"Von Christian Morgenstern zur Dada-Poesie" - MASARYK - UNIVERSITÄT BRÜNN DIPLOMARBEIT

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MASARYK – UNIVERSITÄT
                                    BRÜNN
                             Philosophische Fakultät
             Institut für Germanistik, Nordistik und Niederlandistik

                              DIPLOMARBEIT -

                     „Von Christian Morgenstern
                          zur Dada-Poesie“

                              Milada Bobková

                                                   Betreuer:
Brünn 2007                                         PhDr. Jaroslav Kovář, CSc.

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Erklärung

                Ich erkläre hiermit, dass ich die Diplomarbeit zum Thema:
                     „Von Christian Morgenstern zur Dada-Poesie“
         selbstständig und nur mit Hilfe der angegebenen Quellen erarbeitet habe.

Datum:                                                  Unterschrift:

                                            2
Danksagung

Besonders danken möchte ich Herrn PhDr. Jaroslav Kovář, CSc. für die fachkundige
Führung bei der Bearbeitung dieser Diplomarbeit.

                                     3
Inhalt

Einleitung............................................................................................................................ 5

1.Über Christian Morgenstern.......................................................................................... 6

1.1 Sein Leben und Werk.....................................................................................................6
  1.2 Über den Dichter Christian Morgenstern von Dieter Zimmer................................... 16
  1.3 Analyse der Gedichte von Christian Morgenstern......................................................19
     1.3.1 Mit Anmerkungen von Jeremias Müller............................................................... 26

2. Überblick über den Dadaismus................................................................................... 47

   2.1 Was ist Dadaismus?................................................................................................... 47
       2.1.1 Dadaistisches Manifest…………………………………………………………49
    2.2 Das Cabaret Voltaire und der Dadaismus………………………………………… 52
       2.2.1 Erste Nennung von Dada……………………………………………………... 55
    2.3 Entwicklung des Dadaismus……………………………………………………… 58
    2.4 Reaktionen der Kritik auf die Dada – Kunst………………………………………. 60
    2.5 Analyse der dadaistischen Gedichte………………………………………………. 64
       2.5.1 Tristan Tzara –
               Um ein dadaistisches Gedicht zu machen………………………………………64

3. Was verbindet und was trennt Christian Morgenstern und den Dadaismus………71

Schlusswort……………………………………………………………………………….. 73
Literaturverzeichnis………………………………………………………………………... 75

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Einleitung

        „Im echten Mann ist ein Kind versteckt, das will spielen.“ Dieses Zitat von Nietzsche
erscheint in fast jeder Auflage von Morgensterns Galgenlieder. Wie stark es mit diesem
Werk verbunden ist, ist nach dem Lesen sehr gut zu begreifen. Dieses Zitat gehört aber nicht
nur zu diesem Werk, es ist eigentlich das Motto von Morgensterns Leben, aber auch von
vielen, die nicht vergessen, dass man das Leben nicht nur ernst nehmen muss, und die
zugleich wissen, dass der Humor das Leben nicht lächerlich macht, sondern eine
Hochachtung vor ihm hat.
       Manche der Galgenlieder kommen aus seinen Studentenjahren (um 1895). In dieser
Zeit machte er mit seinen Freunden einen Ausflug zum Galgenberg. So hieß ein Berg in der
Nähe von Berlin und zugleich ein Restaurant. Die Inspiration für den Namen der Sammlung
ist daher offensichtlich.
       Die Galgenlieder wurden erst im Jahre 1905 herausgegeben und manche der in dieser
Sammlung erschienenen Gedichte kommen aus dieser späteren Zeit. Damals war er kein
Student mehr und seine vererbte Lungenkrankheit holte ihn wieder ein. Auch in dieser
schwierigen Lebenssituation verlor er seinen Humor nicht und nach dem Motto, dass Humor
heilt, schrieb er die nächsten verspielten Gedichte und gab diese Sammlung heraus.
       Diese Gedichte schrieb er aber nur zur Entspannung, zum Spaß und später zur
Erleichterung der Krankheit und um sie für kurze Zeit zu vergessen. Er schrieb den
Galgenliedern kein großes Gewicht zu. Wichtiger waren für ihn die ernsten, philosophisch
gestimmten Sammlungen. Paradoxerweise machten gerade diese ihn nicht so viel berühmt,
aber dank der Galgenlieder wurde er unsterblich.
       Die erste Veranstaltung von Dadaisten Im Cabaret Voltaire am 5. Februar 1916 war
den Wortspielen in Morgensterns Gedichten sehr ähnlich. Sowohl Morgenstern als auch die
Dadaisten hatten auch eine Vorliebe für die Dekonstruktion der Wörter, aber die Dadaisten
gingen darin noch weiter. Von Wörtern bleiben nur die einzelnen Laute übrig und den
Schwerpunkt der Lautgedichte bildet die Akustik. Bei Morgenstern sind die Lautgedichte nur
Randwerk, aber dank der Wortspiele und der Benutzung von Teilen des Wortes wird
Morgenstern als Vorgänger des Dadaismus bezeichnet.

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1. Über Christian Morgenstern

1.1 Sein Leben und Werk

       „Wenn ich aber tot sein werde, so tut mir die Liebe und kratzt nicht alles hervor, was
ich je gesagt, geschrieben oder getan. Glaubet nicht, dass in der Breite meines Lebens das
liegt, was euch wahrhaft dienlich sein kann. Die wichtigsten Daten meines Lebens: Geburt,
Tod der Mutter, Friedrich Kayßler, Nietzsche meine Frau, Rudolf Steiner.“
       Am 6. Mai 1871 wird Christian Otto Josef Wolfgang Morgenstern in München
geboren, Enkel des Landschaftsmalers Josef Schertel, einziger Sohn des Landschaftsmalers
Carl Ernst Morgenstern.
       Er verlebt glückliche, eindrucksreiche Kindheitsjahre: Sommermonate am Ammer-,
Staffel und Kochelsee, weil sein Vater dort mit Vorliebe malt, und erlebt zahlreiche Reisen –
darunter eine nach Tirol, der Schweiz und dem Elsaß -, weil diese Lungenleiden der Mutter
lindern. Ein geregelter Schulbesuch bleibt dem Sohn erspart. 1881 aber nimmt der
„Sonnenschein“ dieser Kindheit mit dem Tod der Mutter ein Ende. Der Zehnjährige wird
zunächst nach Hamburg zu seinem Paten, dem Kunsthändler Arnold Otto Meyer, geschickt,
1882 dann in eine Landshuter Erziehungsanstalt, wo ihn bald der Vater trösten muss: „Der
nicht geschundene Mensch wird nicht gebildet.“
       Als Carl Ernst Morgenstern – inzwischen verheiratet mit Amélie von Dall´Armi –
Professor an der Königlichen Kunstschule zu Breslau wird, lässt er seinen Sohn 1884 folgen,
der bis 1889 dort ein Gymnasium besucht. Der Gymnasiast dichtet – dreizehnjährig: „O
Afrika, du Land der Träume, du der Kamele Heimatland…“ und historische Trauerspiele,
setzt Teile der Jason- und Troja-Sage in Knittelverse und schreibt sechzehnjährig neben
humoristischen Versen Alexander von Bulgarien, ein Trauerspiel. Sechzehnjährig lernt er die
Schriften   Schopenhauers    kennen,   „vor   allem   auch   schon   die    Lehre   von   der
Wiederverkörperung“, und studiert Volapük.
       Auf Wunsch seines Vaters verlässt der Achtzehnjährige das Gymnasium vorzeitig, um
in der Militär-Vorbildungsschule des Obersten von Walther zum Offizier sich bilden zu
lassen. Bereits ein halbes Jahr später aber schreibt Morgenstern: „Ich muss gestehen, meine
Neigung zum Soldatenstande oder besser zum Soldatenberufe war nie eine echte, tiefe. Mich
hält die Poesie die Kunst, der Drang nach Wahrheit zu sehr in ihrem Bann.“ 1890 besucht er
wieder ein Gymnasium, diesmal in Sorau, und schließt dort 1892 ab. Morgenstern blickt
zurück: „Zuerst hat mich die Schule zur Unaufrichtigkeit verleitet, sodann hat sie meine

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Sittlichkeit gefährdet, darauf hat sie mich durch absolute Nichtachtung und Verhöhnung
meiner Individualität verbittet und verdüstert, zuletzt hat sie mich tödlich gelangweilt.“ Ein
wichtiges Ereignis dieser Jahre aber ist die Bekanntschaft mit Friedrich Kayßler, dem späteren
Schauspieler und „Lebensfreund“, dem Empfänger zahlloser Briefe Morgensterns, dem dieser
sein drittes Buch mit den Worten widmet:
       Wär´ der Begriff des Echten verloren,
       in Dir wär´ er wiedergeboren.

