Chronisches Fatigue-Syndrom Myalgische Enzephalomyelitis Ein Handbuch für Ärzte - IACFS/ME - Fatigatio eV
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ME/CFS: Ein Handbuch für Ärzte Schriftenreihe Informationen, Konzepte und Erfahrungen Nr. 22 Chronisches Fatigue-Syndrom Myalgische Enzephalomyelitis Ein Handbuch für Ärzte Internationale Gesellschaft für Chronisches Fatigue-Syndrom/ Myalgische Enzephalomyelitis IACFS/ME 1
ME/CFS: Ein Handbuch für Ärzte Ausgabe von 2013 ME/CFS: Ein Handbuch für Ärzte Mitglieder des Handbuch-Schreibkomitees im IACFS/ME Dr. Fred Friedberg Vorsitzender , Stony Brook, New York, USA Dr. med. Lucinda Bateman, B.S. Dr. Kenneth J. Friedman Dr. med. Charles W. Lapp Allgemeine Innere Medizin Physiologe, Naturwissenschaftler Ambulanzarzt Salt Lake City, Utah, USA Castleton, Vermont, USA Charlotte, North Carolina, USA Dr. med. Alison C. Bested, F.R.C.P.C. Dr. med. Alan Gurwitt M.A. Staci R. Stevens Hämatologische Pathologie Psychiater (Molekulare) Belastungsphysiologin Toronto, Ontario, Kanada Newton Highlands, Massachusetts, USA Stockton, Kalifornien USA Todd Davenport, D.P.T., O.C.S. Dr. Leonard A. Jason Rosemary A. Underhill, M.B., B.S. Physikalischer Therapeut Psychologe der Klinikgemeinschaft Ärztin Stockton, Kalifornien, USA Chicago, Illinois, USA Upper Saddle River, NJ, USA Rosamund Valings, M.B., B.S. Ambulanzärztin Howick, Neuseeland Danksagungen Wir sind dankbar für die großzügige Unterstützung von „Chase Community Giving“ und „Hemispherx Biopharma“ bei der Erstellung dieses Handbuchs. Das Handbuch-Komitee möchte außerdem seinen Dank gegenüber folgenden Personen aussprechen: Dr. med. Lily Chu, Barbara B. Comerford Esq., Dr. Lucy Dechene, Pat Fero, Dr. med. Nancy G. Klimas, der CFIDS/ ME & FM-Gesellschaft Massachusetts, Lydia Neilson, Ellen V. Piro und Dr. med. Eleanor Stein für ihre sorgfältige Lektüre einer früheren Fassung dieses Handbuchs. Wir danken auch Renée Rabache für die Spende des Bildes für das Titelblatt dieses Handbuchs. Kontakt IACFS/ME, 27 N. Wacker Drive, Suite 416, Chicago, IL 60606, USA www.iacfsme.org Email: Admin@iacfsme.org Copyright © 2012 International Association for Chronic Fatigue Syndrome/ Myalgic Encephalomyelitis Stellungnahme zu möglichen Interessenkonflikten Die IACFS/ME bekam eine Spende von 10.000$ von Hemispherx, dem Hersteller von Ampligen ® (einem möglichen Medika- ment bei ME/CFS), die diesem Handbuch zugute kam. Charles Lapp ist Prüfarzt für Ampligen®-Studien bei Hemispherx und besitzt eine kleine Anzahl von Aktien dieser Firma. Lucinda Bateman war für zehn Jahre Prüfärztin für Ampligen®-Studien von Hemispherx. Alle anderen Autoren versicherten, keine Interessenkonflikte zu haben. Haftungsausschluss Das Handbuch entstand durch einen Konsens der Mitglieder des Handbuch-Komitees, die sich bemüht haben, sicherzustel- len, dass die Informationen korrekt und auf dem neuesten Stand sind – unter dem Vorbehalt, dass es noch keine etablierte physiologische Grundlage von ME/CFS gibt. Statements, Meinungen und Forschungsergebnisse, die in diesem Handbuch veröffentlicht sind, sind diejenigen der einzelnen Autoren und der zitierten Studien, sie spiegeln nicht notwendigerweise die Position oder Verfahrensweisen der IACFS/ME wider. Die IACFS/ME übernimmt weder die ausdrückliche, noch die stillschwei- gende Garantie für die Korrektheit oder Seriosität aller Inhalte dieses Handbuchs. Die Empfehlungen, die in diesem Hand- buch gegeben werden, erheben keinen Anspruch auf einen exklusiven Behandlungsverlauf oder eine exklusive Vorgehens- weise. Nichts in diesem Handbuch kann das medizinische Urteil eines behandelnden Arztes ersetzen. 1
ME/CFS: Ein Handbuch für Ärzte Impressum Herausgeber: Fatigatio e.V. Bundesverband Chronisches Erschöpfungssyndrom (CFS/CFIDS/ME) Albrechtstraße 15 D - 10117 Berlin Tel: 030 • 310 18 89 - 0 Fax: 030 • 310 18 89 - 20 Email: info@fatigatio.de Homepage: www.fatigatio.de Übersetzung: Katrin Himmler und Kerstin Eßing Übersetzung erfolgte mit freundlicher Genehmigung des Präsidenten der IACFS/ ME Dr. Fred Friedberg Redaktionelle Bearbeitung Edelgard Klasing Druck: PMS Print + Medien Schäferstr. 34 59174 Kamen 1. Auflage 2012 Wir danken herzlich für die finanzielle Unterstützung dieses Nachdrucks durch die Techniker Krankenkasse. 2
ME/CFS: Ein Handbuch für Ärzte VORWORT des autonomen Nervensystems bei Patienten mit ME/CFS ergeben. Vor ungefähr 25 Jahren begann die moderne Medizin ernst- Energiestoffwechsel: Es gibt eine wachsende Zahl von Hin- haft die Krankheit zu erforschen, die wir jetzt als Chronisches weisen daraus, dass der Energiestoffwechsel und die Funkti- Erschöpfungssyndrom kennen - auch bekannt als Myalgi- on der Mitochondrien bei Patienten mit ME/CFS beeinträch- sche Enzephalomyelitis (ME/CFS). tigt sind. Die Grundlage für diese Anomalien steht nicht In den Vereinigten Staaten haben die „National Institutes of eindeutig fest, aber chronische Virusinfektionen und eine chronische Aktivierung des Immunsystems sind bekannte Health“ und die „Centers for Disease Control and Preventi- Ursachen für solche Anomalien. on“ in ihren eigenen Laboren Forschung durchgeführt und anderswo Forschung gefördert. Die „International Associati- Infektiöse Auslöser: Viele (aber nicht alle) Patienten berich- on for CFS/ME (IACFS/ME) hat zehn internationale Konferen- ten, dass ihre Erkrankung schlagartig begann, mit einer in- zen organisiert, auf denen Wissenschaftler aus aller Welt tau- fektähnlichen Erkrankung. Es gibt gute Belege dafür, dass sende von Forschungsstudien präsentiert haben. ME/CFS die Folge von verschiedenen viralen und bakteriel- Was haben uns 25 Jahre Forschung gezeigt? Damals hatten len Infektionen sein kann. Tatsächlich ist es unwahrschein- wir keine Vorstellung von der zu Grunde liegenden Patho- lich, dass sich ein einziger neuartiger Erreger in der großen physiologie dieser Krankheit. Schlimmer noch, wir wussten Mehrheit der Fälle als Ursache erweisen wird. Auch gibt es nicht einmal, ob es irgendwelche zu Grunde liegenden bio- Hinweise, dass verschiedene Viren latente, lebenslange In- logischen Anomalien bei der Krankheit gibt. Tatsächlich be- fektionen bei vielen Menschen auslösen können, die bei ME/ haupteten einige Kliniker und Wissenschaftler, dass die CFS wiederaufflammen oder reaktiviert werden, obwohl un- Krankheit wahrscheinlich psychologisch sei, und einige be- klar ist, ob das die Ursache oder ein Effekt der Krankheit ist. haupteten sogar, dass sie eine Konstruktion sei: Patienten Aktivierung des Immunsystems: Viele Studien haben ge- würden sich Symptome einbilden, die keine physiologische zeigt, dass eine chronische T-Zellen-Aktivierung vorliegt. Basis hätten. Eine gerade erschienene Studie zu dem Medikament Ritu- Für diejenigen unter uns, die