Die Welt der Bedürfnisse - Eine pädagogische Mappe
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Die Welt der Bedürfnisse Eine pädagogische Mappe
Inhaltsverzeichnis 5 Einführung 5 Wir brauchen vier Welten 7 Die Welt der Bedürfnisse 9 Globales Lernen : ein zukunftsorientiertes Bildungskonzept 13 Die Suche nach dem rechten Maß 29 Arbeitsblatt 1 : Meine — deine — unsere Bedürfnisse 30 Arbeitsblatt 2 : Glückliches Leben 32 Arbeitsblatt 3 : Ich kaufe, also bin ich 33 Arbeitsblatt 4 : Haben oder Sein 34 Arbeitsblatt 5 : Happy Planet Index 37 Subsistenz / Survive 44 Arbeitsblatt 1 : Über-Leben hier und anderswo 45 Arbeitsblatt 2 : Gerechte Ressourcenverteilung ? 46 Arbeitsblatt 3 : Die Überfischung der Meere 47 Arbeitsblatt 4 : Zerstörung des Regenwalds 48 Arbeitsblatt 5 : Ausbeutung von Rohstoffen : Erdöl 49 Arbeitsblatt 6 : Millennium Development Goals 51 Schutz / Protect 56 Arbeitsblatt 1 : Gerecht – gleich – fair 57 Arbeitsblatt 2 : Stellung beziehen 59 Arbeitsblatt 3 : Soziale Gerechtigkeit — Grundeinkommen 61 Arbeitsblatt 4 : Die Kinder von Don Quichotte 63 Arbeitsblatt 5 : Die betrogene Generation ? 64 Arbeitsblatt 6 : HIV/Aids weltweit 65 Arbeitsblatt 7 : Menschenrechte versus Eigentumsrechte 67 Arbeitsblatt 8 : Der Prozess — Südafrika 2001 69 Liebe / Love 74 Arbeitsblatt 1 : Liebe ist... 76 Arbeitsblatt 2 : Afrika und seine Bodenschätze 78 Arbeitsblatt 3 : « Blood Diamonds » 81 Arbeitsblatt 4 : Liebe und Geborgenheit 82 Arbeitsblatt 5 : Tsotsi — junge Kriminelle am Rande einer Gesellschaft 84 Arbeitsblatt 6 : Madonna und ihre Kinder 85 Verstehen / Understand 91 Arbeitsblatt 1 : Zur Vergänglichkeit von Wissen 92 Arbeitsblatt 2 : Bilder über die Welt — Weltbilder 94 Arbeitsblatt 3 : Computer für alle ! 95 Arbeitsblatt 4 : Der Kontext zählt 96 Arbeitsblatt 5 : Typisch Schina Inhalt All We Need : Die Welt der Bedürfnisse
99 Partizipation / Stand Up ! 105 Arbeitsblatt 1 : Demokratie – Was ist das ? 106 Arbeitsblatt 2 : Wir machen Politik 107 Arbeitsblatt 3 : Der Europarat und die Jugend 108 Arbeitsblatt 4 : Politische Streitkultur 110 Arbeitsblatt 5 : Zivilgesellschaftliches Engagement 111 Arbeitsblatt 6 : NGOs — TrägerInnen und AkteurInnen von Zivilgesellschaft 113 Arbeitsblatt 7 : Aktiv für das « Raumschiff Erde » 119 Muße / Relax 125 Arbeitsblatt 1 : Ach du liebe Zeit ! 126 Arbeitsblatt 2 : Arbeit ist das halbe Leben ? 127 Arbeitsblatt 3 : Arbeit(s)los 128 Arbeitsblatt 4 : Von unseren Träumen und Sehnsüchten — Urlaub 129 Arbeitsblatt 5 : Auf der Suche nach... 131 Kreatives Schaffen / Create 136 Arbeitsblatt 1 : Kreatives Schaffen und Kunst 137 Arbeitsblatt 2 : Erfindungen und ihre Folgen 138 Arbeitsblatt 3 : Ist Kreatives Schaffen immer positiv ? 139 Arbeitsblatt 4 : Müll vermeiden : Zero Emission-Konzept 141 Arbeitsblatt 5 : Jeder kann kreativ sein 142 Arbeitsblatt 6 : Aus dem Leben etwas Schönes machen 143 Identität / Belong 148 Arbeitsblatt 1 : Ich bin Ich 149 Arbeitsblatt 2 : Ich — Du — Wir 150 Arbeitsblatt 3 : Die zweite Haut 151 Arbeitsblatt 4 : Fair geshoppt ist halb gewonnen ? 152 Arbeitsblatt 5 : Idole und Ideale 153 Freiheit 158 Arbeitsblatt 1 : Freiheit allgemein 159 Arbeitsblatt 2 : Informations- und Pressefreiheit 160 Arbeitsblatt 3 : Freiheit in der Marktwirtschaft 161 Arbeitsblatt 4 : Werbung – die geheime Verführung ? ! 162 Arbeitsblatt 5 : Die Freiheit von Bill Gates & Co. 163 Transzendenz 169 Arbeitsblatt 1 : Über die Natur 170 Arbeitsblatt 2 : Unsterblichkeit 171 Arbeitsblatt 3 : Zukunft gestalten : Versprechungen 172 Arbeitsblatt 4 : Erwartungen einst und jetzt 173 Arbeitsblatt 5 : Gott in der EU-Verfassung ? 174 Arbeitsblatt 6 : Zukunft erträumen 175 Anhang 175 Abkürzungen 176 Organisationen – Kurzvorstellung 179 Impressum Inhalt All We Need : Die Welt der Bedürfnisse
Einführung Wir brauchen vier Welten Von den 6,4 Milliarden Menschen zählt sourcen aufgebraucht, die bis Ende Dezember derzeit ein Viertel zur « globalen Konsumen- reichen sollten. Ab dem Zeitpunkt werden die tenklasse », das sind 1,7 Milliarden Verbrauche- Ressourcen des nächsten Jahres verprasst. So rInnen. geraten wir immer tiefer in die Verschuldung. Ein/e KonsumentIn verfügt über mindestens KreditgeberInnen sind die nachfolgenden Gene- 7 000 Euro Jahreseinkommen, das ist in etwa rationen und jene Menschen, die bereits heute die Armutsgrenze in Westeuropa. Als Konsu- die negativen Folgen des Klimawandels tragen mentIn zu leben bedeutet, sich alles, was man müssen. zum Leben braucht, zu kaufen, egal ob im Su- permarkt oder im Laden an der Ecke. Nur in Aus- Die Gerechtigkeit nahmefällen produziert der/die KonsumentIn Dies ist der andere Punkt : Gerechtigkeit wür- etwas selbst. de erfordern, dass wir die Rechte der nachfol- Die Hälfte der KonsumentInnen lebt in Europa, genden Generationen achten genauso wie die in den USA und in Japan. Das heißt, die andere Rechte jener, die nicht zur Konsumentenklasse Hälfte lebt in der südlichen Hemisphäre, in je- zählen. Das sind 4,5 Milliarden Menschen, also nen weniger industrialisierten Ländern also, die drei Viertel der Weltbevölkerung. Sie leben in wir gerne als Dritte Welt, Entwicklungsländer kleinräumigen Ökonomien, und zwar direkt von oder Schwellenländer bezeichnen. Überall auf jenen Früchten, die ihre Felder, Seen, Meere und der Welt entstehen Inseln des Konsums inmit- Wälder hergeben. Da sie wegen Geldmangels ten sich ausbreitender materieller Armut. Das am Bruttoinlandsprodukt nicht teilhaben, bleibt ist eine neue Situation, die sich zudem rapide ihnen unsere Wachstumsgläubigkeit fremd. entwickelt.1 Umso mehr sind sie am Brutto-Naturprodukt interessiert. Sie müssen aber erleben, dass sich KonsumentInnen zeichnen sich dadurch aus, dieses kontinuierlich verringert und sich ihr dass sie viel Fleisch essen, viele elektrische Ap- natürlicher Lebensraum verschlechtert. Die Ein- parate nutzen und dank dem Einsatz von Autos wohnerInnen des Nigerdeltas etwa sterben an und Motorrädern mobil sind.2 Durch diesen Le- den ökologischen, sozialen und politischen Fol- bensstil konsumieren die VerbraucherInnen, gen der Erdölförderung in ihrem Land. Das Erd- die nur 27% der Weltbevölkerung ausmachen, öl verbrauchen andere. Die Bevölkerung Tuvalus, 80% der Naturressourcen, die eigentlich für alle einer Inselgruppe im Pazifik, muss ihre Heimat Menschen zur Verfügung stehen. Daraus re- verlassen, weil das steigende Meer — Folge des sultieren zwei grundlegende Bedrohungen für Klimawandels — sie überschwemmen wird. Die unsere Zukunft, die im Zentrum dieser pädago- schädlichen Abgase aber produzieren die Autos gischen Mappe stehen. der KonsumentInnen. Die Fischer an der West- küste Afrikas flüchten nach Europa, weil ihre Die Nachhaltigkeit Netze leer bleiben. Ihre Fischgründe haben In- Zum einen ist dieser Lebensstil nicht nachhal- dustrieschiffe aus fernen Ländern geleert. tig. Wir bräuchten vier Erden, um den derzei- tigen Ressourcenverbrauch auf alle Menschen Etwas Neues im Westen ? ausdehnen zu können. Wie uns der ökologische Eines ist gewiss : Der Lebensstil der Konsu- Fußabdruck vorrechnet,3 hat die Menschheit be- mentInnen lässt sich nicht auf die gesamte reits am 9. Oktober eines jeden Jahres jene Res- Menschheit ausdehnen. Er kann nicht einmal Einführung All We Need : Die Welt der Bedürfnisse
