokratische Systeme schaffen Man hat die Absicht, die Überwa- als jemals zuvor, und daraus entsteht können. chungskameras mit Gesichtserken- der sehr, sehr starke Impuls, Technik nungstechnologie zu verknüpfen – als unter dem Strich positiv zu Was kann die Zivilgesellschaft in manchen Städten wie Shenzhen ist Ihrer Ansicht nach tun, um den das bereits geschehen – und so eine dunklen Seiten der Digitalisierung landesweite Datenbank zu schaffen. entgegenzuwirken? Wetzling: Man kann viel tun, wenn Gibt es eine Erklärung für diese man sich die unterschiedlichen Maßnahmen? Bereiche der Politik anschaut und sich Bandurski: Der Grund liegt darin, zum Beispiel fragt, was man aus der dass die Polizeibehörden wissen Buchprüfung in der Bankbranche wollen, was an jedem Ort und zu jeder lernen kann. Im Bereich Polizei und Zeit geschieht. Und eine Sache, die Nachrichtendienste gibt es in ver- sie realisiert haben, um, wie sie sagen, schiedenen Gesellschaften ähnliche effektiv auf Covid-19 zu reagieren, Herausforderungen, man muss also war die polizeiliche Überwachung das Rad nicht immer neu erfinden. von Covid-19-Patienten mithilfe eines Manchmal gibt es für ein Problem Rastersystems, das bereits für andere Lösungen, die weniger in die allgemeine soziale Überwa- Grundrechte eingreifen, und diese chungsmaßnahmen, Sicherheits- müssen gefunden werden. Doch es zwecke und zur Stabilisierung des Regimes landesweit eingeführt „In Hongkong gibt so viel Juristensprache, so viele technische Dokumente, dass nur worden war. Für dieses Überwa- chungssystem wird das Land im wurde Tinder wenige Leute das alles richtig entschlüsseln können. Hier hat die genutzt, um Prinzip in übersichtliche Raster Zivilgesellschaft meiner Ansicht nach aufgeteilt, die vor Ort von Menschen die Aufgabe, komplizierte politische kontrolliert werden. Neben den Fragen aufzuschlüsseln und in einer Gesichtserkennungskameras instal- lieren die Behörden auch Scanvor- Termine für De- Sprache zu veröffentlichen, die jeder versteht, sodass die Bürger sich richtungen für Mobiltelefone. Insge- samt handelt es sich also um eine monstrationen direkter an offenen Gesprächen über den besten Weg in die Zukunft Kombination aus dem Einsatz von Digitaltechnik und dem bestehenden zu verbreiten.“ beteiligen können. menschlichen Überwachungs- und Herr Bandurski, Herr Wetzling, Rastersystem. David Bandurski vielen Dank.
24 Feature Robert Bosch Stiftung Legende Anzahl der Ereignisse, die an dem Ort mindestens dreimal vorgekommen sind seit Januar 2010 (Stand 6. Mai 2020). Modernisierung Neubau Leerstand Eigentümerwechsel Ferienwohnung TEXT Nicole Zepter Neuer Blick auf die Stadt ILLUSTRATION Doreen Borsutzki - Warum Bürgerinitiativen auf digitale Karten setzen – ein Beispiel für Critical Mapping aus Berlin.
