CORONA Wie das Virus den Alltag verändert - Vicino Luzern

Die Seite wird erstellt Rafael Stein
 
WEITER LESEN
CORONA Wie das Virus den Alltag verändert - Vicino Luzern
CORONA-KRISE

                                                                    TITELTHEMA

                            CORONA
                            Wie das Virus den
                            Alltag verändert
                            Solidarisch und kreativ: Viele helfen jetzt erst recht – und zeigen,
  Weil die Gäste nicht                  wie wir besser durch diese Krise kommen.
  kommen dürfen, bringt
  Kevin Bracher das Essen
  halt zu ihnen.               TEXT: THOMAS ANGELI, DANIEL BENZ, RAPHAEL BRUNNER, CHANTAL HEBEISEN, BIRTHE HOMANN | FOTOS: NIK HUNGER
CORONA Wie das Virus den Alltag verändert - Vicino Luzern
Kreiert Nachfrage:
                                                                                                                                          Kevin Bracher, Wirt

D
                   as Meer ist ein blaues
                   Tischtuch, die Insel
                   Lummerland eine um­
                   gedrehte Salatschüs­
                   sel. Und Emma, die
                   ­Lokomotive, ganz aus
Karton und leeren Konservendosen.
Hauptsache, fantasievoll – und die
­Kleinen sind gut unterhalten.
     Seit dem 16. März machen Andrea
 Fischer Schulthess und Adrian Schult­
 hess vom Zürcher Minitheater Hanni­
 bal aus der Not eine Tugend. Weil das
 Zürcher Theater Millers, wo sie als
 künstlerische Leiterin und als Barchef
 arbeiten, dicht ist und sie alle eigenen
 Auftritte absagen mussten, erzählen
 sie ihre Geschichten nun via Facebook
 und Youtube. Jeden Abend rund 15 bis
 20 Minuten lang entführen sie ihr jun­
 ges Publikum aus dem Corona-Alltag in
 die Welt von Jim Knopf und Lukas dem
 Lokomotivführer und zeigen Ideen zum
 Mitbasteln.
     «Wir wollen helfen mit dem, was wir
 am liebsten machen, und das ist Erzäh­
 len und Spielen», sagt Fischer Schult­
 hess. Ganz uneigennützig sei das nicht:
 «Wir arbeiten von zu Hause. Dank den
 täglich frisch eingespielten Episoden
 haben wir eine Aufgabe und eine Tages­                                                                                                         sen wissen, dass jemand für sie da ist»,      ist überzeugt: «Hier schafft die Notlage     Servicefachfrau Petra Ryter, Studentin
 struktur.»                                                                                                                                     sagt Olivia Petermann – gerade jetzt, da      gerade etwas Gutes.» Etwas, das bleibt:      Jasmin Gerber und Teilzeiterin Barbara
     Das Ehepaar bringt mit seinem Stu­                                                                                                         uns allen eingetrichtert wird, den direk­     eine neue Achtsamkeit.                       Blaser muss er so schnell wie möglich
 bentheater ein kleines Stück Normalität                                                                                                        ten Kontakt zu meiden. Dank Telefon                                                        eine weitere Beschäftigung finden. «Die
 in eine Zeit, die alles andere als normal                                                                                                      bleibt man verbunden.                         Gastgewerbe: Weiter-                         Einnahmen werden nicht reichen, um
 ist. Seit in der Schweiz die Corona-Epi­                                                                                                             Wessel und Petermann kommen aus                                                      die Löhne noch lange zahlen zu kön­
 demie mit aller Wucht ausgebrochen                                                                                                             der Pflege, in der sie nebenher weiterhin
                                                                                                                                                                                              machen, irgendwie                            nen.» Es werde schwierig – auch mit
 ist, Schulen und Geschäfte geschlossen                                                                                                         arbeiten. Sie wissen, was die betagten        Kevin Bracher trägt nach wie vor das         Bundeshilfe.
 sind, selbständige Coiffeure um ihre                                                                                                           Menschen umtreibt. Es sind grosse The­        Kochhemd mit dem Löwen-Wappen am                  Er hat die Spitäler und die Alters­
 Existenz bangen und Ärztinnen end-                                                                                                             men wie die Angst vor Einsamkeit und          Oberarm. Der «Löwen» Fraubrunnen BE          heime der Region angeschrieben. Mel­
 lose Tage arbeiten.                                                                                                                            Isolation, jetzt, da sie ihre Enkel nicht     mag geschlossen sein, aber noch gibt         det euch, wenn ihr Personal für die
                                                                                                                    Vernetzt Einsame:           mehr sehen und ihre Partner im Alters­        es ihn. «Wir machen weiter – irgend­         ­Küche braucht. Oder Cola, Nussgipfel,
Auswege aus der Isolation. Die Schweiz                                                                      Wilma Wessel, Vicino Luzern         heim nicht besuchen dürfen. Aber auch         wie», sagt der Wirt aus dem Dorf zwi­         Salat, Bier, Pommes frites, Rahm – alles,
befindet sich in einem Ausnahme­                                                                                                                die kleinen Dinge: «Darf ich jetzt wirk­      schen Aefligen und Grafenried.                was eine Beiz feilbieten kann, wenn sie
