COVID-19-Pandemie - ethische und ökonomische Herausforderungen für ein gelingendes Krisenmanagement
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Zeitgespräch DOI: 10.1007/s10273-021-2975-5 Nikola Biller-Andorno, Thomas Kapitza COVID-19-Pandemie – ethische und ökonomische Herausforderungen für ein gelingendes Krisenmanagement Die Ziele bestimmen den Weg hier so verstanden werden, dass der gesundheitliche, ökonomische und psychologische Schutzbedarf der Be- In den zurückliegenden 18 Monaten der COVID-19-Pan- völkerung effizient und in ethisch angemessener Weise demie wurde die Komplexität nationalen und internatio- durch die beteiligten Institutionen abgedeckt wird. nalen Krisenmanagements deutlich sichtbar. Neben die epidemiologische Herausforderung einer wirksamen Die zurückliegenden Monate haben die überragende Eindämmung der Pandemie trat die Frage der Bewertung Bedeutung eines staatlich aufgebauten und gesteuerten verfügbarer Handlungsoptionen in ethischer, ökonomi- Pandemiemanagements zur Bewältigung der COVID- scher und gesellschaftspolitischer Hinsicht. Auch wenn 19-Gesundheitskrise wie auch die Bedeutung von pri- die wachsende Zahl von Menschen mit Impfschutz ins- vatwirtschaftlichen Initiativen und Public-Private-Part- gesamt Anlass zur Hoffnung auf eine Entspannung der nerships aufgezeigt. Es wurde deutlich, dass das aktu- Krisensituation gibt, bleibt die Situation – insbesondere elle Pandemiemanagement vor allem vier Themenfelder aus globaler Perspektive – mit Blick auf fairen Zugang zu berücksichtigt: knappen Ressourcen, die längerfristigen ökonomischen Folgen und den Schutz der Grundrechte prekär. • Ermöglichung und Förderung von Forschung über die medizinische Bekämpfung der Virusvarianten zur Be- Auch wenn die Zeit für eine umfassende Retrospektive reitstellung und Verteilung eines zuverlässigen Infekti- noch nicht gekommen ist, scheint es vor diesem Hinter- onsschutzes und zur wirksamen klinischen Versorgung grund sinnvoll, bereits jetzt medizinethische und öko- akut erkrankter infizierter Menschen und ihrer Nach- nomische Aspekte eines wirksamen und nachhaltigen versorgung (gesundheitliche Daseinsvorsorge unter Pandemiemanagements (PM) näher zu betrachten. Über- Pandemiebedingungen). legungen zu Management und Governance setzen eine Definition des zu erreichenden Ziels voraus. Dieses soll • Sicherstellung der prognostisch benötigten medizi- nisch-pflegerischen Versorgungskapazitäten bei den © Der/die Autor:in(nen) 2021. Open Access: Dieser Artikel wird unter der Versorgungseinrichtungen und Leistungserbringern im Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz veröf- Gesundheitssektor (Sicherstellung der Versorgungs- fentlicht (creativecommons.org/licenses/by/4.0/deed.de). bereitschaft und der Versorgungskapazitäten). Open Access wird durch die ZBW – Leibniz-Informationszentrum Wirtschaft gefördert. • Bereitstellung und Verteilung finanzieller Mittel, finan- zieller Entlastungen und von Dienstleistungen zur Be- wältigung der wirtschaftlichen Auswirkungen der Pan- demie (Stabilisierung der Volkswirtschaft und Schutz der betroffenen wirtschaftlichen Interessengruppen). Prof. Dr. med. Dr. phil. Nikola Biller-Andorno ist • Ermöglichung eines gesamtgesellschaftlichen Pande- Direktorin des Instituts für Biomedizinische Ethik miediskurses zur Information und Begleitung der Be- und Medizingeschichte (IBME) der Universität völkerung in den persönlich einschränkenden und be- Zürich und Mitglied der Arbeitsgruppe „Zukunft der lastenden Krisenzeiten. Medizin“ der BBAW. Die Herausforderungen für das Pandemiemanagement und inhaltliche Ansatzpunkte für PM-Ziele sind in Tabelle 1 Dr. sc. med. Dipl.-Kfm. Thomas Kapitza ist übersichtsmäßig dargestellt. Affiliate des IBME und leitet das Med & Econ Ethics Lab IBME in Zürich. Pandemien entfalten eine alle gesellschaftlichen Bereiche und Wirtschaftssektoren beeinträchtigende Wirkung. Pan- demien sind damit, zumindest temporär, sowohl Gesund- Wirtschaftsdienst 2021 | 8 586