für jene erhalten bleiben, die jetzt in der Kon- sumwelt leben. Was ist zu tun ? Es gibt zwei Wege. Entweder wir beharren auf einem Le- bensstil, der uns die Erde untertan macht — und damit die Mehrheit der Erdbevölkerung — ein. Die Folgen sollten uns bewusst sein : Wir wer- den den Rest unseres Lebens damit verbringen, Mauern zu bauen, um jene fernzuhalten, die wir von unserem materiellen Wohlstand ausschlie- ßen. Zudem wird immer mehr Zeit und Geld nö- tig sein, um unsere Umwelt so gut es geht wie- der instand zu setzen. Es gibt eine andere Möglichkeit. Wir können versuchen, ein neues gesellschaftliches Leitbild aufzubauen : glücklich zu leben ohne unsere Bedürfnisse durch den exzessiven Verbrauch von Gütern zu betäuben ; tätig einen Wohlstand aufzubauen, der gerecht bleibt und die ökolo- gischen Reserven unseres Planeten respektiert. Es könnte spannend sein, sich auf die Suche nach dem rechten Maß zu begeben. Es geht dar- um, Wege zu finden, die uns von dem Diktat der ökonomischen Unvernunft befreien und vom Drang nach immer mehr und immer Neuem. Dann könnten wir das Recht zurückerobern das zu genießen, was wir bereits haben. 1. Gardner, Gary / Assadourian, Erik / Sarin, Radhika : Zum gegen- wärtigen Stand des Konsums, in Zur Lage der Welt 2004 Die Welt des Konsums, Hrsg.. v. Worldwatch Institute / Heinrich-Böll-Stiftung / Germanwatch, Westfälisches Dampfboot, 2004 2. Sachs, Wolfgang / Santarius, Tilman : Der Aufstieg der transnation- alen Verbraucherklasse, in Martin Khor / u.a. Konsum. Globalisier- ung. Umwelt, Das Buch zum zweiten Kongress von Attac, Bund und Greenpeace, vsa, 2005 3. Berechnungen der New Economics Foundation London basierend auf dem ökologischen Fußabdruck : http://www.neweconomics. org/gen/ecologicaldebt091006.aspx Einführung All We Need : Die Welt der Bedürfnisse
Einführung Die Welt der Bedürfnisse Migration und Begegnung ist das wurde man bei Manfred Max-Neef. Der chile- zentrale Anliegen des Kulturjahres 2007 in nische Ökonom hat eine Matrix der Bedürfnisse Luxemburg. Anfang des Jahres 2005 beschlos- entwickelt, die zu weiteren Auseinandersetzung sen die Organisatoren, das heißt der Verein mit dem Thema anregt. Mathis Wackernagel « Luxemburg und Großregion, Europäische Kul- macht mit dem sogenannten ökologischen turhauptstadt 2007 », eine Ausstellung in Auf- Fußabdruck deutlich, dass die natürlichen Res- trag zu geben, die einen etwas anderen Blick sourcen begrenzt sind. Die Ausstellung « All We auf dieselben Themen werfen sollte : Welche Need » verbindet diese Ansätze zu einer faszi- Begegnungen gibt es weltweit über die Migra- nierenden Entdeckungsreise durch das ewige tion hinaus zwischen den Kulturen des Nordens menschliche Streben nach universellem Glück. und des Südens, des Westens und des Ostens ? Was wir heute brauchen sind alternative Kon- Durch welche unsichtbaren kulturellen und ma- zepte und Ideen für ein Leben, das den Genuss teriellen Beziehungen sind die Menschen in der bejaht ohne dabei die Erde und ihre Menschen Globalisierung mit einander verbunden ? Was zu opfern. Die Matrix der Bedürfnisse wurde haben sie überhaupt gemein, und was trennt erweitert und für die moderne Welt übersetzt : sie ? Aus Subsistenz wurde « Survive », aus Liebe Bei den Vorbereitungen zu dieser Ausstellung wurde « Love », aus Identität « Belong », aus wurde schnell klar, dass das moderne Kaufan- Muße « Relax ». Kreatives Schaffen nennt sich gebot – zumindest jenes in den Supermärkten in der Ausstellung kurz und bündig « Create », – ein enges Netz der Waren- und Geldströme das Bedürfnis nach Verstehen ebenso einfach über den gesamten Erdball geknüpft hat. Diese « Understand ». Freiheit setzt immer die Mög- Zusammenhänge haben positive und negative lichkeit der Wahl voraus, also « Choose ». Schutz Auswirkungen, trennende und verbindende. Sie bedeutet « Protect », Transzendenz können wir sind überall anzutreffen, wenn auch ungleich mit « Dream » übersetzen und zu guter Letzt verteilt. Diese Tatsache sollte nicht verschwie- fordert die Ausstellung wie die pädagogische gen werden, sie wurde zum Ausgangspunkt der Mappe dazu auf, sich zu erheben und sich für Diskussion. So konnte auch sehr bald die Unter- eine bessere Welt einzusetzen : « Stand Up ! » stützung der Direktion für Entwicklungszusam- menarbeit im Luxemburger Außenministerium Von der Ausstellung zur Mappe gewonnen werden. Die Ausstellung wurde da- Die Grundfragen der Ausstellung üben eine mit zu einem gemeinsamen Projekt der Kultur- existentielle Faszination aus : Wie können wir hauptstadt und der Luxemburger Kooperation. glücklich leben ? Oder noch besser, wie können Aus der ehrgeizigen Idee wuchs ein gewaltiges wir glücklich leben ohne unsere Umwelt zu zer- Projekt des Infragestellens und Gestaltens, an stören und die Existenzrechte der nächsten Ge- dem sich viele Menschen beteiligten. Als zen- nerationen und der Völker ferner Länder aufs trales Thema kristallisierte sich heraus : die Be- Spiel zu setzen ? dürfnisse der Menschen und die Art und Weise, Diese Themen sind nicht neu ! Sie werden in wie sie befriedigt werden. Die Bedürfnisse sind Schulen und von NGOs seit Jahren in Seminaren für alle Menschen die gleichen. Wie ihnen be- und Workshops behandelt. Neu und interessant gegnet wird, ist kulturell unterschiedlich. Was ist die Herangehensweise : Die KonsumentInnen lag da näher, als sich in den Ländern des Südens werden nicht als Schuldige abgestempelt, es nach brauchbaren Ideen umzuschauen ? Fündig wird ihnen vielmehr eine aktive Rolle zugestan- Einführung All We Need : Die Welt der Bedürfnisse