zustand, den sich niemand vorstellen                                                                                                            lich nicht mehr jassen mit Josy?»                 Der 29-Jährige steht in der Küche         nicht mehr Beiz sein darf. «Gerne neh­
konnte. Es ist ein Zustand mit Notrecht,     Nachbarn: Solidarisch                        gründete Verein setzt sich dafür ein,                       An dem Morgen, als das Land             und stellt die Zutaten bereit für Kalbs­      men wir alle Bestellungen entgegen und
Einschränkungen und Anflügen von                                                          dass die sozialen Netzwerke der älteren               ­dichtmacht, fährt im Vicino-Treff der        hamburger im Röstzwiebelbrötchen              liefern diese im ganzen Mittelland aus»,
Panik. Ein Moment, in der sich die alte
                                             und achtsam                                  Bewohnerinnen und Bewohner im                          Betrieb erst so richtig hoch. Die App, die   und Coleslaw-Salat. Das Gasthaus aus          steht auf der Facebook-Seite.
Gewissheit, dass man ohnehin ver­            Die Schweiz befinde sich im Ruhe­            Quartier gestärkt werden. Dafür vermit­                Bedürfnisse und Angebote der Nach­           dem 19. Jahrhundert, wo sich sonst                Bracher hat Solidarität erfahren – und
schont bleibt, innert Tagen als Illusion     zustand, schreiben die Zeitungen an          telt Vicino Dienstleistungen für sämt­                 barschaftshilfe verknüpfen soll, will        der Stammtisch im Stübli trifft und für       das Gegenteil. «Aus dem Dorf kamen
entpuppt hat. Es ist aber auch der Mo­       diesem Morgen. Doch in Luzern dudeln         liche Aspekte des Alltags. Ausserdem                   zwar noch nicht richtig. Auf dem Tisch       dessen Emmentaler Schafsvoressen an           manche vor der Schliessung extra noch­
ment, in dem allen widrigen Umstän­          die Handys von Wilma Wessel und Olivia       werden Veranstaltungen durchgeführt.                   liegen Stapel mit Info-Flyern, frisch        Safransauce auch mal Nationalräte aus         mals dick essen.» Regelmässig tauscht
den zum Trotz plötzlich ungeahnte            Petermann unablässig. Das könnte ein            Normalerweise. Aber jetzt ist der                   ­gedruckt und bereit, verteilt zu werden.    Bern hinfahren, ist jetzt ein Hausliefer­     er sich mit Kollegin Jsabelle Trachsel
Qualitäten und Ressourcen zum Vor­           Stressfaktor sein, ist aber das Gegenteil:   Normalfall gestrichen. Die Anlässe fal­                     Nur die potenziellen Helferinnen        dienst. Jeden Tag gibt es ein Menü für        vom «Kreuz» in Herzogenbuchsee aus.
schein kommen: Mitgefühl und Hilfs­          «Total schön!» Das sagt Petermann,           len aus, dafür bietet Vicino zusammen                   und Helfer, die sind schon voll auf Tou­    15 Franken, bis 10.30 Uhr kann man            Sie hätten sich Hilfe versprochen, wo
bereitschaft, Fantasie und Innovations­      während Wessel den nächsten Anruf            mit der Genossenschaft Zeitgut neu                      ren. Nächstes Dudeln am Handy: Ein          ­bestellen, ab 11 Uhr wird ausgeliefert.      immer es geht. Der Grossist hingegen
geist, Solidarität und Dankbarkeit.          entgegennimmt. «Alle wollen helfen, am       jeden Morgen während drei Stunden                       Student, der jetzt Zeit hätte, um die        Bracher im Volvo statt im Saal am Wir­       habe als Erstes vermeldet, ab sofort ak­
   Wir haben Menschen getroffen, die         liebsten sofort», sagt Wessel hinterher.     individuelle Beratungen an, führt Helfer                ­Einkäufe zu erledigen von Menschen,         ten, das gibt Hoffnung, immerhin. «Der       zeptiere er nur noch Barzahlung. «Dabei
sich fantasievoll und kreativ auf die           Die beiden Frauen betreuen die            und Hilfesuchende zusammen. Jede                         an denen er vor kurzem wohl noch            Start ist gelungen, gestern hatten wir 7,    sind das Grossunternehmen. Im Unter­
neue Situation eingestellt haben, uns        ­Anlaufstelle von Vicino in der Luzerner     und jeder soll sagen können, wo der                      flüchtig vorbeigegangen ist. «Wunder­       heute schon 30 Bestellungen.»                schied zu uns haben die Reserven.»
Auswege aus der Isolation zeigen. Das         Neustadt. «Vicino» heisst auf Italienisch   Schuh drückt, was an Unterstützung                       bar!», schwärmt auch Wilma Wessel              Illusionen macht sich Bracher aber            Die Hälfte der Gastrobetriebe im
lässt hoffen, sogar in düsteren Zeiten.       «nahe» oder «Nachbar». Der 2016 ge­         benötigt wird. «Die älteren Leute müs­                   über diese Zeichen der Solidarität. Sie     keine. Für seinen Koch Rainer Helbig,        Bernbiet werden die Krise nicht über­

14 Beobachter 7/2020                                                                                                                                                                                                                                             Beobachter 7/2020   15
CORONA Wie das Virus den Alltag verändert - Vicino Luzern
Zusammenhalten:

Unser Notvorrat                                                                                                                                                    2,4
                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                         Arda Teunissen,
                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                    Spitex Zürich Limmat

Im Auftrag des Bundes lagern 300 private Firmen, die mit lebenswichtigen Gütern handeln, Pflichtvorräte für                                                          Milliarden Franken
die Bevölkerung. Im Krisenfall wäre die Schweiz drei bis vier Monate mit dem Nötigsten versorgt. Die empfohlenen                                                    sind die Notvorräte