DAS MAGAZIN 1.20 25 um ch, n si t r effe n - rn Woh en. hba Nac iet- und rech M s p ihre be n zu atio situ r- gsvo L ö sun d n tu n erde tier Es w e disku l ä g . sch ht usc geta aus te aren e e t r ansp hafft ein Di c ge s ilung n l a Date Beu rte ere bess hnens. Wo des
26 Feature Robert Bosch Stiftung D nutzen Nachbarschaftsinitiativen inzwischen das Kartieren, um Ent- wicklungen in ihrem Umfeld visuell aufzuzeigen und damit Veränderun- gen anzustoßen. Das Forschungs- projekt „Critical Mapping in Munici- palist Movements“, angesiedelt am Institut für Stadt- und Regionalpla- nung der Technischen Universität Berlin und gefördert von der Robert ie meisten Mieter wissen nicht, wer ihr Bosch Stiftung, untersucht die Effekte Hausbesitzer ist“, sagt Susanne Torka. des digitalen Kartierens. Neben Berlin Die 67-Jährige sitzt im B-Laden, einem stehen auch Belgrad und Barcelona im Büro für Nachbarschaftshilfe in der Fokus des Forschungsteams. „Uns Lehrter Straße in Berlin. Sie ist interessiert, was diese Werkzeuge für Mitbegründerin der Initiative „Wem die sogenannten Municipalist Mo- gehört Moabit?“, die das Ziel hat, vements bedeuten, also Bürgerinitiati- so viel Transparenz wie möglich über ven, die eine Stadt auf lokaler Ebene die Wohnsituation im Viertel zu auch abseits der großen Politik und schaffen. Der Bauboom der letzten etablierter Parteien gestalten wollen“, 20 Jahre hat das Stadtbild in Moabit erklärt Projektleiter Andreas Brück. verändert, es wurden Häuser moder- Es gehe darum, zu erforschen, welches nisiert und verkauft, was Mieter und Potenzial Critical Mapping haben Inhaber von alteingesessenen Läden kann: „Wir wollen urbane Transforma- verunsichert. Der Nachbarschaftsla- tion, aber auch strategisches Gegen- den von Susanne Torka ist deshalb steuern der Initiativen verstehen.“ Anlaufzentrum für Mieter, ob Zugezo- Karten sind nie neutral, gene oder Alteingesessene. sondern bilden Machtstrukturen ab. Die Initiative basiert auf Bürgerbeteili- Lange waren sie das Vorrecht einiger gung: Jeder ist eingeladen, seine weniger Mächtiger, die über Grenzen Wohnsituation mitzuteilen. So verhandelten und Infrastrukturen entsteht ein Bild, wie die Eigentümer- festlegten. Heute sind Karten allge- struktur in der Nachbarschaft ist – genwärtig: Wir haben sie mit unseren welche Häuser Wohnungsbaugesell- Handys immer dabei, mithilfe von schaften, internationalen Fondsgesell- GPS-Daten werden ständig Karten schaften, Genossenschaften oder erstellt. Dazu braucht es keine Einzeleigentümern gehören. 2009 Kenntnisse der Landvermessung verteilte Torka mit der Initiative noch mehr, das Erstellen von Karten ist Tausende Fragebögen. Sie legten demokratisiert. Bei Susanne Torka offen, wo Modernisierungen und hohe ist es eine kostenlose Onlineplattform, Preissteigerungen dazu führten, crowdmap.com, auf der jeder User dass Mieter wegziehen mussten. Es Informationen einstellen kann. Torka entstanden Arbeitsgruppen, eine prüft die Eingänge und gibt diese Wohnungsbaugenossenschaft wurde dann online frei. Es gehe um das, was gegründet. Heute ist es eine digitale in den Häusern des Viertels passiert: Karte, die als Informationswerkzeug Wie wird mit Mietern umgegangen, genutzt wird. Mit der Karte begann werden Wohnungen an Feriengäste eine neue Form von Bürgerbeteili- gung. Bewohner können die Verände- rungen in ihrem Viertel nun direkt selbst verzeichnen. Städte verändern sich, sie sind wirtschaftliche Motoren und Innovati- onszentren. Vor allem aber sind sie „Karten sind nie neutral, sie bilden Machtstrukturen ab.“ Lebensräume, in denen Bewohner ihr Leben gestalten. In vielen Ländern