       1892 beginnt Christian Morgenstern in Breslau das Studium der Nationalökonomie,
hört Deutsche Rechtsgeschichte bei Felix Dahn und begeistert sich für Werner Sombart,
dessen „Sozialismus und soziale Bewegung“ 1897 erscheinen wird. Er gründet mit Freunden
den „Deutschen Geist“ – „hoffentlich beginnt mit ihm eine neue Ära“ -, eine von Patriotismus
getragene, die Einheit des Reiches beschwörende, hektographierte Zeitschrift, in der zitiert zu
werden Sombart gestattet und die Dahn abonniert. Er schreibt Sansara, die humoristische
„Zeichnung eines originellen Kopfes“ und plant Menschen, einen humoristischen Roman.
       Als Morgenstern das Sommersemester 1893 gemeinsam mit Kayßler in München
verbringt, fällt ihn zum ersten Mal schwer „das Leidenerbe der Mutter“ an und zwingt ihn
zum ersten Mal zu einer Kur – im schlesischen Bad Reinerz – und, nach Breslau
zurückgekehrt, zu seiner fünfmonatigen „Zimmerhaft“ im Winter. In den Wochen der
Erholung entsteht „eine Anzahl humoristisch-satirischer Aufsätze“, darunter „Die
Feigenblätter“ und ein „Interview bei einem“, das Morgensterns Lektüre in Bad Reinerz
widerspiegelt, Sternes „Tristam Shandy´s Leben und Meinungen.“ In die Monate der
Zimmerhaft fällt das wichtige Ereignis des Breslauer Studienzeit: „Wenn die Sonne
emporsteigt, erwachen die Lerchen. Die Sonne ging auf – da bin ich erwacht, eine Lerche
Zarathustras.“ Christian Morgenstern lernt das Werk Friedrich Nietzsche kennen, unter dessen
Einfluss er in den folgenden Jahren dichten wird.
       1894 trennt sich Professor Carl Ernst Morgenstern von seiner Frau Amélie, heiratet
Elisabeth Reche, seine dritte Frau, seine Malschülerin und eine Jugendfreundin seines Sohnes,
und erklärt sich – wegen der Unterhaltungszahlungen an Amélie – außerstande, das Studium
seines Sohnes weiterhin zu finanzieren. Ein Angebot Dahns, den gemeinsame Breslauer
„Bayernabende“ mit Carl Ernst Morgenstern verbinden, die Finanzierung zu übernehmen,
lehnt seinerseits – möglicherweise auf väterlichen Druck – Christian Morgenstern ab. Als
schließlich 1895 der Vater den Sohn auffordert, jegliche Verbindung mit Amélie Morgenstern
aufzugeben, und dieser sich weigert, brechen sie miteinander und werden eineinhalb

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Jahrzehnte lang nicht mehr miteinander reden. Rückblickend schreibt Christian Morgenstern
seiner Stiefmutter 1908: „Als mein Vater dreiundzwanzig Jahre alt war, da schloss ihm mein
Großvater die Welt auf; als der Sohn dreiundzwanzig Jahre alt war, da schloss sich die Tür
seines Hauses hinter ihm, wie hinter einem Toten.“
       1894 zieht Morgenstern nach Berlin, nicht um Volkswirtschaft, sondern nun
Kunstgeschichte und Archäologie zu studieren, bis er „den bezüglichen Doktor gebaut habe.“
Der Student wird von Geheimrat Jordan in der Nationalgalerie angestellt, „um einen
wichtigen Katalog sämtlicher Porträts anzufertigen,“ und erhält dafür Monatsgehalt von 75
Mark. Einige Vorlesungen werden besucht, aber das Studium bleibt weit davon entfernt,
jemals abgeschlossen zu sein. Das Interesse Morgensterns liegt längst anderswo. Gleich nach
seiner Ankunft im April besucht er die Brüder Hart, deren letzte „Kritische Waffengänge“
nun schon acht Jahre zurückliegen, deren Friedrichshagener Künstlergruppe aber noch immer,
wenn auch schon ohne den Mitbegründer Wilhelm Bölsche, am Müggelsee zusammentrifft.
Morgenstern wird dort freundlich aufgenommen und auf Empfehlung der Harts schließlich
auch in den Klub der Mitarbeiter der Täglichen Rundschau. Im Mai kann er berichten: „Alle
Freitage habe ich hier sehr interessanten Verkehr im Schriftsteller-Klub: Heinrich und Julias
Hart, Friedrich Lange, John Henry Mackay, Hanns von Gumppenberg, Paul Scheerbart,
Hegeler, Cäsar Flaischlen, Evers, Bruno Wille, Willy Pastor, O. E. Hartleben, der Maler
Hendrich etc. etc.“
       Christian Morgenstern beginnt 1894 in dieser Umgebung, „Sünde wider den heiligen
Geist zu üben“: das Feuilleton, bis zum Oktober allein für wenigstens neun Zeitschriften: Frei
Bühne, Zuschauer, Magazin für Literatur, Penaten, Deutsche Dichtung, Bremer literarische
Blätter, Frankfurter Zeitung, Monatsschrift für neue Literatur und Kunst, Hannoverscher
Kurier, Wegwarten, Wiener Rundschau, Das deutsche Dichterheim, Die Gesellschaft. Das
kulturelle Leben der Stadt Berlin kostet Morgenstern aus: Premiere des Florian Geyer, Josef
Kainz als Hamlet oder Misanthrop, die Generalproben der Philharmoniker… Er schreibt
Briefe an einen Botokunden, Zeitsatire in der Tradition der „Letteres persanes.“ Christian
Morgensterns erste Jahre in Berlin: „Es geht mir hier außerordentlich gut.“
       Im Sommer 1894 reist er nach Bad Grund, 1895 nach Sylt, 1896 in die Alpen. Der
Plan einer poetischen „Symphonie“ entsteht: „Die Symphonie enthalte alles, was ich
empfinde, das Ewige, Überzeitliche, wie das Zeitliche, im Augenblick Bedingte: die Sorgen
unserer Tage um unser Haupt wie schwarze Dohlen.“ Die vier Sätze: I. Illusion, II. Höchster
Friede, III. Venus Kobold, IV. Große Leidenschaft. Der Anspruch des Planes ist hoch – der
erste Satz „muss Niegesagtes enthalten“, der vierte „große Lebensoffenbarungen und