den. Es wird nicht versucht, mit Verhaltensre- reichen pädagogischen Materialien für die Um- geln an das Gewissen und die Einstellungen der setzung des Themas mit 14- bis 25jährigen. BesucherInnen zu appellieren. Mit einer grandi- Wir möchten nicht schließen, ohne uns für die osen Inszenierung werden der Bauch und das uneingeschränkte Unterstützung zu bedanken, Herz angesprochen. Die Emotionen sollen die die wir von den Verantwortlichen des Vereins Vorraussetzung dafür schaffen, sich im Dialog « Luxemburg und Großregion, Europäische Kul- mit sachlichen Fragen auseinander zu setzen. turhauptstadt 2007 » sowie der Direktion für Durch Emotionen entstehen Motivation und Entwicklungszusammenarbeit im Luxemburger Bereitschaft zum Handeln. Dabei verlassen wir Außenministerium erhalten haben. Ohne ihre die lineare, einengende Problemebene, die sich Hilfe wäre unsere Arbeit nicht möglich gewe- immer wieder einstellt, wenn Themen wie Ka- sen. kao, Kleider, Klima, Reisen usw. zur Sprache ge- bracht werden. Diese bereits vielfach behandel- ten entwicklungspolitischen Themen werden in Luxemburg : den Kontext der Suche nach einem glücklichen Action Solidarité Tiers Monde–ASTM Leben gestellt und gewinnen dadurch eine un- Jacqueline Rippert und Birgit Engel geahnte Ganzheit. Conférence Générale de la Dieser Ansatz interessierte auch PädagogInnen Jeunesse Luxembourgeoise aus NGOs und Jugendorganisationen. Mit Be- Sandra Britz geisterung arbeiteten sieben Organisationen Cercle de Coopération des aus Luxemburg, Salzburg und Wien sechs Mo- ONG de Développement nate lang an der Konzeption und Redaktion die- Mike Mathias und Paul Heber ser Mappe. Dabei kam es zu vielen bereichernden Begegnungen, es war ein anspruchvoller, einzig- Salzburg : artiger und manchmal auch ermüdender Pro- Südwind Entwicklungspolitik zess, in dem die Beteiligten ihre Erfahrungen Sonja Schachner und Andrea Rainer zusammenführten, um in diesem Arbeitsmate- KommEnt rial aufblühen zu lassen. Es hat sich gelohnt, die Heidi Grobbauer Wahrnehmung wurde geschärft, die Gedanken- welt erweitert. Das Resultat in Form dieser Map- fairfutures pe und eines LehrerInnenseminars1 wird sicher Jean-Marie Krier noch einige Jahre genutzt werden können. Wien : Die Mappe soll LehrerInnen, Jugendarbeite- BAOBAB Entwicklungspolitische rInnen und MultiplikatorInnen in der Jugend- Bildungs- und Schulstelle und Erwachsenenbildung, die sich mit den Karin Thaler angesprochenen Themen auseinandersetzen wollen, bei ihrer Arbeit unterstützen. Dabei ist ein Besuch der Ausstellung nützlich, aber kei- neswegs Voraussetzung, denn die gestellten Fragen sind universell, Mappe und Arbeitsvor- schläge sind in sich schlüssig : Wie können wir auch mit weniger Konsum glücklich leben ? Wie machen das andere Menschen auf dieser Welt ? Wie können wir die Einsicht gewinnen, dass Bedürfnisse nicht allein durch Güter, sondern mehr noch durch eigenes Tun und menschliche Beziehungen befriedigt werden ? Die Mappe liefert keine fertigen Antworten wie Dosensup- pen, sondern versucht, die « richtigen » Fragen zu stellen, und liefert dazu die Zutaten. Es liegt an uns allen, die Antworten zu finden. Nach einer methodischen und einer wissen- schaftlichen Hinführung zum Thema, bietet die Mappe für jedes der zehn Bedürfnisse ein 1. Ein LehrerInnenseminar führt ebenfalls in die Themen ein. Es wird Kapitel mit einer kurzen Einleitung sowie zahl- vom CITIM-ASTM, BAOBAB und Südwind Salzburg angeboten. Einführung All We Need : Die Welt der Bedürfnisse
Einführung Globales Lernen : ein zukunftsorientiertes Bildungskonzept Der Begriff Globalisierung ist heute gen seines Konsums bedenken, die « richtigen » in aller Munde. Ob es sich dabei um ein neues politischen Entscheidungen treffen, die Konse- Phänomen handelt, und welche Chancen oder quenzen seines Nicht-Handelns abschätzen ? Risiken die Prozesse der Globalisierung für die Und das alles ohne in Resignation oder Lethar- Menschheit bergen, darüber wird intensiv de- gie zu verfallen ? battiert. Globalisierung ist ein sozialer Begriff und nicht eindeutig zu definieren. Er kann un- Herausforderungen für die Pädagogik terschiedlichen politischen Interessen dienen. Eine wesentliche Aufgabe der Pädagogik ist es Für die einen liegt in der Möglichkeit, die ge- heute, junge Menschen zu befähigen, den Aus- samte Welt mit Produkten, Lebensstilen und wirkungen der « Globalisierung » zu begegnen. Werthaltungen zu durchdringen, die große Ver- Bildung ist nicht das Allheilmittel für gesell- heißung. Weltweite Kommunikation, Produkte schaftliche Probleme oder ein Ersatz für Poli- aus fernen Ländern, exotische Destinationen zu tik. Dennoch werden die Herausforderungen an erschwinglichen Preisen – das bildet den Reiz sie immer komplexer. einer « entgrenzten » Welt. Andere wiederum sehen in erster Linie die eigene Welt, die eigene Ausgehend von der entwicklungspolitischen Kultur gefährdet und drängen auf Abgrenzung Bildungsarbeit wurde Anfang der 1990er Jah- und Abschottung. In der global strukturierten re ein pädagogisches Konzept entworfen, das Wirtschaft werden mit dem Verweis auf die Un- den Blick auf die ganze Welt zum Ansatzpunkt abwendbarkeit von Globalisierung Menschen- nimmt : das Globale Lernen. Die weltweiten po- rechte und Errungenschaften wie die Rechte litischen, sozialen, ökonomischen und ökolo- für ArbeitnehmerInnen oder Sozialsysteme in gischen Verflechtungen und Interdependenzen Frage gestellt. erfordern, die Welt als Ganzes zu sehen und Lehren und Lernen danach auszurichten. Der « inflationäre Gebrauch des Begriffes be- deutet aber nicht, dass Globalisierung nur ein Globales Lernen orientiert sich am Leitbild ei- Mythos ist oder ideologisches Blendwerk ».1 ner zukunftsfähigen und nachhaltigen Entwick- Denn Einigkeit herrscht darüber, dass wir uns in lung. Daraus leiten sich inhaltliche Ansprüche einer ökonomischen, politischen und kulturellen ab. Die Hauptthemen sind die « Überlebensfra- Umbruchsituation befinden und das letzte Vier- gen unserer Zeit », die unter der Perspektive tel des 20. Jhs. von zentralen gesellschaftlichen weltweiter Gerechtigkeit betrachtet werden. Veränderungen geprägt war. Und wir sind mit Globales Lernen ist ein integratives Konzept, Risikosituationen konfrontiert, unabhängig da- das Elemente der Umweltbildung, des inter- von, wo wir leben. kulturellen Lernens, der Menschenrechtsbil- All das erzeugt bei vielen Menschen Unsicher- dung und Friedenspädagogik einschließt. Im heit, Orientierungslosigkeit und Resignation. Anschluss an den Weltgipfel für Nachhaltige Wie kann der/die Einzelne den ständigen Verän- Entwicklung in Johannesburg im Jahr 2002 hat derungen gerecht werden, die Flexibilisierung die UNO die Dekade « Bildung für Nachhaltige im Arbeitsleben aushalten, mit der Mobilität Entwicklung » (2005-2014) ausgerufen. Globales umgehen, die ökologischen und sozialen Fol- Lernen und Bildung für nachhaltige Entwick- Einführung All We Need : Die Welt der Bedürfnisse
