Die Welt der Bedürfnisse - Eine pädagogische Mappe

 
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Die Welt der Bedürfnisse
Eine pädagogische Mappe
Inhaltsverzeichnis
       5       Einführung
                 5    Wir brauchen vier Welten
                 7    Die Welt der Bedürfnisse
                 9    Globales Lernen : ein zukunftsorientiertes Bildungskonzept
                13    Die Suche nach dem rechten Maß

               29     Arbeitsblatt 1 : Meine ­— deine — unsere Bedürfnisse
               30     Arbeitsblatt 2 : Glückliches Leben
               32     Arbeitsblatt 3 : Ich kaufe, also bin ich
               33     Arbeitsblatt 4 : Haben oder Sein
               34     Arbeitsblatt 5 : Happy Planet Index

     37        Subsistenz / Survive
               44     Arbeitsblatt 1 : Über-Leben hier und anderswo
               45     Arbeitsblatt 2 : Gerechte Ressourcenverteilung ?
               46     Arbeitsblatt 3 : Die Überfischung der Meere
               47     Arbeitsblatt 4 : Zerstörung des Regenwalds
               48     Arbeitsblatt 5 : Ausbeutung von Rohstoffen : Erdöl
               49     Arbeitsblatt 6 : Millennium Development Goals

      51       Schutz / Protect
               56     Arbeitsblatt 1 : Gerecht – gleich – fair
               57     Arbeitsblatt 2 : Stellung beziehen
               59     Arbeitsblatt 3 : Soziale Gerechtigkeit — Grundeinkommen
               61     Arbeitsblatt 4 : Die Kinder von Don Quichotte
               63     Arbeitsblatt 5 : Die betrogene Generation ?
               64     Arbeitsblatt 6 : HIV/Aids weltweit
               65     Arbeitsblatt 7 : Menschenrechte versus Eigentumsrechte
               67     Arbeitsblatt 8 : Der Prozess — Südafrika 2001

     69        Liebe / Love
               74     Arbeitsblatt 1 : Liebe ist...
               76     Arbeitsblatt 2 : Afrika und seine Bodenschätze
               78     Arbeitsblatt 3 : « Blood Diamonds »
               81     Arbeitsblatt 4 : Liebe und Geborgenheit
               82     Arbeitsblatt 5 : Tsotsi — junge Kriminelle am Rande einer Gesellschaft
               84     Arbeitsblatt 6 : Madonna und ihre Kinder

     85        Verstehen / Understand
               91     Arbeitsblatt 1 : Zur Vergänglichkeit von Wissen
               92     Arbeitsblatt 2 : Bilder über die Welt — Weltbilder
               94     Arbeitsblatt 3 : Computer für alle !
               95     Arbeitsblatt 4 : Der Kontext zählt
               96     Arbeitsblatt 5 : Typisch Schina

    Inhalt
   All We Need : Die Welt der Bedürfnisse
99    Partizipation / Stand Up !
      105     Arbeitsblatt 1 : Demokratie – Was ist das ?
      106     Arbeitsblatt 2 : Wir machen Politik
      107     Arbeitsblatt 3 : Der Europarat und die Jugend
      108     Arbeitsblatt 4 : Politische Streitkultur
       110    Arbeitsblatt 5 : Zivilgesellschaftliches Engagement
        111   Arbeitsblatt 6 : NGOs — TrägerInnen und AkteurInnen von Zivilgesellschaft
       113    Arbeitsblatt 7 : Aktiv für das « Raumschiff Erde »

119   Muße / Relax
      125     Arbeitsblatt 1 : Ach du liebe Zeit !
      126     Arbeitsblatt 2 : Arbeit ist das halbe Leben ?
      127     Arbeitsblatt 3 : Arbeit(s)los
      128     Arbeitsblatt 4 : Von unseren Träumen und Sehnsüchten — Urlaub
      129     Arbeitsblatt 5 : Auf der Suche nach...

131   Kreatives Schaffen / Create
      136     Arbeitsblatt 1 : Kreatives Schaffen und Kunst
      137     Arbeitsblatt 2 : Erfindungen und ihre Folgen
      138     Arbeitsblatt 3 : Ist Kreatives Schaffen immer positiv ?
      139     Arbeitsblatt 4 : Müll vermeiden : Zero Emission-Konzept
       141    Arbeitsblatt 5 : Jeder kann kreativ sein
      142     Arbeitsblatt 6 : Aus dem Leben etwas Schönes machen

143   Identität / Belong
      148     Arbeitsblatt 1 : Ich bin Ich
      149     Arbeitsblatt 2 : Ich — Du — Wir
      150     Arbeitsblatt 3 : Die zweite Haut
       151    Arbeitsblatt 4 : Fair geshoppt ist halb gewonnen ?
      152     Arbeitsblatt 5 : Idole und Ideale

153   Freiheit
      158     Arbeitsblatt 1 : Freiheit allgemein
      159     Arbeitsblatt 2 : Informations- und Pressefreiheit
      160     Arbeitsblatt 3 : Freiheit in der Marktwirtschaft
       161    Arbeitsblatt 4 : Werbung – die geheime Verführung ? !
      162     Arbeitsblatt 5 : Die Freiheit von Bill Gates & Co.

163   Transzendenz
      169     Arbeitsblatt 1 : Über die Natur
      170     Arbeitsblatt 2 : Unsterblichkeit
       171    Arbeitsblatt 3 : Zukunft gestalten : Versprechungen
      172     Arbeitsblatt 4 : Erwartungen einst und jetzt
      173     Arbeitsblatt 5 : Gott in der EU-Verfassung ?
      174     Arbeitsblatt 6 : Zukunft erträumen

175   Anhang
      175     Abkürzungen
      176     Organisationen – Kurzvorstellung
      179     Impressum

                                                                                                 Inhalt
                                                                    All We Need : Die Welt der Bedürfnisse   

Einführung

                             Wir brauchen
                             vier Welten
        Von den 6,4 Milliarden Menschen zählt        sourcen aufgebraucht, die bis Ende Dezember
derzeit ein Viertel zur « globalen Konsumen-         reichen sollten. Ab dem Zeitpunkt werden die
tenklasse », das sind 1,7 Milliarden Verbrauche-     Ressourcen des nächsten Jahres verprasst. So
rInnen.                                              geraten wir immer tiefer in die Verschuldung.
Ein/e KonsumentIn verfügt über mindestens            KreditgeberInnen sind die nachfolgenden Gene-
7 000 Euro Jahreseinkommen, das ist in etwa          rationen und jene Menschen, die bereits heute
die Armutsgrenze in Westeuropa. Als Konsu-           die negativen Folgen des Klimawandels tragen
mentIn zu leben bedeutet, sich alles, was man        müssen.
zum Leben braucht, zu kaufen, egal ob im Su-
permarkt oder im Laden an der Ecke. Nur in Aus-      Die Gerechtigkeit
nahmefällen produziert der/die KonsumentIn           Dies ist der andere Punkt : Gerechtigkeit wür-
etwas selbst.                                        de erfordern, dass wir die Rechte der nachfol-
Die Hälfte der KonsumentInnen lebt in Europa,        genden Generationen achten genauso wie die
in den USA und in Japan. Das heißt, die andere       Rechte jener, die nicht zur Konsumentenklasse
Hälfte lebt in der südlichen Hemisphäre, in je-      zählen. Das sind 4,5 Milliarden Menschen, also
nen weniger industrialisierten Ländern also, die     drei Viertel der Weltbevölkerung. Sie leben in
wir gerne als Dritte Welt, Entwicklungsländer        kleinräumigen Ökonomien, und zwar direkt von
oder Schwellenländer bezeichnen. Überall auf         jenen Früchten, die ihre Felder, Seen, Meere und
der Welt entstehen Inseln des Konsums inmit-         Wälder hergeben. Da sie wegen Geldmangels
ten sich ausbreitender materieller Armut. Das        am Bruttoinlandsprodukt nicht teilhaben, bleibt
ist eine neue Situation, die sich zudem rapide       ihnen unsere Wachstumsgläubigkeit fremd.
entwickelt.1                                         Umso mehr sind sie am Brutto-Naturprodukt
                                                     interessiert. Sie müssen aber erleben, dass sich
KonsumentInnen zeichnen sich dadurch aus,            dieses kontinuierlich verringert und sich ihr
dass sie viel Fleisch essen, viele elektrische Ap-   natürlicher Lebensraum verschlechtert. Die Ein-
parate nutzen und dank dem Einsatz von Autos         wohnerInnen des Nigerdeltas etwa sterben an
und Motorrädern mobil sind.2 Durch diesen Le-        den ökologischen, sozialen und politischen Fol-
bensstil konsumieren die VerbraucherInnen,           gen der Erdölförderung in ihrem Land. Das Erd-
die nur 27% der Weltbevölkerung ausmachen,           öl verbrauchen andere. Die Bevölkerung Tuvalus,
80% der Naturressourcen, die eigentlich für alle     einer Inselgruppe im Pazifik, muss ihre Heimat
Menschen zur Verfügung stehen. Daraus re-            verlassen, weil das steigende Meer — Folge des
sultieren zwei grundlegende Bedrohungen für          Klimawandels — sie überschwemmen wird. Die
unsere Zukunft, die im Zentrum dieser pädago-        schädlichen Abgase aber produzieren die Autos
gischen Mappe stehen.                                der KonsumentInnen. Die Fischer an der West-
                                                     küste Afrikas flüchten nach Europa, weil ihre
Die Nachhaltigkeit                                   Netze leer bleiben. Ihre Fischgründe haben In-
Zum einen ist dieser Lebensstil nicht nachhal-       dustrieschiffe aus fernen Ländern geleert.
tig. Wir bräuchten vier Erden, um den derzei-
tigen Ressourcenverbrauch auf alle Menschen          Etwas Neues im Westen ?
ausdehnen zu können. Wie uns der ökologische         Eines ist gewiss : Der Lebensstil der Konsu-
Fußabdruck vorrechnet,3 hat die Menschheit be-       mentInnen lässt sich nicht auf die gesamte
reits am 9. Oktober eines jeden Jahres jene Res-     Menschheit ausdehnen. Er kann nicht einmal

