CREATED BY GERMANY Regionalversion Schleswig-Holstein und Hamburg
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CREATED BY GERMANY Regionalversion Schleswig-Holstein und Hamburg MA N A G E R K REI S D E R FR IE D R ICH-EB ERT-STI FTUNG Mehr Fortschritt wagen! Handlungsempfehlungen für die wirtschaftliche Transformation Schleswig-Holsteins und Hamburgs in Zeiten der Pandemie und des Strukturwandels Henning Vöpel Einleitung: Handlungsfähigkeit im Strukturwandel geraten. Schleswig-Holstein und Hamburg sehen sich dabei spezifischen Herausforderungen gegenüber. In dem vorliegen- Wir leben in einer Zeitenwende. Dies sind Zeiten des Wandels den Policy Paper werden wirtschaftspolitische Handlungsemp- und – im besten Fall – des Aufbruchs und des Fortschritts. Tief- fehlungen für Schleswig-Holstein und Hamburg mit dem Ziel greifende Umbrüche lösen oftmals systemische Veränderungen formuliert, den bevorstehenden Strukturwandel in gesellschaft- in Wirtschaft und Gesellschaft aus. Sie setzen etablierte Struk- licher Verantwortung und ökonomischer Selbstbestimmung zu turen und Institutionen, Regeln, Handlungsweisen und Verhal- bewältigen. Gerade nach der Corona-Krise, die lange nachwir- tensmuster unter Druck. Sie reduzieren umgekehrt Pfadabhän- ken wird, wird es wichtig sein, Zuversicht und Prosperität zu er- gigkeiten und bieten die Chance, Zukunft neu zu denken und zeugen und die strukturellen Grundlagen des Wohlstandes und zu gestalten. Es stellt sich die Frage: Wohin von hier aus? Unter einer nachhaltigen Zukunft zu erneuern (vgl. Dohnanyi, Vöpel, den Bedingungen des Wandels und der Unsicherheit gilt es, die 2020). Dafür gilt es jetzt, mehr Fortschritt zu wagen. eigene Handlungsfähigkeit zu erhalten, um bewusst zu ent- scheiden und selbstbestimmt zu handeln. Die Idee, den vor uns liegenden Wandel gesellschaftlich konstruktiv und ökonomisch Exogene Umbrüche und sozioökonomische zukunftsgerichtet zu gestalten, ist Gegenstand der Initiative Transformationsprozesse „Created by Germany“ des Managerkreises der Friedrich-Ebert- Stiftung (vgl. FES, 2020). Der Corona-Schock wird eine veränderte Welt hinterlassen. Die makroökonomische Volatilität, die mikroökonomischen Die gegenwärtige Corona-Krise hat diesem Ansatz zusätzlich Konzentrationsprozesse und die geopolitischen Spannungen Relevanz verliehen, denn sie hat das Bewusstsein dafür ge- werden vermutlich zunehmen. Darüber hinaus wird Corona die schärft, was die Gesellschaft im Kern zusammenhält und wie strukturellen Prozesse vielfach beschleunigen, so dass ökono- wichtig gleichermaßen eine leistungsfähige Wirtschaft und ein mische Geschwindigkeitsunterschiede aus der Krise heraus zu handlungsfähiger Staat sind. Doch bereits heute gilt es, über die beobachten sein werden, nicht nur zwischen Volkswirtschaften, Krise hinaus Strukturen zu erneuern, denn schon weit vor der sondern auch und vor allem zwischen Regionen. Es kommt Corona-Pandemie hat sich die Gesellschaft zunehmend polari- also wesentlich darauf an, Strukturen nicht überwiegend zu siert und sind weite Teile der Wirtschaft strukturell unter Druck erhalten, sondern diese zu erneuern. Dabei spielen die exoge-