DAS MAGAZIN 1.20 27 vermietet, gibt es Leerstand? Bislang bewerteten Eigentümern nicht sind es vor allem die Mitglieder eingezogen sind. der Initiative selbst, die die Einträge Critical Mapping kann helfen, vornehmen. „Oft sammeln wir Probleme zu lokalisieren, zu visuali- Informationen auf Infoständen und sieren und verständlich zu vermitteln. tragen diese dann auf der Karte Und es kann ein breites Spektrum nach“, erzählt Torka. Sie wünscht sich, an Themen abdecken: Es gibt Initiati- dass noch mehr Nachbarn die Karte ven, die Leerstand kartieren, um nutzen. „Dafür müssen wir mehr Zwischennutzungen zu ermöglichen Werbung machen.“ Doch es ist jetzt und einen erhitzten Immobilienmarkt schon eine Arbeit, die anderen hilft: konkret in der eigenen Nachbarschaft Es gab Fälle, in denen Mieter in sichtbar machen. Andere Engagierte Wohnungen mit auffallend schlecht markieren Orte in der Stadt, an denen Menschen sich unsicher fühlen, wieder andere Initiativen machen Vorschläge für den öffentlichen Nahverkehr. Das Forschungsteam von „Critical Mapping in Municipalist Movements“ beobachtet unterschied- liche Themen, die von Initiativen aufgegriffen und kartiert werden – das Thema Wohnen ist dabei der zentrale Aspekt. Alle drei untersuch- ten Städte, Barcelona, Belgrad und Berlin, seien von Auseinandersetzun- gen um Wohnraum betroffen, erzählt Projektleiter Brück und ergänzt: „Wohnen hat derzeit die Dynamik, Menschen zu mobilisieren. Wir ver- stehen dabei unter Wohnen einen weiter gefassten Begriff, der über die Behausung hinausgeht und die Sorge um den täglichen Lebensunterhalt der Menschen umfasst.“ Dabei wird der Zugang zu Bildung oder Erho- lungsmöglichkeiten ebenso unter- sucht wie das Verhältnis zwischen Einkommen und Mietausgaben einer Person. Auch Räumungen oder das Problem, dass viele Wohnungen heute an Touristen vermietet werden, sind Fragen, mit denen sich Initiativen beschäftigen, um an Alternativen zu arbeiten. Daten in Exceltabellen einzu- pflegen, hätte lange nicht den Nutzen, den eine sichtbare, interaktive Karte hat, sagt Susanne Torka von der Nachbarschaftsinitiative in Moabit. Doch der Wandel hänge immer auch von den Menschen ab. „Die Karte ist ein Informationswerkzeug. Nur wenn sich MieterInnen auch zusam- menschließen, kann dieses Werkzeug etwas erreichen.“
28 Essay Robert Bosch Stiftung Beteiligung für alle Wir übertragen die Ungleichheit der Welt in den digitalen Raum, sagt IT-Wissenschaftlerin Catherine Mulligan. Und fordert Mut zu neuem Denken. Das Jahr 2020 markiert einen Wendepunkt, an dem die sich auf die Ungleichheit zwischen Kapital und Arbeitskraft globale digitale Ungleichheit deutlich zum Vorschein kommt. stützt, auf der unsere Gesellschaft seit Jahrhunderten beruht. Aufgrund von Covid-19 können Millionen von Kindern nicht So nimmt man beispielsweise an, dass wir die zur Schule gehen, während andere digitalen Unterricht Ungleichheit in Bezug auf Datenspeicherung aus den ver- bekommen. Eine Kluft tut sich auch auf zwischen denen, die schiedensten Gründen akzeptieren müssten, was zur von zu Hause aus arbeiten können und anderen, für die Entstehung von Datenmonopolen in einer kleinen Anzahl das nicht möglich ist. Bislang galt digitale Exklusion häufig von Unternehmen und Nationen geführt hat. als Thema, das man auch später noch angehen kann. Die Abbildung der physischen Welt in der digitalen Doch die letzten paar Monate haben gezeigt, dass die digitale Welt hat nicht funktioniert – so ist eine überaus anfällige Ungleichheit in fast jedem Land der Welt ein sehr reales Wirtschaft entstanden, die stark von Zentralisierung und Problem darstellt. multinationalen Konzernen abhängt und zum Stillstand Als wir den Bericht über