Zeitgespräch Tabelle 1 Herausforderungen und Zieloptionen des Pandemiemanagements (PM) PM-Stufe Herausforderungen Ansatzpunkte für PM-Ziele (Auswahl) I Mittelaufbringung • Staatliche (reserven-, schulden- und entlastungsbasierte Zwischen-)Finanzierung Schaffung der des gesamtgesellschaftlichen Pandemieaufwands Ressourcenvoraus- • Mittelzuweisungen für pandemierelevante Forschung usw. setzungen • Beiträge wirtschaftlich leistungsfähiger Bevölkerungsgruppen (Solidarfinanzierungen) II Mittelallokation: primäre • Medizinisch-pflegerische Akutversorgung erkrankter/infizierter/gefährdeter Menschen Festlegung und (medizinische) Pandemie- • Infektionsschutz für Bevölkerung (global) Umsetzung der bekämpfung Lösungsansätze Pandemiebekämpfung durch • Sicherstellung der Versorgungsbereitschaft (Personal, Sachmittel, Liquidität, sektorale Versorgungsbereit- Versorgungskompetenz der nationalen Gesundheitsinfrastruktur) schaft • Sicherstellung der prognostizierten Versorgungskapazitäten (medizinisch-pflegerische Infrastruktur, Patientenlogistik, katastrophenmedizinische Kapazitäten) Bekämpfung • Vermeidung eines Zusammenbruchs des Finanzsystems (Erhalt Liquidität und kollateraler Pandemieeffekte Zahlungsfähigkeit) der Akteure einschl. privater Haushalte • Verfügbarkeit lebenswichtiger Ressourcen (Lebensmittel, Wasser, Energie) • Schutz der ökonomischen Wertschöpfungs-, Produktions- und Lieferketten Pandemiebekämpfung durch • Stabilitätserhalt des politischen Systems einer freiheitlichen Demokratie Systemstabilisierung • Erhalt der öffentlichen (einschließlich militärischer) Sicherheit • Weiterentwicklung technologischer Fähigkeiten (BioTech, Pharma, Digitalmedizin) • Bewahrung verfassungsrechtlicher Freiheitsrechte • Schutz des Wohlstands-, Wohlfahrts- und Sozialniveaus • Bewältigung pandemiebedingter Emigration/Immigration und Vermeidung gesellschaftlicher Konfliktpotenziale (Eingliederung, Verdrängung, Bekämpfung) Quelle: eigene Darstellung. heitskrisen als auch Wirtschaftskrisen. Deshalb ist ein nati- auch auf einer positiven wertebezogenen Einschätzung onales wie internationales Pandemiemanagement notwen- der Betroffenen der festgelegten Ziele und kommunizier- dig, das über den Gesundheitssektor hinaus die Sicherheit ten Prioritäten des Krisenmanagements (Biller-Andorno, der Bevölkerung und die Stabilität des Wirtschaftssystems 2020; Spitale et al., 2020). In Tabelle 2 werden diese As- im Blick hat (Kapitza, Greiff und Mann, 2020). pekte in Form einer Übersicht dargestellt. Sowohl im Gesundheitssektor wie in der nationalen und Wie die Übersicht zeigt, gibt es eine Vielzahl ethischer globalen Ökonomie ist wirksames Pandemiemanage- Werte, die auf den unterschiedlichen Zielebenen (Indivi- ment darauf angewiesen, die Sichtweisen, Einschätzun- duum, Gesundheitssektor, Volkswirtschaft, Nationalstaat gen, Interessen und Entscheidungen der Beteiligten un- bzw. supranational) des Pandemiemanagements von Be- tereinander abzustimmen. Durch transparente Informati- deutung sein können. Wirksames Pandemiemanagement on, Teilhabe und Kooperation können Vertrauen und So- sollte sich nicht nur auf eine ethisch adäquate Allokation lidarität und damit die Resilienz von Individuen, sozialen von materiellen Ressourcen fokussieren. Vielmehr soll- Gruppen und Bevölkerungen gestärkt werden. Die Be- te – auf Vertrauenswürdigkeit basierendes – Vertrauen in reitschaft der Bevölkerung, ein wirksames Pandemiema- seine Absichten und seine Leistungsfähigkeit angestrebt nagement mit seinen einschränkenden und Verhaltens- werden, damit dieses Vertrauen als eine immaterielle Ba- veränderungen erfordernden Vorgaben zu akzeptieren, sisressource für ein wirksames nationales und internatio- ist davon abhängig, ob es die moralischen Auffassungen nales Pandemiemanagement zur Verfügung stehen kann. und Werte der Betroffenen berücksichtigt