Abbildung 1 Von exogenen Umbrüchen zu erfolgreichem Strukturwandel Exogene Ökonomische Politische Gesellschaftliche Umbrüche Bestimmungsgrößen Handlungsfelder Zielgrößen Digitalisierung Bildung und Qualifizierung Gesellschaftliche Stabilität und Klimawandel Wertschöpfung Forschung und Entwicklung gerechte Teilhabe Globalisierung Innovation Gründertum und Start-ups Strukturwandel und nachhaltiger Fortschritt Demografie Konnektivität und Infrastruktur Quelle: eigene Darstellung. nen Umbrüche eine entscheidende Rolle, denn sie bestimmen Um zu verstehen, welche Transformationsprozesse durch die maßgeblich die zukünftigen Rahmbedingungen für Politik und Umbrüche ausgelöst werden, gilt es, sich die Umbrüche selbst Wirtschaft. Im Strukturwandel zukunftsfähige Arbeitsplätze zu anzuschauen. Es sind im Wesentlichen vier große Umbrüche, schaffen und gleichzeitig gesellschaftliche Stabilität zu erhalten, die sich zum Teil überlagern, woraus wiederum ein hohes Maß sind dabei die wichtigsten Zielgrößen der (Wirtschafts-) Politik. an Komplexität und Unsicherheit resultiert. Die Digitalisierung ist die wohl größte technologische Revolution seit der Industri- Die entscheidenden ökonomischen Bestimmungsgrößen dafür alisierung. Sie löst nicht allein einen technologischen Umbruch sind Wertschöpfung und Innovation, denn sie bestimmen aus, sondern zugleich einen tiefen ökonomischen und kulturel- die Wettbewerbsfähigkeit und die Leistungsfähigkeit der Wirt- len Wandel. Der Klimawandel ist die größte denkbare Heraus- schaft und somit über gute Arbeit und Löhne. Menschen und forderung für die Menschheit. Die Umstellung auf eine post- Regionen zum Wandel und zur Teilhabe am Fortschritt zu befä- fossile, klimaneutrale Wirtschaft muss spätestens im Jahr 2040 higen, ist die zentrale Aufgabe der Wirtschaftspolitik. Die Hand- erfolgt sein, um den globalen Temperaturanstieg auf maximal lungsfelder lassen sich in die vier Bereiche Bildung und Quali- zwei Grad Celsius zu begrenzen. fizierung, Forschung und Entwicklung, Gründertum und Start-ups sowie Konnektivität und Infrastruktur einteilen. Die geopolitische Neuordnung der Welt wird die Globali- Diese Bereiche lassen sich jedoch durch Wirtschaftspolitik nicht sierung maßgeblich verändern, indem Absatzmärkte und Lie- kurzfristig beeinflussen, so dass es oft opportuner ist, bestehen- ferketten sich verschieben werden. Die Globalisierung wird de Strukturen zu erhalten, statt rechtzeitig die Voraussetzungen weitergehen, allerdings nach anderen technologischen und für einen erfolgreichen Strukturwandel zu schaffen. Nachhaltige handelspolitischen Paradigmen. Die Demografie wird eben- Wirtschaftspolitik ist daher immer darauf ausgerichtet, Struktur- falls erhebliche volkswirtschaftliche und gesellschaftliche Aus- wandel proaktiv, d.h. rechtzeitig und selbstbestimmt zu gestal- wirkungen haben und insbesondere regionale Entwicklungen ten (vgl. Abbildung 1). über die Verfügbarkeit von Fachkräften und Talenten verstärken. S2
Nicht zuletzt hat die Corona-Krise wie ein Brennglas Verwund- nur eine erhebliche Transformation bestehender Geschäftsmo- barkeiten und Versäumnisse, etwa in der Bereitstellung einer delle und Produktionsprozesse voraus, sondern erfordert ein flächendeckenden Mobilfunkversorgung für Homeoffice Umdenken und Umsteuern in der Wirtschafts- und Ordnungs- und digitale Unterrichtskonzepte, offengelegt. Strukturelle Ent- politik sowie in den Institutionen und in den Regulierungs- und wicklungen werden teilweise beschleunigt, gleichzeitig haben Anreizsystemen. Die Tiefe, Breite und Geschwindigkeit des sich die Finanzierungsspielräume für öffentliche und private In- Wandels werden eine hohe Veränderungsfähigkeit von Unter- vestitionen