praktizierende Ärzte sind, war ximab liefert indirekte Beweise für eine chronische B-Zellen- das eine frustrierende Situation. Wir hatten wenig Kenntnis- Aktivierung. se und keine sicheren Mittel, mit denen wir versuchen konn- Genetische Komponente: Zwillingsstudien, Studien der ten, den Patienten zu helfen, die zu unserer Praxis kamen. HLA-Antigene und einige Gensequenzstudien zeigen, dass Aus meiner Sicht hat die Forschung der letzten 25 Jahre viele ME/CFS – wie die meisten Krankheiten – eine zugrunde lie- zu Grunde liegende biologische Anomalien identifiziert, die gende genetische Komponente hat. bei Patienten mit ME/CFS häufiger gefunden werden als bei Auswirkungen auf die Praxis: Trotz der erheblichen Fort- gesunden Kontrollgruppen oder bei Gruppen mit anderen schritte im Verständnis der zugrunde liegenden Biologie bei Krankheiten, die mit Erschöpfung verbunden sind, ein- ME/CFS haben wir bislang noch keinen ausreichend genau- schließlich Depression, Multipler Sklerose und Borreliose. en diagnostischen Test oder eine bewährte Behandlung. Was Neurologische Anomalien wir Patienten sagen können, ist: 1) Die Forschung versucht Gehirnuntersuchungen mit bildgebenden Verfahren wie herauszufinden, was im Körper schief läuft; 2) viele Labore SPECT, PET und MRT haben Anomalien sowohl in der weißen arbeiten an der Entwicklung diagnostischer Tests und Be- als auch in der grauen Hirnsubstanz gefunden. Kognitive handlungsempfehlungen, entsprechend unserem wachsen- Tests haben Auffälligkeiten gezeigt, die nicht in Verbindung den Verständnis darüber, wie ME/CFS den Körper beein- mit irgendwelchen koexistenten psychologischen Krankhei- trächtigt. ten stehen. Eine Gruppe, die EEG-Daten verwendete, hat In diesem Primer ist das gesammelte Wissen vieler erfahre- eine „Signatur“ gefunden, durch die sich Patienten mit ME/ ner Kliniker und klinischer Wissenschaftler zusammengetra- CFS von Patienten mit Depression und von Gesunden unter- gen worden. Hier finden Sie Tips, wie Sie ME/CFS diagnosti- scheiden. Neuroendokrinologische Studien haben Anomali- zieren können, und Hinweise auf Therapien, die Besserung en in mehreren Hormonausschüttungsachsen des Hypotha- zu bringen scheinen, obwohl sie nicht heilen. Ich denke, Sie lamus identifiziert, Anomalien, die oft das Gegenteil dessen werden ihn nützlich finden. sind, was bei Depressionen gesehen wird. Studien zu Protei- nen in der Spinalkanalflüssigkeit haben einzigartige Muster Dr. med. Anthony L. Komaroff gefunden, und die Konzentration von Milchsäure in der Rü- Simcox-Clifford-Higby Professor der Medizin, ckenmarksflüssigkeit (und, folglich auch der pH-Wert) sind Harvard Medical School anomal. Schließlich haben zahlreiche Studien Anomalien Leitender Oberarzt des Brigham & Women’s Hospital 3
ME/CFS: Ein Handbuch für Ärzte INHALTSVERZEICHNIS 5.8. Management von begleitenden Faktoren Orthostatische Intoleranz und kardiovaskuläre Symp- tome Gastrointestinale Probleme Harnwegssymptome Allergien Präfix Multiple Chemikaliensensitivität (MCS) 1. Einführung und Überblick Infektionen und immunologische Faktoren 1.1. Namensgebung 5.9. Ernährungsmanagement 1.2. Epidemiologie 5.10. Alternative und ergänzende Behandlungsansätze 1.3. Diagnose 5.11. Nachsorge 1.4. Darstellung und Krankheitsverlauf 1.5. Die Rolle des Arztes bei Diagnose und Krankheitsma- 6. Klinische Überlegungen nagement 6.1. Schwerstbetroffene Patienten 6.2. Schwangerschaft 2. Ätiologie 6.3. Gynäkologische Probleme 2.1. Prädisponierende Faktoren 6.4. Kinder mit ME/CFS 2.2. Begünstigende und kausale Faktoren 6.5. Impfungen 3. Pathophysiologie 6.6. Blut- und Knochenmarkspende 3.1. Anomalien des Immunsystems 6.7. Empfehlungen vor chirurgischen Eingriffen 3.2. Neuroendokrine Dysregulation 7. Literaturverzeichnis 3.3. Anomalien des Gehirns 3.4. Kognitive Beeinträchtigungen 3.5. Autonome/ kardiovaskuläre Störungen Anhänge 3.6. Mitochondriale Anomalien / Störungen der Energie- A Arbeitsblatt zur Internationalen Falldefinition zur Er- produktion forschung von ME/CFS (Fukuda et al. 1994) 3.7. Genetische Studien B Arbeitsblatt zur pädiatrischen Falldefinition von ME/ CFS (Jason et al.) 4. Klinische Diagnose C Skala der funktionellen Belastbarkeit 4.1. Patientengeschichte Arbeitsblatt zur Diagnostik D Aktivitätstagebuch 4.2. Körperliche Untersuchung E Empfehlungen vor chirurgischen Eingriffen 4.3. Laboruntersuchungen 4.4. Differentialdiagnosen 4.5. Unterscheidung des ME/CFS von Depression und Angststörungen 4.6. Ausschlussdiagnosen 4.7. Komorbide Erkrankungen 5. Krankheitsmanagement / Behandlung 5.1. Behandlungsansätze 5.2. Schlaf 5.3. Schmerzen 5.4. Erschöpfung und Zustandsverschlechterung nach An- strengung (PEM) Management von PEM: Pacing und Energiemanage- ment Aktivitäten und körperliche Bewegung 5.5. Kognitive Probleme 5.6. Depression, Ängste und Verzweiflung 5.7. Kognitive Verhaltenstherapie (KVT) 4
ME/CFS: Ein Handbuch für Ärzte PRÄFIX Dieses Handbuch wurde für Ärzte geschrieben. Unser Ziel ist es, die Informationen zur Verfügung zu stellen, die für ein besseres Verständnis, eine sichere Diagnose und ein individuelles Krankheitsmanagement beim „Chronischen Erschöpfungssyndrom“ - auch bekannt als „Myalgische Enzephalomyelitis“ (ME/CFS) - nötig sind. Der Text wurde übereinstimmend vom Handbuch-Ko- mitee entwickelt. Die Autoren haben sich außerordentlich Mühe gegeben, sicher zu stellen, dass die hier vorliegenden Infor- mationen korrekt und auf dem neuesten Stand sind. Wo veröffentlichte Studien fehlen, basieren unsere Empfehlungen auf den klinischen Erfahrungen unserer praktizierenden Ärzte. Wir hoffen, dieses Handbuch wird zum nützlichen Begleiter in Ihrer Praxis und zum wertvollen Nachschlagewerk in Ihrer Hand- bibliothek. Regelmäßige Aktualisierungen sind auf unserer Website www.iacfsme.org verfügbar. 