lung weisen wesentliche Schnittpunkte auf. LehrerInnen und SchülerInnen eigenes weiter- führendes Erforschen zu ermöglichen. Globales Lernen ist kein neues Unterrichts- fach, sondern stellt vielmehr eine fächerüber- Bildung sollte auch Verständnis dafür wecken, greifende Neuorientierung dar. Es erfordert dass es keine einfachen, eindimensionalen Lö- interdisziplinäre Herangehensweisen und eine sungen oder « richtigen » Antworten gibt. Die Vielfalt an Perspektiven. Themen werden aus di- vorliegende Mappe enthält bewusst keine Re- versen Blickwinkeln erschlossen und von unter- zepte für eine « bessere » Welt und bietet keine schiedlichen Interessen geleitete Standpunkte eindeutige Vorschau auf die Zukunft. Sie er- sichtbar gemacht. Globales Lernen fördert laubt eine Vielfalt von thematischen Zugängen das In-Frage-Stellen, die Sichtbarmachung von und die interdisziplinäre Auseinandersetzung Strukturen und die Wahrnehmung der individu- mit Fragestellungen. ellen Verflochtenheit in diesen Strukturen. Vielfalt des selbsttätigen Lernens Die Welt der Bedürfnisse und das Globale Die Mappe bietet Einführungen in die einzelnen Lernen Bedürfnisse als Hintergrundinformation für Globales Lernen bezieht sich auf die Konzepti- LehrerInnen und Bildungsverantwortliche, ge- on der Einen Welt.2 Weil Probleme komplex sind folgt von Arbeitsanregungen sowie ausgearbei- und miteinander vernetzt, macht ein fest umris- teten Arbeitsblättern für SchülerInnen. Sowohl sener Themenkanon wenig Sinn. Heute können die kognitive als auch die emotionale Ebene der beinahe alle Fragen in einen globalen Kontext Jugendlichen wird angesprochen und ein anre- gestellt werden und somit Inhalte des Globalen gendes, selbsttätiges Erarbeiten der Inhalte un- Lernens bilden. terstützt. Die vorliegende Mappe macht die Welt der Be- Globales Lernen will Lernende dazu befähigen, dürfnisse zum Ausgangspunkt für Globales sich heute und morgen in der Weltgesellschaft Lernen. Sie thematisiert ihre kulturell geprägte zu bewegen. Die notwendigen Kompetenzen Befriedigung, den damit verbundenen Ressour- sind auf der fachlichen, methodischen, sozi- cenverbrauch, die Vermarktung nahezu aller Le- alen und persönlichen Ebene angesiedelt. Sie bensbereiche und die Vorherrschaft bestimmter umfassen unterschiedliche Formen der Wis- Lebensstile. Zentrale Aspekte des menschlichen sensaneignung, die Präsentation des erwor- Daseins werden aufgegriffen, Fragen nach Ge- benen Wissens, kommunikative Kompetenzen rechtigkeit und Fairness gestellt. und Teamfähigkeit sowie das Entwickeln und Reflektieren eigener Positionen und Werthal- Mit der Thematisierung von Bedürfnissen wer- tungen. Es wird eine breite Palette von Metho- den die SchülerInnen bei ihren ureigensten den vorgeschlagen. Interessen abgeholt und diese zum Ausgangs- punkt für Lernprozesse gemacht. Individuelle Fördern und Moderieren Erfahrungen und ihre Verortung im lokalen Kon- text sind immer wichtiger Bezugspunkt für Bil- Globales Lernen ist ein anspruchsvolles Kon- dungsprozesse im Sinne des Globalen Lernens. zept für das Unterrichten. Indem es aber davon In der Folge werden Themenbereiche jedoch in ausgeht, dass alle an einem Bildungsprozess unterschiedlichen räumlichen Dimensionen be- Beteiligten Lernende sind, bietet es gleichzei- trachtet. Die Bearbeitung erfolgt sowohl in lo- tig Entlastung. Weil die Komplexität unserer kaler (geografisch und sozial naher) Dimension Lebenszusammenhänge enorm gestiegen ist, als auch in regionaler, nationaler und globaler. gilt es auch zu erkennen, dass wir nicht alles wissen und nicht alles verstehen können. Wir Dabei stellen sich viele Fragen : Was unterschei- müssen akzeptieren, dass es schwierig ist, auf det Bedürfnisse von Wünschen ? Wo bleibt die jede Frage « richtige » Antworten zu finden. Liebe für jene 33 Millionen Kinder, die weltweit Umgang mit Komplexität, mit Nichtwissen und auf der Straße leben ? Warum sollte Freiheit die Unsicherheit – ohne in Resignation zu verfallen Quelle der Verantwortung sein ? Was hat Freiheit – sind daher zentrale Anliegen des Globalen Ler- mit dem Angebot im Supermarkt zu tun ? Von der nens. Dabei sind Lehrkräfte nicht allwissende Eizelle bis zum Sportstar – alles wird vermarktet, Auskunftspersonen. Sie sind vielmehr Modera- wo gibt es « marktfreie » Räume ? Was brauchen torInnen von Bildungsprozessen, die Impulse wir überhaupt, um glücklich zu sein ? Die Map- geben, Fragen herausfordern und zulassen so- pe gibt Anregungen, liefert aber–im Sinne des wie selbständiges Lernen fördern. Globalen Lernens–keine fertigen Antworten, um Grundsätzlich forciert das Globale Lernen fä- Einführung 10 All We Need : Die Welt der Bedürfnisse
cherübergreifenden Unterricht und eine in- tensive, vertiefende Auseinandersetzung mit Themen. Es finden sich in dieser Mappe auch Anregungen für eine längerfristige und vielfäl- tige Behandlung von Fragestellungen, z. B. in Projektwochen. Immer wird eine gewisse Vorbereitung durch Lehrpersonen notwendig sein. Diese kennen die Gruppen, mit denen sie arbeiten wollen, am bes- ten. Nur sie können Vorwissen, Interessen, fach- liche und kommunikative Kompetenzen richtig einschätzen. Und letztlich beurteilen sie, wie die Themen der Mappe in ihre Lehrpläne, Unter- richtsvorhaben und Bildungsarbeit passen. « Wo kämen wir hin, wenn alle sagten, wo kä- men wir hin und niemand ginge, um einmal zu schauen, wohin man käme, wenn man ginge. »3 In diesem Sinne freuen wir uns, wenn sich viele mit der vorliegenden Mappe auf den Weg ma- chen. Wir wünschen allen viel Freude, neue Anre- gungen und interessanten Stoff. Für weiterfüh- rende Informationen und Angebote stehen die HerausgeberInnen der Mappe und zahlreiche weitere zivilgesellschaftliche Organisationen in Luxemburg und Österreich zur Verfügung. 1. Gerald Faschingeder : Globalisierung. In : Baobab (Hrsg.) : Material- mappe Globales Lernen. Theorie, Didaktik, Methoden (Sekundarstufe 1). Wien 2006. 2. Zur Theorie des Globalen Lernens siehe z. B. : Annette Scheunpflug/ Nikolaus Schröck : Globales Lernen. Einfüh- rung in eine pädagogische Konzeption zur entwicklungsbezogenen Bildung. Hrsg. Brot für die Welt, 2002. Helmuth Hartmeyer : Entwicklung in Erfahrung bringen. In : Baobab (Hrsg.) : Materialmappe Globales Lernen. Theorie, Didaktik, Meth- oden (Sekundarstufe 1). Wien 2006, S. 10-14. Weitere Beiträge auf www.globaleducation.at unter Plattform Globales Lernen. 3. Kurt Marti, Schweizer Theologe und Schriftsteller Einführung All We Need : Die Welt der Bedürfnisse 11