durch die Krise verengt. nehmen und Beschäftigten erfordern. Zugleich tritt ein hohes Maß an Unsicherheit ein, denn es ist heute kaum absehbar, Insgesamt bricht eine Zeit der Unsicherheit an. Die Konturen welche geopolitischen, technologischen und klimatischen Fol- der Zukunft sind noch unscharf, weshalb es schwieriger wird, gen die derzeitigen Umbrüche haben werden. Gleichwohl richtungsweisende Entscheidungen zu treffen. Umbrüche und müssen unter den Bedingungen der Unsicherheit richtungs- Krisen dieser Größenordnung haben historisch fast immer zu weisende Entscheidungen getroffen werden, weshalb die Stär- großen gesellschaftlichen und ökonomischen Verwerfungen kung der strukturellen Resilienz eine wesentliche Aufgabe der geführt. Nicht selten ging eine Prekarisierung von Teilen der Wirtschaftspolitik ist. Gesellschaft damit einher. Das Ausmaß des Wandels wurde zudem oft unterschätzt. Eine Art Vermögensillusion hat dazu Um Regionen, Unternehmen und Menschen für den tiefgrei- geführt, dass Anpassungen zu spät und zu langsam erfolgten. fenden Wandel und für den Umgang mit Unsicherheit zu befä- Die Folge waren größere Reallokationen zwischen Unterneh- higen, sind vier Handlungsfelder entscheidend; sie bestimmen men und Branchen, aber auch zwischen Regionen und Volks- maßgeblich die Kreativität, Agilität und Kooperationsfähigkeit wirtschaften. Auch jetzt steht mit den skizzierten Umbrüchen als wesentliche Bedingung für erfolgreichen Strukturwandel: wieder eine Neuvermessung der Welt an, in deren Folge ei- nige Regionen ins Zentrum, andere in die Peripherie rücken Bildung und Qualifizierung bestimmen maßgeblich die Fä- werden. higkeit von Menschen, sich an die sich immer schneller verän- dernden Berufsbilder und Anforderungen anzupassen. Bildung Jede Krise und jeder Strukturwandel werden letztlich durch die ist zugleich die wichtigste Voraussetzung für eine partizipative Fähigkeit entschieden, durch Innovation und Adaption neue und zukunftsoptimistische Gesellschaft und steht am Anfang Quellen der Wertschöpfung zu erschließen, um Einkommen und der Kette von Bildung – Innovation – Arbeit – Wertschöpfung Beschäftigung zu sichern. Oft steht die Innovation im Zentrum – Wohlstand. Angesichts eines sich beschleunigenden techno- wirtschaftspolitischer Überlegungen. Die Innovationsfähigkeit ist logischen Wandels wird es zukünftig mehr Weiterbildung und als latente Variable gerade regional jedoch schwer direkt steu- Requalifizierung geben müssen. erbar. Zudem hat zumeist die Adaptionsfähigkeit von Regionen stärker über die Prosperität und Resilienz entschieden. Für die Forschung und Entwicklung sind wesentlich für die Umset- Adaptionsfähigkeit wiederum sind oftmals frühe öffentliche In- zung von grundlegenden Ideen in konkrete Innovation. Hier vestitionen notwendig, um private Folgeinvestitionen und An- findet zugleich der wichtige Übergang zwischen Wissenschaft passungsmaßnahmen auszulösen. Gerade in Zeiten größerer und Wirtschaft statt, der angesichts eines sich beschleunigen- technologischer und gesellschaftlicher Umbrüche ist das Zusam- den technologischen Wandels und sich exponentiell entfalten- menspiel zwischen öffentlichen Investitionen, die auf eine Um- der Möglichkeiten (siehe hierzu den diesjährigen Nobelpreis lenkung von Ressourcen und Wachstum ausgerichtet sind, und in Chemie u.a. für die CRSPR-Technologie) zukünftig noch en- privaten Investitionen, die unternehmerisch neue Lösungen am ger werden muss Hier wird es in Zukunft zudem vermehrt zu Markt durchsetzen, entscheidend (vgl. Daron Acemoglu et al., ethisch-gesellschaftlichen Debatten kommen. 