1. EINFÜHRUNG UND ÜBERBLICK dere, weniger bekannte Namen dieser Erkrankung sind auch „Myalgische Enzephalopathie“ und „Chronisches Erschöp- Die Begriffe „Chronisches Erschöpfungssyndrom“ und „Myal- fungs- und Immundysfunktionssyndrom“ (CFIDS). Die Welt- gische Enzephalomyelitis“ (ME/CFS) beschreiben eine kom- gesundheitsorganisation (WHO) klassifiziert die „Myalgische plexe körperliche Krankheit, die durch lähmende Erschöp- Enzephalomyelitis“ unter G93.3 als eine Krankheit des zentra- fung, Verschlimmerung der Symptome nach Anstrengung len Nervensystems. (3) Eine ähnliche Krankheit, das „Post-vira- geistiger oder körperlicher Art, Schmerzen, kognitive Proble- le Erschöpfungssyndrom“ (PVFS), beschreibt eine anhaltende me, Schlafstörungen und eine Anzahl weiterer immunologi- Erschöpfung in Folge einer Virusinfektion. scher, neurologischer und autonomer Manifestationen cha- rakterisiert ist. (1) Der Name „ME“ wird überwiegend in Europa und Kanada ver- Das Hauptmerkmal des Syndroms ist die Symptomverschlim- wendet, während der Begriff „CFS“ eher in den USA und Aust- merung nach Anstrengungen, das bedeutet ein Aufflammen ralien benutzt wird. Eine Anzahl verschiedener, sich über- von Symptomen schon nach minimaler physischer wie men- schneidender Falldefinitionen wurde unter beiden taler Aktivität, das Stunden, Tage oder sogar Wochen andau- gebräuchlichen Begriffen veröffentlicht. Die meisten For- ern kann. Ruhe oder Schlaf führen nur zu einer geringen Bes- schungsstudien benutzen den Begriff „CFS“ auf Grundlage serung der Erschöpfung und der anderen Symptome. der zu diesem Begriff verfassten „Fukuda-Kriterien“ (Fukuda Die Krankheit ist auch durch substantiell reduzierte körperli- et al., 1994) (4). che und/oder kognitive Leistungsfähigkeit gekennzeichnet. Die Akronyme ME/CFS und CFS/ME werden zunehmend welt- weit verwendet. Obwohl ME/CFS eine körperliche Erkrankung ist, kann ein chronischer Verlauf mitunter psychische Auswirkungen ha- ben, wie bei vielen anderen chronischen Krankheiten auch. 1.2. EPIDEMIOLOGIE Die Mehrheit der Patienten sind sporadische Einzelfälle, ob- 1.1. NAMENSGEBUNG wohl Massenausbrüche in vielen, weit verstreuten Gebieten auftraten (5), so etwa in Der Begriff „Myalgische Enzephalomyelitis“ (ME) wurde im Island (1948), London, England (1956), Neuseeland (1984) Jahre 1956 geprägt, um einen gut dokumentierten Cluster- und in den Vereinigten Staaten (Nevada, 1984; New York State oder Massenausbruch einer erschöpfenden Krankheit in Lon- und North Carolina, 1985). Die Krankheit betrifft alle Alters- don (England) zu beschreiben. Der Name „Chronisches Er- gruppen, Ethnien und Gesellschaftsschichten. Am häufigsten schöpfungssyndrom“ (CFS) kam in Folge der Untersuchungen tritt sie bei den 30- bis 50-Jährigen auf, sie kann jedoch alle eines Massenausbruchs einer ähnlich erschöpfenden Krank- Altersgruppen treffen. Es wird geschätzt, dass etwa 0,42% der heit in Nevada (USA) im Jahre 1984 auf. CFS ersetzte dort den erwachsenen U.S.-Bevölkerung an ME/CFS leiden, hiervon vorläufigen Namen „Chronisches Epstein-Barr-Virus Syndrom“, sind etwa 70% Frauen. (6) Prävalenzschätzungen aus einigen weil klinische Studien das Epstein-Barr-Virus nicht als mögli- anderen Ländern liegen teilweise höher, teilweise niedriger. chen Auslöser bestätigen konnten. Der Name „Chronisches Genaue Daten zur Prävalenz bei Kindern und Jugendlichen Erschöpfungssyndrom“ (CFS) ist umstritten, da er die Krank- liegen noch nicht vor, sie scheinen jedoch niedriger zu sein als heit durch seine Ungenauigkeit und Verharmlosung nicht bei Erwachsenen, wobei Mädchen und Jungen gleicherma- treffend beschreibt. (2) CFS wurde in der öffentlichen Wahr- ßen betroffen sind. nehmung auch mit dem Begriff des allgemeinen, unspezifi- schen Leidens an chronischer Erschöpfung verwechselt. An- 5
ME/CFS: Ein Handbuch für Ärzte 1.3. DIAGNOSE krankung ist bei Erwachsenen selten. (10) In Ermangelung eines validierten diagnostischen Tests ba- Die Beobachtung des Aktivitätsniveaus über einen längeren siert die Diagnose allein auf der Symptombeschreibung Zeitraum (wenigstens 6 Monate) ist ein besserer Indikator für durch den Patienten, wie sie in mehreren umfassenden Fall- Verschlimmerung oder Verbesserung als vorübergehende definitionen beschrieben ist. (1,4,7) Dieses Handbuch ba- Veränderungen, die bei einem einzelnen Arztbesuch sichtbar siert auf der 2003 verfassten „Klinischen Falldefinition“(1), die werden können. (11) für die klinische Praxis bestimmt ist und die Hauptmerkmale von ME/CFS sehr gut beschreibt (s. Arbeitsblatt zur Diagnos- 1.5 Die Rolle des Arztes bei Diagnose und Krankheitsma- tik unter 4.1.) nagement Obwohl ME/CFS mittlerweile eine beachtenswerte Medien- Patienten, bei denen ME/CFS vermutet wird, sollten von ei- präsenz erfahren hat, sind die meisten Patienten mit dieser nem Arzt untersucht werden, da Erkrankung immer noch ohne Diagnose.1 (6,8) 1.) die Diagnose auf dem Ausschluss anderer erschöpfender Krankheiten beruht; 1.4 2.) sich bei einer Anzahl von Patienten mit der Anfangsdiag- DARSTELLUNG UND KRANKHEITSVERLAUF nose ME/CFS später herausstellt, dass sie an einer anderen, behandelbaren Krankheit leiden; Der Krankheitsbeginn ist häufig von grippeähnlichen Symp- 3.) behandelbare Komorbiditäten vorliegen können. tomen gekennzeichnet, die schlagartig auftreten. In anderen Fällen wird auch von einem schleichenden Beginn berichtet. Eine gesicherte Diagnose der Erkrankung ist für den Patien- Der Schweregrad der Erkrankung kann von leicht bis sehr ten meist eine große Erleichterung. Eine frühe Diagnose mit schwer variieren, mit Symptomen, die sich in Heftigkeit und rechtzeitiger Unterstützung und Intervention, um z.B. körper- Dauer von Stunde zu Stunde oder auch von Tag zu Tag än- liche und/oder mentale Überanstrengungen zu vermeiden, dern können. Etwa 25% der Patienten sind bettlägerig, ans ist ein wesentlicher Aspekt, um Verschlimmerungen vorzu- Haus gefesselt oder auf einen Rollstuhl angewiesen. (9) Viele beugen und Fortschritte zu erleichtern. Der chronische Ver- dieser Patienten sind zu schwach, um in die Sprechstunde zu lauf der Krankheit macht ein flexibles Krankheitsmanage- kommen. Andere, falls nicht ans Haus gefesselt, müssen ihren ment und regelmäßige Nachuntersuchungen erforderlich. Beruf aufgeben. Diejenigen, die „nur“ leicht betroffen sind, Regelmäßige Untersuchungen können eine Verschiebung können eventuell noch in Teilzeit oder sogar Vollzeit arbeiten, der Symptome bei ME/CFS oder aber neue Komorbiditäten wenn die Arbeit nicht zu erschöpfend ist oder die Arbeitsbe- aufzeigen, die möglicherweise die Erschöpfung verschlim- dingungen entsprechend angepasst werden. Manche müs- mern. sen sich vielleicht eine weniger beanspruchende Tätigkeit suchen, um weiterhin arbeiten zu können. Selbst diese weni- Trägt man der Komplexität dieser Krankheit Rechnung, so ist ger schwer betroffenen Patienten sind häufig so erschöpft ein Team von methodisch multidisziplinär untersuchenden von der Arbeit, dass sie einen Großteil ihrer Freizeit damit ver- Medizinern zwar wünschenswert, leider aber selten zur Hand. bringen sich auszuruhen. Patienten können erfolgreich behandelt werden, wenn der behandelnde Arzt mit seiner Praxis als Ausgangspunkt fun- Der Krankheitsverlauf ist normalerweise ein Auf und Ab von giert und er bei Bedarf den Patienten an verschiedene Fach- Rückfällen und Phasen der Besserung. Folgende Faktoren ärzte überweist. können eine Verschlimmerung verursachen: körperliche und Die medizinische Behandlung konzentriert sich auf die Bes- mentale Überanstrengung, neue Infektionen, Schlafentzug, serung der Symptome und des Aktivitätsniveaus durch: Impfungen, Stress verschiedener Art (z.B. finanzielle und fa- miliäre Probleme, Schwierigkeiten mit der Kinderbetreuung, • Aufklärung des Patienten über die Krankheit Stigmatisierung durch die Krankheit) und gleichzeitige • Anleitung zum Aktivitätsmanagement und zur Krankheiten. In einigen Fällen können keine die Krankheit Ernährung verschlimmernden Faktoren identifiziert werden. Fortschritte • Behandlung von Symptomen mit nicht-pharmako und Besserungen sind nicht ungewöhnlich, aber die völlige logischen und pharmakologischen Maßnahmen Wiederherstellung des Gesundheitszustandes wie vor der Er- • Beobachtung von Fortschritten bei ständiger Wachsamkeit gegenüber möglicherweise auftreten 1 In Deutschland ist die Lage für die betroffenen Patienten noch weitaus dramatischer, da hier nicht nur die Medienpräsenz des den Komorbiditäten. Themas ME/CFS fehlt, sondern die Krankheit auch unter Ärzten weit- gehend unbekannt ist, Anm. d. Übers. 6