                                                                                                                144
privaten Notvorräte braucht es nur, um kurzfristige Engpässe zu überbrücken.                                                                                         insgesamt wert.
INFOGRAFIK: ANDREA KLAIBER UND ANNE SEEGER

                                                  Die Lebensmittel-
                                              lager decken den durch-                                                                                     Das Sortiment wurde in den
                                               schnittlichen Bedarf der
                                         Schweizer Bevölkerung von drei
                                                                                   Neben direkt
                                                                                  konsumierbaren
                                                                                                                Gelenkbusse                                letzten 25 Jahren gestrafft:
                                                                                                                                                          weniger Erdöl, keine Kakao-
                                         bis vier Monaten. Mit nicht lager-                                                       voll Reis,                bohnen, keine Seife mehr.
                                                                              Nahrungsmitteln wer-
                                            baren Gütern kann sich die

                                                                                                                                                1995
                                                                              den Dünger, Tierfutter              über 15 000 Tonnen, liegen                     Die jährlichen Kosten
                                           Schweiz teilweise selbst ver­
                                            sorgen, bei Milchprodukten         ­sowie Rohstoffe zur                  in den Vorratskammern.            43.–         pro Person für die
                                                                               Produk­tion von Hefe              Den Bestand will man sogar                          Lagerung werden
                                                    zu 97 Prozent.                                                    erhöhen, um im Notfall                           von den Firmen
                                                                                     gelagert.
                                                                                                                           mehr glutenfreies                         auf die Verkaufs­-
                                                                                                                Getreide anbieten zu können.                        preise geschlagen.

63 000                                                                                                                                                                                                                                                                                                        leben, hat Bracher vom Branchen­
                                                                                                                                                                                                                                                                                                              verband Gastrosuisse vernommen. Der
                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                          ­ ndere machen.» Nachbarn sollen die
                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                          a
                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                          Einkäufe für Betagte erledigen, Freunde

                                                                                                                                                                         2018
Tonnen Zucker                                                                                                                                                                                                                                                                                                 junge Wirt glaubt, er gehöre zu den         und Familie für den täglichen Schwatz,
reichen für drei Monate.
                                                                                                                                                                                12.–                                                                                                                          ­anderen. Vor der Krise lief es ihm gut.    den sozialen Austausch, anrufen. Die
Mit der Menge in Würfel­                                                                                                                                                                                                                                                                                       Und Kleine wie er hätten kleinere Fix­     Spitex soll sich nicht um Einkäufe küm­
zuckern könnte man die                                                                                                                                                                                                                                                                                         kosten. Im Mai, so hofft er, werden die    mern müssen, sondern allein um ihre
Fläche der Gemeinde                                                                                                                                                                                                                                                                                            Menschen wieder ausgehen können.           Kernaufgabe, die Pflege.
                                                                                                                                                        In Heilmittellagern                                                                                                                                    Dann will er bereit sein. «Bis dahin          Schon jetzt, in der frühen Phase der
Stein am Rhein SH von
                                                                                                                                                      werden Antibiotika für                                                                                                                                   heisst es überleben – irgendwie.»          Pandemie, hat die Spitex begonnen, mit
fast sechs Quadrat-
                                                                                                                                                 Menschen und Tiere, Impfstoffe                                                                                                                                                                           dem Zivilschutz zusammenzuarbeiten.
­kilometern pflastern.
                                                                                                                                                       und schmerzstillende
                                                 600 000                                                                                             Medikamente aufbewahrt;                                                                                                                                  Spitex: Solidarität und                     Auch Nachbarschaftsinitiativen und
                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                          neue Angebote wie hilf-jetzt.ch hätten
                                              Tonnen Weizen, andere                                                                             Blutbeutel, Atemschutzmasken der                                                                                                                              Stolz auf das Team                          sich direkt gemeldet und Unterstützung
                                             Getreide und Proteinträger                                                                          sichersten Kategorie sowie han-                                                                                                                              Unter den Kundinnen und Kunden von          angeboten. «Das ist grossartig», sagt
                                                                                                                                                    delsübliche Hygienemasken