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Einführung Die Suche nach dem rechten Maß « Entwicklung bedeutet, seine Bedürf- sere Bedürfnisse befriedigen, auseinander zu nisse täglich besser befriedigen zu können. setzen. Dies hat wenig mit Wirtschaftswachstum zu Die Ideen von Manfred Max-Neef, die dieser tun. Entwicklung ist eine Frage der Lebens- in den 1980er Jahren mit dem Konzept einer qualität, Wachstum ist eine Frage der Quanti- « Entwicklung nach menschlichem Maß » vor- tät. Sehen Sie, alle Lebewesen wachsen bis zu gelegt hat, können dabei behilflich sein. Wenn einem bestimmten Punkt, und dann hören sie das menschliche Maß im Mittelpunkt des Wirt- auf damit. Sie sind gewachsen, ich auch, der schaftens steht und das Optimieren des indivi- Baum draußen ebenfalls, aber irgendwann hö- duellen Glücks, dann reichen die traditionellen ren wir damit auf. Entwicklung aber hört nie Messinstrumente nicht aus. Das BIP misst den auf ! Wir entwickeln uns immer weiter, das ist Verbrauch materieller Güter. Welche Indices eine Frage der Qualität. » messen das damit erreichte Glück ? Der « Index Mit diesen Worten fasst der chilenische Öko- für menschliche Entwicklung » oder der « Hap- nom und Träger des Alternativen Nobelpreises py Planet Index » messen viel differenzierter als Manfred Max-Neef den Widerspruch der moder- die Instrumente der herkömmlichen Volkswirt- nen Wirtschaftspolitik zusammen. Eigentlich schaftstheorie. sollte die Ökonomie das Glück des Menschen Eine offene Frage ist dennoch jene nach der zum Ziele haben, aber es geht in den politischen « globalen menschlichen Gerechtigkeit ». Wohl- Sonntagsreden immer nur um das Wachstum stand lässt sich mit neuen Indices messen, und des Bruttoinlandsproduktes (BIP).1 Diese zen- der Ressourcenverbrauch kann auf ein Mini- trale Größe trägt aber zwei wesentlichen Her- mum reduziert werden. Aber wie kann Chancen- ausforderungen unserer Zeit nicht Rechnung : gleichheit auf Weltebene verwirklicht werden ? dem sich stetig verschlechternden Zustand un- Wie können wir negative soziale Auswirkungen serer natürlichen Umwelt und der wachsenden der Marktwirtschaft international reduzieren ? Ungleichheit in der Verteilung des Reichtums. Dazu fehlt bisher eine verbindliche öffentliche Der « ökologische Fußabdruck », entworfen von Wertediskussion. Auch die Instrumente zur Um- Mathis Wackernagel, misst auf wissenschaft- setzung stecken noch in den Kinderschuhen. liche und zugleich verständliche Art und Weise Trotzdem oder gerade deshalb sollen am Ende die Auswirkungen unseres Wirtschaftens auf dieses Kapitels einige anregende Überlegungen die Umwelt.2 Der Fußabdruck zeigt deutlich, des Wuppertal Institutes für Klima, Umwelt und dass wir, die KonsumentInnen, wesentlich mehr Energie vorgestellt werden. Ressourcen verbrauchen, als die Erde uns zur Verfügung stellt. Wir vergeuden bereits die Welt unserer Kinder und zerstören die natür- 1. Der ökologische Fußabdruck liche Umwelt. Wir nutzen die Ressourcen, als hätten wir vier Ist das, was die Erde für den Menschen bereit Erden ! 3 Dieser Ausspruch bringt auf den Punkt, stellt, zu wenig ? Oder sind vielmehr seine Be- dass die Menschheit derzeit die natürlichen dürfnisse maßlos und unbeherrschbar ? Ist das Kapazitäten der Erde überstrapaziert. Die Kon- der Grund für sein Unvermögen, Lebenszufrie- sumentInnen, vor allem in Europa, Japan und denheit für alle zu maximieren ? Um Antworten Nordamerika, verbrauchen die natürlichen Res- auf diese Fragen zu finden, ist es notwendiger sourcen von vier Erdkugeln. Diese Aussage ist denn je, uns mit der Art und Weise, wie wir un- nicht polemisch, sondern basiert auf einer wis- Einführung All We Need : Die Welt der Bedürfnisse 13
senschaftlichen Berechnung, dem ökologischen del nach den Mengen virtuellen Wassers in Fußabdruck. Die Methode wurde von den beiden den erzeugten Produkten aus.7 Ökonomisch Sozialwissenschaftler Mathis Wackernagel und schwache Staaten können das nicht. Zum Bei- William Rees Anfang der 1990er Jahre entwi- spiel Kenia : Dieses Land « produzierte im Jahr ckelt und wird seither kontinuierlich verfeinert.4 2001 52 Millionen Tonnen Blumen für den euro- Sie ist mittlerweile von den Vereinten Nationen päischen, japanischen und nordamerikanischen anerkannt und gilt als offizieller Indikator zur Markt, während drei Millionen Kenianer unter Überprüfung der Ziele im Rahmen der UN-Bio- Wasserknappheit litten. (...) Die Blumen werden diversitäts-Konvention. Auch die EU nutzt sie vorrangig mit Wasser aus dem See Naivasha als Leitindikator zur Messung der biologischen bewässert, einem ökonomisch und ökologisch Vielfalt. wichtigen Gewässer. Im und um den See leben 350 Vogelarten, Nilpferde, Büffel, Affen und Der ökologische Fußabdruck erfasst, in welchen andere seltene Tiere, und das Wasser dient als Bereichen und wie stark der Mensch die Um- Tiertränke der Massai-Nomaden. Nicht nur die welt belastet. Die Methode ist eine Art « Res- Verknappung des Wassers, auch seine Vergif- sourcenbuchhaltung ». Sie rechnet das Ausmaß tung durch Dünger und Pflanzenschutzmittel der Nutzungen und Belastungen der Natur wie stellt für sie eine Bedrohung dar. Ohne es zu etwa Ackerbau, Energie- oder Holzverbrauch in wissen, schmälern die Blumenliebhaber ferner Flächen um, die notwendig wären, um diese Res- Länder so jenem Teil der lokalen Bevölkerung, sourcen auf erneuerbare Weise bereitzustellen. der nicht an den Erlösen der Blumenproduktion Diese Berechnung macht Sinn, denn die Res- teilhat, die Existenzgrundlage ».8 sourcen sind begrenzt. Es können beispielswei- se nicht mehr Fische gegessen werden, als Meer Ein übergroßer Fußabdruck beeinträchtigt also und Flüsse hergeben. Sind die Fangmengen zu nicht nur die Überlebensfähigkeit zukünftiger groß, regeneriert sich der Bestand nicht mehr. Generationen, sondern hat auch lebensbedro- Heute sind bereits 47% der weltweiten Fischbe- hende Auswirkungen auf Menschen ferner Re- stände überfischt.5 Langfristig gefährdet die gionen. Menschheit ihre Nahrungsquellen, wenn sie nicht nachhaltig wirtschaftet. Virtuelles Wasser ausgewählter Produkte Der ökologische Fußabdruck einer Region, Eine Tasse Kaffee 140 Liter eines Landes oder der ganzen Welt – wird in so 400 g Brot 550 Liter genannten « globalen Hektaren » ausgedrückt : je mehr Hektare, desto stärker ist die Umwelt 1 Liter Milch 1 000 Liter belastet. Gleichzeitig wird die « Biokapazität » 1 kg Reis 3 000 Liter berechnet, das ist die Fähigkeit der Natur, Roh- 1 kg Mais 900 Liter stoffe zu erzeugen und Schadstoffe abzubauen. 