ME/CFS: Ein Handbuch für Ärzte Der behandelnde Arzt sollte sich darauf einstellen, eventuell des ME/CFS mit einer grippeähnlichen Erkrankung. Nach ei- notwendige medizinische Berichte oder Gutachten zu verfas- ner Weile lässt sich eine Veränderung im Immunsystem beob- sen und zur Verfügung zu stellen, die - mit Blick auf die oft achten, ähnlich wie die bei verschiedenen chronischen Infek- begrenzten finanziellen Ressourcen der Patienten - unab- ten mit bekannten Viren. In einigen Fällen folgt ME/CFS auf dingbar für deren Lebensqualität sein können.2 Der Umfang eine Infektion mit einem bekannten Virus. Eine beispielhafte der geforderten Dokumentation der Beeinträchtigungen va- Studie berichtet, dass sechs Monate nach einer Erstinfektion riiert von Land zu Land und in den USA sogar von Bundes- mit dem Epstein-Barr-Virus (EBV) oder Q-Fieber in 11% der staat zu Bundesstaat. Fälle die diagnostischen Kriterien für ME/CFS auftraten. In dieser Studie wies die Schwere der Erstinfektion auf einen an- 2. ÄTIOLOGIE haltenden Krankheitsverlauf hin. (17) Im Laufe der letzten drei Jahrzehnte hat unser Verständnis von ME/CFS deutliche Fortschritte gemacht. Jedoch bleibt Eine Anzahl anderer Viren und/oder Antikörper gegen diese die Grundlagenforschung in Bezug auf die Identifizierung der Viren wurde in einigen Studien bei ME/CFS-Patienten häufi- krankheitsverursachenden Faktoren angesichts der Viel- ger gefunden als bei den Kontrollgruppen (z.B. Humane Her- schichtigkeit der Krankheit und der sich ständig weiter entwi- pes-Viren oder Enteroviren). Diese Studien lassen vermuten, ckelnden Falldefinition weiterhin eine Herausforderung. So- dass Viren als Verursacher eine Rolle spielen können. Ande- wohl genetische als auch andere begünstigende Faktoren rerseits können diese Viren auch opportunistische Infektio- scheinen den Verlauf der Krankheit zu beeinflussen. nen darstellen, was bedeutet, dass durch eine zugrundelie- gende Immunschwäche bisher noch ungeklärter Ursache 2.1 PRÄDISPONIERENDE FAKTOREN Keime wieder aktiv werden und sich vermehren, die der Ge- sunde problemlos in Schach hält. Kürzlich hat sich herausge- In einigen Fällen scheint es eine vererbte oder familiär be- stellt, dass die Präsenz des Gammaretrovirus XMRV in Proben dingte Empfänglichkeit für ME/CFS zu geben. Studien zu Fa- von ME/CFS-Patienten auf eine Laborverunreinigung zurück- milien haben gezeigt, dass 20% der Patienten mit sporadisch zuführen war. Zur Zeit gibt es keinen Hinweis auf eine spezifi- auftretender ME/CFS Verwandte haben, die ebenfalls daran sche Infektionsursache, die allein mit ME/CFS in Verbindung erkrankt sind, 70% dieser Verwandten lebten nicht im glei- gebracht werden kann. chen Haushalt wie die Patienten. (12) Zudem weiß man aus Studien zu Zwillingen, dass bei 55% der eineiigen Zwillings- paare ME/CFS-Symptome jeweils bei Beiden gefunden wur- 3. PATHOPHYSIOLOGIE den, im Gegensatz zu zweieiigen Zwillingspaaren, bei denen Die pathophysiologischen Konsequenzen von ME/CFS sind die Rate bei 19% lag. (13) Ein kürzlich veröffentlichter Bericht multi-systemisch und können Folgendes mit einschließen: gibt das Risiko, ebenfalls an ME/CFS zu erkranken, mit 2,7% Immunologische und neuroendokrine Anomalien; Hirnfunk- für Verwandte 1. Grades, 2,3% für Verwandte 2. Grades und tionsstörungen und neurokognitive Beeinträchtigungen; mit 1,3% für Verwandte 3. Grades an. (14) kardiovaskuläre und autonome Manifestationen; Dysfunktio- nen bei der Energieproduktion inklusive mitochondrialer 2.2 BEGÜNSTIGENDE UND Dysfunktion; Veränderungen in der Genexpression bestimm- KAUSALE FAKTOREN ter Gene. Schaubild 1 stellt ein mögliches Modell des ME/CFS als einer Dem Ausbruch der ME/CFS kann Folgendes vorausgehen: Multi-System-Erkrankung dar. eine akute oder chronische Infektion (viral, bakteriell oder pa- Obwohl die Ergebnisse verschiedener Forschungsstudien rasitär); der Kontakt mit Umweltgiften (z.B. organophosphate teils widersprüchlich sind, bestätigen sich die Hinweise auf Pestizide); eine Impfung; oder ein signifikantes physisches Anomalien in jenen neueren Studien, die die Auswirkungen oder emotionales Trauma. (15,16) Diese Faktoren können das von Überanstrengung, sowohl physischer (sportlicher oder Immunsystem angreifen. Doch bei einigen Patienten lässt orthostatischer) oder kognitiver (mentaler) Art, bewerten. sich keine vorangegangene Krankheit oder ein erlebtes Trau- Solche Provokationsstudien sind besser geeignet, das Kern- ma feststellen. Bislang sind die Faktoren, die einen langfristi- symptom der Verschlimmerung nach Überanstrengungen als gen Krankheiterlauf bedingen, noch nicht identifizierbar. möglichen diagnostischen Beweis zu erzeugen. (18-23) Ein hoher Prozentsatz der Patienten beschreibt den Beginn Zukünftige Forschungen, die die Wichtigkeit der Auswirkun- gen von Überanstrengung auf die Krankheitsvariablen aner- 2 Etwa wenn es um Arbeits- oder Schulunfähigkeitsbescheini- kennen, können unser Verständnis dieses facettenreichen gungen sowie die Einstufung des Behinderungsgrades bei den Behör- körperlichen Zustands erweitern. den geht, Anm. d. Übers. 7