                                                                                                                                                                                          QUELLEN: BERICHT ZUR VORRATSHALTUNG 2019/BWL, MOBITOOL.CH, BDBE.DE, AREALSTATISTIK/BFS, CLICK-CHEF.COM, WIKIPEDIA
                                         für Menschen und Tiere lagern an rund                                                                                                                                                                                                                                Arda Teunissen gibt es Mitte März noch      Teunissen: «Die Solidarität der Bevöl­
                                                                                                                                                      sind ebenfalls vorrätig.
                                          200 Orten: etwa im 118 Meter hohen
                                        Swissmill Tower in Zürich, dem höchsten                                            34 000                                                                                                                                                                             keinen bestätigten Corona-Fall. Aber
                                                                                                                                                                                                                                                                                                              Teunissen, Geschäftsleitungsmitglied
                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                          kerung ist enorm.»
                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                             Auch im Team ist der Zusammenhalt
                                                Kornspeicher der Welt.                                                  Tonnen Speiseöle                                                                                                                                                                      und Pflegefachfrau der Non-Profit-­         spürbar. Als sie gefragt habe, wer künf­
                                                                                                                        und Pflanzenfette                                                                                                                                                                     Spitex Zürich Limmat, weiss, dass das       tige Corona-Patienten betreuen wolle,
                                                                                                                     reichen für vier Monate.                                                                                                                                                                 wohl nur noch eine Frage der Zeit ist.      hätten sich erstaunlich viele freiwillig
                                                                                                                           Mit dieser Menge                                                                                                                                                                      Die Organisation hat 1050 Angestell­     gemeldet. «Das ist nicht selbstverständ­
                                                                                                                  könnte man 15 olympische                                                                                                                                                                    te, die täglich über 400 Besuche bei        lich. Ich bin stolz auf meine Leute.»
                                                                                                                                                           Um Verpackungen                                                                                                                                    Pflegebedürftigen in der Stadt Zürich
                                                                                                                     Schwimmbecken füllen.
                                                                                        Die Energielager
                                                                                                                                                          für Lebensmittel und
                                                                                                                                                           Arznei herstellen zu
                                                                                                                                                                                                                                                                                                              machen. Auch jetzt, in dieser Krise, sind   Mobilität: Eine Chance
                                                                                                                                                                                                                                                                                                              sie jeden Tag zur Stelle. Sie helfen im
                                                                                        umfassen Benzin,                                                  können, wird Plastik-                                                                                                                               Haushalt, pflegen und betreuen. So wie
                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                          für neue Modelle
                                                                                 ­Diesel, Heizöle, Erdgas und                                               granulat gelagert.                                                                                                                                Tausende weitere Spitex-Mitarbeiterin­      Homeoffice statt Büro: Was sich bis vor
                                                                                Flug­petrol für mehrere Mona-

2,7
                                                                                                                                                                                                                                                                                                              nen und -Mitarbeiter im ganzen Land.        kurzem viele wünschten, ist für ganze
                                                                                  te. Ersatz-Brennelemente
                                                                                                                                                                                                                                                                                                              Diese Pflege ist extrem wichtig, damit      Belegschaften jetzt Realität. «Ein er­
                                                                                   ­gewährleisten die Strom­

                                                                                                                                                1,2
                                                                                                                                                                                                                                                                                                              nicht noch mehr Personen ins Spital         zwungenes Experiment», sagt Arbeits­
                                                                                    versorgung durch AKWs.
                                                                                                                                                                                                                                                                                                              müssen, damit die Infrastruktur nicht       psychologe und Unternehmensberater
                                                                                                                                                                                                                                                                                                              noch mehr belastet wird.                    Felix Frei.
                                                                                                                                                                                                                                                                                                                 Arda Teunissen ist zuständig für            Arbeiten daheim entlastet Strassen

                                                             370 000
                                                                                                                                                                                                                                                                                                              die Fachentwicklung Pflege und Haus­        und Züge, nimmt Pendelstress weg und
                                                                                                                                                                                                                                                                                                              wirtschaft. Als Teil des Pandemiestabs      erlaubt eine flexiblere Zeiteinteilung.
Tassen Kaffee pro Tag                                                                                                                           Millionen Desinfektions­­­                                                                                                                                    kümmert sie sich um das Monitoring          Umweltpolitikerinnen, Verkehrsplaner,
könnten alle Einwohnerinnen und                                                                                                                 mittel­flaschen                                                                                                                                               der Einsätze. Alle Einsätze werden ak­      Familienfachstellen und Gleichstel­
Einwohner – inklusive Kinder – über drei Monate                                                                                                 inklusive Deckel könnten                                                                                                                                      tuell mit Gesichtsmasken absolviert.        lungsbüros fordern schon lange: mehr
trinken, bis die Kaffeelager leer sind.                                       Mal um die Erde                                                   aus den 81 Tonnen gelagerten                                                                                                                                     Die gebürtige Holländerin sagt: «Wir     davon! In Grossraumbürozeiten wird
Die Abschaffung dieses «nicht lebenswichtigen»                 könnte man mit einem Auto fahren. So viel Benzin                                 Kunststoffgranulats                                                                                                                                           brauchen jetzt jede pflegende Hand für      die heimische Klause auch zum Rück­
15 000-Tonnen-Vorrats scheiterte letztes Jahr.                            ist in den Lagern vorrätig.                                           hergestellt werden.                                                                                                                                           die Pflege, alles andere können auch        zugsort für konzentriertes Arbeiten.

                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                              Beobachter 7/2020   17
CORONA Wie das Virus den Alltag verändert - Vicino Luzern
Kleine Momente
                                                                                                                                                                                                                                     des Glücks
                                                                                                                                                                                                                                     Telefon mit einem Kollegen.
                                                                                                                                                                                                                                     Kurz vor Schluss sagt er
                                                                                                                                                                                                                                     ­bedeutungsschwer: «Du, da
                                                                                                                                                                                                                                      ­wäre noch etwas.» Ich denke:
                                                                                                                                                                                                                                       Es hat ihn erwischt. Er:
                                                                                                                                                                                                                                       «Wir bekommen ein Kind!»
                                                                                                                                                                                                                                     Daniel Benz, Redaktor

                                                                                                                                                                                                                                     Meine vierjährige Tochter:
                                                                                                                                                                                                                                     «Mami, können wir ins Hallen-
                                                                                                                                                                                                                                     bad?» Ich: «Nein, Schatz, das
                                                                                                                                                                                                                                     ist zu wegen des Corona.» Sie
                                                                                                                                                                                                                                     denkt kurz nach: «Ou, dann
                                                                                                                                                                                                                                     sagen wir einfach der Bade-
                                                                                                                                                                                                                                     wanne Hallenbad, okay?»
                                                                                                                                                                                                                                     Nicole Platel, Beratungszentrum