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Gewissheiten“ – und er kann nicht eingelöst werden. Als groteske Dichtung wird gleichzeitig
der „Welt-Kobold“ geplant: Nicht Gott, sondern ein Kobold ist der Schöpfer der Welt, „er
träumt Symphonien, er komponiert Sphärensymphonien. Und wo er einen ton denkt, da klingt
ein glühender, glüht ein klingender Stern auf, und die Spur, die im Äther er zieht, die ist der
gewollte Ton.“ Der „Welt-Kobold“ wird nicht vollendet.
       1895 erscheint In Phanta´s Schloß, „ein Zyklus humoristisch-phantastischer
Dichtungen“, Christian Morgensterns erstes Buch, 1896 sein Horatius travestitus, „ein
Studentenscherz“, und 1897 und 1898 wird mit den Bänden Auf vielen Wegen und Ich und
die Welt die Lyrik der Berliner Jahre schließlich zusammengefasst.
       Der ehemalige Offiziersschüler, Student der Nationalökonomie und Kunstgeschichte
ist freier Schriftsteller geworden. Zu seinem Alltag gehört darum auch Geldmangel. Als ihm
1897 der Georg Bondi Verlag anbietet, Strindbergs Inferno – mit dessen Autorisation – aus
dem Französischen zu übersetzten, nimmt Morgenstern den Auftrag an. Und er nimmt nur
wenige Wochen später auch an, als Paul Schlenther ihn als Übersetzer der Versdramen und
Gedichte Henrik Ibsens vorschlägt, die im Rahmen der autorisierten deutschen
Gesamtausgabe der Fischer Verlags – Herausgeber: Schlenther, Brandes, Elias – erscheinen
sollen. Im Oktober 1897 einigen sich Fischer und „ein junger deutscher Dichter, der sich in
der Literatur bereits einen Namen gemacht hat.“ (so die Umschlagankündigung), des
Norwegischen aber noch unkundig ist.
       Weil Sämtliche Werke bei der Gelegenheit des siebzigsten Geburtstages Ibsens im
März 1898 zu erscheinen beginnen sollen, willigt Morgenstern ein, bis zum Februar für den
als ersten vorgenommenen Band II Gildet paa Solhaug zu übersetzten. Das gelingt. Die
Überlegung, „ich könnte mich (…) überhaupt für dänische Literatur einrichten. – Vom
Honorar wird ja alles abhängen,“ wird Wirklichkeit. Komödie der Liebe erscheint 1898 im
dritten, Wenn wir Toten erwachen 1899 im neunten Band. 1901 folgen Brand und Peer Gynt
im vierten und 1903 schließlich Gedichte und Catilina im ersten Band. Morgenstern wird
Knut Hamsums Dramen Aftenrode und Livets Spil und Gedichte Bjornstjerne Bjornsons
übersetzen.
       Um seine Kenntnisse des Norwegischen zu vertiefen, reist Morgenstern 1898 nach
Kristiana – seit 1924 „Oslo“ – und trifft dort im Gand Hotel der Stadt zum ersten Mal mit
Henrik Ibsen zusammen. Der siebzigjährige Dichter und sein siebenundzwanzigjähriger
Übersetzer zeigen sich – auch in den Treffen, die noch folgen – miteinander umgänglich,
höflich, herzlich bisweilen. Ibsen lernt Morgensterns Arbeit schätzen. Am 14. Januar 1899 –
übersetzt sind Gildet paa Solhaug und Kjarlighedens Komedie – notiert dieser: „Mit Ibsen im

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Lesesaal des Grand zusammen. Mittags.“ (Er hatte einen braunen Mantel an mit
Seideneinsätzen.) Er kam bald auf meine Übersetzung zu sprechen: „Ja, ich finde sie
außerordentlich gelungen, die Verse sind in so fließendem Deutsch, wie ich das bei einer
Übersetzung gar nicht für möglich gehalten hätte.“
       Nach Vollendung seines letzten Dramas, Naar vi dode vaagmer, schreibt Ibsen darum
an Elias. „Ich hege den lebhaften Wunsch, dass Herr Christian Morgenstern seinerzeit die
Übersetzung meines neuen Stückes besorgen möge. Er ist ein höchst begabter, wirklicher
Dichter.“ Der Übersetzer selbst weiß um die Grenzen seiner Kunst: „Mann kann nicht von
guten und besseren, sondern nur von schlechten und weniger schlechten Übertragungen
fremder Poesie sprechen.“
       Dem Werk Henrik Ibsen steht Christian Morgenstern kritisch gegenüber, er lehnt den
„Dogmatiker, Theoretiker, Scholastiker, (…) den Theologen in Ibsen“, den „Nihilisten“ ab
und klagt 1902 vor Abschluss des Auftrags: „Die Gedichte Ibsens liegen schwer auf mir; ich
möchte endlich frei sein und soll immer noch diese fremde Welt mit mir herumschleppen, der
ich mich oft aufs bitterste Feind fühle.“ Als Ibsen 1906 stirbt, zeichnet die Witwe sechs
Personen für ihre Verdienste um das Werk des Dichters mit einem Silbermedaillon aus,
Christian Morgenstern darunter.
       Der Aufenthalt in Norwegen dauert ein einviertel Jahre, im letzen Vierteljahr bereist
Morgenstern die Westküste – Trondheim, Molde, Bergen -, besucht in Troldhangen den
Komponisten des Peer Gynt, Edvard Grieg, kann notieren: „Ein jedes Jahr schmeck ich den
Wein des Lebens um eine Nüance reicher.“ Nach einem Arztbesuch in Bergen aber erhält die
Metapher eine andere Wendung:

       Dunkler Tropfe,
       der mit heut in den Becher fiel,
       in den Becher des Lebens,
       dunkler Tropfe Tod.

       Im Herbst 1899 kehr Morgenstern nach Berlin zurück, im Sommer 1900 erkrankt er,
sucht Linderung in einem Sanatorium in Schlachtensee, dann um Winter bei Hofrat Dr.
Turban, einem Lungenspezialisten, in Davos. In diesem Jahr erscheint Ein Sommer, sein
fünftes Buch. Morgenstern bleibt auch 1901 in der Schweiz, zunächst am Vierwaldstättersee
in Kastanienbaum und Wolfenschießen – Peer Gynt wird abgeschlossen -, während des

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Winters dann in dem Gebirgskurort Arosa: „Arosa, nur mit der Post von Chur aus zu
erreichen, liegt noch höher als Davos…“ auch in den Zauberbergen aber reißt die Verbindung
mit Berlin nicht ab. Als Ernst von Wolzogens Überbrettl am 18. Januar 1901 im
Sezessionstheater am Alexanderplatz Premiere feiert, werden auch zwei Stücke Morgensterns
aufgeführt: die d´Annunzio-Parodie Das Mittagmahl und Der Hundeschwanz, eine Kerr-
Parodie, die den Stil des Kritikers so genau trifft, dass man diesen im Publikum – er selbst ist
anwesend – für den Autor hält. Max Reinhards und Friedrich Kayßlers Schall und Rauch, das
eine Woche später im Künstlerhaus in der Bellevuestraße mit einem Benefiz-Abend für den
Davoser Patienten öffnet, wird die ersten Galgenlieder präsentieren, vier Jahre bevor diese in
einem Buch erscheinen. Von der Zensur verboten werden eine Parodie auf Josef Lauff, den
Dichter des Hohenzollern-Stückes Der Burggraf (1897) und eine Parodie auf Georges
Feydeaus Komödie la dame de ches Maxim´s (1899), die eine – Der Lauffgraf – offenbar
wegen despektierlicher Anspielungen auf Wilhelm II., die andere – Die Dame von Minime –
wegen eines Betts auf der Bühne. Kayßler drängt den Freund, weitere Beiträge zu schreiben -
„du ahnst nicht, was für ein fruchtbarer Boden für diese leichte Kunst jetzt Berlin ist“ – doch
dieser kann eines nicht: „auf Bestellung arbeiten.“
       1901 lernt Morgenstern durch seinen Freund Efraim Frisch die Deutschen Schriften
des Orientalisten und Philosophen Paul de Lagarde kennen, sein Ideal vom „deutschen
Wesen“, seine Version von dessen völkischer Mission… Lagarde wird nach Friedrich
Nietsche zum zweiten geistigen Führer Morgensterns, der sich sechs Jahre später noch diese
Grabinschrift wünschen wird: den eigenen Namen, „nur den Namen und: Lest Lagarde.“
Christian Morgenstern ist der Kritiker eines bornierten Kaisers Wilhelm, aber Monarchist.
Den Sozialismus fürchtet er –„dann fängt das Blut überhaupt erst an, zu fließen“ -, Napoleon
verehrt er: „Nicht nur einmal – zehnmal Absolutismus – und nicht Parlamentarismus.“
       Anfang 1902 erscheint Und aber ründet sich ein Kranz, Morgensterns sechste
Sammlung. Im März verlässt er Arosa, reist nach Rapallo, an die italienische Riviera und
logiert schließlich im Piccolo-Hotel des Kurorts Portofino. Er reist im Mai über Pisa nach
Florenz, widmet sich ganz der Kunstgeschichte der Stadt und besucht dabei auch San Marco,
das Kloster Savonarolas. Der Plan einer Renaissance – Trilogie entsteht: Savonarola, die
Tragödie der religiösen Leidenschaft, Cesare Borgia, die Tragödie des Weltmenschen, Julius
II., die Tragödie der heroischen Ungeduld.
       Nach seiner Rückkehr in die Schweiz und nach Deutschland entschließt sich
Morgenstern noch Ende des Jahres, erneut nach Italien zu reisen, diesmal mit dem Plan, den
Lebensunterhaltung dort mit Feuilletons zu bestreiten. Die Ibsen-Übersetzung ist