ME/CFS: Ein Handbuch für Ärzte Schaubild 1 Multisystemische Dysregulation bei ME/CFS Prädisponierende Faktoren Trigger • akute oder chronische Infekte • Umwelttoxine • schweres physisches oder emotionales Trauma Immunantwort Muskuläre Symptome Immunologische Symptome* Pathologische Erschöpfung * Gehirn Halsschmerzen Erschöpfung nach Belastung * Rückenmark Emp�ndliche �ymphknoten Schmerzen in Muskeln und Gelenken * Nerven Neu auftretende Unverträglichkeiten ggü. Grippesymptome Hormone Medikamenten, Nahrungsmitteln, Chemikalien Symptome des zentralen Nervensystems Autonome Symptome * Zustandsverschlechterung nach Belastung * Orthostatische Intoleranz Gedächtnis- und Konzentrationsprobleme * Symptome des neuroendokrinen Systems Schwindelgefühl, Herzklopfen Schmerzen*: Kopfschmerzen Unverträglichkeit von Hitze / Kälte Reizdarmsyndrom Schlafstörungen * Deutliche Gewichtszunahme/ Gewichtsverlust Dysfunktion der Blase Depression / Angst Verminderte Stresstoleranz * Diagnosekriterien für ME/CFS 3.1 ANOMALIEN DES IMMUNSYSTEMS Die Anomalien im Immunsystem bei Patienten mit ME/CFS und Lyme-Borreliose-Antikörpern (28) tendieren zu einem Auf und Ab, was mit den wechselnden Schweregraden der Erkrankung zusammenhängen kann. Be- Fatigue und grippeähnliche Symptome können mit erhöhten kannte Anomalien des Immunsystems werden jedoch nicht Spiegeln verschiedener Zytokine zusammenhängen, ein- übereinstimmend bei allen Patienten gefunden und sie tre- schließlich Interferonen und Interleukinen. (29) ten auch nicht allein bei dieser Erkrankung auf. Die Dysregulation des RNase L-Pfades bestärkt die Hypothe- Folgende Auffälligkeiten des Immunsystems finden sich bei se, dass virale Infektionen eine Rolle in der Pathogenese der Patienten mit ME/CFS: Krankheit spielen. • Verschiebung in Richtung einer Th2-dominanten Immu- nantwort, mit einer Immunität, die überwiegend humo- 3.2 NEUROENDOKRINE DYSREGULATION ral statt über die Zellen vermittelt wird. (24) Eine oder mehrere der folgenden neuroendokrinen Anomali- • Immunaktivierung mit erhöhter Anzahl von T-Lymphozy- en wurden bei Untersuchungen von Patienten mit ME/CFS ten, einschließlich zytotoxischer T-Zellen und Anstieg der gefunden: zirkulierenden Zytokine (25) • latenter Cortisolmangel und verminderte Schwankung • schlechte Zellfunktion mit niedriger Zytotoxizität der na- des Cortisolspiegels im Tagesverlauf (30) türlichen Killerzellen (26) • verminderte Funktion der HPA-Achse, wodurch die Funk- • Dysregulation des antiviralen Abwehrweges 2-5A Syn- tion der Nebennieren, Keimdrüsen und Schilddrüsen be- thease/ RNase L, mit einem charakteristischen Anstieg einträchtigt werden kann der niedrig-molekularen 37 kDa RNAse L (also einer RNA- • Nivellierte DHEA-Reaktion auf ACTH-Injektion trotz nor- se L mit einem Molekulargewicht von nur 37 kilo-Dalton). malem Grundspiegel (32) (27) • niedriger IGF 1 (Somatomedin)-Spiegel und überschie- • gelegentlich niedrige Spiegel von antinukleären Antikör- ßender Wachstumshormon-Anstieg nach Gabe des Me- pern, von Rheumafaktoren, Schilddrüsen-Antikörpern dikaments Pyridostigmin (33, 34) 8
ME/CFS: Ein Handbuch für Ärzte • verstärkter Prolaktin-Anstieg nach Gabe des Medika- durch eine Hypersensibilität gegenüber Geräuschen und ments Buspiron (35) Licht, durch eine hohe Anzahl gleichzeitiger Reize und/ oder • eine Störung der Flüssigkeitsregulation, erkennbar an ei- schnelle Aktivitätsfolgen und sogar durch normale soziale In- nem niedrigen Basalwert von Arginin-Vasopressin (auch teraktion. genannt Adiuretin/Vasopressin, oder antidiuretisches Standardisierte neurokognitive Tests sind nicht in der Lage, Hormon (ADH) (36) die Schwierigkeiten der Patienten beim Bewältigen der All- • vergleichsweise niedrigere Aldosteronspiegel als bei tagsaufgaben in vollem Umfang zu erfassen. Bei den ver- Kontrollgruppen (37) gleichsweise idealen Bedingungen der Testsituation und • erhöhte Spiegel von Neuropeptid Y (freigesetzt im Ge- während der kurzen Zeitspanne eines Tests können Betroffe- hirn und im Sympathikus durch Stress), möglicherweise ne durchaus in der Lage sein, die Kontrolle über ihre persön- im Zusammenhang stehend mit der Dysfunktion der lichen Ressourcen zu wahren. Jedoch können diese Patienten HPA-Achse. Der Neuropeptid Y-Spiegel im Plasma korre- solche Anstrengungen normalerweise nicht über einen län- liert mit der Schwere der Symptome. (38) geren Zeitraum aufrechterhalten, wo konstante Leistungen (etwa bei der Arbeit oder in der Schule) gefordert sind. Inten- 3.3 ANOMALIEN DES GEHIRNS sive Denkarbeit an sich kann sowohl die Denkfunktion herab- Statische und dynamische Bildgebungsverfahren der Hirn- setzen, als auch andere post-strapaziöse Symptome auslö- funktion, EEG-Untersuchungen und solche der zerebrospina- sen, ähnlich wie solche nach körperlicher Anstrengung. (53) len Flüssigkeit haben strukturelle, funktionelle, stoffwechsel- bezogene und verhaltensbezogene Anomalien im Gehirn 3.5 AUTONOME/ KARDIOVASKULÄRE von ME/CFS-Patienten gefunden. Diese Anomalien sind je- STÖRUNGEN doch weder einzigartig bei dieser Krankheit, noch kommen Autonome Dysfunktion, falls vorhanden, manifestiert sich sie in jedem Falle vor. Sie können jedoch einen Anhaltspunkt teilweise als Unfähigkeit, eine aufrechte Körperhaltung bei- zur Pathophysiologie der Erkrankung liefern. Die entdeckten zubehalten oder als Unwohlsein bzw. Schwächegefühl wäh- Anomalien umfassen folgende Punkte: rend des Stehens (orthostatische Intoleranz). In solchen Fäl- • Gesamtreduktion der Grauen Substanz und einzelne Be- len kann ein Kipptischtest zeigen, ob es sich um eine neural reiche hoher Signalintensität (weiße Flecken) in der Wei- vermittelte Hypotonie (NMH) oder um ein posturales ortho- ßen Substanz (40, 41) statisches Tachykardiesyndrom (POTS) handelt. • Abnahme der Hirndurchblutung und des Glukosestoff- wechsels (42, 43) Einige Patienten mit ME/CFS können unter Herzklopfen lei- • mehr Hirnareale, die mit der einströmenden Informati- den und weisen selbst im Ruhezustand persistierendes Herz- onsflut beschäftigt sind, als bei Kontrollgruppen (44) rasen auf. Untersuchungen mittels Langzeit-EKG-Messung • langsamere zerebrale Aktivität als Antwort auf motori- („Holter“-EKG) können gutartige Herzrhythmusstörungen sche und visuelle Reize als in Kontrollgruppen (45) und unspezifische T-Wellenanomalien aufdecken, sowie wie- • Anstieg des ventrikulären Laktatwertes (46, 47) derholte oszillierende T-Wellenumkehrung und/ oder T-Wel- • reduzierte Tiefschlafphasen und vermehrtes Schlafbe- lenabflachung. (54) Bei einigen Patienten mit ME/CFS konnte dürfnis (48) die Vermutung einer diastolischen Dysfunktion durch Her- • Für die Erkrankung spezifische Proteine wurden in der ze- zechokardiographie bestätigt werden. Diese diastolische rebrospinalen Flüssigkeit gefunden (49) Dysfunktion (unvollständige ventrikuläre Füllung) ist vermut- lich auf einen Energiemangel auf zellulärer Ebene zurückzu- 3.4 KOGNITIVE BEEINTRÄCHTIGUNGEN führen. (55) Bei anderen Patienten mit ME/CFS wurde auch Kognitive Defizite sind oft die grundlegendste Beeinträchti- ein geringes Blutvolumen gefunden. (56) gung bei ME/CFS. Solche Defizite schränken die Möglichkei- ten der Patienten ein, im Alltag zu funktionieren, zu planen 3.6 MITOCHONDRIALE ANOMALIEN/ und Aufgaben zu erledigen. Nachgewiesene Einschränkun- STÖRUNGEN DER ENERGIEPRODUKTION gen sind u.a. beeinträchtigtes Arbeitsgedächtnis, Verlangsa- Jüngere Studien legen nahe, dass eine mitochondriale Dys- mung des Denkprozesses, mangelhaftes Lernen neuer Infor- funktion eine wichtige Ursache für das zugrundeliegende mationen (50, 51), kürzere Konzentrations- und Energiedefizit bei Patienten mit ME/CFS ist. Es existieren Hin- Aufmerksamkeitsspanne, Wortfindungsstörungen und er- weise auf eine verminderte aerobe Energieproduktion. (23, höhte Ablenkbarkeit (1, 52). 57, 58) Als Folge dieser Beeinträchtigung können die An- Die kognitiven Leistungen können beeinträchtigt werden strengungen der Patienten die aerobe Kapazität überschrei- 9