1 kg Weizen 1 350 Liter Wenn Fußabdruck und Biokapazität einer Regi- on übereinstimmen, befindet sich diese im Ein- 1 kg Rindfleisch 16 000 Liter 9 klang mit der Tragfähigkeit der Natur ; sie ist nachhaltig. Wenn die Menschen eines Landes Der Fußabdruck Luxemburgs mehr Ressourcen verbrauchen als ihr geogra- Trotz dürftigen Zahlenmaterials ist es Clau- phisches Gebiet ihnen zur Verfügung stellt, im- de Wagner 1999 gelungen,10 den ökologischen portieren sie Rohstoffe aus anderen Regionen. Fußabdruck Luxemburgs genau zu berechnen Der ökologische Fußabdruck gibt auch den Im- und von jenem Belgiens abzukoppeln.11 Bereits port und Export von Naturressourcen relativ 1997 hatte Luxemburg einen ökologischen Fuß- abstrakt in « globalen Hektaren » (gha) wie- abdruck von 7,6 gha pro EinwohnerIn. (Die bi- der. Die politischen und ökonomischen Kon- ologische Kapazität betrug indes nur 1,0 gha sequenzen sind jedoch real und bestimmen pro Person.) Damit benötigt Luxemburg 32.201 mittlerweile die Handelspolitik großer Indus- qkm, also die 12,5fache Fläche des Landes, etwa trienationen. Beispiel hierfür ist das « virtuelle so viel wie Belgien und Luxemburg zusammen ! Wasser ». Dieses wurde Anfang der 1990er Jah- Das zunehmende Missverhältnis zwischen öko- re von J.A. Allan als jenes Wasser definiert, das logischem Fußabdruck und Biokapazität ent- für den gesamten Erzeugungsprozess eines stand Anfang der 1960er Jahre. Es bedeutet, Agrar- oder Industrieprodukts benötigt wird.6 dass der Verbrauch zunehmend durch Import Ökonomisch mächtige Staaten in trockenen von natürlichen Ressourcen und durch Export Regionen richten mittlerweile ihren Agrarhan- von Abfallstoffen wie Kohlendioxid (CO2) ge- Einführung 14 All We Need : Die Welt der Bedürfnisse
steigert wurde. Allein deshalb ist es Luxemburg Der Fußabdruck der Welt möglich, so viel zu konsumieren, ohne das eige- Mit 2,2 gha pro Kopf ist seit Mitte der 1980er ne Naturkapital drastisch zu übernutzen. Jahre der durchschnittliche Fußabdruck deut- Wagners Berechnungen waren wohl derart ab- lich größer als die globale Biokapazität von 1,8 schreckend, dass seither niemand mehr den gha. Zudem ist die Beanspruchung des Naturka- ökologischen Fußabdruck Luxemburgs über- pitals örtlich sehr ungleich verteilt. prüft hat. Eine Schwierigkeit stellt der « Tank- tourismus » dar. In Luxemburg werden etwa 75% Die Länder der nördlichen Hemisphäre verbrau- des Benzins und Diesels an den Grenzen und chen pro Kopf bis zu dreimal mehr Ressour- auf den Autobahnen verkauft.12 Sollen diese cen als ihnen zustehen. Mit 9,5 gha pro Kopf Verkäufe den Luxemburgern angerechnet wer- übertrifft der ökologische Fußabdruck von den, weil sie einen großen Teil ihrer Staatsein- Nordamerika alle anderen Regionen massiv nahmen ausmachen, oder sollen sie im ökolo- und ist zum Beispiel neunmal größer als jener gischen Fußabdruck unberücksichtigt bleiben, von Afrika. Auch der Fußabdruck Westeuropas weil ja die Deutschen, Belgier und Franzosen ist mit 4,8 gha deutlich größer als der globale dieses Benzin verfahren ? Kann der Bauer die Durchschnitt. Die Länder des Südens hingegen Butter verkaufen und sie gleichzeitig essen ? – insbesondere jene auf dem afrikanischen Kon- tinent und in Südostasien – beanspruchen pro Der Fußabdruck Österreichs Kopf zum Teil deutlich weniger Biokapazität als Auch in Österreich ist der Fußabdruck wesent- im weltweiten Durchschnitt verfügbar ist. lich größer als die ökologische Kapazität des Die ökonomische Grenze zwischen Nord und Landes, wenn das Missverhältnis auch nicht Süd hat sich allerdings seit Beginn der 1990er so extrem ist wie in Luxemburg : Er misst 4,9 Jahre verwischt. Zahlreiche Länder des Südens gha.13 Die ökologische Kapazität pro Kopf ist weisen nunmehr zweistellige Wachstumsra- allerdings mit 3,4 gha wesentlich höher als in ten auf, so etwa Energielieferanten (Saudi Luxemburg, da das Land relativ dünn besiedelt Arabien, Venezuela), Hard- und Softwareanbie- ist.14 Somit liegt das ökologische Defizit bei 1,5 ter (Thailand, China, Indien) oder bedeutende gha pro Kopf. Absatzmärkte (Brasilien, China). Mit dem wirt- Hauptverantwortlich für das Missverhältnis schaftlichen Erfolg wächst in diesen Staaten ist in beiden Ländern der Energieverbrauch : die Nachfrage nach Ressourcen und somit der Er macht zwei Drittel des ökologischen Fußab- ökologische Fußabdruck markant. Insbesonde- drucks aus und ist damit weit bedeutender als re der Energiebedarf hat stark zugenommen. In alle anderen Bereiche. Der Energieverbrauch ist den Ländern mit geringem Wachstum steigt er zudem in den letzten Jahrzehnten weitaus am von einem niedrigen Niveau ausgehend hinge- stärksten gewachsen. gen nur langsam. Österreich ist ein gutes Beispiel dafür, dass es Beispielhaft für die Entwicklung der Länder mit zwar Sinn macht vom ökologischen Defizit auf raschem ökonomischem Wachstum stehen die der individuellen Ebene und auf globaler Ebe- bevölkerungsreichen Staaten Indien und China, ne zu sprechen. Die regionalen oder nationalen die zunehmende Mengen an fossilen Brenn- Ebenen sind aber nur bedingt aussagekräftig. und Treibstoffen verbrauchen. Der energetische Es ist das Glück und nicht der Verdienst der Ös- Fußabdruck ist in China und Indien mit 0,7 gha terreicherInnen in einem Land zu leben, welches bzw. 0,3 gha pro Kopf zwar immer noch deutlich dünn besiedelt ist. Selbst wenn Österreich es kleiner als der Weltdurchschnitt von 1,1 gha. Die schaffen würde, seinen nationalen Fußabdruck Wachstumsraten sind allerdings hoch. Seit 1961 bis zu seiner ökologischen Kapazität zu redu- ist der energetische Fußabdruck in beiden Län- zieren, könnte es nicht autark sein. Weltweit dern um das Zehn- bis Zwölffache gewachsen. beträgt die Biokapazität nur 1,8 gha, Österreich Da in Indien und China etwa zwei Fünftel der liegt also eineinhalbmal darüber. Es wäre not- Weltbevölkerung leben, entsteht nicht bloß eine wendig, in Österreich den Fußabdruck auf etwa enorme Nachfrage nach Energie, sondern auch ein Drittel des derzeitigen Standes zu senken. nach anderen Ressourcen. Angesichts dieser Fazit : Das Abenteuer Menschheit können nur Entwicklungen sind enorme globale Anstren- alle Länder gemeinsam bestehen. gungen nötig, um die Ökobilanz auf unserem Planeten nicht noch weiter zu verschlechtern. Einführung All We Need : Die Welt der Bedürfnisse 15
ÖKOLOGISCHER FUSSABDRUCK UND BIOKAPAZITÄT (Ausgabe 2006) Bevölkerung Nationaler Nationale Ökolo- Ökolo- Ökolo- Biokapazi- gisches De- gisches De- gischer tät fizit (-) oder fizit (-) oder Fußabdruck Reserve (+) Reserve (+) im Vergleich im Vergleich zur natio- zur globalen nalen Bioka- Biokapazi- Ausgewählte Länder pazität tät (in Mio.) (global ha/ (global ha/ (global ha/ (global ha/ Person) Person) Person) Person) Welt 6 301,5 2,2 1,8 -0,5 -0,5 Länder mit hohem 955,6 6,4 3,3 -3,1 -4,6 Einkommen Länder mit mittlerem 3 011,7 1,9 2,1 0,2 -0,1 Einkommen Länder mit niedrigem 2 303,1 0,8 0,7 -0,1 1,0 Einkommen Afrika 846,8 1,1 1,3 0,2 0,7 Asien-Pazifik 3 489,4 1,3 0,7 -0,6 0,5 Australien 19,7 6,6 12,4 5,9 -4,8 Bangladesch 146,7 0,5 0,3 -0,2 1,3 China 1 311,7 1,6 0,8 -0,9 0,2 Indien 1 065,5 0,8 0,4 -0,4 1,0 Japan 127,7 4,4 0,7 -3,6 -2,6 Lateinamerika 535,2 2,0 5,4 3,4 -0,2 Argentinien 38,4 2,3 5,9 3,6 -0,5 Bolivien 8,8 1,3 15,0 13,7 0,5 Brasilien 178,5 2,1 9,9 7,8 -0,3 Chile 15,8 2,3 5,4 3,0 -0,5 Naher Osten und Zentralasien 346,8 2,2 1,0 -1,2 -0,4 Nordamerika 325,6 9,4 5,7 -3,7 -7,6 Kanada 31,5 7,6 14,5 6,9 -5,8 Vereinigte Staaten 294,0 9,6 4,7 -4,8 -7,8 Europäische Union (EU25) 454,4 4,8 2,2 -2,6 -3,0 Österreich 8,1 4,9 3,4 -1,5 -3,1 Belgien & Luxemburg 10,8 5,6 1,2 -4,4 -3,8 Tschechische Republik 10,2 4,9 2,6 -2,3 -3,1 Dänemark 5,4 5,8 3,5 -2,2 -4,0 Frankreich 60,1 5,6 3,0 -2,6 -3,8 Deutschland 82,5 4,5 1,7 -2,8 -2,7 Niederlande 16,1 4,4 0,8 -3,6 -2,6 Portugal 10,1 4,2 1,6 -2,6 -2,4 Slovenien 2,0 3,4 2,8 -0,6 -1,6 Restliches Europa 272,2 3,8 4,6 0,8 -2,0 Einführung 16 All We Need : Die Welt der Bedürfnisse