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abgeschlossen, das Guthaben bei Fischer beträgt noch 15 Mark. Die Reise führt über Mailand
nach Florenz, dann „in den römischen Morgen hinein. Um sieben Uhr kam ich an und ließ
mich von einer Droschke ins Unbekannte hinausfahren.“ Rom aber erfüllt die Erwartung
nicht. Der umherstreifende Liebhaber der Kunst- und Baudenkmäler bleibt einsam, der freie
Schriftsteller unversorgt: „Vier Aufsätze monatlich = 100 M., wer bringt das fertig…“ Auf
Einladung des Musikers Ludwig Landshoff verbringt Morgenstern im Frühjahr 1903 noch
einige Wochen in Fiesole bei Florenz und kehrt schließlich im Mai nach Berlin zurück.
       Christian Morgenstern im Juli: „Berlin hat mich verschluckt, dazu bin ich einmal
wieder voll von tausend Dingen (…). Nebenbei werde ich vom 1. August ab Dramaturg bei
Felix Bloch Erben: täglich fünf Bürostunden, zehn Briefe, zwei Dramen.“ Im September ist
er Lektor bei Bruno Cassirer und „vom 15. September ab wird im Verlag von Bruno Cassirer
unter Leitung von Christian Morgenstern eine Theaterzeitschrift (Halbmonatsschrift) des
Titels Das Theater im Umfang von etwa einem Bogen erscheinen.“ Das Programm: „jeden zu
Gehör kommen lassen, der zur Weiterentwicklung des Theaters irgend etwas zu sagen weiß.
Befruchtenden Anregungen soll ebenso wie Polemik und Kritik der weiteste Spielraum
gewährt werden.“ Verkauft wird die Zeitschrift im „Kleinen Theater“ und „Neuen Theater“
mit Programmen. In zwei Jahrgängen erscheinen 25 Ausgaben mit einem Umfang von 12 bis
16 Seiten, mit Zeichnungen von Beardsley, Corinth, von Hofmann, Menzel, Slevogt, Somoff,
Toulouse-Lautrec, Karl Walser und anderen, mit Beiträgen von Julius Bab, Louise Dumont,
Efraim Frisch, Julius Hart, Richard Beer-Hofmann, Felix Hollaender, Friedrich Kayßler, Josef
Ruederer, Johannes Schlaf, Wilhelm von Scholz, Otto Stoeßl…, und im September 1904 teilt
Morgenstern mit: „Wir haben soeben Hofmannsthals Beitrag erhalten, natürlich zu lang, aber
ein Dithyrambus, der nicht zu zerreißen ist.“ Die Zeitschrift stellt im Frühjahr 1905 ihr
Erscheinen ein. Der Herausgeber nennt die Gründe: „man hat ihr (…) alle Freiheit
unterbunden, dazu ihren Umfang noch mehr beschränkt, so dass sie mir kein Vergnügen mehr
macht.“ Morgensterns Projekt einer freieren und umfangreicheren Theaterzeitschrift scheitert,
weil Geldgeber fehlen, sein Projekt „Berliner Monatshefte“ – geplanter Titel: „Der Dürfer“ –
ebenso.
       1905, als die Galgenlieder zum ersten Mal erscheinen, holt Dichter erneuert seine
Krankheit ein: Sanatoriumssommer in Wyk auf Föhr, Santoriumswinter in Birkenwerder. Er
schreibt Kindergedichte, Vom großen Elefanten, Die Enten laufen Schlittschuh, plant ein
Galgenliederkinderbuch und stellt für den Berliner Julius Bard Verlag Gedichte Walthers von
der Vogelweide zusammen, übersetzt von Simrock, Text neu ausgewählt und durchgesehen
von Christian Morgenstern. Im Mai 1906 noch immer febril, entscheidet sich für einen

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Wechsel nach Tirol. Auf der Reise dorthin verschlechtert sich sein Zustand und hält ihn einen
Monat lang in München fest, bevor er endlich Längenfeld, dann – stiller und höher gelegen –
Obergurgl erreicht.
       „Inzwischen war dem Fünfunddreißigjährigen Entscheidendes geworden. Natur und
Mensch hatten sich ihm endgültig vergeistigt. Und als er eines Abends wieder einmal das
Evangelium nach Johannes aufschlug, glaubte er es zum ersten Male wirklich zu verstehen.“:
„Ich und der Vater sind eins.“ Christian Morgenstern glaubt sein Weltbild „auf einem Punkte,
wo der Mensch mit Gott zusammenfällt, wo er aufhört, sich als Sonderwesen fühlen zu
können“, und meint zu erkennen, „dass Gott nur soweit Gott ist, als er Welt ist, dass die Welt
nichts anderes ist als Gott selbst, - dass in demselben Augenblick, da ein Mensch sich eines
Gott-Seins bewusst wird, Gott in ihm sich seiner selbst als Mensch bewusst wird.“
Morgenstern liest Meister Eckhart und Jakob Böhme, er beginnt das Tagebuch eines
Mystikers, welches er als Höhepunkt eines großen Romans mit einem Helden Wilhelm
Friedemann plant, und beginnt den Zyklus Der Christus. Beide Vorhaben bleiben
unvollendet. 1906 erscheint die Sammlung Melancholie, Morgensterns achtes Buch.
       Im Herbst dieses Jahres reist der Dichter hinunter in den Winterkurort Meranund
mietet sich in der Villa Kirchlechner von Obermais ein. Im Frühjahr 1907 reist er an den
Gardsee, im Sommer an den Vierwaldstätter See, bearbeitet dort für Reinhardt Ibsens
Gespenster, Hedda Gabler, Baumeister Solneß und Brand, reist weiter in das Schweizer
Tenigerbad und kehrt im Herbst – „da ich bei all dem Herumzigeunern wenigstens einen
festen Punkt haben muss“ – nach Obermais zurück. Dort liest er im Winter Mauthners
Beiträge zu einer Kritik der Sprache und bleibt bis zum Sommer des kommenden Jahres.
Christian Morgensterns Resümee dieser Jahre der Krankheit, der Mystik, der Skepsis: „Wenn
ich das Gegenwärtige nicht so liebte, wenn ich diese Liebe nicht hätte wie einen großen und
sicheren Fallschirm, ich wäre längst ins Bodenlose gefallen. Wie wenig meiner sicher bin ich
doch noch, ich irre in diesen europäischen Ländern umher wie ein Vogel in einem Treibhaus.“
„So kam das Jahr 1908 –
       Da traf ich Dich, in ärgster Not: den Andern!
       Mit Dir vereint, gewann ich frischen Mut…“
Morgenstern trifft im Tiroler bad Dreikirchen Margareta Gosebruch Freiin von Liechtenstern.
Sie wird er 1910 heiraten, in Hinblick auf sie wird er 1911 notieren: „Ich darf wohl sagen: Die
Entdeckung meines Mannesalters ist die Frau.“ Den August 1908 verbringen sie gemeinsam
– gemeinsam auch mit Margaretas Freundin Leontine von Hippius -, dann reisen die beiden