                                                                                                                                                                                                                                     Ich gebe meinen älteren
                                                                                                                                                                                                                                     Nachbarn meine Telefonnum-
                                                                                                                                                                                                                                     mer, damit sie mich jederzeit
                                                                                                                                                                                                                                     anrufen können, wenn sie
Findet viele neue Wörter:                                                                                                                                                                                                            etwas brauchen. Ein 85-Jähri-
Ruedi Widmer, Cartoonist                                                                                                                                                                                                             ger ist so gerührt, dass er mich
                                                                                                                                                                                                                                     spontan in den Arm nehmen
                                                                                                                                                                                                                                     will – ich muss ihn davon
          In der aktuellen Situation könne aber   Humor: Die Kraft                              Wir bekommen hautnah mit, was das                                                                                                    ­abhalten zu seinem Schutz.
      nicht über Sinn oder Unsinn von Home­                                                     für Menschen bedeutet, quasi ein­
      office entschieden werden, sagt Frei.
                                                  der Komik                                     gesperrt zu sein und ohne soziale Kon­
                                                                                                                                                                                                                                     Birthe Homann, Redaktorin

      «Wenn es zu Problemen kommt, liegt          Ruedi Widmer, Cartoonist aus Winter­          takte auskommen zu müssen.» Darauf                                                                                                   Nachbarschafts-Chat im
      es eher daran, dass die Unternehmen         thur, sorgt dafür, dass trotz der Krise die   müssten wir uns auch hier einstellen,                                                                                                Mietshaus (hatten wir schon
      schlecht vorbereitet sind, und nicht am     tägliche Ration Schmunzeln nicht ver­         und diese Situation, die mache Angst.                                                                                                davor): «Liebe Nachbarn:
      Modell.» Auf die Probe gestellt werde die   gessen geht, auch wenn ihm das zurzeit           Trotzdem: «Humor hilft, vieles bes­                                                                                               Wenn wir etwas für euch tun
      Art und Weise, wie in einer Firma gear­     manchmal schwerfällt (siehe Widmers           ser zu ertragen.» Natürlich spiele da                                                                                                können, lasst es uns wissen.
      beitet wird. Funktioniert die Organi­       Schlusspunkt, Seite 74). Der 47-Jährige       aktuell auch viel Galgenhumor mit.                                                                                                   Zögert nicht – wir sind da.»
      sation im Team? Handeln die Leute selb­     sagt: «Meine Grundhaltung als Cartoo­         Aber auch das sei gut, «diese Freiheit                                                                                               Was rundum Hilfsangebote
      ständig? Weiss jeder, was seine Aufgaben    nist ist immer: Ich stelle mich auf die       dürfen wir uns nicht nehmen lassen»,                                                                                                 auslöste, verbunden mit dem
      sind? «Mit der räumlichen Distanz zeigt     Seite der Schwachen. Geselle mich             sagt er. «Ich erinnere mich noch gut an                                                                Vermietet seine Leute:
                                                                                                                                                                                                     Thomas Kellerhals, Sivex        Wunsch: «Bliibed gsund!»
      sich, was die Chefs taugen. Wenn sie        ­sozusagen zu denen, die leiden, nehme        9/11 vor fast 20 Jahren. Da wurden zwei
                                                                                                                                                                                                                                     Doris Huber, Beratungszentrum
      ­bisher nicht vertrauensbasiert geführt      ihre Position ein.» Aktuell heisse das,      Wochen lang quasi alle Karikaturen
       haben, den Mitarbeitern keine Kompe­        er würde sich nie über Menschen lustig       und Cartoons verboten, die Zeitungen