Effizienzphantasien 2. Von Bedürfnissen und ihrer Serge Allegrezza, Direktor des Luxemburger Befriedigung Amtes für Statistik (Statec) meinte im Februar 2007 ! « Es gibt (...) keine Obergrenze für das Was alle Menschen eint Wachstum in unserem Land : Die Technologie Die Frage nach den Bedürfnissen beschäftigt kann viele Flaschenhälse überwinden, und es die Menschen schon sehr lange, dementspre- gibt enorme ungenutzte Flächen in der Groß- chend vielfältig sind die Ideen und Ansätze region, die sehr dünn besiedelt sind. »15 dazu. Bereits bei der Definition stehen sich Wo sind diese ungenutzte Flächen in Luxem- zwei Sichtweisen gegenüber. Für die einen lie- burg zu finden, und wer nutzt sie nicht ? Wieso fern die Bedürfnisse ein Abbild der jeweiligen ist es den Luxemburgern erlaubt, über die Flä- Gesellschaft. Die Luxemburger brauchen Au- chen der Großregion16 zu verfügen ? Auch der tos, weil sie anders ihre Mobilität nicht denken Glaube an ein unbegrenztes Wachstum und die können. Selbstverständlich wissen alle, dass sie Versprechungen der Technologie und ihrer Effi- auch ohne Auto überleben können, aber es wird zienzrevolution mag im Jahre 2007 erstaunen. schwierig, wenn es keinen gut funktionierenden Effizienzsteigerung würde bedeuten, mit der- öffentlichen Nahverkehr gibt. Die indigenen selben Menge Benzin mehr Kilometer zu fahren, Völker des Amazonas brauchen kein Auto, son- weil die Motoren effizienter werden. Erstaunlich dern eher ein Kanu, vor allem aber laufen sie zu ist auf den ersten Blick, dass trotz Effizienz- Fuß. Diese Sichtweise ist nahe liegend, denn auf steigerung der gesamtgesellschaftliche Ener- die Frage « Was brauchen wir zum Leben ? » wür- gieverbrauch steigt und damit der ökologische den die meisten Menschen jene Güter und Men- Fußabdruck seit der Industrialisierung stetig schen nennen, die ihnen am nächsten stehen.22 wächst.17 Der Grund ist folgender : Effizienzver- (➔ Arbeitsblatt 1 : Meine - deine - unsere Be- besserung und Produktivitätssteigerung füh- dürfnisse) ren zu größerer Kaufkraft, was wieder in mehr Für andere DenkerInnen sind Bedürfnisse die Konsum mündet.18 Der Begriff der Freiheit wird fundamentalen Merkmale des Mensch-Seins. nahezu mit einer « Pflicht » zum Konsumieren Bedürfnisse richten sich nicht nach dem je- verbunden, und das Selbstwertgefühl vieler weiligen Wertesystem, auch nicht nach dem Menschen scheint von der Art und Menge der natürlichen Umfeld, den sozialen Strukturen gekauften Produkte und Dienstleistungen ab- oder dem Stand der technischen Entwicklung. hängig zu sein.19 « Ich konsumiere, also bin ich. » Bedürfnisse sind das, was zutage tritt, wenn Tatsache ist, dass jedes Jahr die Zahl der verkauf- wir das menschliche Verhalten unabhängig von ten Autos, Kühlschranke, DVD-Players, Kleider, der Kultur, dem Glauben, der Rasse, der Sprache, Schuhe… steigt und die meisten Menschen sich dem Alter oder dem Geschlecht betrachten.23 diesem Konsum-Karussell nur schwer entziehen Bedürfnisse sind relativ einfach von Wünschen können. Ein frappierendes Beispiel führte Man- zu unterscheiden : Das systematische und dau- fred Linz vom Wuppertal Institut vor : Der VW- erhafte Nicht-Befriedigen eines Bedürfnisses Käfer aus dem Jahre 1955 wog 730 kg, hatte 30 führt zu fortschreitender Krankheit, das Nicht- PS, fuhr 110 km/h und verbrauchte 7,5 Liter auf Befriedigen eines Wunsches führt im schlimms- 100 Kilometer. Der VW-Beetle 50 Jahre später ten Fall zur Frustration. Bedürfnisse können wog 1200 kg, hatte 75 PS, fuhr 160 km/h schnell weder willentlich gesteuert noch unterdrückt und verbrauchte 7,1 Liter Benzin auf 100 Kilome- werden. Weil Bedürfnisse notwendigerweise ter. Der Effizienzgewinn war also nicht größer befriedigt werden müssen, gehören sie zu den als 1 % pro Jahrzehnt.20 mächtigsten Quellen menschlicher Motivation. Selbstverständlich muss die Suche nach ef- Diese beiden Sichtweisen schließen einander fizienteren Wegen der Ressourcennutzung aber keineswegs gegenseitig aus, sie ergänzen weiter gehen.21 Aber wir müssen auch darauf einander zu einer außerordentlich spannenden achten, dass das Einsparpotential nicht durch Geschichte. Nur muss man sich immer vor Au- vermehrtes Konsumieren buchstäblich zum gen halten, ob von Bedürfnissen oder von Wün- Schornstein hinaus geht. Bleibt die Frage : Was schen gesprochen wird. Für die Zwecke dieser ist das rechte Maß für des Menschen Glück ? Mappe wird angenommen, dass Bedürfnisse allen Menschen unabhängig ihrer Kultur und Umwelt gemein sind. Einführung All We Need : Die Welt der Bedürfnisse 17
Die Maslowsche Bedürfnispyramide 2WS ASZPabdS`eW`YZWQVc\U( 6SWbS`YSWb4`Sc\RZWQVYSWb ;cb3V`ZWQVYSWb:WSPS5bS 2WSES`baQVwbhc\Ua c\R5SZbc\UaPSR`T\WaaS( ASZPabPSecaabaSW\:SWabc\U9][^SbS\h >`SabWUSAbObca@cV[;OQVb 2WSHcUSV`WUYSWbac\R:WSPSaPSR`T\WaaS( :WSPS4`Sc\RaQVOTb5SP]`US\VSWb 2WSAWQVS`VSWbaPSR`T\WaaS(C\dS`aSV`bVSWbRSa9`^S`a =`R\c\UAQVcbhd]\9`^S`c\R3WUS\bc[ 2WS^VgaW]Z]UWaQVS\0SR`T\WaaS(6c\US`2c`abc\RASfcOZWbwb Die ersten vier Bedürfnis-Ebenen nennt Maslow « Defizitbedürfnisse ». Ihre Nichtbefrie- digung hat auf lange Sicht negative Folgen für die Person zur Konsequenz. Maslow geht davon aus, dass Bedürfnisse der höheren Ebene erst in der späteren Entwicklung des Men- schen entstehen. Kleinkinder hätten demnach keine Wertschätzungs- und Geltungsbedürf- nisse. Höhere Bedürfnisse könnten bei einigen Menschen auch vollständig fehlen. Macht eine Hierarchie Sinn ? leitung für Politik und Sozialarbeit entworfen. Seine Botschaft lautet : Kümmert euch erst um Sie steht bei fast allen Psychologiestuden- die physiologischen Bedürfnisse der Menschen, tInnen auf dem Programm der ersten Semes- erst wenn diese befriedigt sind, darf Sozialpoli- terstunden. Die Bedürfnispyramide wurde vom tik auch auf andere Bereiche einwirken. US-amerikanischen Psychologen Abraham Mas- low 1954 entwickelt. Eine Hierarchisierung der Bedürfnisse findet sich bis weit in die 1970er Jahre auch bei an- Nach Maslow24 wird der Mensch in seinem Ver- deren TheoretikerInnen. So unterscheidet der halten von hierarchisch strukturierten