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Damen ab, Morgenstern kehrt nach Meran zurück und schreibt von dort am 2. September:
„Chérie, mir fehlt bereits Ihr Bild unendlich…“
       Die Jahre der „Melancholie“ nehmen ein Ende: „Meine Phantasie arbeitet jetzt stark.
Mein Glaube an mich ist mir jetzt endlich wiederkommen. Ich setzte mir jetzt unter anderem
vor: vierzehn mal vierzehn Sonette…“ Seinen „großen“ Roman greift Morgenstern wieder
auf, „einen Menschen, der sich als die Ewigkeit, die er ist, nach und nach aus der Zeit (die er
auch ist) herausgräbt.“ Geplant werden Römische Dithyramben: „welthistorische Gesänge,
ganz großen Stiles, gewaltige Erden – und Sonnenlieder.“
       Seine Liebe aber ist nicht unbeschwert. Als er die erkrankte Margareta in Freiburg
besucht, weisen ihre Mutter, eine Generalswitwe, und ihr Bruder, ein Offizier, ihn zurück. Zur
Trauung am 7. März 1910 in Meran-Obermais erscheinen weder ihre Mutter noch sein Vater:
„ich bedauere geradezu Deine Verirrung.“ Christian Morgenstern sorgt sich um eines: „Daran,
dass unsere Liebe nicht verbürgerlicht, hängt alles, alles. Wenn wir nicht die Distanz eines
namenlosen Ernstes zwischen uns legen und aufrecht erhalten, wird unsere Liebe den Weg
aller Liebe gehen.“ Dass diese Liebe einen besonderen Weg gehen wird, entscheidet sich im
Januar 1909. Im Berliner Architektenhaus hören die Verlobten einen Vortrag Rudolf Steiners
über Tolstoi und Carnegie. Von nun an wird ihre Verbindung im Zeichen von Theosophie und
Anthroposophie stehen. Beide werden gemeinsam die Schriften Steiners studieren und – wenn
möglich – gemeinsam seinen Vortragsreisen folgen. Im April hören sie in Düsseldorf „Die
geistigen Hierarchien und ihre Widerspiegelung in der physischen Welt.“ Im Mai – Margareta
begleitet ihre Mutter nach Florenz – reist Morgenstern, um Steiner zu hören, nach Kristiana:
„Er ist ein Menschheitsführer, und es bedeutet etwas, einem so Seltenen im Leben zu
begegnen.“ Die Reise ermöglicht ein „Fonds“, den Bruno Cassirer einrichtet. Im selben
Monat wird Morgenstern Mitglied der theosophischen Gesellschaft, im selben Monat nimmt
er an einem internationalen theosophischen Kongress in Budapest teil und kann die Stadt erst
wieder verlassen, als ihm telegraphisch Geld angewiesen wird: „Diese ganze Tournée ist
gewiss sehr phantastisch…“ Im Juni trifft er, um einen Zyklus Steiners über das
Johannesevangelium zu hören, mit Margareta in Kassel zusammen. Hier endlich kommt
Christian Morgenstern dem verehrten Lehrer auch persönlich näher, er wird in den Kreis der
„Esoteriker“ aufgenommen: „Glück in medias res.“ Im August hören die Verlobten Steiner in
München – „Der Orient im Lichte des Okzidents. Die Kinder des Luzifer und die Brüder
Christi“ – im September, zurück in Meran, erkrankt Morgenstern schwer.
       1910 erscheinen Palmström und Einkehr. Morgensterns ziehen im Sommer dieses
Jahres in den Dolomiten-Kurort Dürrenstein, hören Steiner in Bern, wohnen im Herbst in

                                              14
München, reisen im Oktober nach Verona, nehmen in Genua ein Schiff nach Palermo und
mieten sich für den Winter –„200 Meter über dem Strand“ – in Toarmina ein. Morgenstern
erkrankt schwer: „ich beginne, Heine um seine Matrazengruft zu beneiden.“ Einem
Krankenhausaufenthalt in Rom im Frühjahr 1911 folgen Sanatoriumsmonate in Arosa, wo das
Paar schließlich auch privat wohnen kann. Die Gedichtsammlung Ich und Du erscheint, die
letzte zu Lebzeiten Morgensterns. Den Herbst 1912 verbringt er – wie den Herbst 1900 – im
Davoser Sanatorium des Hofrat Dr. Turban, kehrt nach Arosa zurück und reist im Februar
1913 an die Adria: Portorose, wo er mit seinem späteren Biographen, dem Theosophen
Michael Bauer, zusammentrifft. Wochen in Bad Reichenhall schließen sich an, Monate in
München , Stuttgart, Leipzig in der Folge Rudolf Steiners: „Es gibt in der ganzen heutigen
Kulturwelt keinen größeren geistigen Genuss, als diesem Manne zuzuhören…“ Anfang 1914
verweigert das Sanatorium in Arco/Südtirol die Aufnahme des Schwerkranken, der schon seit
Monaten nur noch flüstern kann, widerstrebend gewährt sie ein Sanatorium in Gries bei
Bozen, bis sein Zustand sich weiter verschlechtert. Nierenkoliken setzen ein. Letzte Zuflucht
findet er in einer Pension in Meran. Dort stirbt er am 31. März 1914. 1

1
    KRETSCHMER, E. Christian Morgenstern. Stuttgart: 1985. S. 1-11.

                                                     15
1.2 Über den Dichter Christian Morgenstern von Dieter Zimmer

       Über Christian Morgensterns Werk wurde schon viel geschrieben. Mir hat besonders
gefallen, wie zutreffend sich Dieter Zimmer im Buch Die schönsten Galgenlieder von
Christian Morgenstern über ihn und seine Literatur ausdrückt:

       Der arme Christian Morgenstern zählt zu jenen Dichtern, denen nachgeborene Kritiker
bisweilen mit erhobenem Zeigefinger nachweisen, sie hätten Großartiges schaffen wollen,
sozusagen höchsten Tiefsinn, es sei ihnen jedoch, gelinge gesagt, zum Unsinn geraten: Die
ernsthaften Empfindungen in allen Ehren, lieber Meister, aber die Umsetzung in
Worte…Gewollt, aber nicht gekonnt! So streng ist manchmal die Wissenschaft. Nun hat
Morgenstern insofern Glück, dass er außer Ernsthaftem eine Menge wirklichen Unsinn
geschrieben hat. Absichtlich. Der gebildete Mensch nennt so etwas Nonsens. Damit ist
Christian Morgenstern unsterblich geworden. Wer, frage ich mal, hat je etwas anderes von
ihm gelesen als die Galgenlieder? Und wer, andersherum gefragt, kennt nicht wenigstens die
berühmten zwei Zeilen, die von Palmström handeln:
„Weil, so schließt er messerscharf,
nicht sein kann, was nicht sein darf.“
       Da frage ich mich aber schon, inwiefern dies Nonsinn oder Unsens sein soll.
Beschreibt er nicht vielmehr ganz ernsthaft ein zentrales politisches Prinzip, ohne das keine
Demokratie und schon gar keine Diktatur auskäme?
       Überhaut scheint vieles in den Galgenliedern gar nicht unsinnig, sondern höchst
plausibel. Zum Beispiel die folgende, Allgemeingut gewordene Feststellung:
       „Die Möven sehen alle aus,
       als ob sie Emma hießen.“
       Wer es nicht ohne weiteres glaubt, lese die erläuternde Bemerkung des Dichters dazu:
„Eine Erfahrung, die sich jedem aufdrängt, sobald er eine Möve daraufhin betrachtet.“ (Das
Wörtchen „daraufhin“ verrät den Meister und lässt den Empfänglichen mit der Zunge
schnalzen.)
       Der solches geschrieben hat, dachte ich lange, sollte wohl ein heiterer Gesell gewesen
sein. Aber so einfach ist es nicht. Christian Morgenstern gehörte zu den vielleicht
beneidenswerten, vielleicht bedauernswerten Menschen, die mit großer Hingabe nach
Höchster Vollendung streben und sich nie mit sich selbst zufriedengeben. Das erhebt sie über
manche geistige Niederung, aber – so Christian Morgenstern schon als sehr junger Mann:

                                             16
„Ich verbrenne an meinen eigenen Maßstäben.“ Später beklagte er, trotz glänzender Begabung
„alles in allem ein Dilettant“ geblieben zu sein.
       Die Mystik, die Philosophie Nietzsches, die Anthroposophie Rudolf Steiners haben
ihn bewegt, geradezu umgetrieben: Er reiste zu Steiners Vorträgen durch halb Europa.
Empfindungen in Dichtung umzusetzen…Das Publikum hat es ihm schlecht gelohnt. So dass
von seinem Werk – außer den klassisch gewordenen Übersetzungen norwegischer Dichter,
vor allem Ibsens – „nur“ die Galgenlieder überlebt haben, die er selbst „Beiwerkchen“
genannt hatte.
       Ob sie ein anderer teil seines Wesens waren, ob sie sein eigentliches Wesen waren, ob
beides Ausdruck       desselben Wesens war – darüber ist gerätselt worden. Jedenfalls
beschrieben alle, die ihn gut kannten, Christian Morgenstern als den liebenswertesten
Menschen, der sich denken ließ. Sein gutes Leben, fand sein Freund und Biograph Michael
Bauer, sei „vom Nachleuchten der glücklichen Kindheit erhellt“ gewesen. Einer Kindheit in
einer Münchener Künstlerfamilie. Danach hat Morgenstern manches erlitten, ein unstetes
Dasein, lange Zeiten voller Existenzsorgen, eine frühe Lungenkrankheit, die ihn zu
zahlreichen Kuren zwang und ihn am Ende nicht einmal vierundvierzig Jahre alt werden ließ.
Spät erst fand er die richtige Frau, die sich nach kurzen Ehejahren dann nur noch um den
literarischen Nachlass kümmern konnte. Zeit seines Lebens aber war Christian Morgenstern
einer, der Freundschaft und Zuneigung in ungewöhnlichem Maße auf sich zog. Für einen
Freundeskreis, der sich „Galgenbrüder“ nannte, entstanden die ersten der skurrilen Gedichte,
die ab 1905 gesammelt in Buchform erschienen. Unter wechselnden Titeln und in
unterschiedlicher Zusammenstellung kamen bis heute viele Ausgaben heraus, eine
Unordnung, die manche Wissenschaftler ganz grimmig werden lässt.
       Lebensdaten können wir ein Omen sein oder wenigstens als solches gedeutet werden.
Christian Morgenstern wurde 1871 geboren, als ein Krieg endete, und starb 1914, ehe der
nächste Krieg begann. Konnte sein Nonsens, dem seine Gegner politisch-gesellschaftliche
Harmlosigkeit zum Vorwurf machen, nur in so einer Friedenszeit entstehen? Vereinfacht
gesagt: ab 1914 keine Zeit(en) mehr zum Lachen? Dem steht die Merkwürdigkeit entgegen,
dass die Galgenlieder erst im Krieg und danach, also postum, ihren Siegeszug antraten. Weil
die Zeit was zum Lachen brauchte?

                                               17
Kurt Tucholsky schrieb 1919: „Man lacht sich krumm, bewundert hinterher, erster
geworden, eine tiefe Lyrik, die nur im letzten Augenblick ins Spaßhafte abgedreht ist – und
merkt zum Schluss, dass man einen philosophischen Satz gelernt hat.“
        Es gibt ja Forscher, die heftigst beklagen, dass die geistesgeschichtliche Stellung der
Galgenlieder noch gar nicht gründlich genug erforscht sei. Es wäre wohl wirklich höchste
Eisenbahn! Aber bis wir alles ganz genau erfahren, bleibt uns kaum anderes, als uns einfach
zu ergötzen. Der Dichter selbst gibt uns, wenn wir nur das richtige Zitat benutzen, eine
Rechtfertigung. Er bekannte nämlich mal, seine Galgenlieder seien geschrieben worden „von
einem großen Kind für große Kinder.“ 2

2
 Die schönsten Galgenlieder von Christian Morgenstern. Ausgewählt von Dieter Zimmer. [Německo]: Falken-
Verlag, 1989 S. 9-12.

                                                   18
1.3 Analyse der Gedichte von Christian Morgenstern

   In diesem Teil der Arbeit werden die Gedichte aus der Sammlung Die Galgenlieder
(1905) analysiert. Die zur Analyse ausgewählten Gedichte sind nach mehreren Kriterien
ausgewählt: Sie sollen Christian Morgensterns beliebte und typische Dichtungsmethoden
(Wortspiel, Neologismen, Personifikation usw.) zeigen, weiter sind hier die Gedichte, die bei
breiterem Publikum bekannt sind und nicht zuletzt die, die Christian Morgenstern mit seinen
eigenen Anmerkungen versehen hat (Morgenstern, Ch.: Über die Galgenlieder, Berlin 1921).
          Die Sammlung beginnt mit einer kurzen Erzählung, die dieses ganze Werk, aber nicht
nur Werk, sondern auch Morgensterns Lebensansicht erläutert: „Die Galgenpoesie ist ein
Stück      Weltanschauung.    Es   ist   die   skrupellose   Freiheit   des   Ausgeschalteten,
Entmaterialisierten, die sich in ihr ausspricht. Man weißt, was ein „mulus“ ist: die
beneidenswerte Zwischenstufe zwischen Mensch und Universum. Nichts weiteres. Man sieht
vom Galgenberg die Welt anders an, und man sieht andre Dinge als andre.“

1. WIE DIE GALGENLIEDER ENTSTANDEN

        Es waren einmal acht lustige Könige; die lebten. Sie hießen aber so und so. Wer
heißt überhaupt? Man nennt ihn. Eines Tages aber sprachen die lustigen Könige
zueinander, wie die Könige zueinander sprechen. „Die Welt ist ohne Salz; lasst und nach
Salz gehen!“ sagte der zweite. „Und wenn es Pfeffer wäre“, meinte der sechste. „Wer
weiß das Neue?“ fragte der fünfte. „Ich!“ rief der siebente. „Wie nennst du`s?“ fragte
der erste. „Das Unterirdische“, erwiderte der siebente, „das Links, das Rechts, das
Dazwischen, das Nächtliche, die Quadrate des Unsinnliches über den drei Seiten des
Sinnlichen.“ „Und der Weg dazu?“ fragte der achte. „Das einarmige Kreuz und Kopf
mit der Basis über dem Winkel“, sagte der siebente. „Also der Galgen!“ sagte der
vierte. „Esto“, sprach der dritte. Und alle wiederholten: “Esto“, das heißt „Jawohl“.
        Und die acht lustigen Könige rafften ihre Gewänder und ließen sich von ihrem
Narren hängen. Den Narren aber verschlang alsogleich der Geist der Vergessenheit. –
        Betrachten wir den „Galgenberg“ als ein Lugaus der Phantasie ins Rings. Im
Rings befindet sich noch viel Stummes.
        Die Galgenpoesie ist ein Stück Weltanschauung. Es ist die skrupellose Freiheit
des Ausgeschalteten, Entmaterialisierten, die sich in ihr ausspricht. Man weißt, was ein
„mulus“ ist: die beneidenswerte Zwischenstufe zwischen Mensch und Universum. Nichts
weiteres. Man sieht vom Galgenberg die Welt anders an, und man sieht andre Dinge als
andre.