                                                                                                                                                                                                                                     Ich suche inspirierende
       tenzen gaben, droht jetzt das Chaos.»       machen, die vom Virus betroffen sind.        druckten nichts dergleichen. Das finde      sowie die Löhne für sich und die fünf       eine Lösung finden.» Mitarbeiter zu
                                                                                                                                                                                                                                     Bücher über Zuversicht,
       Und: «Es gibt mehr Wege, um unsere          Vielmehr über die, die immer noch            ich vollkommen falsch. Tragik und           Mitarbeiter konnten die drei Firmen­        ­entlassen, komme für ihn nicht in Frage.
                                                                                                                                                                                                                                     schrieb ich der Buchhändlerin
       Arbeit zu gestalten, als wir meinen.»       ­meinen, das sei ein Hype und eigentlich     Komik liegen nah beieinander, wir
                                                                                                ­                                           gründer bisher gut decken. Die Brüder        «Doch bei einigen ist die Angst um den
                                                                                                                                                                                                                                     morgens per SMS. Am Abend
          Verkehrssoziologe Jörg Beckmann           ganz harmlos – solche gebe es noch,         ­müssen die Kraft der Komik nutzen!»        Thomas, 31, und Matthias Kellerhals, 27,     Job deutlich spürbar», erzählt er.
                                                                                                                                                                                                                                     lagen sie im Briefkasten. Ich
       erhofft sich das Gleiche auch in Sachen      trotz Schulschliessungen und der kla­                                                   und ihr Freund Norwin Messmer, 27,              Am 16. März, eine halbe Stunde
                                                                                                                                                                                                                                     freue mich, sie zu lesen.
       Mobilität. Weniger pendeln, einkaufen        ren Worte des Bundesrats.                   Handwerker: Arbeit                          ­erwirtschafteten in manchen Jahren          nachdem der Bundesrat den Notstand
                                                                                                                                                                                                                                     Chantal Hebeisen, Online-Redaktorin
       in der Nähe, Wanderungen vom Wohn­              Widmer findet es spannend, wie                                                        sogar einen kleinen Gewinn. «Doch           ausgerufen hat, hängen die Zeltplanen
       ort aus machen, zu Hause bleiben über        plötzlich Wörter wie «Homeoffice»,
                                                                                                dank Facebook                                wenn die Einnahmen ausbleiben, ver­         schlaff von der Decke, die Festbänke
       Ostern – die Routine unserer raum­           «Quarantäne» oder «Social Distancing»       «Um unsere Mitarbeiter weiter beschäf­       schmerzt das unsere Firma nicht lan­        sind sauber aufgeschichtet. Doch Kel­       Samstagabend, alle Veranstal-
       greifenden Lebensweise werde durch­          in den Alltag einziehen. Damit lasse sich   tigen zu können, sind wir auf der Suche      ge», sagt Thomas Kellerhals.                lerhals lächelt. Er und seine Mitarbeiter   tungen sind abgesagt, die
       brochen. «Vielleicht finden wir Ant­         humormässig was machen. «Aber jetzt         nach Arbeit.» Am 5. März um 17.05 Uhr           Als seine Kundinnen und Kunden die       sind als Lehnarbeiter bei anderen Fir­      Jungs schwanken zwischen
       worten auf die Frage, wie wir mit weni­      kommt noch das Wort ‹Triage› dazu.          setzt Thomas Kellerhals auf Facebook         Aufträge wegen des Veranstaltungs­          men tätig. Wider Erwarten habe der          ungläubigem Staunen und
       ger Verkehr trotzdem wirtschaften und        Das ist grausam. Tod und Humor ge­          diesen Hilferuf ab. Seine Firma Sivex        verbots stornierten, sei die Stimmung       Facebook-Post eine grosse Solidaritäts­     Frustration. Und plötzlich
       sinnerfüllt leben können.» Damit sich        hören irgendwie nicht zusammen.»            aus Horgen ZH vermietet Festzelte –          auf dem Nullpunkt gewesen. Doch             welle ausgelöst, er wurde von über          sitzt die ganze Familie im
       langfristig etwas ändere, müssten aus           Wo die Grenzen der Satire sind, lotet    eigentlich ein florierendes Geschäft. Die    Angst mache ihm die Situation nicht.        680 000 Personen gesehen, über 7000-        Wohnzimmer und spielt.
       den neuen Erfahrungen aber neue Rah­         Widmer immer wieder neu aus. «Ver­          laufenden Kosten von gut 850 000 Fran­       «Es ist ein stetiges Wechselbad der         mal geteilt. Sogar aus dem deutschen        Thomas Angeli, Redaktor
       menbedingungen hervorgehen.                  wandte meiner Frau leben in Italien.        ken für Lager- und Abzahlungskosten          ­Gefühle, aber ich weiss, dass wir immer    Chemnitz kam eine Anfrage.