digitale Kooperation für das kommt, sobald einer ihrer Bestandteile versagt. Das wird High-Level Panel der UN verfassten, ahnten wir nicht, welche oft als unvermeidlicher, natürlicher Prozess dargestellt, Relevanz der Teil zur digitalen Inklusion bald bekommen doch das entspricht nicht der Wahrheit. Die Grundlagen der sollte. Unsere Empfehlung, jeder Erwachsene solle Zugang zu physischen Wirtschaft – Land, Kapital und Arbeitskraft – digitalen Netzwerken sowie zu digital gestützten Finanz- haben im digitalen Raum nicht die gleiche Bedeutung, doch und Gesundheitsdienstleistungen haben, findet nun großen das findet keine Beachtung. Anklang. Denn die Verwerfungslinien der digitalen Ungleich- Für die digitale Welt ist ein neuer Gesellschaftsvertrag heit ziehen sich durch alle Länder, vom globalen Süden nötig – ein Vertrag, der angesichts der Tatsache, dass so über Europa bis in die USA. Unser Bericht schlug vor, dass viele unserer Daten zu wirtschaftlichen Zwecken genutzt wer- der private Sektor, Regierungen, NGOs und die Zivilgesell- den, eine neue Sichtweise auf Arbeit verlangt. Gesetzgeber schaft zusammenarbeiten sollten, um für umfassende konzentrieren sich bislang auf kleinere, wenn auch wichtige digitale Inklusion zu sorgen. Nun ist es wichtiger denn je, uns Aspekte wie den Datenschutz, während die umfassenderen zu fragen: Was bedeutet umfassende digitale Inklusion? Auswirkungen der Digitalisierung unbeachtet bleiben. Digitale Ungleichheit wurzelt in der Ungleichheit an Deshalb stolpern wir immer weiter in eine immer größere sich – und in unseren vorgefassten Meinungen darüber, wie digitale Ungleichheit – paradoxerweise gerade deshalb, weil die Welt funktioniert. Wir akzeptieren es als Normalzustand, wir das Richtige tun wollen. dass manche Menschen und Länder weniger bekommen, Die digitale Ungleichheit ist komplex. Wer keinen andere dagegen mehr. Dies setzt sich nun in der digitalen Welt Zugang hat, befindet sich in der Regel in einem Nexus fort und hindert Menschen und Nationen daran, digitale der Exklusion. Technischer Zugang allein garantiert noch Technologien umfassend zu nutzen. lange nicht, dass jemand über den Strom oder über Wir Menschen neigen dazu, industrielle und gesell- Bildung und Fähigkeiten verfügt, mit denen eine effektive schaftliche Revolutionen auf den Lauf der Geschichte Nutzung möglich ist. zurückzuführen – als seien wir dem ausgeliefert. Doch die Wird nicht das gesamte Spektrum der digitalen digitale Revolution liegt in unseren Händen. Dazu müssen Ungleichheit berücksichtigt, verstärkt sich die Auswirkung Text: Catherine Mulligan | Foto: privat wir uns der Herausforderung stellen, nicht nur anders zu der digitalen Exklusion weiter. So hat man vielleicht Zugang denken, sondern auch anders zu handeln. Um die digitale zur digitalen Welt, aber nur als Teilnehmer, der den Monopo- Ungleichheit zu überwinden, müssen wir bestimmte Aspekte listen in anderen Ländern Daten liefert, ohne selbst wirt- der Ungleichheit an sich überwinden; das lässt sich nicht schaftliche und gesellschaftliche Vorteile ausschöpfen zu voneinander trennen. können. Bei der Beurteilung der digitalen Ungleichheit ist das Seit Anbruch des Informationszeitalters in den 1960er- Gleichgewicht der digitalen Macht ein wichtiger Aspekt. Jahren bilden wir mit der digitalen Welt die bestehende Viele Narrative unterscheiden zwischen „fortschrittlichen“ physische Wirtschaftswelt nach; eine Wirtschaftswelt, die und „hilfsbedürftigen“ Ländern. Das kann zu einer Art