2018, Mariana Mazzucato, 2020). Unternehmen hängen letztlich an den staatlichen Rahmenbedingungen und tun bzw. können Das Gründer- und Unternehmertum hat für ökonomische nur tun, was diese zulassen. Insoweit kommt den Veränderun- Veränderungsprozesse eine hohe Bedeutung. Gerade Start-ups gen der staatlichen Rahmenbedingungen und den öffentlichen haben typischerweise eine hohe Technologieaffinität, bilden Investitionen eine entscheidende Bedeutung in der Initiierung eine Brücke zwischen Wirtschaft und Wissenschaft, gehen neue von Transformation zu. Risiken ein und sind zugleich Träger eines Kulturwandels in der Wirtschaft. Eine attraktive Gründerszene lockt junge Menschen Die Wertschöpfung der Zukunft wird vor allem digital und kli- und Talente an, was wiederum in Zeiten der demografischen maneutral sowie stärker wissensbasiert sein. Das setzt nicht Alterung zu einem wesentlichen Standortfaktor wird. S3
Konnektivität und (digitale) Infrastruktur sind zentrale deren Wettbewerbsfähigkeit wird zukünftig wesentlich dadurch Voraussetzungen für die Erneuerungsfähigkeit. Sie vernetzen bestimmt. Daneben haben die Luftfahrt und die Chemieindustrie Regionen und Menschen miteinander und verschaffen Zugang eine große Bedeutung. Hamburg ist einer der größten Industrie- zu Netzwerken und Ressourcen. Offene Systeme sind typischer- standorte Deutschlands und hat wie viele urbane Agglomeratio- weise innovativer, adaptiver und insoweit resilienter. Jede neue nen Stärken in der Kreativ- und Kulturwirtschaft sowie wissensin- Technologie hat zudem ihre eigene Infrastruktur. Insbesondere tensiven und unternehmensnahen Dienstleistungen. die Digitalisierung, die auf dem Austausch und der Vernetzung von Daten beruht, ist ohne Infrastruktur nicht denkbar. Die wirtschaftliche Entwicklung des Nordens war in den letzten Jahrzehnten insgesamt jedoch deutlich weniger dynamisch als in Süddeutschland. Sowohl in Schleswig-Holstein als auch in Strukturelle Herausforderungen und Chancen für Hamburg ist die Wertschöpfung weniger technologiebasiert und Schleswig-Holstein und Hamburg forschungsaffin als in anderen Bundesländern. Technologische Produktivitätsfortschritte wurden nur teilweise realisiert, während Welches Zukunfts- und Zielbild lässt sich für Schleswig-Holstein die Wachstumsbeiträge einer sich weniger dynamisch entwi- und Hamburg ableiten und welche Weichenstellungen müssen ckelnden Weltwirtschaft hinter den Erwartungen zurückblieben. dafür jetzt vorgenommen werden? Dies sind die entscheiden- Die OECD-Studie zur Metropolregion Hamburg weist eine deut- den Fragen für ein wirtschafts- und strukturpolitisches Zukunfts- lich geringere Produktivitätsentwicklung als in vielen anderen programm. Dafür sind drei Analyse-Schritte wesentlich: deutschen und europäischen Metropolregionen nach und sieht Defizite in der Humankapitalbildung und im Hochtechnologiebe- 1. Welche exogenen Trends verändern die regionalen reich (OECD, 2019). Rahmenbedingungen? 