                                                                                                  Einführung
                                                                             All We Need : Die Welt der Bedürfnisse   
für jene erhalten bleiben, die jetzt in der Kon-
               sumwelt leben. Was ist zu tun ? Es gibt zwei
               Wege. Entweder wir beharren auf einem Le-
               bensstil, der uns die Erde untertan macht — und
               damit die Mehrheit der Erdbevölkerung — ein.
               Die Folgen sollten uns bewusst sein : Wir wer-
               den den Rest unseres Lebens damit verbringen,
               Mauern zu bauen, um jene fernzuhalten, die wir
               von unserem materiellen Wohlstand ausschlie-
               ßen. Zudem wird immer mehr Zeit und Geld nö-
               tig sein, um unsere Umwelt so gut es geht wie-
               der instand zu setzen.
               Es gibt eine andere Möglichkeit. Wir können
               versuchen, ein neues gesellschaftliches Leitbild
               aufzubauen : glücklich zu leben ohne unsere
               Bedürfnisse durch den exzessiven Verbrauch
               von Gütern zu betäuben ; tätig einen Wohlstand
               aufzubauen, der gerecht bleibt und die ökolo-
               gischen Reserven unseres Planeten respektiert.
               Es könnte spannend sein, sich auf die Suche
               nach dem rechten Maß zu begeben. Es geht dar-
               um, Wege zu finden, die uns von dem Diktat der
               ökonomischen Unvernunft befreien und vom
               Drang nach immer mehr und immer Neuem.
               Dann könnten wir das Recht zurückerobern das
               zu genießen, was wir bereits haben.

               1. Gardner, Gary / Assadourian, Erik / Sarin, Radhika : Zum gegen-
                  wärtigen Stand des Konsums, in Zur Lage der Welt 2004 Die Welt des
                  Konsums, Hrsg.. v. Worldwatch Institute / Heinrich-Böll-Stiftung /
                  Germanwatch, Westfälisches Dampfboot, 2004
               2. Sachs, Wolfgang / Santarius, Tilman : Der Aufstieg der transnation-
                  alen Verbraucherklasse, in Martin Khor / u.a. Konsum. Globalisier-
                  ung. Umwelt, Das Buch zum zweiten Kongress von Attac, Bund und
                  Greenpeace, vsa, 2005
               3. Berechnungen der New Economics Foundation London basierend
                  auf dem ökologischen Fußabdruck : http://www.neweconomics.
                  org/gen/ecologicaldebt091006.aspx

    Einführung
   All We Need : Die Welt der Bedürfnisse
Einführung

                             Die Welt
                             der Bedürfnisse
         Migration und Begegnung ist das             wurde man bei Manfred Max-Neef. Der chile-
zentrale Anliegen des Kulturjahres 2007 in           nische Ökonom hat eine Matrix der Bedürfnisse
Luxemburg. Anfang des Jahres 2005 beschlos-          entwickelt, die zu weiteren Auseinandersetzung
sen die Organisatoren, das heißt der Verein          mit dem Thema anregt. Mathis Wackernagel
« Luxemburg und Großregion, Europäische Kul-         macht mit dem sogenannten ökologischen
turhauptstadt 2007 », eine Ausstellung in Auf-       Fußabdruck deutlich, dass die natürlichen Res-
trag zu geben, die einen etwas anderen Blick         sourcen begrenzt sind. Die Ausstellung « All We
auf dieselben Themen werfen sollte : Welche          Need » verbindet diese Ansätze zu einer faszi-
Begegnungen gibt es weltweit über die Migra-         nierenden Entdeckungsreise durch das ewige
tion hinaus zwischen den Kulturen des Nordens        menschliche Streben nach universellem Glück.
und des Südens, des Westens und des Ostens ?
                                                     Was wir heute brauchen sind alternative Kon-
Durch welche unsichtbaren kulturellen und ma-
                                                     zepte und Ideen für ein Leben, das den Genuss
teriellen Beziehungen sind die Menschen in der
                                                     bejaht ohne dabei die Erde und ihre Menschen
Globalisierung mit einander verbunden ? Was
                                                     zu opfern. Die Matrix der Bedürfnisse wurde
haben sie überhaupt gemein, und was trennt
                                                     erweitert und für die moderne Welt übersetzt :
sie ?
                                                     Aus Subsistenz wurde « Survive », aus Liebe
Bei den Vorbereitungen zu dieser Ausstellung         wurde « Love », aus Identität « Belong », aus
wurde schnell klar, dass das moderne Kaufan-         Muße « Relax ». Kreatives Schaffen nennt sich
gebot – zumindest jenes in den Supermärkten          in der Ausstellung kurz und bündig « Create »,
– ein enges Netz der Waren- und Geldströme           das Bedürfnis nach Verstehen ebenso einfach
über den gesamten Erdball geknüpft hat. Diese        « Understand ». Freiheit setzt immer die Mög-
Zusammenhänge haben positive und negative            lichkeit der Wahl voraus, also « Choose ». Schutz
Auswirkungen, trennende und verbindende. Sie         bedeutet « Protect », Transzendenz können wir
sind überall anzutreffen, wenn auch ungleich         mit « Dream » übersetzen und zu guter Letzt
verteilt. Diese Tatsache sollte nicht verschwie-     fordert die Ausstellung wie die pädagogische
gen werden, sie wurde zum Ausgangspunkt der          Mappe dazu auf, sich zu erheben und sich für
Diskussion. So konnte auch sehr bald die Unter-      eine bessere Welt einzusetzen : « Stand Up ! »
stützung der Direktion für Entwicklungszusam-
menarbeit im Luxemburger Außenministerium            Von der Ausstellung zur Mappe
gewonnen werden. Die Ausstellung wurde da-           Die Grundfragen der Ausstellung üben eine
mit zu einem gemeinsamen Projekt der Kultur-         existentielle Faszination aus : Wie können wir
hauptstadt und der Luxemburger Kooperation.          glücklich leben ? Oder noch besser, wie können
Aus der ehrgeizigen Idee wuchs ein gewaltiges        wir glücklich leben ohne unsere Umwelt zu zer-
Projekt des Infragestellens und Gestaltens, an       stören und die Existenzrechte der nächsten Ge-
dem sich viele Menschen beteiligten. Als zen-        nerationen und der Völker ferner Länder aufs
trales Thema kristallisierte sich heraus : die Be-   Spiel zu setzen ?
dürfnisse der Menschen und die Art und Weise,        Diese Themen sind nicht neu ! Sie werden in
wie sie befriedigt werden. Die Bedürfnisse sind      Schulen und von NGOs seit Jahren in Seminaren
für alle Menschen die gleichen. Wie ihnen be-        und Workshops behandelt. Neu und interessant
gegnet wird, ist kulturell unterschiedlich. Was      ist die Herangehensweise : Die KonsumentInnen
lag da näher, als sich in den Ländern des Südens     werden nicht als Schuldige abgestempelt, es
nach brauchbaren Ideen umzuschauen ? Fündig          wird ihnen vielmehr eine aktive Rolle zugestan-