ME/CFS: Ein Handbuch für Ärzte ten und dadurch Wege des anaeroben Stoffwechsels aktivie- blatt zur Diagnostik unter 4.1.), da sie die eindeutig festgeleg- ren, die weit weniger effizient in der Energiegewinnung sind. ten Kernsymptome der Krankheit betont. Die Fukuda-Kriteri- Dieser Prozess führt zur Produktion von Milchsäure und einer en für CFS (4) von 1994 (Anlage A) werden in erster Linie für Störung des ATP/ADP-Stoffwechsels. (20, 57) Es konnte je- Forschungszwecke verwendet, obwohl sie durchaus auch bei doch noch nicht vollständig und abschließend nachgewie- Arbeitsunfähigkeitsentscheidungen in den USA und anders- sen werden, welche Rolle der verminderte aerobe Stoffwech- wo herangezogen werden. Die kürzlich veröffentlichten In- sel als Auslöser der pathologischen Fatigue, der ternationalen Konsenskriterien für ME (7) von 2011 werden Verschlechterung nach Anstrengung und der verlängerten noch nicht allgemein angewandt. Es gibt noch keinen spezi- Genesungsphase einnimmt. fischen, labordiagnostischen Test für ME/CFS, obwohl mögli- che Biomarker gerade erforscht werden. Hinweise auf mitochondriale Anomalien sind u.a.: mitochon- driale Myopathie (59), reduzierte Sauerstoffaufnahme wäh- Die Diagnosekriterien der 2003 veröffentlichten Falldefiniti- rend körperlicher Anstrengung, Aktivierung des anaeroben on sind auf dem untenstehenden Arbeitsblatt zur Diagnostik Stoffwechsels bereits zu Beginn der Belastung (19, 20) sowie aufgelistet und können kopiert und zur Diagnose bei Patien- erhöhte ventrikuläre Laktatspiegel im Gehirn (46, 60). Im Hin- ten benutzt werden. Auf der zweiten Seite des Arbeitsblattes blick auf Belastung zeigte eine Studie über einen zweitägi- finden Sie die Krankheiten, die vorher ausgeschlossen oder gen kardiopulmonalen Belastungstest am zweiten Tag eine vollständig behandelt werden sollten, bevor die Diagnose anomale Erholungsreaktion (Abnahme der maximalen Sau- ME/CFS gestellt werden kann. Dort findet sich auch eine An- erstoff-Aufnahme), was auf eine beeinträchtigte Stoffwech- zahl von nicht auszuschließenden Komorbiditäten, die im Zu- selfunktion hindeutet. Im Vergleich hierzu waren gesunde sammenhang mit ME/CFS auftreten können. Patienten mit Kontrollpersonen nicht nur in der Lage, den Belastungstest ME/CFS können darüber hinaus zahlreiche weitere Sympto- am folgenden Tag zu wiederholen, sondern sich sogar leicht me aufweisen, die in der Falldefinition nicht aufgeführt sind. zu verbessern, was auf eine Erholung vom ersten Belastungs- test schließen lässt (18, 23). 4.1 PATIENTENGESCHICHTE Eine gründliche Erhebung der medizinischen und gesell- 3.7 GENETISCHE STUDIEN schaftlichen Lebensumstände ist essentiell für eine genaue Genetische Untersuchungen bei Patienten mit ME/CFS wei- Diagnose. Um eine bündige und zusammenhängende Ge- sen auf eine veränderte Genexpression bestimmter Gene hin schichte zu erstellen, reicht oft ein Praxisbesuch nicht aus, (22, 61). Dies betrifft auch solche Gene, die die Immunmodu- wenn man die kognitiven Schwierigkeiten einiger Patienten lation, den oxidativen Stress und die Apoptose kontrollieren. bedenkt. Die zu sammelnden Informationen sollten sowohl Es wird von mehreren unterschiedlichen Genomsubtypen die Situation VOR der Krankheit (Bildung, Beruf, soziale und berichtet (62). Die Ausprägung einiger dieser Subtypen kor- familiäre Umstände) als auch die aktuellen Lebensbedingun- relierte mit der Schwere der Symptome. gen umfassen (Alltagsaktivitäten, Stressoren, die wesentli- chen Lebensveränderungen und Unterstützungsmöglichkei- In einer jüngeren Kontrollstudie (22) konnten zwei Unter- ten). Die Untersuchung des funktionellen Status gibt gruppen von ME/CFS-Patienten mit einer Änderung der Gen Aufschluss über die signifikanten Lebensveränderungen, wie expression nach Anstrengung festgestellt werden. Die größe- sie die Patienten als Folge der Krankheit erleben. Eine Durch- re Untergruppe zeigte einen Anstieg mitochondrialer RNA für sicht der vom Patienten eingereichten vorangegangenen sensorische und adrenerge Rezeptoren und ein Zytokin. Die medizinischen Aufnahmen, Berichte und Labortests ver- kleinere Untergruppe umfasste die meisten Patienten mit or- spricht ebenso nützliche Informationen. thostatischer Intoleranz und zeigte nach der Belastung einen Rückgang adrenerger ALPHA-2A Rezeptor-Genexpression. 4. KLINISCHE DIAGNOSE Die Diagnose von ME/CFS stützt sich auf die Krankenge- schichte des Patienten, das Symptommuster und den Aus- schluss anderer erschöpfender Krankheiten. Eine symptom- basierte Diagnose kann anhand der veröffentlichten Kriterien erstellt werden. Dieses Handbuch verwendet die Kanadische klinische Falldefinition für ME/CFS (1) von 2003 (s. Arbeits- 10
ME/CFS: Ein Handbuch für Ärzte ARBEITSBLATT: KLINISCHE DIAGNOSEKRITERIEN FÜR ME/CFS * Name ________________________ Patientennummer ___________________________ Um die Diagnose ME/CFS zu stellen, muss der Patient folgende Kriterien erfüllen: • Pathologische Erschöpfung, Zustandsverschlechterung nach Belastung, Schlafprobleme, Schmerzen, zwei neurokognitive Symptome und mindestens ein Symptom aus zweien der folgenden Kategorien: autonome, neuroendokrine, immunolo- gische Manifestationen • Die Erschöpfung und die anderen Symptome müssen persistierend oder rezidivierend auftreten, bei Erwachsenen über einen Zeitraum von mindestens sechs Monaten, bei Kindern drei Monate • Die Symptome dürfen nicht durch eine andere Erkrankung erklärbar sein. Eine bessere diagnostische Genauigkeit kann erreicht werden, wenn die Schwere und Frequenz der verzeichneten Symptome gemessen wird ** Symptome Beschreibung der Symptome Pathologische Erschöpfung Deutliches Ausmaß einer neu auftretenden, nicht anders erklärbaren, persistieren- Ja o Nein o den oder rezidivierenden körperlichen und/oder mentalen Erschöpfung, die das Aktivitätsniveau erheblich reduziert, die nicht das Ergebnis andauernder Belastung ist und die sich nicht durch Ruhe bessert Zustandsverschlechterung nach Belas- Auf geringe Belastung oder sogar auf normale Aktivitäten folgt eine Verschlimme- tung & Verschlimmerung der Symptome rung: Verlust der körperlichen und mentalen Ausdauer und/oder Verschlimmerung Ja o Nein o anderer Symptome. Die Erholung ist verlangsamt und kann länger als 24 Stunden dauern Schlafprobleme Schlaf ist nicht erholsam: Ja o Nein o