DAS MAGAZIN 1.20 29 „Um die digitale digitaler Kolonialisierung führen. Ein entscheidender Punkt, den Regierungen, der Privatsektor und die Zivilgesellschaft Ungleichheit zu über- sorgfältig berücksichtigen müssen: Wie sieht der globale Gesellschaftsvertrag für die digitale Welt aus? winden, müssen Wenn ich diesen Punkt anspreche, werden häufig Kryptowährungen als vermeintliche Beweise dafür ange- führt, dass der Durchschnittsbürger in der digitalen Welt wir bestimmte Aspekte nicht nur Teilnehmer, sondern auch „Gewinner“ sein kann. Aber stimmt das wirklich? der Ungleichheit an Bitcoin ist in der Finanzkrise im Jahr 2008 entstanden. Mit der ersten echten Peer-to-Peer-Währung skizzierte sich überwinden; „Satoshi Nakamoto“, so das Pseudonym des Erfinders von Bitcoin, eine Möglichkeit, wie Banken beim Tausch von das lässt sich nicht von- Werten zwischen Einzelpersonen überflüssig werden können. Die größte Leistung von Bitcoin ist das dahinterste- einander trennen.“ hende Gedankenexperiment. Satoshi bildete nicht einfach das bestehende Finanzsystem mit einer zentralen Kontrolle durch Regierungen und große Unternehmen nach, sondern nutzte die umfassenden Möglichkeiten der digitalen Welt, um eine Währung von Menschen für Menschen zu schaffen. Es war eine gewagte Idee, mit der manche Leute sehr reich geworden sind. Allerdings hat dies bislang nicht entscheidend dazu beigetragen, die Ungleichheit zu über- winden – sei es im digitalen Bereich oder anderswo. Kryp- towährungen zeigen deutlich, wie engstirnig rund um digitale Technologien oft gedacht wird. Technologie bewegt sich nicht im luftleeren Raum, sie muss durch ein komplexes Netz aus politischen und unternehmerischen Interessen navigieren. Ein dezentralisierter Ansatz löst häufig Unbehagen aus – besonders unter denjenigen, die großes persönliches Interes- se am Fortbestand unseres jetzigen Wirtschaftssystems haben. Vor diesem Problem stehen auch viele der Lösungen, die zur Überwindung der digitalen Ungleichheit vorgeschla- gen werden: Es geht nicht um technische Fragen, sondern um politische. Die Vorstellung, dass Menschen aller Länder über digitale Technologien vollkommen gleichberechtigt Zugang zum Wirtschaftssystem bekommen, weckt oft genauso großes Unbehagen wie die Dezentralisierung. Wir brauchen eine neue Sicht auf die Kräfte, die dem Eigentum an Daten und anderen digitalen Werten zugrunde liegen, sowie neue Normen für die Interaktion. Für manche Men- schen wird das einen Machtverlust bedeuten, deshalb ist zur Umsetzung ein starker politischer Wille erforderlich. Eine digital gestützte Dezentralisierung kann nicht nur Geld neu definieren, sondern uns die Möglichkeit geben, eine andere Welt zu gestalten. Mit einer digital koordinierten, Dr. Catherine Mulligan ist Honorary Senior Research Associate für dezentralisierten Wirtschaft könnten wir ein Gleichgewicht Informatik am University College London und zwischen lokalem Wirtschaftswachstum und Globalisierung Co-Direktorin des Forschungszentrums für schaffen, das für alle von Vorteil ist. Eine Wirtschaftsweise, Kryptowährung am Imperial College London. in der der Einzelne mit den Daten, die er generiert, seinen Sie war Mitglied des High-Level Panels für Einfluss erhöht und die Wirtschaftsleistung seiner Nation digitale Zusammenarbeit, das von UN-Gene- – und nicht nur den Profit einzelner Datenmonopolisten. ralsekretär António Guterres einberufen wurde. Es wird Mut und gründliches Nachdenken erfordern, unsere Die Expertengruppe hat Empfehlungen erarbei- tet, wie die digitale Zukunft zum Wohl aller bisher etablierten Vorstellungen von digitaler Ungleichheit und im Sinne der nachhaltigen Entwicklungs- zu überwinden. Es ist die große Herausforderung unserer ziele der UN gestaltet werden kann. Generation.
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