                                                                                                  Einführung
                                                                             All We Need : Die Welt der Bedürfnisse   
den. Es wird nicht versucht, mit Verhaltensre-       reichen pädagogischen Materialien für die Um-
               geln an das Gewissen und die Einstellungen der       setzung des Themas mit 14- bis 25jährigen.
               BesucherInnen zu appellieren. Mit einer grandi-
                                                                    Wir möchten nicht schließen, ohne uns für die
               osen Inszenierung werden der Bauch und das
                                                                    uneingeschränkte Unterstützung zu bedanken,
               Herz angesprochen. Die Emotionen sollen die
                                                                    die wir von den Verantwortlichen des Vereins
               Vorraussetzung dafür schaffen, sich im Dialog
                                                                    « Luxemburg und Großregion, Europäische Kul-
               mit sachlichen Fragen auseinander zu setzen.
                                                                    turhauptstadt 2007 » sowie der Direktion für
               Durch Emotionen entstehen Motivation und
                                                                    Entwicklungszusammenarbeit im Luxemburger
               Bereitschaft zum Handeln. Dabei verlassen wir
                                                                    Außenministerium erhalten haben. Ohne ihre
               die lineare, einengende Problemebene, die sich
                                                                    Hilfe wäre unsere Arbeit nicht möglich gewe-
               immer wieder einstellt, wenn Themen wie Ka-
                                                                    sen.
               kao, Kleider, Klima, Reisen usw. zur Sprache ge-
               bracht werden. Diese bereits vielfach behandel-
               ten entwicklungspolitischen Themen werden in         Luxemburg :
               den Kontext der Suche nach einem glücklichen         Action Solidarité Tiers Monde–ASTM
               Leben gestellt und gewinnen dadurch eine un-         Jacqueline Rippert und Birgit Engel
               geahnte Ganzheit.                                    Conférence Générale de la
               Dieser Ansatz interessierte auch PädagogInnen        Jeunesse Luxembourgeoise
               aus NGOs und Jugendorganisationen. Mit Be-           Sandra Britz
               geisterung arbeiteten sieben Organisationen          Cercle de Coopération des
               aus Luxemburg, Salzburg und Wien sechs Mo-           ONG de Développement
               nate lang an der Konzeption und Redaktion die-       Mike Mathias und Paul Heber
               ser Mappe. Dabei kam es zu vielen bereichernden
               Begegnungen, es war ein anspruchvoller, einzig-      Salzburg :
               artiger und manchmal auch ermüdender Pro-            Südwind Entwicklungspolitik
               zess, in dem die Beteiligten ihre Erfahrungen        Sonja Schachner und Andrea Rainer
               zusammenführten, um in diesem Arbeitsmate-
                                                                    KommEnt
               rial aufblühen zu lassen. Es hat sich gelohnt, die
                                                                    Heidi Grobbauer
               Wahrnehmung wurde geschärft, die Gedanken-
               welt erweitert. Das Resultat in Form dieser Map-     fairfutures
               pe und eines LehrerInnenseminars1 wird sicher        Jean-Marie Krier
               noch einige Jahre genutzt werden können.             Wien :
               Die Mappe soll LehrerInnen, Jugendarbeite-           BAOBAB Entwicklungspolitische
               rInnen und MultiplikatorInnen in der Jugend-         Bildungs- und Schulstelle
               und Erwachsenenbildung, die sich mit den             Karin Thaler
               angesprochenen Themen auseinandersetzen
               wollen, bei ihrer Arbeit unterstützen. Dabei ist
               ein Besuch der Ausstellung nützlich, aber kei-
               neswegs Voraussetzung, denn die gestellten
               Fragen sind universell, Mappe und Arbeitsvor-
               schläge sind in sich schlüssig : Wie können wir
               auch mit weniger Konsum glücklich leben ? Wie
               machen das andere Menschen auf dieser Welt ?
               Wie können wir die Einsicht gewinnen, dass
               Bedürfnisse nicht allein durch Güter, sondern
               mehr noch durch eigenes Tun und menschliche
               Beziehungen befriedigt werden ? Die Mappe
               liefert keine fertigen Antworten wie Dosensup-
               pen, sondern versucht, die « richtigen » Fragen
               zu stellen, und liefert dazu die Zutaten. Es liegt
               an uns allen, die Antworten zu finden.
               Nach einer methodischen und einer wissen-
               schaftlichen Hinführung zum Thema, bietet
               die Mappe für jedes der zehn Bedürfnisse ein         1. Ein LehrerInnenseminar führt ebenfalls in die Themen ein. Es wird
               Kapitel mit einer kurzen Einleitung sowie zahl-         vom CITIM-ASTM, BAOBAB und Südwind Salzburg angeboten.

    Einführung
   All We Need : Die Welt der Bedürfnisse
Einführung

                            Globales Lernen : ein
                            zukunftsorientiertes
                            Bildungskonzept
         Der Begriff Globalisierung ist heute       gen seines Konsums bedenken, die « richtigen »
in aller Munde. Ob es sich dabei um ein neues       politischen Entscheidungen treffen, die Konse-
Phänomen handelt, und welche Chancen oder           quenzen seines Nicht-Handelns abschätzen ?
Risiken die Prozesse der Globalisierung für die     Und das alles ohne in Resignation oder Lethar-
Menschheit bergen, darüber wird intensiv de-        gie zu verfallen ?
battiert. Globalisierung ist ein sozialer Begriff
und nicht eindeutig zu definieren. Er kann un-      Herausforderungen für die Pädagogik
terschiedlichen politischen Interessen dienen.      Eine wesentliche Aufgabe der Pädagogik ist es
Für die einen liegt in der Möglichkeit, die ge-     heute, junge Menschen zu befähigen, den Aus-
samte Welt mit Produkten, Lebensstilen und          wirkungen der « Globalisierung » zu begegnen.
Werthaltungen zu durchdringen, die große Ver-       Bildung ist nicht das Allheilmittel für gesell-
heißung. Weltweite Kommunikation, Produkte          schaftliche Probleme oder ein Ersatz für Poli-
aus fernen Ländern, exotische Destinationen zu      tik. Dennoch werden die Herausforderungen an
erschwinglichen Preisen – das bildet den Reiz       sie immer komplexer.
einer « entgrenzten » Welt. Andere wiederum
sehen in erster Linie die eigene Welt, die eigene   Ausgehend von der entwicklungspolitischen
Kultur gefährdet und drängen auf Abgrenzung         Bildungsarbeit wurde Anfang der 1990er Jah-
und Abschottung. In der global strukturierten       re ein pädagogisches Konzept entworfen, das
Wirtschaft werden mit dem Verweis auf die Un-       den Blick auf die ganze Welt zum Ansatzpunkt
abwendbarkeit von Globalisierung Menschen-          nimmt : das Globale Lernen. Die weltweiten po-
rechte und Errungenschaften wie die Rechte          litischen, sozialen, ökonomischen und ökolo-
für ArbeitnehmerInnen oder Sozialsysteme in         gischen Verflechtungen und Interdependenzen
Frage gestellt.                                     erfordern, die Welt als Ganzes zu sehen und
                                                    Lehren und Lernen danach auszurichten.
Der « inflationäre Gebrauch des Begriffes be-
deutet aber nicht, dass Globalisierung nur ein      Globales Lernen orientiert sich am Leitbild ei-
Mythos ist oder ideologisches Blendwerk ».1         ner zukunftsfähigen und nachhaltigen Entwick-
Denn Einigkeit herrscht darüber, dass wir uns in    lung. Daraus leiten sich inhaltliche Ansprüche
einer ökonomischen, politischen und kulturellen     ab. Die Hauptthemen sind die « Überlebensfra-
Umbruchsituation befinden und das letzte Vier-      gen unserer Zeit », die unter der Perspektive
tel des 20. Jhs. von zentralen gesellschaftlichen   weltweiter Gerechtigkeit betrachtet werden.
Veränderungen geprägt war. Und wir sind mit         Globales Lernen ist ein integratives Konzept,
Risikosituationen konfrontiert, unabhängig da-      das Elemente der Umweltbildung, des inter-
von, wo wir leben.                                  kulturellen Lernens, der Menschenrechtsbil-
All das erzeugt bei vielen Menschen Unsicher-       dung und Friedenspädagogik einschließt. Im
heit, Orientierungslosigkeit und Resignation.       Anschluss an den Weltgipfel für Nachhaltige
Wie kann der/die Einzelne den ständigen Verän-      Entwicklung in Johannesburg im Jahr 2002 hat
derungen gerecht werden, die Flexibilisierung       die UNO die Dekade « Bildung für Nachhaltige
im Arbeitsleben aushalten, mit der Mobilität        Entwicklung » (2005-2014) ausgerufen. Globales
umgehen, die ökologischen und sozialen Fol-         Lernen und Bildung für nachhaltige Entwick-