2. Welche spezifischen Ressourcen und Potenziale Schleswig-Holstein und Hamburg sind durch zwei wesentliche lassen sich dafür nutzen und entwickeln? Strukturmerkmale gekennzeichnet: Sie weisen zum einen eine 3. Mit welchen transformativen Maßnahmen (Hebel relativ hohe strukturelle Pfadabhängigkeit auf, das heißt, dass und Weichenstellungen) lassen sich diese Ressourcen und Strukturwandel einen hohen Vorlauf benötigt. Die maritime Potenziale gezielt aktivieren und realisieren? Wirtschaft etwa benötigt mit den Hafenanlagen, den Schiffen und Containern einen hohen Kapitaleinsatz sowie eine Infra- Das wirtschaftspolitische Gerüst für den Strukturwandel bilden struktur, die einen langen Investitionshorizont hat. Des Weiteren die drei „I“: Infrastruktur, Innovation und Institutionen. In jedem ist das technologische Disruptionsrisiko für Schleswig-Holstein Strukturwandel geht es um die Bereitstellung einer neuen Infra- und Hamburg relativ hoch, was bedeutet, dass die bestehen- struktur, die Beförderung von Innovation und die Begleitung des den Geschäftsmodelle latent bedroht sind. Insbesondere digitale Strukturwandels durch adaptive Institutionen, also Institutionen, Plattformen, wie etwa Amazon, das mittlerweile durch die Prog- die den Wandel gestalten, statt ihn zu behindern. Nachhaltige nosekraft der Daten Warenströme sehr zuverlässig vorhersagen Zukunftsgestaltung bedeutet heute, die drei Nachhaltigkeitsdi- kann, können die Margen der traditionellen Geschäftsmodelle mensionen Ökonomie, Ökologie und Soziales gleichberechtigt erheblich reduzieren und einst regional gebundene Wertschöp- zu berücksichtigen und mögliche kurzfristige Zielkonflikte durch fung abziehen. eine entsprechende Politik mittelfristig aufzulösen. Beide Faktoren zusammen erzeugen für Schleswig-Holstein und Die Standortprofile und Ausgangssituationen von Schleswig- Hamburg ein durchaus beträchtliches Standortrisiko. Ein Stand- Holstein und Hamburg weisen einige Besonderheiten auf. ortvorteil ist hingegen der breite Branchenmix, der dazu beiträgt, Schleswig-Holstein hat als Flächenland mit Nord- und Ostsee- dass die mit dem Strukturwandel einhergehende Reallokation küste eine hohe touristische Attraktivität und eine reiche Natur weniger disruptiv ausfällt. Das liegt daran, dass Arbeitskräfte mit natürlichen und erneuerbaren Ressourcen, während indust- auch intersektoral hinreichend mobil sind und so von weniger rielle Kerne nur vereinzelt, vor allem in Nähe zur Metropolregion stark betroffenen Branchen absorbiert werden können. Auch die Hamburg zu finden sind. Stärken sind in der Medizintechnik und maritime Wirtschaft und die Häfen, obgleich selbst von Struktur- in der klinischen Forschung zu finden. Hamburg ist historisch und wandel betroffen, können zu einem wichtigen Treiber für den strukturell wesentlich durch den Hafen, die maritime Wirtschaft technologischen Wandel werden und sind dies in vielen Berei- und die Logistik bestimmt. In diesen Bereichen werden Digitali- chen bereits, wie etwa bei der Anwendung von Drohnen oder sierung und Klimaneutralität bereits stark vorangetrieben, denn digitalen Zwillingen. S4
Vor diesem Hintergrund ist es wichtig, schneller und konsequenter bandversorgung ist vor allem ein flächendeckendes, stabiles und auf den Strukturwandel zu reagieren, um jetzt ein hohes Maß an schnelles Mobilfunknetz entscheidend, denn viele der letzten In- Resilienz und Innovationskraft zu entwickeln. Resilienz und Innova- novationen sind aus mobilen Anwendungen entstanden. Auch tion werden wesentlich durch die Bereiche Bildung und Qualifizie- für neue Arbeitsformen (Homeoffice), digitalen Schulunterricht, rung, Forschung und Entwicklung, Gründer- und Unternehmertum Pendler_innen und Touristen