und vertrau- Diese Ermöglichung begründeten Vertrauens kann ein enswürdig erscheint. wichtiges Merkmal einer Good Governance des Pande- miemanagements sein. Ein in ethischer Hinsicht qualita- Ethisches Pandemiemanagement: Akzeptanz als tiv hochstehendes Pandemiemanagement sollte deshalb Wirksamkeitschance folgende Aspekte berücksichtigen: Die Akzeptanz von Managementansätzen zur COVID- • Ist den Pandemiemanagement-Verantwortlichen be- 19-Pandemie, insbesondere bezüglich der Steuerungs- wusst, dass ihre moralische Integrität die Effektivität maßnahmen und der Entscheidungstragenden, beruht und Effizienz der Pandemiemaßnahmen stärken kann ZBW – Leibniz-Informationszentrum Wirtschaft 587
Zeitgespräch Tabelle 2 Zieloptionen und Werte des Pandemiemanagements (PM) Mögliche PM-Ziele Ethische Werte Mögliche Wirkungen Mittelgenerierung Legitimität Durchsetzbarkeit • Finanzierungsziel (Pandemieaufwand) Glaubwürdigkeit Akzeptanz • Finanzierung pandemierelevante Forschung usw. Adressierbarkeit Verantwortung Nachvollziehbarkeit • Aufbau von Solidarfinanzierungen Transparenz Medizinische Pandemiebekämpfung Fair Process (Priorisierung, Triagierung) Leidensverminderung • Gesundheitliche Daseinsvorsorge (unter Pandemiebedingungen) Nachvollziehbarkeit Sektorale Versorgungsbereitschaft Zugangsgerechtigkeit Versorgungssicherheit • Sicherstellungsziel (Versorgungsbereitschaft und Kapazitätsbedarf) Kollaterale wirtschaftliche Pandemieeffekte Existenzschutz Akzeptanz • Wirtschaftliche Daseinsvorsorge (Volkswirtschaft) Fairness (bedarfsadjustierte Hilfe) Nachvollziehbarkeit • Versorgungssicherheit (Lebensmittel, Wasser, Energie) Transparenz Partizipation • Prozesssicherheit (Wertschöpfungs-, Produktions- und Lieferketten) Erklärbarkeit Kontrollierbarkeit Adressierbarkeit Verantwortung Widerspruchsoption Systemstabilisierung Verteilungsgerechtigkeit Akzeptanz • Systemstabilität (Demokratie + Freiheitsrechte) Fairness Tolerierung • Öffentliche (einschließlich militärischer) Sicherheit Transparenz Nachvollziehbarkeit • Fortschrittsfähigkeit (BioTech, Pharma, Digitalmedizin) Sinnhaftigkeit Partizipation • Stabilität des Wirtschafts- und Sozialsystems Empathie Kontrollierbarkeit • Gesellschaftliche Konfliktpotenzialminimierung Erklärbarkeit Widerspruchsoption Partizipation Quelle: eigene Darstellung. und damit eine Generierung von persönlichem Ver- Effekte eingegrenzt werden, welche die Pandemie als trauen in die Beteiligten und die öffentlichen Instituti- Vorwand zur Durchsetzung gruppen- oder eigennützi- onen ermöglicht wird? ger Interessen nutzen? • Welche normative Zielstruktur, Zielhierarchie bzw. Ziel- • Wird das Pandemiemanagement regelmäßig evalu- prioritäten und einzelnen Werte werden für das Pan- iert sowie hinterfragt und dabei die Schließung der demiemanagement festgelegt und im weiteren Verlauf epistemischen Lücke bezüglich steuerungsrelevanter gegebenenfalls modifiziert? Sind die normativen Fest- Pandemiedaten angestrebt (z. B. Massendaten, Indika- legungen plausibel und nachvollziehbar begründet? toren, Key Performance Indicator (KPI) als Frühwarn-, Alert- und Monitoring-Grundlagen)? • Gibt es definierte Ergebniskategorien, die sowohl im- materielle Zielgrößen (z. B. Leidensminimierung oder Medizinethischer Bezugsrahmen für Ermöglichung individuell als sinnvoll empfundener Le- Allokationsprozesse benschancen) als auch ökonomische Zielgrößen (z. B. einzusetzende finanzielle Ressourcen für Einzelmaß- Die Sicherstellung eines fairen Zugangs zu knappen klini- nahmen der Pandemiebekämpfung) berücksichtigen? schen Behandlungsmöglichkeiten oder zu eingeschränkt verfügbaren Impfstoffen sind typische Fragestellungen im • Sind die getroffenen Entscheidungen ethisch und in- Pandemiemanagement. Hier bringt die Medizinethik ihre haltlich-rational begründbar und erklärbar, und sind die Lösungskonzepte und wissenschaftlichen Überlegungen auf ihnen beruhenden konkreten Maßnahmen