                                                                                                 Einführung
                                                                            All We Need : Die Welt der Bedürfnisse   
lung weisen wesentliche Schnittpunkte auf.           LehrerInnen und SchülerInnen eigenes weiter-
                                                                     führendes Erforschen zu ermöglichen.
                Globales Lernen ist kein neues Unterrichts-
                fach, sondern stellt vielmehr eine fächerüber-       Bildung sollte auch Verständnis dafür wecken,
                greifende Neuorientierung dar. Es erfordert          dass es keine einfachen, eindimensionalen Lö-
                interdisziplinäre Herangehensweisen und eine         sungen oder « richtigen » Antworten gibt. Die
                Vielfalt an Perspektiven. Themen werden aus di-      vorliegende Mappe enthält bewusst keine Re-
                versen Blickwinkeln erschlossen und von unter-       zepte für eine « bessere » Welt und bietet keine
                schiedlichen Interessen geleitete Standpunkte        eindeutige Vorschau auf die Zukunft. Sie er-
                sichtbar gemacht. Globales Lernen fördert            laubt eine Vielfalt von thematischen Zugängen
                das In-Frage-Stellen, die Sichtbarmachung von        und die interdisziplinäre Auseinandersetzung
                Strukturen und die Wahrnehmung der individu-         mit Fragestellungen.
                ellen Verflochtenheit in diesen Strukturen.
                                                                     Vielfalt des selbsttätigen Lernens
                Die Welt der Bedürfnisse und das Globale             Die Mappe bietet Einführungen in die einzelnen
                Lernen                                               Bedürfnisse als Hintergrundinformation für
                Globales Lernen bezieht sich auf die Konzepti-       LehrerInnen und Bildungsverantwortliche, ge-
                on der Einen Welt.2 Weil Probleme komplex sind       folgt von Arbeitsanregungen sowie ausgearbei-
                und miteinander vernetzt, macht ein fest umris-      teten Arbeitsblättern für SchülerInnen. Sowohl
                sener Themenkanon wenig Sinn. Heute können           die kognitive als auch die emotionale Ebene der
                beinahe alle Fragen in einen globalen Kontext        Jugendlichen wird angesprochen und ein anre-
                gestellt werden und somit Inhalte des Globalen       gendes, selbsttätiges Erarbeiten der Inhalte un-
                Lernens bilden.                                      terstützt.
                Die vorliegende Mappe macht die Welt der Be-         Globales Lernen will Lernende dazu befähigen,
                dürfnisse zum Ausgangspunkt für Globales             sich heute und morgen in der Weltgesellschaft
                Lernen. Sie thematisiert ihre kulturell geprägte     zu bewegen. Die notwendigen Kompetenzen
                Befriedigung, den damit verbundenen Ressour-         sind auf der fachlichen, methodischen, sozi-
                cenverbrauch, die Vermarktung nahezu aller Le-       alen und persönlichen Ebene angesiedelt. Sie
                bensbereiche und die Vorherrschaft bestimmter        umfassen unterschiedliche Formen der Wis-
                Lebensstile. Zentrale Aspekte des menschlichen       sensaneignung, die Präsentation des erwor-
                Daseins werden aufgegriffen, Fragen nach Ge-         benen Wissens, kommunikative Kompetenzen
                rechtigkeit und Fairness gestellt.                   und Teamfähigkeit sowie das Entwickeln und
                                                                     Reflektieren eigener Positionen und Werthal-
                Mit der Thematisierung von Bedürfnissen wer-
                                                                     tungen. Es wird eine breite Palette von Metho-
                den die SchülerInnen bei ihren ureigensten
                                                                     den vorgeschlagen.
                Interessen abgeholt und diese zum Ausgangs-
                punkt für Lernprozesse gemacht. Individuelle         Fördern und Moderieren
                Erfahrungen und ihre Verortung im lokalen Kon-
                text sind immer wichtiger Bezugspunkt für Bil-       Globales Lernen ist ein anspruchsvolles Kon-
                dungsprozesse im Sinne des Globalen Lernens.         zept für das Unterrichten. Indem es aber davon
                In der Folge werden Themenbereiche jedoch in         ausgeht, dass alle an einem Bildungsprozess
                unterschiedlichen räumlichen Dimensionen be-         Beteiligten Lernende sind, bietet es gleichzei-
                trachtet. Die Bearbeitung erfolgt sowohl in lo-      tig Entlastung. Weil die Komplexität unserer
                kaler (geografisch und sozial naher) Dimension       Lebenszusammenhänge enorm gestiegen ist,
                als auch in regionaler, nationaler und globaler.     gilt es auch zu erkennen, dass wir nicht alles
                                                                     wissen und nicht alles verstehen können. Wir
                Dabei stellen sich viele Fragen : Was unterschei-    müssen akzeptieren, dass es schwierig ist, auf
                det Bedürfnisse von Wünschen ? Wo bleibt die         jede Frage « richtige » Antworten zu finden.
                Liebe für jene 33 Millionen Kinder, die weltweit     Umgang mit Komplexität, mit Nichtwissen und
                auf der Straße leben ? Warum sollte Freiheit die     Unsicherheit – ohne in Resignation zu verfallen
                Quelle der Verantwortung sein ? Was hat Freiheit     – sind daher zentrale Anliegen des Globalen Ler-
                mit dem Angebot im Supermarkt zu tun ? Von der       nens. Dabei sind Lehrkräfte nicht allwissende
                Eizelle bis zum Sportstar – alles wird vermarktet,   Auskunftspersonen. Sie sind vielmehr Modera-
                wo gibt es « marktfreie » Räume ? Was brauchen       torInnen von Bildungsprozessen, die Impulse
                wir überhaupt, um glücklich zu sein ? Die Map-       geben, Fragen herausfordern und zulassen so-
                pe gibt Anregungen, liefert aber–im Sinne des        wie selbständiges Lernen fördern.
                Globalen Lernens–keine fertigen Antworten, um
                                                                     Grundsätzlich forciert das Globale Lernen fä-

     Einführung
10   All We Need : Die Welt der Bedürfnisse
cherübergreifenden Unterricht und eine in-
tensive, vertiefende Auseinandersetzung mit
Themen. Es finden sich in dieser Mappe auch
Anregungen für eine längerfristige und vielfäl-
tige Behandlung von Fragestellungen, z. B. in
Projektwochen.
Immer wird eine gewisse Vorbereitung durch
Lehrpersonen notwendig sein. Diese kennen die
Gruppen, mit denen sie arbeiten wollen, am bes-
ten. Nur sie können Vorwissen, Interessen, fach-
liche und kommunikative Kompetenzen richtig
einschätzen. Und letztlich beurteilen sie, wie
die Themen der Mappe in ihre Lehrpläne, Unter-
richtsvorhaben und Bildungsarbeit passen.
« Wo kämen wir hin, wenn alle sagten, wo kä-
men wir hin und niemand ginge, um einmal zu
schauen, wohin man käme, wenn man ginge. »3
In diesem Sinne freuen wir uns, wenn sich viele
mit der vorliegenden Mappe auf den Weg ma-
chen. Wir wünschen allen viel Freude, neue Anre-
gungen und interessanten Stoff. Für weiterfüh-
rende Informationen und Angebote stehen die
HerausgeberInnen der Mappe und zahlreiche
weitere zivilgesellschaftliche Organisationen in
Luxemburg und Österreich zur Verfügung.

                                                   1. Gerald Faschingeder : Globalisierung. In : Baobab (Hrsg.) : Material-
                                                      mappe Globales Lernen. Theorie, Didaktik, Methoden (Sekundarstufe
                                                      1). Wien 2006.
                                                   2. Zur Theorie des Globalen Lernens siehe z. B. :
                                                      Annette Scheunpflug/ Nikolaus Schröck : Globales Lernen. Einfüh-
                                                      rung in eine pädagogische Konzeption zur entwicklungsbezogenen
                                                      Bildung. Hrsg. Brot für die Welt, 2002.
                                                      Helmuth Hartmeyer : Entwicklung in Erfahrung bringen. In : Baobab
                                                      (Hrsg.) : Materialmappe Globales Lernen. Theorie, Didaktik, Meth-
                                                      oden (Sekundarstufe 1). Wien 2006, S. 10-14.
                                                      Weitere Beiträge auf www.globaleducation.at unter Plattform
                                                      Globales Lernen.
                                                   3. Kurt Marti, Schweizer Theologe und Schriftsteller

                                                                                                                    Einführung
                                                                                       All We Need : Die Welt der Bedürfnisse    11
12
Einführung