(MORGENSTERN, Christian. Alle Galgenlieder. Ausgewählt von Horst Hussel. Wien: 1994.
S. 12.)

                                               19
2. DIE TRICHTER

Zwei Richter wandeln durch die Nacht.
Durch ihres Rumpfs verengten Schacht
       Fliesst weisses Mondlicht
          still und heiter
               auf ihren
              Waldweg
                 u. s.
                  w.

(MORGENSTERN, Christian. Alle Galgenlieder. Ausgewählt von Horst Hussel. Wien: 1994.
S. 25.)

DIE TRICHTER

          Dieses Gedicht ist voll von verschiedenen Spielarten. Auf den ersten Blick sieht man,
dass die Verse so geordnet sind, dass es wie ein Trichter aussieht; diese Anordnung nennt
man Kaligramm (ein ins Gebilde geschriebenes oder angeordnetes Gedicht, das seinen Inhalt
andeutet). Es ist eine andere Art von Gedichtwahrnehmung. Wir können es nicht nur lesen
und unsere Phantasie arbeiten lassen, sondern wir können auch das Gedicht wie ein Bild
optisch wahrnehmen. Solche verschiedene „Attacken“ auf unsere Wahrnehmung bietet dieses
Gedicht und doch war diese Weise (Kaligramm) mehr oder weniger Ausnahme in
Morgensterns Werk, obwohl es so spiellustig aussieht, gerade wie es Christian Morgenstern
mochte.
          Es ist sehr interessant, dass er gerade so einfache Dinge für den Hausgebrauch in
seinem Gedicht benutzt hat. Es könnte auch daher kommen, dass sie sehr einfache Formen
haben und er daraus leicht ein Kaligramm bilden konnte. Aber es kann auch eine ganz andere
Erklärung haben: Christian Morgenstern wollte über alle Dinge ein witziges, verspieltes
Gedicht schreiben. Also warum nicht gerade über Trichter?

                                               20
3. WIE SICH DAS GALGENKIND DIE MONATSNAMEN MERKT

Jaguar
Zebra
Nerz                          Auerochs
Mandrill                      Wespenbär
Maikäfer                      Locktauber
Pony                          Robbenbär
Muli                          Zehenbär

(MORGENSTERN, Christian. Alle Galgenlieder. Ausgewählt von Horst Hussel. Wien: 1994.
S. 29.)

WIE SICH DAS GALGENKIND DIE MONATSNAMEN MERKT

          Das ganze Gedicht hat keine Handlung, es ist nur auf dem Wortspiel begründet. Wenn
wir dieses Gedicht in eine andere Sprache übersetzen möchten, müssten wir auch das
Wortspiel in diese Sprache übertragen. In der deutschen Sprache z.B. gibt es solche Tiere, die
ähnlich wie die Monatsnamen lauten, im Englischen gibt es auch solche Tiere, aber wieder
ganz andere. In der tschechischen Sprache gibt es keine solchen Tiere, man muss ganz andere
Wortverbindungen benutzen, die den Monatsnamen ähnlich sind. So entstehen viele
Übersetzungen, die dem Original nicht mehr so ähnlich sind. Und dann wird sicher ein
„Pedant“ fragen, es ist noch Morgenstern?3. Morgenstern würde sicher erstaunen, was er alles
verursachte, aber er war der Autor, der so ein sprachlich kompliziertes Gedicht geschrieben
hat, das in anderen Sprachen anders klingen muss, damit muss der Autor auch rechnen.
          Das Gedicht ist also eine Veränderung der Monatsnamen, die das Kind aufführt.
Dieses Spielwort hängt phonetisch mit den Monatsnamen zusammen, aber die Bedeutungen,
die neu gebildet sind, hängen mit dem Denken und der Phantasie dieses Kindes zusammen.
Morgenstern hat dieses Gedicht für ein unartiges Kind ausgedacht, es ist eben doch ein
Galgenkind.

3
 Nach: Morgenstern v Čechách. Vybrali a uspořádali Josef Brukner a Petr Komers. Komentáře k básním Josef
Brukner. Praha: 1996. S. 30-31.

                                                   21
4. DAS AESTHETISCHE WIESEL

       Ein Wiesel
saß auf einem Kiesel
inmitten Bachgeriesel.

          Wisst Ihr
          weshalb?

   Das Mondkalb
   Verriet es mir
    Im Stillen:

    Das raffinier-
      te Tier
tat´s um Reimes willen

(MORGENSTERN, Christian. Alle Galgenlieder. Ausgewählt von Horst Hussel. Wien: 1994.
S. 16.)

DAS AESTHETISCHE WIESEL

          Ein Gedicht mit unerwarteter Pointe. Man wartet auf eine Erklärung, ist ganz
gespannt, warum dort das Wiesel sitzt, und denkt sich schon viele Antworten aus, aber was
man erfährt, ist ganz überraschend. Das ist ein schöner Beweis, wie gut Morgenstern mit dem
Leser spielen kann und wie überraschende Pointen er machen kann.
          Hier benutzt er auch das Wortspiel, am Anfang reimt er drei Wörter miteinander und
das ganze Gedicht schließt auch so, es ist eigentlich alles nur wegen dem Reim getan.

                                                22
5. AUF DEM FLIEGENPLANETEN

Auf dem Fliegenplaneten,
da geht es dem Menschen nicht gut:
denn was er hier der Fliege,
die Fliege dort ihm tut.

An Bändern voll Honig kleben
Die Menschen dort allesamt
Und andre sind zum Verleben
In süßliches Bier verdammt.

In Einem nur scheinen die Fliegen
dem Menschen vorauszustehn:
Man bäckt uns nicht in Semmeln
Noch trinkt man uns aus Versehn.

(MORGENSTERN, Christian. Alle Galgenlieder. Ausgewählt von Horst Hussel. Wien: 1994.
S. 23.)

AUF DEM FLIEGENPLANETEN

       Außer dem, dass es eine gute Idee und interessante Vorstellung ist, kann das auch
eine Warnung für die Leute sein. Sie könnten sich mal vorstellen, ob es ihnen auch angenehm
wäre, wenn die Tiere mit ihnen dasselbe machen würden, wie sie mit den Tieren. Man kann
das auch in ein Sprichwort zusammenfassen: Was du selbst nicht magst, mach es nicht
anderem. Aber das Gedicht kann auch als ein lustiger Einfall ohne tiefere Zusammenhänge
genommen werden und klingt trotzdem gut.

6. DIE ZWEI WURZELN

Zwei Tannenwurzeln groß und alt
Unterhalten sich im Wald.

Was droben in den Wipfeln rauscht,
das wird hier unten ausgetauscht.

Ein altes Eichhorn sitzt dabei
Und strickt wohl Strümpfe für die zwei.

Die eine sagt: knig. Die andre sagt: knag.
Das ist genug für einen Tag.

(MORGENSTERN, Christian. Alle Galgenlieder. Ausgewählt von Horst Hussel. Wien: 1994.
S. 31.)