Bedürf- Chemiker und Ökonom Mario Kamenetzky zwi- nissen geleitet. Instinktiv sucht der Mensch alle schen den « biologischen Bedürfnissen » (Sexu- seine Bedürfnisse zu befriedigen, dabei sind je- alität, Bewegung, Schlaf, Nahrung und Verdau- doch die existentiellen Bedürfnisse an der Basis ung), den « bio-psychologischen Bedürfnissen » der Pyramide stärker als alle anderen und drän- (Kleidung, Wohnung, Schutz von Körper und gen sich auf. An der Spitze steht das Bedürfnis Geist), den « psychologischen Bedürfnissen » nach Selbstverwirklichung, das aber erst dann (Verstehen, Dialog mit dem Geist, Muße) und in das Blickfeld des Individuums rückt, wenn den « sozio-kulturellen Bedürfnissen » (intel- alle grundlegenderen Bedürfnisse befriedigt lektuelle und emotionale Kommunikation, Au- wurden. tonomie und Partizipation).25 Auch bei Kame- Maslows Bedürfnispyramide wird oft wegen ih- netzky bauen die Bedürfnisebenen aufeinander rer schematischen Sicht auf komplexes mensch- auf, allerdings betont er das soziale Wesen des liches Verhalten kritisiert. Vielen leuchtet auch Menschen : « Ohne (seinen Diener) Freitag wäre nicht ein, dass der Wunsch nach Selbstver- Robinson nicht wieder zu einem vollständigen wirklichung erst an letzter Stelle kommen soll. Menschen geworden. » Für Kamenetzky müs- Dies steht in eklatantem Widerspruch zu Erfah- sen alle Ebenen der menschlichen Bedürfnisse rungen von SozialarbeiterInnen, die auch bei erfüllt sein, damit der Mensch zum Menschen armen sozialen Schichten ein starkes Bedürfnis wird. nach Anerkennung und Selbstverwirklichung Als Mario Kamenetzky dies schrieb, hatte Latein feststellen. Maslow wollte jedoch mit seiner amerika bereits zwei Dekaden der Allianz für Theorie weniger die Motivation von Menschen den Fortschritt hinter sich, die Präsident Ken- erklären. Er hat sie vielmehr als Handlungsan- nedy bei seinem Amtsantritt 1961 ausgerufen Einführung 18 All We Need : Die Welt der Bedürfnisse
hatte, um Lateinamerika mehr « Entwicklung » nie mehr befriedigen. zu bringen und es dadurch vor dem Virus des Unterentwicklung als Bewusstseinsform ist Kommunismus zu bewahren. Die Völker Süd- eine extreme Form dessen, was wir mit Marx und Mittelamerikas waren in den 1960er und und Freud gleichermaßen ‘Verdinglichung’ 1970er Jahren mit Entwicklungshilfe und Pro- nennen können : Die Wahrnehmung echter Be- jekten überschüttet worden, die den « American dürfnisse verhärtet sich zur Nachfrage nach way of life » fördern sollten. Kennedy entdeckte Erzeugnissen der Massenproduktion. Ich mei- die (materielle) Armut und mit ihr den seiner ne die Umwandlung von Durst in ein Verlan- Meinung nach wichtigsten Grund für soziale gen nach Coca-Cola. Solche Verdinglichung Unzufriedenheit und politische Instabilität. In vollzieht sich bei der Manipulation mensch- der Folge nahm der « entwickelte » Westen den licher Urbedürfnisse durch riesige Bürokra- Rest der Welt fast ausschließlich durch die Bril- tien, denen es gelungen ist, die Phantasie po- le von Armut und ihrer Bekämpfung wahr. tentieller Verbraucher zu beherrschen (...) Die Entwicklung von Bedürftigkeit intensive Förderung des Schulwesens führt zu einer so weitgehenden Identifizierung von Ivan Illich, amerikanischer röm.kath. Theologe Schulbesuch und Bildung, dass die beiden Be- mit österreichischen Wurzeln, der lange in Me- griffe im täglichen Sprachgebrauch auswech- xiko gearbeitet hat, kritisierte diesen Ansatz selbar werden. » als « geplante Armut ». 1969 schreibt er in einem Aufsatz : 26 27 Entwicklung nach menschlichem Maß « Heute verpassen reiche Nationen den armen Bereits 1960 haben die Vereinten Nationen die Nationen aus Wohlwollen eine Zwangsjacke erste « Dekade der Entwicklung » ausgerufen. aus Verkehrstauungen, Krankenhausaufent- Sie ist gescheitert, wie weitere Dekaden auch. halten und Klassenzimmern und nennen das Die Armen wurden ärmer, die Reichen reicher. nach internationalem Übereinkommen ‘Ent- Lateinamerika etwa ist Anfang der 1970er Jahre wicklung’. Lateinamerikanische Ärzte erhal- in eine tiefe politische und ökonomische Krise ten im New Yorker Krankenhaus für Spezial- geschlittert. Gleichzeitig entstanden viele In chirurgie eine Ausbildung, die sie nur wenigen stitute zur Erforschung von Alternativen, sei es zugute kommen lassen, während in Slums, in der Landwirtschaft, der Pädagogik oder der wo 90 Prozent der Bevölkerung wohnen, die Ökonomie.28 Eines dieser Zentren hat Manfred Amöbenruhr endemisch bleibt. Jedes Auto, Max-Neef ab 1983 mit dem Preisgeld des Alter- das Brasilien auf die Strasse schickt, versagt nativen Nobelpreises aufgebaut. Am CEPAUR- fünfzig Menschen ein gutes Autobusnetz. (...). Institut (Centro de Estudio y Promoción de Jeder Dollar, der in Lateinamerika für Ärzte Asuntos Urbanos y Rurales) vertiefte er die be- und Krankenhäuser ausgegeben wird, kostet reits in den 1970er Jahren formulierte Theorie (...) hundert Menschenleben. Hätte man jeden der « Entwicklung nach menschlichen Maß ». Dollar für die Bereitstellung unschädlichen Für Manfred Max-Neef sind alle menschlichen Trinkwassers ausgegeben, so hätte man hun- Bedürfnisse in einem komplexen System mit- dert Menschen das Leben retten können. » einander verbunden.29 Bis auf die Subsistenz (das Bedürfnis nach Überleben) gibt es keine Illich stellt fest, dass sich die Kluft zwischen Hierarchie, alle Bedürfnisse suchen gleichzei- den Reichen und der Masse der Bevölkerung tig nach Befriedigung und ergänzen einander. verbreitert, während gleichzeitig in den meisten Menschliche Handlungen lassen sich in den sogenannten Entwicklungsländern Einkommen, seltensten Fällen durch ein einzelnes Bedürfnis Wohlstand und Verbrauch wachsen. erklären. « Aber Unterentwicklung (ist) auch ein Geistes Bedürfnisse lassen sich nach vielen Kriterien zustand.. (Als solcher tritt sie) dann auf, wenn ordnen, Max-Neef schlägt vor, es bei zwei Ein- die Bedürfnisse der Massen umgewandelt teilungen zu belassen. Einerseits definiert er werden in Nachfrage nach neuen Marken ab- die existentiellen Bedürfnisse : Sein, Haben, Tun gepackter Lösungen, die für die Mehrheit im- und Befinden (siehe weiter unten). Andererseits mer unerreichbar bleiben (...) Die herrschenden die Bedürfnis-Kategorien : Gruppen in diesen Ländern bauen Dienstleis- ➔ Subsistenz und die Erhaltung unseres Le- tungsbetriebe auf, die für eine Wohlstandsge- bens durch Nahrung, Kleider, Wohnung, Um- sellschaft entworfen wurden ; haben sie erst welt usw ; einmal die Nachfrage dergestalt monopoli- siert, können sie die Bedürfnisse der Mehrheit ➔ Schutz, Geborgenheit, Sicherheit und Ver- Einführung All We Need : Die Welt der Bedürfnisse 19
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