trans- ein. Allokationsentscheidungen im Kontext der Pandemie parent für alle Beteiligten und Betroffenen? Werden betreffen insbesondere Entscheidungen über die Zutei- mögliche Interessenkonflikte bei Entscheider:innen lung von (überlebens-)wichtigen Behandlungsmöglichkei- (insbesondere Politik) und Entscheidungsvorbereiten- ten und Impfstoffen zu jeweiligen Bedarfsgruppen in den den (insbesondere Wissenschaft und Lobbygruppen) jeweiligen Bevölkerungen. Materielle Kriterien zur konflikt- berücksichtigt? minimierenden Regelung (Badano, 2018) dieser Zuteilung von Versorgungs-, Heilungs- und Lebenschancen sollten • Sind die PM-Maßnahmen für die gesamte Bevölkerung im Pandemiemanagement genutzt werden. Das Konzept verbindlich, und können damit politische, gesellschaft- der Accountability for Reasonableness (A4R) schlägt eine liche, wirtschaftliche und medizinethische Free-Rider- Kriterienliste für die Angemessenheit eines Allokations- Wirtschaftsdienst 2021 | 8 588
Zeitgespräch prozesses vor, welche sich im Zusammenhang mit glo- den damit zum immateriellen und unsichtbaren Erfolgs- balen Verteilungsfragen im Gesundheitsbereich bereits faktor für die Durchführung und Umsetzung wichtiger vielfach bewährt hat (Daniels, 2008): Entscheidungen des Pandemiemanagements. • Publicity Condition (Transparency), hier verstanden als Ausblick Öffentlichkeitsbedingung zur Transparenzsicherung; Die Bewältigung der COVID-19-Pandemie ist eine Her- • Relevance Condition (Stakeholder Involvement), hier ausforderung, die nur durch intensive Zusammenarbeit verstanden als Bedeutungsbedingung für die Einbezie- über Sektoren und Nationen hinweg gelingen kann. Me- hung der Anspruchsgruppen; dizinethische Überlegungen stellen die Grundlage für eine gute Governance, verstanden als moralisch begründetes, • Revision and Appeals Condition; hier verstanden als zielorientiertes, transparent gerechtfertigtes Handeln, Überarbeitungs- und Einspruchsbedingung; dar. Insbesondere für die heiklen Allokationsentscheidun- gen bieten medizinethische Konzepte und Grundlagen • Regulative Condition (Enforcement), hier verstanden eine nachvollziehbare, gemeinsame Rahmensetzung für als hoheitliche, reguliererbezogene Durchsetzung der alle im Allokationsprozess Beteiligten an. Auf diese Weise getroffenen Regelungsentscheidungen; kann das Spannungsverhältnis zwischen den Schlüssel- prinzipien Nutzenmaximierung und Gerechtigkeit (Joeb- Die vier Kriterien sollen einen fairen Allokationsprozess im ges und Biller-Andorno, 2020) durch prozedurale Kriterien Gesundheitssektor im Rahmen des Pandemiemanage- eines fairen Prozesses bewältigt werden. ments ermöglichen. Prozedurale Fairness wird damit zum Erfolgsfaktor. Hintergrundannahme ist dabei, dass in An- Eine Pandemie kann durch nationales Handeln allein nicht knüpfung an Rawls’ Konzept der Fair Equality of Oppor- bewältigt werden. Die Bearbeitung der Themen- und Akti- tunity (Rawls, 1999) die Entscheidungen im Gesundheits- onsfelder eines supranationalen Pandemiemanagements wesen so getroffen werden sollen, dass alle die gleiche kann weiter verbessert werden, Chance haben, ihre Lebenspläne zu verwirklichen. Aller- dings ist diese Vorgabe zu abstrakt, um als Grundlage da- • wenn die globale Gesundheitsgovernance gestärkt für zu dienen, welche substanziellen normativen Kriterien wird (z. B. die Zulassung der Impfstoffe erst über die bei Entscheidungen im Einzelfall zum Zuge kommen sol- WHO, dann national), len. Daher kommt der prozeduralen Komponente im Fall von Allokationsentscheidungen besondere Bedeutung • wenn Verantwortlichkeiten für Allokationsentschei- zu. Die Berücksichtigung der A4R-Bedingungen ermög- dungen durch transparentes Abwägen relevanter Ar- licht Entscheidungstragenden, Allokationsentscheidun- gumente, Einspruchsmöglichkeiten und konsequente gen zumindest zum Teil mit Verweis auf den fairen Pro- Umsetzung (A4R) adressiert werden, zess ihrer Entstehung zu