                            Die Suche nach
                            dem rechten Maß
         « Entwicklung bedeutet, seine Bedürf-     sere Bedürfnisse befriedigen, auseinander zu
nisse täglich besser befriedigen zu können.        setzen.
Dies hat wenig mit Wirtschaftswachstum zu
                                                   Die Ideen von Manfred Max-Neef, die dieser
tun. Entwicklung ist eine Frage der Lebens-
                                                   in den 1980er Jahren mit dem Konzept einer
qualität, Wachstum ist eine Frage der Quanti-
                                                   « Entwicklung nach menschlichem Maß » vor-
tät. Sehen Sie, alle Lebewesen wachsen bis zu
                                                   gelegt hat, können dabei behilflich sein. Wenn
einem bestimmten Punkt, und dann hören sie
                                                   das menschliche Maß im Mittelpunkt des Wirt-
auf damit. Sie sind gewachsen, ich auch, der
                                                   schaftens steht und das Optimieren des indivi-
Baum draußen ebenfalls, aber irgendwann hö-
                                                   duellen Glücks, dann reichen die traditionellen
ren wir damit auf. Entwicklung aber hört nie
                                                   Messinstrumente nicht aus. Das BIP misst den
auf ! Wir entwickeln uns immer weiter, das ist
                                                   Verbrauch materieller Güter. Welche Indices
eine Frage der Qualität. »
                                                   messen das damit erreichte Glück ? Der « Index
Mit diesen Worten fasst der chilenische Öko-       für menschliche Entwicklung » oder der « Hap-
nom und Träger des Alternativen Nobelpreises       py Planet Index » messen viel differenzierter als
Manfred Max-Neef den Widerspruch der moder-        die Instrumente der herkömmlichen Volkswirt-
nen Wirtschaftspolitik zusammen. Eigentlich        schaftstheorie.
sollte die Ökonomie das Glück des Menschen
                                                   Eine offene Frage ist dennoch jene nach der
zum Ziele haben, aber es geht in den politischen
                                                   « globalen menschlichen Gerechtigkeit ». Wohl-
Sonntagsreden immer nur um das Wachstum
                                                   stand lässt sich mit neuen Indices messen, und
des Bruttoinlandsproduktes (BIP).1 Diese zen-
                                                   der Ressourcenverbrauch kann auf ein Mini-
trale Größe trägt aber zwei wesentlichen Her-
                                                   mum reduziert werden. Aber wie kann Chancen-
ausforderungen unserer Zeit nicht Rechnung :
                                                   gleichheit auf Weltebene verwirklicht werden ?
dem sich stetig verschlechternden Zustand un-
                                                   Wie können wir negative soziale Auswirkungen
serer natürlichen Umwelt und der wachsenden
                                                   der Marktwirtschaft international reduzieren ?
Ungleichheit in der Verteilung des Reichtums.
                                                   Dazu fehlt bisher eine verbindliche öffentliche
Der « ökologische Fußabdruck », entworfen von
                                                   Wertediskussion. Auch die Instrumente zur Um-
Mathis Wackernagel, misst auf wissenschaft-
                                                   setzung stecken noch in den Kinderschuhen.
liche und zugleich verständliche Art und Weise
                                                   Trotzdem oder gerade deshalb sollen am Ende
die Auswirkungen unseres Wirtschaftens auf
                                                   dieses Kapitels einige anregende Überlegungen
die Umwelt.2 Der Fußabdruck zeigt deutlich,
                                                   des Wuppertal Institutes für Klima, Umwelt und
dass wir, die KonsumentInnen, wesentlich mehr
                                                   Energie vorgestellt werden.
Ressourcen verbrauchen, als die Erde uns zur
Verfügung stellt. Wir vergeuden bereits die
Welt unserer Kinder und zerstören die natür-       1. Der ökologische Fußabdruck
liche Umwelt.
                                                   Wir nutzen die Ressourcen, als hätten wir vier
Ist das, was die Erde für den Menschen bereit      Erden ! 3 Dieser Ausspruch bringt auf den Punkt,
stellt, zu wenig ? Oder sind vielmehr seine Be-    dass die Menschheit derzeit die natürlichen
dürfnisse maßlos und unbeherrschbar ? Ist das      Kapazitäten der Erde überstrapaziert. Die Kon-
der Grund für sein Unvermögen, Lebenszufrie-       sumentInnen, vor allem in Europa, Japan und
denheit für alle zu maximieren ? Um Antworten      Nordamerika, verbrauchen die natürlichen Res-
auf diese Fragen zu finden, ist es notwendiger     sourcen von vier Erdkugeln. Diese Aussage ist
denn je, uns mit der Art und Weise, wie wir un-    nicht polemisch, sondern basiert auf einer wis-

                                                                                                 Einführung
                                                                            All We Need : Die Welt der Bedürfnisse   13
senschaftlichen Berechnung, dem ökologischen         del nach den Mengen virtuellen Wassers in
                Fußabdruck. Die Methode wurde von den beiden         den erzeugten Produkten aus.7 Ökonomisch
                Sozialwissenschaftler Mathis Wackernagel und         schwache Staaten können das nicht. Zum Bei-
                William Rees Anfang der 1990er Jahre entwi-          spiel Kenia : Dieses Land « produzierte im Jahr
                ckelt und wird seither kontinuierlich verfeinert.4   2001 52 Millionen Tonnen Blumen für den euro-
                Sie ist mittlerweile von den Vereinten Nationen      päischen, japanischen und nordamerikanischen
                anerkannt und gilt als offizieller Indikator zur     Markt, während drei Millionen Kenianer unter
                Überprüfung der Ziele im Rahmen der UN-Bio-          Wasserknappheit litten. (...) Die Blumen werden
                diversitäts-Konvention. Auch die EU nutzt sie        vorrangig mit Wasser aus dem See Naivasha
                als Leitindikator zur Messung der biologischen       bewässert, einem ökonomisch und ökologisch
                Vielfalt.                                            wichtigen Gewässer. Im und um den See leben
                                                                     350 Vogelarten, Nilpferde, Büffel, Affen und
                Der ökologische Fußabdruck erfasst, in welchen
                                                                     andere seltene Tiere, und das Wasser dient als
                Bereichen und wie stark der Mensch die Um-
                                                                     Tiertränke der Massai-Nomaden. Nicht nur die
                welt belastet. Die Methode ist eine Art « Res-
                                                                     Verknappung des Wassers, auch seine Vergif-
                sourcenbuchhaltung ». Sie rechnet das Ausmaß
                                                                     tung durch Dünger und Pflanzenschutzmittel
                der Nutzungen und Belastungen der Natur wie
                                                                     stellt für sie eine Bedrohung dar. Ohne es zu
                etwa Ackerbau, Energie- oder Holzverbrauch in
                                                                     wissen, schmälern die Blumenliebhaber ferner
                Flächen um, die notwendig wären, um diese Res-
                                                                     Länder so jenem Teil der lokalen Bevölkerung,
                sourcen auf erneuerbare Weise bereitzustellen.
                                                                     der nicht an den Erlösen der Blumenproduktion
                Diese Berechnung macht Sinn, denn die Res-
                                                                     teilhat, die Existenzgrundlage ».8
                sourcen sind begrenzt. Es können beispielswei-
                se nicht mehr Fische gegessen werden, als Meer       Ein übergroßer Fußabdruck beeinträchtigt also
                und Flüsse hergeben. Sind die Fangmengen zu          nicht nur die Überlebensfähigkeit zukünftiger
                groß, regeneriert sich der Bestand nicht mehr.       Generationen, sondern hat auch lebensbedro-
                Heute sind bereits 47% der weltweiten Fischbe-       hende Auswirkungen auf Menschen ferner Re-
                stände überfischt.5 Langfristig gefährdet die        gionen.
                Menschheit ihre Nahrungsquellen, wenn sie
                nicht nachhaltig wirtschaftet.                       Virtuelles Wasser ausgewählter Produkte
                Der ökologische Fußabdruck einer Region,             Eine Tasse Kaffee       140 Liter
                eines Landes oder der ganzen Welt – wird in so
                                                                     400 g Brot              550 Liter
                genannten « globalen Hektaren » ausgedrückt :
                je mehr Hektare, desto stärker ist die Umwelt        1 Liter Milch           1 000 Liter
                belastet. Gleichzeitig wird die « Biokapazität »     1 kg Reis               3 000 Liter
                berechnet, das ist die Fähigkeit der Natur, Roh-     1 kg Mais               900 Liter
                stoffe zu erzeugen und Schadstoffe abzubauen.
                                                                     1 kg Weizen             1 350 Liter
                Wenn Fußabdruck und Biokapazität einer Regi-
                on übereinstimmen, befindet sich diese im Ein-       1 kg Rindfleisch        16 000 Liter 9
                klang mit der Tragfähigkeit der Natur ; sie ist
                nachhaltig. Wenn die Menschen eines Landes           Der Fußabdruck Luxemburgs
                mehr Ressourcen verbrauchen als ihr geogra-
                                                                     Trotz dürftigen Zahlenmaterials ist es Clau-
                phisches Gebiet ihnen zur Verfügung stellt, im-
                                                                     de Wagner 1999 gelungen,10 den ökologischen
                portieren sie Rohstoffe aus anderen Regionen.
                                                                     Fußabdruck Luxemburgs genau zu berechnen
                Der ökologische Fußabdruck gibt auch den Im-         und von jenem Belgiens abzukoppeln.11 Bereits
                port und Export von Naturressourcen relativ          1997 hatte Luxemburg einen ökologischen Fuß-
                abstrakt in « globalen Hektaren » (gha) wie-         abdruck von 7,6 gha pro EinwohnerIn. (Die bi-
                der. Die politischen und ökonomischen Kon-           ologische Kapazität betrug indes nur 1,0 gha
                sequenzen sind jedoch real und bestimmen             pro Person.) Damit benötigt Luxemburg 32.201
                mittlerweile die Handelspolitik großer Indus-        qkm, also die 12,5fache Fläche des Landes, etwa
                trienationen. Beispiel hierfür ist das « virtuelle   so viel wie Belgien und Luxemburg zusammen !
                Wasser ». Dieses wurde Anfang der 1990er Jah-        Das zunehmende Missverhältnis zwischen öko-
                re von J.A. Allan als jenes Wasser definiert, das    logischem Fußabdruck und Biokapazität ent-
                für den gesamten Erzeugungsprozess eines             stand Anfang der 1960er Jahre. Es bedeutet,
                Agrar- oder Industrieprodukts benötigt wird.6        dass der Verbrauch zunehmend durch Import
                Ökonomisch mächtige Staaten in trockenen             von natürlichen Ressourcen und durch Export
                Regionen richten mittlerweile ihren Agrarhan-        von Abfallstoffen wie Kohlendioxid (CO2) ge-