      18 Beobachter 7/2020                                                                                                                                                                                                                           Beobachter 7/2020   19
CORONA Wie das Virus den Alltag verändert - Vicino Luzern
Hofft auf das Publikum:
Nadja Zela, Rockmusikerin

         Frank Roselieb vom Deutschen Ins­         ­ adio und Fernsehen SRF einen ein­
                                                   R                                           lerweile reagiert und gibt der Schweizer
     titut für Krisenforschung an der Uni­         dringlichen Brief: «Entwickeln Sie          Musik mehr Sendeplatz.
     versität Kiel sieht dieses Vorgehen           Ideen, wie Sie die existenziell bedroh­        Nadja Zela wurden wegen der Coro­
     ­kritisch. «Es ist nicht nachhaltig, seine    ten Musiklokale, Filmstätten und uns        na-Krise fünf Duo-Auftritte abgesagt.
      Mitarbeiter an andere Firmen zu ver­         Kulturschaffende unterstützen kön­          «Aber ich mache mir auch Sorgen um
      mieten, statt im Kernbereich nach            nen.» Die 48-Jährige meinte weiter:         mein kommendes Album ‹Greetings to
      Alternativen zu suchen. Ausserdem
      ­                                            «Wenn ich von ‹uns› rede, meine ich         Andromeda›, in das ich zwei Jahre
      zeigt die Forschung, dass es einer Firma     Tausende Existenzen in der Kreativ­         und 25 000 Franken investiert habe.»
      mittelfristig eher schadet, wenn sie sich    wirtschaft, die auch in guten Zeiten und    Im Netz gebe es einige Plattformen mit
      in der Krise als einzige der Branche         trotz harter Arbeit wenig verdienen –       Online-Pay-Tools, auf die man seine
      kommunikativ aus der Deckung wagt.»          nennenswerte Rückstellungen anzu­           Live-Musik-Videos stellen könne. «Das
         Thomas Kellerhals versucht zwar,          häufen, ist für die meisten von uns nicht   werde ich nun machen und hoffe auf
      seine Zelte für andere Zwecke anzubie­       möglich, umso härter trifft uns jetzt der   Solidarität.»
      ten, etwa für Spitäler. Aber das sei nicht   Shutdown der Kultur.» Die Musikszene           Eine «ungeheure Welle der Solidari­
      so einfach, weil oft das Militär zum Zug     in der Schweiz sei sehr kreativ und         tät» erlebt derzeit das Cully Jazz Festi­
      komme. Er achte darauf, keinem ande­         ­innovativ, aber die Verteilkanäle wie      val, ein Anlass mit Weltstars am Genfer­
      ren Betrieb die Arbeit wegzunehmen.           beispielsweise SRF seien nun gefordert.    see. Es musste abgesagt werden. Mit der
      «Wir haben auch schon Aufträge abge­               Sonart, der Berufsverband der frei­   Mitteilung verschickten die Organisa­
      lehnt, weil jemand vorher bereits offe­       schaffenden Musiker*innen, hat reagiert    toren die Bitte, doch auf eine Rückfor­
      riert hatte», erzählt er. «Die vielen aus­    und extra eine Datenbank eingerichtet,     derung der Ticketpreise zu verzichten.
      nahmslos positiven Rückmeldungen              auf der abgesagte Gigs gemeldet werden     Das Echo war enorm: «Bisher haben
      haben uns einen enormen Motivations­          können. Zusammen mit SRF gleisen ver­      rund 60 Prozent der Besucher verzich­
      schub gegeben. Ich habe mich gefragt,         schiedene Musikverbände nun Lösun­         tet», sagt Direktor Jean-Yves Cavin
      ob man eine Plattform gründen könnte,         gen auf, wie die Musikszene unterstützt    überwältigt. «Und täglich treffen Spen­
      wo man sich auch nach der Krise bran­         werden kann. Musikerin Zela doppelt        den ein, um das Überleben zu sichern.»
      chenübergreifend helfen kann.»                nach: «SRF könnte doch stundenlang            Nadja Zela, der Nicht-Weltstar aus
                                                    nur inländische Musik spielen, von         Zürich, hofft derweil noch. Auf die Soli­
     Kultur: Mehr Platz                             ­Kulturschaffenden, die Gagenausfälle      darität ihres Publikums – und diejenige
                                                     zu verzeichnen haben. Die Urheber­        der Programmmacher von SRF.
     für Schweizer Kultur                            rechtseinnahmen würden diese Aus­
     Rockmusikern Nadja Zela aus Zürich              fälle etwas abfedern, und das Publikum    Lesen Sie zum Thema Alleinsein das
     schrieb Mitte März dem Schweizer                wäre trotzdem erreicht.» SRF hat mitt­    Interview auf Seite 22.

     20 Beobachter 7/2020
CORONA Wie das Virus den Alltag verändert - Vicino Luzern
CORONA-KRISE

«Die Frage ist, welche Qualität wir diesem Zustand geben»
ALLEINSEIN. Einfach mal sich selber sein: Für Pater Martin Werlen vom Kloster Einsiedeln ist das                                                                 ein Rezept gegen die persönliche Corona-Krise.