gestörte Schlafdauer - tagsüber Hypersomnie oder nächtliche Insomnie und/oder gestörter Schlafrhythmus – umgekehrter Tag/Nacht-Rhythmus Es ist selten, dass keine Schlafstörungen bestehen. Schmerzen vielfältige Schmerzen, wandernd oder lokalisierbar: Ja o Nein o Myalgien; Arthralgien (ohne Anzeichen einer Entzündung) und/oder Kopfschmerzen eines neuen Typs, Musters oder Schweregrades Es ist selten, dass keine Schmerzen auftreten. Zwei neurokognitive Symptome Beeinträchtigung der Konzentrationsfähigkeit; Störungen des Kurzzeitgedächtnis- Ja o Nein o ses oder Wortfindungsstörungen; Überempfindlichkeit bei Licht, Lärm oder emotionaler Belastung; Verwirrung; Desorientierung; verlangsamtes Denken; Muskelschwäche; Ataxie Mindestens ein Symptom aus zwei der a. Autonome Manifestationen: folgenden Kategorien: Orthostatische Intoleranz; neural vermittelte Hypotonie (NMH); posturales Tachykar- diesyndrom (POTS); Benommenheit; extreme Blässe; Herzklopfen; Belastungsdys- pnoe; Störungen der Miktionsfequenz; Reizdarmsyndrom (IBS); Übelkeit und/oder Ja o Nein o Brechreiz b. Neuroendokrine Manifestationen: Ja o Nein o Niedrige Körpertemperatur; kalte Extremitäten; Schwitzen; Intoleranz gegenüber Hitze oder Kälte; reduzierte Stresstoleranz; unter Stress verschlimmern sich weitere Symptome; Gewichtsveränderung; anomaler Appetit c. Immunologische Manifestationen: Ja o Nein o wiederkehrende grippeähnliche Symptome; Halsschmerzen; empfindliche Lymph- knoten; Fieber; neu auftretende Überempfindlichkeiten ggü. Nahrungsmitteln, Medikamenten, Gerüchen oder Chemikalien * Carruthers BM, et al. ME/CFS: Clinical Working Case Definition, Diagnostic and Treatment Protocols. J CFS 2003; 11(1):7-115. ** Jason et al. The development of a revised Canadian Myalgic Encephalomyelitis-Chronic Fatigue Syndrome case definition. American J Biochem- istry Biotechnology 2010; 6(2): 120-135. 11
ME/CFS: Ein Handbuch für Ärzte ARBEITSBLATT: KLINISCHE DIAGNOSEKRITERIEN FÜR ME/CFS (FORTSETZUNG) * Charakteristika der Symptome: • am häufigsten ist ein plötzlicher Krankheitsbeginn, ein schleichender Beginn ist jedoch auch möglich • Symptome können von Tag zu Tag oder im Verlauf eines Tages variieren • Rückfälle und vorübergehende Besserungen sind verbreitet • Das Aufflammen von Symptomen nach Belastung kann sofort erfolgen oder es verzögert sich 24 Stunden oder mehr • Wenn keine Schmerzen und/oder Schlafstörungen vorliegen, kann ME/CFS diagnostiziert werden, falls die Krankheit einen schlagartigen Beginn hat. Ausschlusskriterien: Bei vielen Krankheiten treten Symptome auf, die denen des ME/CFS ähneln. Aktive Krankheitsprozesse können wichtige Haupt- symptome wie Erschöpfung, Schlafstörungen, Schmerzen und neurokognitive Dysfunktion verursachen und müssen durch Krankheitsgeschichte, körperliche Untersuchung und medizinische Tests differentialdiagnostisch abgeklärt werden. Im Fol- genden einige der verbreitetsten Ausschlusserkrankungen: • Anämie • Autoimmunerkrankungen wie Rheumatoide Arthitis, Lupus • Herzerkrankungen • Endokrine Störungen wie Diabetes, Morbus Addison, Schilddrüsenerkrankungen, Menopausenbeschwerden • Infektionskrankheiten wie Tuberkolose, HIV/AIDS, chronische Hepatitis, Borreliose • Darmerkrankungen wie Zoeliakie oder Morbus Crohn • Bösartige Tumore • Neurologische Krankheiten wie Multiple Sklerose, Parkinson, Myasthenia gravis • Primär psychiatrische Störungen und Drogenmissbrauch (nicht aber klinische Depression) • Signifikante Erkrankungen der Lunge • Primäre Schlafstörungen wie Schlafapnoe Nicht-ausschließende Erkrankungen: • Einige Komorbiditäten treten häufig in Verbindung mit ME/CFS auf. Dazu gehören Allergien, Fibromyalgie (FM), Reizdarmsyndrom, Multiple Chemikaliensensitivität (MCS) • Jede Krankheit, die adäquat behandelt wurde und unter Kontrolle ist • Jede körperliche Anomalie oder jedes Laborergebnis, das nicht ausreicht, um eine ausschließende Erkrankung zu diagnostizieren. ME/CFS und FM sind oft eng miteinander verbunden und sollten als überlappende Syndrome angesehen werden. Eine komor- bide Erkrankung kann dem Ausbruch von ME/CFS um Jahre vorausgehen, dann aber damit verbunden sein. Hat ein Patient eine nicht erklärbare, andauernde Erschöpfung, aber eine nicht ausreichende Anzahl von Symptomen, um die Kriterien für ME/CFS zu erfüllen, sollte die Krankheit als idiopathische chronische Erschöpfung klassifiziert werden. o Patient erfüllt die Kriterien für ME/CFS o Patient erfüllt die Kriterien nicht vollständig, sollte aber weiter überwacht werden. Anmerkungen: ______________________________ ___________________________ Unterschrift des Untersuchers Datum * Carruthers BM, et al. ME/CFS: Clinical Working Case Definition, Diagnostic and Treatment Protocols. J CFS 2003; 11(1):7-115. ** Jason et al. The development of a revised Canadian Myalgic Encephalomyelitis-Chronic Fatigue Syndrome case definition. American J Biochem- istry Biotechnology 2010; 6(2): 120-135. 12
ME/CFS: Ein Handbuch für Ärzte 4.2 KÖRPERLICHE UNTERSUCHUNG bei Patienten mit ME/CFS, aber der klinische Wert von teuren Körperliche Befunde sind oft nur in sehr geringem Ausmaß und sorgfältig ausgearbeiteten Tests für diese Anomalien und nicht immer als eindeutige Befunde erkennbar. Patienten konnte noch nicht nachgewiesen werden. können blass und aufgedunsen aussehen, mit dunklen oder Tabelle 1 violetten Ringen unter den Augen. Eine Untersuchung der Ra- chenhöhle kann eine nicht-exsudative Pharingitis ergeben DIAGNOSTIK DES ME/CFS: ROUTINE-LABORUNTERSUCHUNGEN (oft als „karmesin- oder puterrote Halbmonde“ beschrieben). Zervikale und axillare Lymphknoten können deutlich fühlbar großes Blutbild und Differentialblutbild und druckempfindlich sein. Erythrozyten-Sedimentationsrate (ESR) Elektrolyte: Natrium, Kalium, Chloride, Bikarbonat Einige Patienten haben nachweisbar orthostatische Intoleran- Kalzium zen mit neural vermittelter Hypotonie oder ein posturales or- thostatisches Tachykardiesyndrom, charakterisiert durch ver- Phosphate minderten Blutdruck und/oder Herzrasen bei längerem Nüchternglukose Stehen. Das kann in Verbindung mit lageabhängiger Röte in C-reaktives Protein den Füßen und Blässe der Hände auftreten. Leberfunktion: Bilirubin, alkalische Phosphatase (AP/ ALP), Gamma-Glutamyltransferase (GGT) Eine neurologische Untersuchung kann einen positiven Rom- Alanin-Aminotransferase (ALT), Aspartat-Aminotransferase berg-Test oder einen positiven Seiltänzer-Schritt („Tandem“- (AST), Albumin/ Globulin-Verhältnis Schritt) Test ergeben. Wenn weit verbreitete Schmerzen auf- treten, sollte Fibromyalgie als Komorbidität in Betracht Nierenfunktion: Harnstoff, Kreatinin, gezogen werden und durch eine Untersuchung der Nerven- Glomeruläre Filtrationsrate (GFR) druckpunkte bestätigt werden. Schilddrüsenfunktion: schilddrüsenstimulierendes Hor- mon (TSH) und freies Thyroxin (f T4) 4.3 LABORUNTERSUCHUNGEN Eisenstoffwechsel: Serumeisen, Eisenbindungskapazität, Eine Basis-Laboruntersuchung (Tabelle 1) sollte spezifischere Ferritin Tests (Tabelle 2) nach sich ziehen, abhängig von besonderen Vitamin B12 und Folsäure wegweisenden Symptomen. Kreatin-Kinase 25-Hydroxy-Cholecalciferol (Vitamin D) Beispielsweise sollte ein EKG bei Brustschmerzen gemacht Urinanalyse werden, eine Röntgenaufnahme der Brust bei Husten und ein Zöliakietest, wenn gastrointestinale Symptome auftreten. (Bei heftigen Symptomen sollte eine Endoskopie in Betracht gezo- gen werden) 4.4 DIFFERENTIALDIAGNOSEN Auch wenn die Symptome etlicher Erkrankungen denen von Ergebnisse von Routinetests sind bei ME/CFS-Patienten fast ME/CFS ähneln, erhöht doch das Auftreten einer Zustands- immer im Normalbereich, selbst während einer Phase der verschlechterung nach Anstrengung (Postexertional Malaise Krankheitsverschlimmerung. Wenn Anomalien gefunden [PEM]), einem Schlüsselsymptom der Krankheit, die Wahr- werden (z.B. eine erhöhte Erythrozytensedimentationsrate scheinlichkeit, dass ME/CFS die korrekte Diagnose ist. In Ta- [ESR]), sollten andere Diagnosen in Erwägung gezogen wer- belle 3 ist eine Reihe von Krankheiten aufgelistet, die bei der den. Spezifische Tests aus Tabelle 2 können einen niedrigen Differentialdiagnostik mitberücksichtigt werden müssen. Cortisolspiegel am Morgen, erhöhte antinukleare Antikörper (ANA) und/ oder Immunglobulin-Anomalien anzeigen. Hinzu 4.5 UNTERSCHEIDUNG DES ME/CFS VON kommt, dass der Vitamin D-Spiegel oft niedrig ausfällt (63), DEPRESSION UND ANGSTSTÖRUNGEN weswegen ein Knochendichtetest zur Abklärung von Osteo- Symptome wie Depressionen oder Angst können als Resultat porose empfehlenswert sein kann. Jede gefundene Anomalie der Krankheit auftreten oder ihr vorausgehen, wie dies auch rechtfertigt weitere Untersuchungen, um andere Krankheiten bei anderen chronischen Erkrankungen der Fall ist. Die Unter- auszuschließen. scheidung zwischen depressiven Störungen/ Angststörun- gen und dem ME/CFS stellt eine Herausforderung dar (64, Forschungsstudien berichten über eine Anzahl von immuno- 65). Depressive Symptome, einschließlich Schlafproblemen, logischen, neuroendokrinen und zentralnervösen Anomalien kognitiven Problemen und Antriebsschwäche, sowie Er- 13
ME/CFS: Ein Handbuch für Ärzte schöpfung und Appetitstörungen/ Gewichtsveränderungen einen durchgehenden Verlust an Interesse, Motivation und/ können sich mit ME/CFS überschneiden. oder Freude feststellen. Letztlich zeigen die Tagesschwan- kungen bei ME/CFS eher eine Symptomverschlimmerung am Tabelle 2 Nachmittag, während bei einer grundsätzlich depressiven DIAGNOSTIK DES ME/CFS: ÜBERLEGENSWERTE Störung ernstere Symptome oft eher am Morgen auftreten. UNTERSUCHUNGEN, JE NACH SYMPTOMATIK antinukleare Antikörper (ANA) Einige Patienten mit ME/CFS entwickeln eine depressive Stö- Röntgenthorax rung, die charakterisiert wird durch gedrückte Stimmung (In- Elektrokardiogramm (EKG) teressenverlust ist weniger wahrscheinlich) und darüber hin- Endoskopie: Gastroskopie, Koloskopie, Zytoskopie aus Symptome wie schwindendes Selbstwertgefühl oder Östradiol und follikelstimulierende Hormone Schuldgefühle und Suizidgedanken. Der behandelnde Arzt Radiologische Untersuchung der Magenentleerung sollte eine Suizideinschätzung bei all den Patienten durch- führen, die klinisch depressiv sind oder hochgradig unter Gliadin-Antikörper (AGA) und Endomysiale Antikörper Stress stehen. (EMA), 13C-Atemtest Immunglobuline Eine reaktive Angststörung kann in der Krise des Krankheits- Untersuchung auf Infektionskrankheiten wie HIV, Hepatitis, ausbruchs auftreten und sich halten, wenn die Krankheit die Borreliose, Q-Fieber, u.a. Arbeitsfähigkeit einschränkt und die familiären Beziehungen Mikrobiologie: Stuhl, Rachenabstrich, Urin, Sputum, Geni- belastet. Die reaktive Angststörung kann von der generellen talabstrich Angststörung (GAD) unterschieden werden. Die GAD ist cha- Morgencortisol rakterisiert durch exzessive Sorgen und einige besondere MRT bei Verdacht auf Multiple Sklerose physische Symptome. Im Gegensatz dazu führt eine reaktive Schlaflabor (Polysomnogramm) und multipler Schlaflatenz- Angststörung zu ungewollten Panikattacken. Symptome von Test ME/CFS, die bei GAD und Angststörungen NICHT gefunden Prolaktin werden, sind sowohl Zustandsverschlechterung nach An- Renin/ Aldosteron-Verhältnis strengung als auch autonome, endokrine oder immunologi- sche Symptome (siehe Arbeitsblatt zur Diagnostik). Außer- Rheumafaktoren dem fühlen sich Patienten mit einer primären Angststörung Serum-Alpha-Amylase im allgemeinen BESSER nach einem Training, während es bei ACTH-Stimulationstest ME/CFS die Symptome verschlimmert. Zu guter Letzt ist eine Testosteron Angststörung situativ begründet und jede Attacke nur von Kipptischuntersuchung zur Feststellung orthostatischer kurzer Dauer, während ME/CFS über Jahre anhält. Dysregulation 4.6 AUSSCHLUSSDIAGNOSEN (TABELLE 3) Die Differentialdiagnostik basiert auf dem Erkennen der typi- ME/CFS wird nicht diagnostiziert, wenn beim Patienten iden- schen ME/CFS-Besonderheiten – vor allem der Zustandsver- tifizierbare medizinische oder psychiatrische Zustände vor- schlechterung nach Anstrengung (PEM) – wie auch autono- liegen, die die Symptome plausibel erscheinen lassen. Wenn mer, endokriner oder immunologischer Symptome (siehe jedoch die ME/CFS-Symptome trotz adäquater Behandlung Arbeitsblatt zur Diagnostik). PEM bezeichnet die Verschlim- der auszuschließenden Erkrankung bestehen bleiben, kann merung der Symptome nach minimaler physischer oder die Diagnose ME/CFS später noch gestellt werden. mentaler Aktivität, die für Stunden, Tage oder sogar Wochen anhält. Beispielsweise kann ein kurzer Spaziergang eine lan- 4.7 KOMORBIDE ERKRANKUNGEN ganhaltende Symptomverschlimmerung auslösen. Im Ge- gensatz dazu fühlen sich Patienten mit Depressionen norma- (TABELLE 4) lerweise nach gesteigerter Aktivität, Übungen oder Eine Anzahl weiterer (nicht-ausschließender) Krankheitszu- konzentrierter mentaler Arbeit besser. stände kann mit ME/CFS einhergehen. Eine Liste dieser Ko- Außerdem haben Patienten mit ME/CFS (mit oder ohne ko- morbiditäten wird in Tabelle 4 aufgeführt und schließt fol- morbide Depression) in der Regel ein starkes Bedürfnis akti- gende Erkrankungen mit ein: Fibromyalgie (FMS), Multiple ver zu sein, sind aber (körperlich) nicht in der Lage dazu. Bei Chemikaliensensitivität (MCS), Reizdarmsyndrom, Reizbla- einer klinischen Depression kann man im Vergleich dazu oft sensyndrom, interstitielle Blasenentzündung, temporoman- dibuläre Gelenkstörung, Migräne, Allergien, Thyreoiditis, Sic- 14
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