     Einführung
14   All We Need : Die Welt der Bedürfnisse
steigert wurde. Allein deshalb ist es Luxemburg      Der Fußabdruck der Welt
möglich, so viel zu konsumieren, ohne das eige-
                                                     Mit 2,2 gha pro Kopf ist seit Mitte der 1980er
ne Naturkapital drastisch zu übernutzen.
                                                     Jahre der durchschnittliche Fußabdruck deut-
Wagners Berechnungen waren wohl derart ab-
                                                     lich größer als die globale Biokapazität von 1,8
schreckend, dass seither niemand mehr den
                                                     gha. Zudem ist die Beanspruchung des Naturka-
ökologischen Fußabdruck Luxemburgs über-
                                                     pitals örtlich sehr ungleich verteilt.
prüft hat. Eine Schwierigkeit stellt der « Tank-
tourismus » dar. In Luxemburg werden etwa 75%        Die Länder der nördlichen Hemisphäre verbrau-
des Benzins und Diesels an den Grenzen und           chen pro Kopf bis zu dreimal mehr Ressour-
auf den Autobahnen verkauft.12 Sollen diese          cen als ihnen zustehen. Mit 9,5 gha pro Kopf
Verkäufe den Luxemburgern angerechnet wer-           übertrifft der ökologische Fußabdruck von
den, weil sie einen großen Teil ihrer Staatsein-     Nordamerika alle anderen Regionen massiv
nahmen ausmachen, oder sollen sie im ökolo-          und ist zum Beispiel neunmal größer als jener
gischen Fußabdruck unberücksichtigt bleiben,         von Afrika. Auch der Fußabdruck Westeuropas
weil ja die Deutschen, Belgier und Franzosen         ist mit 4,8 gha deutlich größer als der globale
dieses Benzin verfahren ? Kann der Bauer die         Durchschnitt. Die Länder des Südens hingegen
Butter verkaufen und sie gleichzeitig essen ?        – insbesondere jene auf dem afrikanischen Kon-
                                                     tinent und in Südostasien – beanspruchen pro
Der Fußabdruck Österreichs                           Kopf zum Teil deutlich weniger Biokapazität als
Auch in Österreich ist der Fußabdruck wesent-        im weltweiten Durchschnitt verfügbar ist.
lich größer als die ökologische Kapazität des        Die ökonomische Grenze zwischen Nord und
Landes, wenn das Missverhältnis auch nicht           Süd hat sich allerdings seit Beginn der 1990er
so extrem ist wie in Luxemburg : Er misst 4,9        Jahre verwischt. Zahlreiche Länder des Südens
gha.13 Die ökologische Kapazität pro Kopf ist        weisen nunmehr zweistellige Wachstumsra-
allerdings mit 3,4 gha wesentlich höher als in       ten auf, so etwa Energielieferanten (Saudi
Luxemburg, da das Land relativ dünn besiedelt        Arabien, Venezuela), Hard- und Softwareanbie-
ist.14 Somit liegt das ökologische Defizit bei 1,5   ter (Thailand, China, Indien) oder bedeutende
gha pro Kopf.                                        Absatzmärkte (Brasilien, China). Mit dem wirt-
Hauptverantwortlich für das Missverhältnis           schaftlichen Erfolg wächst in diesen Staaten
ist in beiden Ländern der Energieverbrauch :         die Nachfrage nach Ressourcen und somit der
Er macht zwei Drittel des ökologischen Fußab-        ökologische Fußabdruck markant. Insbesonde-
drucks aus und ist damit weit bedeutender als        re der Energiebedarf hat stark zugenommen. In
alle anderen Bereiche. Der Energieverbrauch ist      den Ländern mit geringem Wachstum steigt er
zudem in den letzten Jahrzehnten weitaus am          von einem niedrigen Niveau ausgehend hinge-
stärksten gewachsen.                                 gen nur langsam.

Österreich ist ein gutes Beispiel dafür, dass es     Beispielhaft für die Entwicklung der Länder mit
zwar Sinn macht vom ökologischen Defizit auf         raschem ökonomischem Wachstum stehen die
der individuellen Ebene und auf globaler Ebe-        bevölkerungsreichen Staaten Indien und China,
ne zu sprechen. Die regionalen oder nationalen       die zunehmende Mengen an fossilen Brenn-
Ebenen sind aber nur bedingt aussagekräftig.         und Treibstoffen verbrauchen. Der energetische
Es ist das Glück und nicht der Verdienst der Ös-     Fußabdruck ist in China und Indien mit 0,7 gha
terreicherInnen in einem Land zu leben, welches      bzw. 0,3 gha pro Kopf zwar immer noch deutlich
dünn besiedelt ist. Selbst wenn Österreich es        kleiner als der Weltdurchschnitt von 1,1 gha. Die
schaffen würde, seinen nationalen Fußabdruck         Wachstumsraten sind allerdings hoch. Seit 1961
bis zu seiner ökologischen Kapazität zu redu-        ist der energetische Fußabdruck in beiden Län-
zieren, könnte es nicht autark sein. Weltweit        dern um das Zehn- bis Zwölffache gewachsen.
beträgt die Biokapazität nur 1,8 gha, Österreich     Da in Indien und China etwa zwei Fünftel der
liegt also eineinhalbmal darüber. Es wäre not-       Weltbevölkerung leben, entsteht nicht bloß eine
wendig, in Österreich den Fußabdruck auf etwa        enorme Nachfrage nach Energie, sondern auch
ein Drittel des derzeitigen Standes zu senken.       nach anderen Ressourcen. Angesichts dieser
Fazit : Das Abenteuer Menschheit können nur          Entwicklungen sind enorme globale Anstren-
alle Länder gemeinsam bestehen.                      gungen nötig, um die Ökobilanz auf unserem
                                                     Planeten nicht noch weiter zu verschlechtern.

                                                                                                   Einführung
                                                                              All We Need : Die Welt der Bedürfnisse   15
ÖKOLOGISCHER FUSSABDRUCK UND BIOKAPAZITÄT (Ausgabe 2006)
                                                     Bevölkerung Nationaler   Nationale    Ökolo-           Ökolo-
                                                                 Ökolo-       Biokapazi-   gisches De-      gisches De-
                                                                 gischer      tät          fizit (-) oder   fizit (-) oder
                                                                 Fußabdruck                Reserve (+)      Reserve (+)
                                                                                           im Vergleich     im Vergleich
                                                                                           zur natio-       zur globalen
                                                                                           nalen Bioka-     Biokapazi-
                 Ausgewählte Länder                                                        pazität          tät
                                                     (in Mio.)    (global ha/ (global ha/ (global ha/ (global ha/
                                                                  Person)     Person)     Person)     Person)

                                              Welt     6 301,5       2,2          1,8          -0,5             -0,5

                 Länder mit hohem                       955,6        6,4          3,3           -3,1            -4,6
                 Einkommen
                 Länder mit mittlerem                  3 011,7        1,9         2,1           0,2              -0,1
                 Einkommen
                 Länder mit niedrigem                  2 303,1       0,8          0,7           -0,1             1,0
                 Einkommen

                 Afrika                                 846,8         1,1         1,3           0,2              0,7
                 Asien-Pazifik                         3 489,4        1,3         0,7          -0,6              0,5
                 Australien                              19,7        6,6          12,4          5,9             -4,8
                 Bangladesch                            146,7        0,5          0,3          -0,2              1,3
                 China                                  1 311,7       1,6         0,8          -0,9              0,2
                 Indien                                1 065,5       0,8          0,4          -0,4              1,0
                 Japan                                  127,7        4,4          0,7          -3,6             -2,6

                 Lateinamerika                          535,2        2,0          5,4           3,4             -0,2
                 Argentinien                            38,4         2,3          5,9           3,6             -0,5
                 Bolivien                                8,8          1,3         15,0         13,7              0,5
                 Brasilien                              178,5         2,1         9,9           7,8             -0,3
                 Chile                                   15,8        2,3          5,4           3,0             -0,5
                 Naher Osten und Zentralasien           346,8        2,2          1,0           -1,2            -0,4

                 Nordamerika                            325,6        9,4          5,7           -3,7            -7,6
                 Kanada                                  31,5        7,6          14,5          6,9             -5,8
                 Vereinigte Staaten                     294,0        9,6          4,7          -4,8             -7,8