                                             23
DIE ZWEI WURZELN

          Dieses Gedicht kann man als eine Parallele zum „aesthetischen Wiesel“ nehmen. Die
„Mikrogeschichte“ spielt sich auch im Wald ab und es endet auch anders als man erwartet.
Man wartet, was kommt, was werden die zwei Wurzeln noch machen. Man denkt, dass sie
vielleicht verraten, worüber sie sprechen, und das als Ausgangspunkt zur einer großen
Geschichte dienen wird, aber es passiert nichts, sie unterhalten sich nur, das Eichhorn strickt
dabei und alles läuft nach einer eingeführten Ordnung.

7. NEUE BILDUNGEN,
DER NATUR VORGESCHLAGEN

Der Ochsenspatz
Die Kamelente
Der Regenlöwe
Die Turtelunke
Die Schosseule
Der Walfischvogel
Die Quallenwanze
Der Gürtelstier
Der Pfauenochs
Der Werfuchs
Die Tagtigall
Der Süßwassermops

Der Weinpintscher
Das Sturmspiel
Der Eulenwurm
Der Giraffenigel
Das Rhinozepony
Die Gänseschmalzblume
Der Menschenbrotbaum

(MORGENSTERN, Christian. Alle Galgenlieder. Ausgewählt von Horst Hussel. Wien: 1994.
S. 30.)

                                              24
NEUE BILDUNGEN, DER NATUR VORGESCHLAGEN

      Dieses Gedicht ist ein nächstes Beispiel, dass sich Christian Morgenstern sehr gern
neue Wörter ausdenkt, die schon einigen existierenden Wörtern oder Wortgruppen ähnlich
sind (vergleiche diesen Vorgang mit dem Gedicht „Wie sich das Galgenkind die
Monatsnamen merkt“). Das ist wieder sehr kompliziert für die Übersetzter, sie müssen die
„Fachtermini“ finden, die den wirklichen Fachtermini ähnlich sind. Sie müssen z. B. das
Attribut als allgemein, Feld-, Teich- zugeben, damit es als ein wirklicher Termin klingen
würde. Es ist aber vielleicht leichter als das Gedicht „Wie sich das Galgenkind die
Monatsnamen merkt.“ Bei dem Gedicht mussten die Übersetzer ganz neue Wörter finden, hier
können sie es teilweise übersetzen und sich damit inspirieren lassen, um einen für die
jeweilige Sprache passenden Namen herauszubilden.

                                           25
1.3.1 MIT ANMERKUNGEN VON JEREMIAS MÜLLER
            (CHRISTIAN MORGENSTERN)

          Seit die Galgenlieder 1905 erstmal erschienen waren und im Publikum reges Echo
fanden, häuften sich auch Interpretationswünsche seitens der Leser. Der Dichter reagierte
darauf bei einigen Anfragen ernsthaft, ohne sehr ins Detail zu gehen. Im Übrigen aber begann
er, für eine Reihe von Galgenliedern pseudowissenschaftliche Kommentare zu verfassen, als
deren Urheber er den von ihm erfundenen Galgenlieder Herausgeber Lic. Dr. Jeremias
Mueller ausgab. Komplett erschienen ist diese Travestie wissenschaftlicher Prosa erst Jahre
nach Morgensterns Tod (MORGENSTERN, Christian. Über die Galgenlieder. Berlin: 1921.).
Sie       gehört untrennbar von den Galgenliedern – zum Schönsten, Kauzigsten des
Morgensternschen Werks. 4
          Dank diesen Kommentaren kann man sich eine genauere Vorstellung machen, wie
Christian Morgenstern über Poesie und hauptsächlich über die Literaturtheorie nachgedacht
hat.

8. DAS GROßE LALULÁ

Kroklokwafzi? Semememi!
Seiokrontro – prafriplo:
Bifzi, bafzi, hulalemi:

Quasi basti bo…
Lalu lalu lalu lalu la!
Hontraruru miromente
Zasku zes rü rü?
Entepente, leiolente
Klekwapufzi lü?
Lalu laliu lalu lalu la!

Simarar kos malzipempu
Silzuzankunkrei!
Marjomar dos: Quempu Lempu
Siri Suri Sei!
Lalu lalu lalu la!

(MORGENSTERN, Christian. Alle Galgenlieder. Ausgewählt von Horst Hussel. Wien: 1994.
S. 18.)

4
    Das schönste von Christian Morgenstern. Ausgewählt von Rudolf Reschke. Gütersloh: 1992. S. 280.

                                                      26
CHRISTIAN MORGENSTERN (weiter nur CH. M.)

Man hat diesem Gesang bisher viel zu viel untergelegt. Es verbirgt einfach ein – Endspiel.
Keiner, der Schachspieler ist, wird ihn je anders verstanden haben. Um aber auch Laien und
Anfängern entgegenzukommen, gebe ich hier die Stellung.
Kroklokwafzi? – K a 5 = (weißer König) a 5. Das Fragezeichen bedeutet: Ob die Stellung des
Königs nicht auf einem andern Felde vielleicht noch stärker sein könnte? Aber sehen wir
weiter.
Semememi! – S e I = (schwarzer) Springer e I. Das Ausrufungszeichen bedeutet: Starke
Position!
Bifzi, bafzi, - b f 2 und b a 2 (weiß). Versteht sich von selbst.
Entepente – T e 3 = (weißer) Turm e 2.
Leiolente – L e 2 = (schwarzer) Läufer e 2.
kos malzipempu silzuzankunkrei. (Sehr interessant!) – K a 4 oder 6 = König (schwarzer
König) a 4 oder 6. Nun ist dies aber nach Schachregeln unmöglich, da der weiße König auf a
5 steht. Liegt also hier ein Fehler vor? Kaum. Das eingeklammerte Semikolon beweist, dass
Verfasser sich des scheinbaren Fehlers wohl bewusst ist. Gleichwohl sagt er durch das
Rufzeichen: Lasst ihn immerhin stehn. Nun gut, vertrauen wir ihm, obschon kopfschüttelnd.
Dos – D 6 oder 7 = (weiße) Dame auf einem Felde der 6. oder 7. Reihe. Weiß ist so stark,
dass seine Dame auf jedem Felde dieser beiden Reihen gleich gut steht.

Siri Suri Sei. (Aha! Nun klärt sich K a 4 oder 6 auf!) – S 6 = weißer Springer 6 (sei,
italienisch = 6). Ja, aber auf welchem Felde? Nun eben! Dies ist nicht näher bezeichnet! Der
Springer wird daher den Platz des schwarzen Königs neben dem weißen König einnehmen
und diesem dafür überlassen, sich in der 6. Reihe oder, falls da die Dame stehen sollte, in der
4. Reihe einen bequemen Platz zu suchen. So ist denn alles zur Zufriedenheit erledigt.

(Im übrigen ergibt der vierte Teil der um zwei verminderten Buchstabensumme der drei
Strophen die Zahl 64. Sapienti sat.) 5

5
    Morgenstern, Ch.: Berlin 1921, S. 15-16.

                                                 27
DAS GROSSE LALULÁ

       Am konsequentesten mit Klängen hat das Kind im Manne Morgenstern in „Das große
Lalula“ gespielt. Die Dadaisten sollen es 1916 bei den ersten Vorstellungen im „Cabaret
Voltaire“ deklamiert haben, ihre eigenen „Lautgedichte“ sind ohne das Morgensternsche
Vorbild kaum denkbar. 4.-
       Der Unsinn ist eines der Hauptmerkmale des Dadaismus. In diesem Gedicht können
wir aber auch den Reim in der Form: a, b, a, b, c sehen. Es handelt sich um einen
Wechselreim mit dem Refrain – Lalu lalu lalu la! – am Ende jeder Strophe.
       Aber Christian Morgenstern hat nicht nur Unsinniges geschrieben, er hat auch sehr
spiellustige Gedichte verfasst, die dem Dadaismus sehr nahe standen.

                                             28
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