legitimieren. • wenn die Erwartungen an privatwirtschaftliche Akteu- Ein Merkmal ethischen Pandemiemanagements ist es re bzw. zuliefernde Industrie definiert (z. B. COVAX als somit, dass die knappheitsbedingt notwendigen Alloka- privilegierter Partner (Berkley, 2020)) und Anreize ge- tionsprozesse nicht eine vertrauensstörende Umsetzung staltet werden, von Klientel- und Gesellschaftspolitik mit anderen Mitteln sind. In einer gesamtgesellschaftlichen Krisensituation, • wenn die Staatengemeinschaft ihren gemeinsamen in der rationale Entscheidungen zur materiellen Ressour- globalen Beitrag als Leistung (health diplomacy) würdi- cenzuteilung organisiert und getroffen werden müssen, gen (Vermeidung von Impfrennen und Exportrestriktio- ist die Qualität und Akzeptanz hoheitlicher Entscheidun- nen) und nationale Interessen eingehegt werden (z. B. gen abhängig von der ethisch-normativen Qualität der zu- Caps für bilaterale Advance Purchase Agreements), grunde liegenden Entscheidungsprozesse. • wenn die Zustimmung der Bevölkerung zu den getrof- Medizinethische Überlegungen können daher nicht als fenen Entscheidungen im globalen Pandemiemanage- komplexitätserhöhende Nice-to-Have-Überlegungen ment (citizen commitment) durch Kommunikation und gedanklich vernachlässigt werden. Vielmehr sind sie die Partizipation gefördert wird. unverzichtbare Grundlage intrinsischer Akzeptanzbereit- schaft bei Beteiligten und Betroffenen hinsichtlich der Es gilt, gemeinsames Handeln in der Gesundheitskri- jeweiligen Allokationsentscheidungen bzw. den mit ihnen se und darüber hinaus zu unterstützen. Alle Beteilig- verbundenen Konsequenzen. Werteüberlegungen wer- ten können sich die Konsequenzen ihrer Entscheidun- ZBW – Leibniz-Informationszentrum Wirtschaft 589
Zeitgespräch Biller-Andorno, N. (2020), PubliCo Project, Universität Zürich, https:// gen konkret vor Augen führen. Es ist offensichtlich, www.ibme.uzh.ch/en/Biomedical-Ethics/Research/Ongoing-Re- dass nicht nur die technisch-administrative, sondern search/Public-Health-Ethics/PubliCo.html (22. Juli 2021). auch die moralische Qualität der Allokation dringend Daniels, N. (2008), Just health: Meeting health needs fairly, Cambridge Uni- versity Press. benötigter Ressourcen die Höhe des erzielbaren Ver- Ghebreyesus, T. A. (2021), WHO Director-General‘s opening remarks at sorgungsnutzens festlegt. Die Good Governance des 148th session of the Executive Board, WHO, https://www.who.int/ COVID-19-Pandemiemanagements ist keine theore- director-general/speeches/detail/who-director-general-s-opening- remarks-at-148th-session-of-the-executive-board (22. Juli 2021). tisch-abstrakte Überlegung. Es gilt, katastrophales, Joebges, S. und N. Biller-Andorno (2020), Ethics guidelines on COVID-19 weil Menschenleben forderndes moralisches Versagen triage-an emerging international consensus, Critical care, 24(1), 201. zu verhindern (Ghebreyesus, 2021). Kapitza, T., F.-H. Greiff und K. Mann (2020), Das Gesundheitssystem in der Post-COVID-19-Epoche – Die Pandemiekrise und neue Wege des Pandemiemanagements. Rawls, J. (1999), A theory of justice (Rev. ed.), Belknap Press of Harvard Literatur University Press. Spitale G., S. Merten, K. Jafflin, B. Schwind, A. Kaiser-Grolimund und N. Badano, G. (2018), If You‘re a Rawlsian, How Come You‘re So Close to Biller-Andorno (2020), [Protocol] PubliCo. A new risk and crisis com- Utilitarianism and Intuitionism? A Critique of Daniels‘s Accountability munication platform to bridge the gap between policy makers and the for Reasonableness, Health care analysis: HCA: journal of health philo- public in the context of the COVID-19 crisis, Preprint, 30. November, sophy and policy, 26(1), 1-16. https://zenodo.org/record/4551386#.YPnZ1G5CTLs. Berkley, S. (2020), COVAX explained, https://www.gavi.org/vaccines- work/covax-explained (22. Juli 2021). Wirtschaftsdienst 2021 | 8 590
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