Sie sind sehr aktiv auf Twitter, im Moment                                                                                                                              die einem Mühe machen. So erhält der Tag           Die Frage ist, welche Qualität wir diesem
häufig mit dem Hashtag #CoronaEremit.                                                                                                                                   eine Dynamik. Eine Tagesstruktur hilft uns,        Runterfahren geben. Wir können uns darü­         Weitere Artikel
Was soll das bedeuten?                                                                                                                                                  die Zeit als Familie gut zu bewältigen. Wir        ber beklagen, dass nichts mehr ist, wie es       zu Corona:
Pater Martin Werlen: Zurückgezogen zu leben                                                                                                                             verlieren nichts, wenn wir eine Ordnung            einmal war, wir können uns darüber auf­
und nicht ständig in der Öffentlichkeit unter­                                                                                                                          in unsere Tage hineingeben, sondern wir            regen, aber da gehen wir nur kaputt, das         Standpunkt: Die Corona-
wegs zu sein, gehört ganz wesentlich zum                                                                                                                                gewinnen alle.                                     baut nicht auf. Wenn ich entdecke, dass          Krise zwingt uns eine
Leben eines Mönchs oder einer Nonne dazu.                                                                                                                                                                                  dieses gesellschaftliche Herunterfahren
                                                                                                                                                                                                                           ­                                                ­dringend nötige System-
Unsere Idee ist, dass gerade wir als Ordens­                                                                                                                            Viele Menschen haben Mühe mit dem                  mich dazu bewegt, selber herunterzufahren         korrektur auf. → Seite 9
leute aus eigener Erfahrung Impulse geben                                                                                                                               Alleinsein. In Ihrem Leben gehört das aber         und einfach zu sein, und dass ich nicht
können, wie man mit der momentanen                                                                                                                                      fest dazu. Können wir das heute nicht mehr?        ­ständig etwas leisten muss, dann ist das        Ratgeber Psychologie: Was
­Situation umgehen kann.                                                                                                                                                Alleinsein war schon immer eine grosse              eine wertvolle Erkenntnis.                      man gegen die Einsamkeit
                                                                                                                                                                        Herausforderung für die Menschen. Im
                                                                                                                                                                        ­                                                                                                   tun kann. → Seite 61
Kann man mit Twitter, Livestreams und                                                                                                                                   ­Religionsunterricht habe ich eingeführt,          Sie haben auf Twitter einen Satz des heiligen
anderen sozialen Medien die momentane                                                                                                                                    dass wir in jeder Doppelstunde während            Benedikt zitiert, man solle «in schwierigen      Schlusspunkt: Cartoonist
Situation besser ertragen?                                                                                                                                               zehn Minuten einfach da sind, in vollkom­         Situationen die Geduld gleichsam bewusst         Ruedi Widmers Blick auf
Social Media sind nur Instrumente, um                                                                                                                                    mener Stille. Wir haben mit zwei Minuten          umarmen». Wie umarmt man die Geduld?             die Krise. → Seite 74
­Impulse weiterzugeben, aber ich bin sehr                                                                                                                                angefangen und dann langsam gesteigert.           Wenn mich etwas wahnsinnig aufregt, ver­
 froh, dass wir sie zur Verfügung haben. Vor                                                                                                                             Die Schülerinnen und Schüler merken: Ich          suche ich, die Geduld bewusst zu umarmen.        Ratgeber: Für Seniorinnen
 50 Jahren war es noch nicht einmal selbst­                                                                                                                              darf einfach sein, ich muss nichts leisten.       Ich entscheide bewusst, jetzt nicht aus­         einkaufen, Kinder betreuen:
 verständlich, dass man jederzeit telefo­                                                                                                                                Und das gibt ihrem ganzen Tag eine andere         zurasten, sondern ich ziehe mich zurück,         Was Sie beachten müssen,
 nieren konnte. Heute können wir einander                                                                                                                                Farbe. Ich stelle fest, dass das uns als Klasse   setze mich allein irgendwohin und trage das      wenn Sie anderen helfen.
 ­sogar am Bildschirm sehen oder miteinan­                                                                                                                               zusammenschweisst, wenn wir einfach               vor Gott. Und nicht dem Impuls folgen, dem       → beobachter.ch/solidaritaet
  der chatten. Das bringt in vieles eine ganz                                                                                                                            ­miteinander da sein können. Das verbindet        anderen etwas ins Gesicht zu werfen. In
  andere Dynamik hinein.                                                                                                                                                  uns viel mehr, als wenn wir miteinander          ­solchen Situationen sind wir «üs em Hüsli».
                                                                                                                                                                          tratschen und immer die Gleichen zusam­           Für den heiligen Benedikt war es wichtig,
Wir sehen einander aber bloss auf dem                                                                                                                                     menstehen.                                        dass wir bei uns selber daheim sind. Und
Bildschirm. Der Mensch braucht doch den                                                                                                                                                                                     wenn wir «üs em Hüsli» sind, sind es a
                                                                                                                                                                                                                                                                 ­ ndere
direkten, körperlichen Kontakt.                                                                                                                                         Im Moment hört man überall, dass man die            bald einmal auch. Gerade wenn wir wie jetzt
Meiner Meinung nach sind auch Kontakte                                                                                                                                  Gesellschaft herunterfahren muss. Das hat oft       öfter zu Hause sind, ist es wichtig, das zu
über Medien wie Twitter oder Skype richtige                                                                                                                             einen negativen Touch …                             ver­meiden.         INTERVIEW: THOMAS ANGELI
Kontakte, schliesslich kommuniziere ich
mit realen Menschen. Wenn man früher mit
Rauchzeichen Nachrichten weitergab, dann
war auch das ein Kontakt von Mensch zu
Mensch. Ich glaube, die Einteilung in vir­
tuelle und reale Kontakte ist falsch. Es sind
alles reale Kontakte, aber wir müssen sie
pflegen. Auf Twitter erlebe ich das immer
wieder. So sind ja auch Sie dazu gekommen,
                                                 strukturieren, kann es sehr leer werden. In­
                                                 dem ich eine Struktur schaffe, gibt diese mir
                                                                                                 «Auch Kontakte
mich anzurufen. In der momentanen Situ­          Halt und bringt eine Dynamik in den Tag.        über Medien
ation entdecken wir neu, wie es uns freut,                                                       wie Twitter
wenn man Kontakt aufnimmt.                       Und wie soll man das anpacken?                  und Skype
Als Mönch sind Sie es gewohnt, nach strikten
                                                 Nehmen wir uns ein Beispiel am evangeli­
                                                 schen Theologen Dietrich Bonhoeffer. Wäh­
                                                                                                 sind richtige
Regeln und mit einem beschränkten Bewe-          rend seiner Einzelhaft durch die Nazis gab      Kontakte.»
gungsradius zu leben. Haben Sie Verständnis      er sich ein klares Tagesprogramm mit            Pater Martin Werlen, 58, lebt
für Leute, die mit diesen Einschränkungen        ­Lektüre, Beten und Singen, Schreiben, Ruhe     als Benediktinermönch im
                                                                                                                                    FOTO: PASCAL MORA/KEYSTONE

Mühe haben?                                       und Essen. In unserer heutigen Situation ist   Kloster Einsiedeln. Von 2001 bis
Selbstverständlich! Gerade in solchen Situ­       das ebenfalls sehr wichtig. Eine Zeit zum      2013 war er Abt des Klosters.
ationen ist es wichtig, dass man eine             Alleinsein und eine Zeit zum Miteinander­
                                                                                                 Sein Twitter-Name lautet
                                                                                                 @MoenchMartin.
­Struktur in den Tag bringt. Als Benediktiner     sein. Als Familie kann man zum Beispiel
 können wir dazu vielleicht ein paar Impulse      Spiele wiederentdecken oder sich mitei­
 geben. Wenn wir Zeit haben, sie aber nicht       nander austauschen, auch über die Dinge,

22 Beobachter 7/2020
CORONA Wie das Virus den Alltag verändert - Vicino Luzern CORONA Wie das Virus den Alltag verändert - Vicino Luzern CORONA Wie das Virus den Alltag verändert - Vicino Luzern
Sie können auch lesen