                 Europäische Union (EU25)               454,4        4,8          2,2          -2,6             -3,0
                 Österreich                              8,1         4,9          3,4           -1,5             -3,1
                 Belgien & Luxemburg                     10,8        5,6          1,2          -4,4             -3,8
                 Tschechische Republik                   10,2        4,9          2,6           -2,3             -3,1
                 Dänemark                                5,4         5,8          3,5           -2,2            -4,0
                 Frankreich                              60,1        5,6          3,0          -2,6             -3,8
                 Deutschland                            82,5         4,5          1,7          -2,8              -2,7
                 Niederlande                             16,1        4,4          0,8          -3,6             -2,6
                 Portugal                                10,1        4,2          1,6          -2,6             -2,4
                 Slovenien                               2,0         3,4          2,8          -0,6              -1,6

                 Restliches Europa                      272,2        3,8          4,6           0,8             -2,0

     Einführung
16   All We Need : Die Welt der Bedürfnisse
Effizienzphantasien                                   2. Von Bedürfnissen und ihrer
Serge Allegrezza, Direktor des Luxemburger            Befriedigung
Amtes für Statistik (Statec) meinte im Februar
2007 ! « Es gibt (...) keine Obergrenze für das       Was alle Menschen eint
Wachstum in unserem Land : Die Technologie            Die Frage nach den Bedürfnissen beschäftigt
kann viele Flaschenhälse überwinden, und es           die Menschen schon sehr lange, dementspre-
gibt enorme ungenutzte Flächen in der Groß-           chend vielfältig sind die Ideen und Ansätze
region, die sehr dünn besiedelt sind. »15             dazu. Bereits bei der Definition stehen sich
Wo sind diese ungenutzte Flächen in Luxem-            zwei Sichtweisen gegenüber. Für die einen lie-
burg zu finden, und wer nutzt sie nicht ? Wieso       fern die Bedürfnisse ein Abbild der jeweiligen
ist es den Luxemburgern erlaubt, über die Flä-        Gesellschaft. Die Luxemburger brauchen Au-
chen der Großregion16 zu verfügen ? Auch der          tos, weil sie anders ihre Mobilität nicht denken
Glaube an ein unbegrenztes Wachstum und die           können. Selbstverständlich wissen alle, dass sie
Versprechungen der Technologie und ihrer Effi-        auch ohne Auto überleben können, aber es wird
zienzrevolution mag im Jahre 2007 erstaunen.          schwierig, wenn es keinen gut funktionierenden
Effizienzsteigerung würde bedeuten, mit der-          öffentlichen Nahverkehr gibt. Die indigenen
selben Menge Benzin mehr Kilometer zu fahren,         Völker des Amazonas brauchen kein Auto, son-
weil die Motoren effizienter werden. Erstaunlich      dern eher ein Kanu, vor allem aber laufen sie zu
ist auf den ersten Blick, dass trotz Effizienz-       Fuß. Diese Sichtweise ist nahe liegend, denn auf
steigerung der gesamtgesellschaftliche Ener-          die Frage « Was brauchen wir zum Leben ? » wür-
gieverbrauch steigt und damit der ökologische         den die meisten Menschen jene Güter und Men-
Fußabdruck seit der Industrialisierung stetig         schen nennen, die ihnen am nächsten stehen.22
wächst.17 Der Grund ist folgender : Effizienzver-     (➔ Arbeitsblatt 1 : Meine - deine - unsere Be-
besserung und Produktivitätssteigerung füh-           dürfnisse)
ren zu größerer Kaufkraft, was wieder in mehr         Für andere DenkerInnen sind Bedürfnisse die
Konsum mündet.18 Der Begriff der Freiheit wird        fundamentalen Merkmale des Mensch-Seins.
nahezu mit einer « Pflicht » zum Konsumieren          Bedürfnisse richten sich nicht nach dem je-
verbunden, und das Selbstwertgefühl vieler            weiligen Wertesystem, auch nicht nach dem
Menschen scheint von der Art und Menge der            natürlichen Umfeld, den sozialen Strukturen
gekauften Produkte und Dienstleistungen ab-           oder dem Stand der technischen Entwicklung.
hängig zu sein.19 « Ich konsumiere, also bin ich. »   Bedürfnisse sind das, was zutage tritt, wenn
Tatsache ist, dass jedes Jahr die Zahl der verkauf-   wir das menschliche Verhalten unabhängig von
ten Autos, Kühlschranke, DVD-Players, Kleider,        der Kultur, dem Glauben, der Rasse, der Sprache,
Schuhe… steigt und die meisten Menschen sich          dem Alter oder dem Geschlecht betrachten.23
diesem Konsum-Karussell nur schwer entziehen          Bedürfnisse sind relativ einfach von Wünschen
können. Ein frappierendes Beispiel führte Man-        zu unterscheiden : Das systematische und dau-
fred Linz vom Wuppertal Institut vor : Der VW-        erhafte Nicht-Befriedigen eines Bedürfnisses
Käfer aus dem Jahre 1955 wog 730 kg, hatte 30         führt zu fortschreitender Krankheit, das Nicht-
PS, fuhr 110 km/h und verbrauchte 7,5 Liter auf       Befriedigen eines Wunsches führt im schlimms-
100 Kilometer. Der VW-Beetle 50 Jahre später          ten Fall zur Frustration. Bedürfnisse können
wog 1200 kg, hatte 75 PS, fuhr 160 km/h schnell       weder willentlich gesteuert noch unterdrückt
und verbrauchte 7,1 Liter Benzin auf 100 Kilome-      werden. Weil Bedürfnisse notwendigerweise
ter. Der Effizienzgewinn war also nicht größer        befriedigt werden müssen, gehören sie zu den
als 1 % pro Jahrzehnt.20                              mächtigsten Quellen menschlicher Motivation.
Selbstverständlich muss die Suche nach ef-            Diese beiden Sichtweisen schließen einander
fizienteren Wegen der Ressourcennutzung               aber keineswegs gegenseitig aus, sie ergänzen
weiter gehen.21 Aber wir müssen auch darauf           einander zu einer außerordentlich spannenden
achten, dass das Einsparpotential nicht durch         Geschichte. Nur muss man sich immer vor Au-
vermehrtes Konsumieren buchstäblich zum               gen halten, ob von Bedürfnissen oder von Wün-
Schornstein hinaus geht. Bleibt die Frage : Was       schen gesprochen wird. Für die Zwecke dieser
ist das rechte Maß für des Menschen Glück ?           Mappe wird angenommen, dass Bedürfnisse
                                                      allen Menschen unabhängig ihrer Kultur und
                                                      Umwelt gemein sind.

                                                                                                   Einführung
                                                                              All We Need : Die Welt der Bedürfnisse   17
Die Maslowsche Bedürfnispyramide

                                                                    2WS
                                                         ASZPabdS`eW`YZWQVc\U(
                                                        6SWbS`YSWb4`Sc\RZWQVYSWb
                                                       ;cb3V`ZWQVYSWb:WSPS5ŒbS
                                                         2WSES`baQVwbhc\Ua
                                                      c\R5SZbc\UaPSRŒ`T\WaaS(
                                                ASZPabPSecaabaSW\:SWabc\U9][^SbS\h
                                                     >`SabWUSAbObca@cV[;OQVb

                                              2WSHcUSV‡`WUYSWbac\R:WSPSaPSRŒ`T\WaaS(
                                                    :WSPS4`Sc\RaQVOTb5SP]`US\VSWb
                                        2WSAWQVS`VSWbaPSRŒ`T\WaaS(C\dS`aSV`bVSWbRSa9‡`^S`a
                                               =`R\c\UAQVcbhd]\9‡`^S`c\R3WUS\bc[
                                      2WS^VgaW]Z]UWaQVS\0SRŒ`T\WaaS(6c\US`2c`abc\RASfcOZWbwb

                 Die ersten vier Bedürfnis-Ebenen nennt Maslow « Defizitbedürfnisse ». Ihre Nichtbefrie-
                 digung hat auf lange Sicht negative Folgen für die Person zur Konsequenz. Maslow geht
                 davon aus, dass Bedürfnisse der höheren Ebene erst in der späteren Entwicklung des Men-
                 schen entstehen. Kleinkinder hätten demnach keine Wertschätzungs- und Geltungsbedürf-
                 nisse. Höhere Bedürfnisse könnten bei einigen Menschen auch vollständig fehlen.

                Macht eine Hierarchie Sinn ?                          leitung für Politik und Sozialarbeit entworfen.
                                                                      Seine Botschaft lautet : Kümmert euch erst um
                Sie steht bei fast allen Psychologiestuden-
                                                                      die physiologischen Bedürfnisse der Menschen,
                tInnen auf dem Programm der ersten Semes-
                                                                      erst wenn diese befriedigt sind, darf Sozialpoli-
                terstunden. Die Bedürfnispyramide wurde vom
                                                                      tik auch auf andere Bereiche einwirken.
                US-amerikanischen Psychologen Abraham Mas-
                low 1954 entwickelt.                                  Eine Hierarchisierung der Bedürfnisse findet
                                                                      sich bis weit in die 1970er Jahre auch bei an-
                Nach Maslow24 wird der Mensch in seinem Ver-
                                                                      deren TheoretikerInnen. So unterscheidet der
                halten von hierarchisch strukturierten Bedürf-
                                                                      Chemiker und Ökonom Mario Kamenetzky zwi-
                nissen geleitet. Instinktiv sucht der Mensch alle
                                                                      schen den « biologischen Bedürfnissen » (Sexu-
                seine Bedürfnisse zu befriedigen, dabei sind je-
                                                                      alität, Bewegung, Schlaf, Nahrung und Verdau-
                doch die existentiellen Bedürfnisse an der Basis
                                                                      ung), den « bio-psychologischen Bedürfnissen »
                der Pyramide stärker als alle anderen und drän-
                                                                      (Kleidung, Wohnung, Schutz von Körper und
                gen sich auf. An der Spitze steht das Bedürfnis
                                                                      Geist), den « psychologischen Bedürfnissen »
                nach Selbstverwirklichung, das aber erst dann
                                                                      (Verstehen, Dialog mit dem Geist, Muße) und
                in das Blickfeld des Individuums rückt, wenn
                                                                      den « sozio-kulturellen Bedürfnissen » (intel-
                alle grundlegenderen Bedürfnisse befriedigt
                                                                      lektuelle und emotionale Kommunikation, Au-
                wurden.
                                                                      tonomie und Partizipation).25 Auch bei Kame-
                Maslows Bedürfnispyramide wird oft wegen ih-          netzky bauen die Bedürfnisebenen aufeinander
                rer schematischen Sicht auf komplexes mensch-         auf, allerdings betont er das soziale Wesen des
                liches Verhalten kritisiert. Vielen leuchtet auch     Menschen : « Ohne (seinen Diener) Freitag wäre
                nicht ein, dass der Wunsch nach Selbstver-            Robinson nicht wieder zu einem vollständigen
                wirklichung erst an letzter Stelle kommen soll.       Menschen geworden. » Für Kamenetzky müs-
                Dies steht in eklatantem Widerspruch zu Erfah-        sen alle Ebenen der menschlichen Bedürfnisse
                rungen von SozialarbeiterInnen, die auch bei          erfüllt sein, damit der Mensch zum Menschen
                armen sozialen Schichten ein starkes Bedürfnis        wird.
                nach Anerkennung und Selbstverwirklichung
                                                                      Als Mario Kamenetzky dies schrieb, hatte Latein­
                feststellen. Maslow wollte jedoch mit seiner
                                                                      amerika bereits zwei Dekaden der Allianz für
                Theorie weniger die Motivation von Menschen
                                                                      den Fortschritt hinter sich, die Präsident Ken-
                erklären. Er hat sie vielmehr als Handlungsan-
                                                                      nedy bei seinem Amtsantritt 1961 ausgerufen

     Einführung
18   All We Need : Die Welt der Bedürfnisse
hatte, um Lateinamerika mehr « Entwicklung »        nie mehr befriedigen.
zu bringen und es dadurch vor dem Virus des
                                                    Unterentwicklung als Bewusstseinsform ist
Kommunismus zu bewahren. Die Völker Süd-
                                                    eine extreme Form dessen, was wir mit Marx
und Mittelamerikas waren in den 1960er und
                                                    und Freud gleichermaßen ‘Verdinglichung’
1970er Jahren mit Entwicklungshilfe und Pro-
                                                    nennen können : Die Wahrnehmung echter Be-
jekten überschüttet worden, die den « American
                                                    dürfnisse verhärtet sich zur Nachfrage nach
way of life » fördern sollten. Kennedy entdeckte
                                                    Erzeugnissen der Massenproduktion. Ich mei-
die (materielle) Armut und mit ihr den seiner
                                                    ne die Umwandlung von Durst in ein Verlan-
Meinung nach wichtigsten Grund für soziale
                                                    gen nach Coca-Cola. Solche Verdinglichung
Unzufriedenheit und politische Instabilität. In
                                                    vollzieht sich bei der Manipulation mensch-
der Folge nahm der « entwickelte » Westen den
                                                    licher Urbedürfnisse durch riesige Bürokra-
Rest der Welt fast ausschließlich durch die Bril-
                                                    tien, denen es gelungen ist, die Phantasie po-
le von Armut und ihrer Bekämpfung wahr.
                                                    tentieller Verbraucher zu beherrschen (...) Die
Entwicklung von Bedürftigkeit                       intensive Förderung des Schulwesens führt
                                                    zu einer so weitgehenden Identifizierung von
Ivan Illich, amerikanischer röm.kath. Theologe      Schulbesuch und Bildung, dass die beiden Be-
mit österreichischen Wurzeln, der lange in Me-      griffe im täglichen Sprachgebrauch auswech-
xiko gearbeitet hat, kritisierte diesen Ansatz      selbar werden. »
als « geplante Armut ». 1969 schreibt er in einem
Aufsatz : 26 27                                     Entwicklung nach menschlichem Maß
« Heute verpassen reiche Nationen den armen         Bereits 1960 haben die Vereinten Nationen die
Nationen aus Wohlwollen eine Zwangsjacke            erste « Dekade der Entwicklung » ausgerufen.
aus Verkehrstauungen, Krankenhausaufent-            Sie ist gescheitert, wie weitere Dekaden auch.
halten und Klassenzimmern und nennen das            Die Armen wurden ärmer, die Reichen reicher.
nach internationalem Übereinkommen ‘Ent-            Lateinamerika etwa ist Anfang der 1970er Jahre
wicklung’. Lateinamerikanische Ärzte erhal-         in eine tiefe politische und ökonomische Krise
ten im New Yorker Krankenhaus für Spezial-          geschlittert. Gleichzeitig entstanden viele In­
chirurgie eine Ausbildung, die sie nur wenigen      stitute zur Erforschung von Alternativen, sei es
zugute kommen lassen, während in Slums,             in der Landwirtschaft, der Pädagogik oder der
wo 90 Prozent der Bevölkerung wohnen, die           Ökonomie.28 Eines dieser Zentren hat Manfred
Amöbenruhr endemisch bleibt. Jedes Auto,            Max-Neef ab 1983 mit dem Preisgeld des Alter-
das Brasilien auf die Strasse schickt, versagt      nativen Nobelpreises aufgebaut. Am CEPAUR-
fünfzig Menschen ein gutes Autobusnetz. (...).      Institut (Centro de Estudio y Promoción de
Jeder Dollar, der in Lateinamerika für Ärzte        Asuntos Urbanos y Rurales) vertiefte er die be-
und Krankenhäuser ausgegeben wird, kostet           reits in den 1970er Jahren formulierte Theorie
(...) hundert Menschenleben. Hätte man jeden        der « Entwicklung nach menschlichen Maß ».
Dollar für die Bereitstellung unschädlichen         Für Manfred Max-Neef sind alle menschlichen
Trinkwassers ausgegeben, so hätte man hun-          Bedürfnisse in einem komplexen System mit-
dert Menschen das Leben retten können. »            einander verbunden.29 Bis auf die Subsistenz
                                                    (das Bedürfnis nach Überleben) gibt es keine
Illich stellt fest, dass sich die Kluft zwischen
                                                    Hierarchie, alle Bedürfnisse suchen gleichzei-
den Reichen und der Masse der Bevölkerung
                                                    tig nach Befriedigung und ergänzen einander.
verbreitert, während gleichzeitig in den meisten
                                                    Menschliche Handlungen lassen sich in den
sogenannten Entwicklungsländern Einkommen,
                                                    seltensten Fällen durch ein einzelnes Bedürfnis
Wohlstand und Verbrauch wachsen.
                                                    erklären.
« Aber Unterentwicklung (ist) auch ein Geistes­
                                                    Bedürfnisse lassen sich nach vielen Kriterien
zustand.. (Als solcher tritt sie) dann auf, wenn
                                                    ordnen, Max-Neef schlägt vor, es bei zwei Ein-
die Bedürfnisse der Massen umgewandelt
                                                    teilungen zu belassen. Einerseits definiert er
werden in Nachfrage nach neuen Marken ab-
                                                    die existentiellen Bedürfnisse : Sein, Haben, Tun
gepackter Lösungen, die für die Mehrheit im-
                                                    und Befinden (siehe weiter unten). Andererseits
mer unerreichbar bleiben (...) Die herrschenden
                                                    die Bedürfnis-Kategorien :
Gruppen in diesen Ländern bauen Dienstleis-
                                                    ➔ Subsistenz und die Erhaltung unseres Le-
tungsbetriebe auf, die für eine Wohlstandsge-
                                                       bens durch Nahrung, Kleider, Wohnung, Um-
sellschaft entworfen wurden ; haben sie erst
                                                       welt usw ;
einmal die Nachfrage dergestalt monopoli-
siert, können sie die Bedürfnisse der Mehrheit      ➔ Schutz, Geborgenheit, Sicherheit und Ver-

                                                                                                  Einführung
                                                                             All We Need : Die Welt der Bedürfnisse   19
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