ist die mobile Versorgung sehr sowie Konnektivität und Infrastruktur bestimmt. Schleswig-Holstein wichtig. Hier muss gerade Schleswig-Holstein verstärkt Anstren- und Hamburg weisen diesbezüglich in ausgewählten Indikatoren gungen unternehmen, um die Versorgung vor allem in ländli- Stärken, aber auch Schwächen auf (vgl. Tabelle 1). chen Gebieten in Nähe der Küsten zu verbessern. Die Verfüg- barkeit des 4G-Standards (> 100 Mbit/s) beträgt durchschnittlich Die öffentlichen und privaten Ausgaben für Forschung und rund 75%, vielerorts und zeitweise deutlich darunter (vgl. BMVI, Entwicklung sind, gemessen am Bruttoinlandsprodukt, deut- 2020, Open Signal, 2020). lich unterhalb des bundesdeutschen Durchschnitts. Infolgedes- sen ist auch die Zahl der Patente bezogen auf die Bevölkerung Die exogenen Umbrüche bedeuten jedoch nicht nur ein Stand- geringer. Bei den Start-ups liegt Hamburg mit Berlin und Mün- ortrisiko, sie bieten auch Chancen, die spezifischen Stärken chen in der Spitzengruppe, Schleswig-Holstein als Flächenland Schleswig-Holsteins und Hamburgs, etwa in der maritimen deutlich dahinter. Deutschland insgesamt hat Nachholbedarf Wirtschaft, neu zu interpretieren und zu entwickeln. Die Di- bei Risikokapitalfinanzierungen. Für Start-ups ist der Übergang gitalisierung verändert durch eine Dezentralisierung von Pro- von der Seed-Phase in die Growth-Phase, in der Expansion und duktions- und Arbeitsprozessen die räumlichen Strukturen. Skalierung der Geschäftsmodelle anstehen, oftmals ein kritischer. Stadt-Land-Dichotomien lösen sich auf und Zentrum-Peripherie- Gerade für „erwachsene“ Standorte wie Schleswig-Holstein und Beziehungen werden organischer. Diese Entwicklung kann ge- Hamburg mit vielen etablierten mittelständischen Unterneh- rade für die Flächennutzungsstrategien und räumliche Koope- men wäre es wichtig, mehr Risikokapital bereitzustellen und das rationsmodelle zwischen Schleswig-Holstein und Hamburg eine Gründungsgeschehen zu intensivieren. Nicht immer sind also große Chance sein. Dies gilt insbesondere vor dem Hintergrund fehlende öffentliche Investitionen das Problem, sondern priva- des demografischen Wandels, der Städte durch Zuwanderung te Finanzierungsrestriktionen. Was die Bildung allgemein betrifft, und das Land durch Abwanderung gleichermaßen vor Probleme stehen Schleswig-Holstein und Hamburg zwar insgesamt gut stellt, nun aber durch technologische Lösungen abfedert werden da. In der Schule und in den Universitäten gibt es in Hamburg kann. Die Trends Re-shoring und Re-lokalisierung bieten vor al- jedoch Schwächen in den MINT-Fächern. In Schleswig-Holstein lem im Verbund zwischen einer internationalen Metropolregion ist wiederum das Verhältnis von Forscherinnen und Forschern im und einem attraktiven Flächenland besondere Chancen. Auch Verhältnis zur Wirtschaftskraft gering (vgl. IW, 2020). der große Trend der Nachhaltigkeit bietet für beide Standorte erhebliche Wertschöpfungs- und Innovationspotenziale. Räum- Eine der wichtigsten Voraussetzungen für den kommenden liche Nähe und funktionale Komplementaritäten in den Wert- Strukturwandel ist die digitale Infrastruktur. Neben der Breit- schöpfungsketten sowie Ressourcen und Potenziale können Tabelle 1 Ausgewählte Indikatoren für Schleswig-Holstein und Hamburg Finanzierungsrunden F&E-Ausgaben in % des BIP Patentanmeldungen pro Startups 2019 (öffentlich und privat) 2018 100.000 Einwohner 2019 Schleswig-Holstein 4 1,64 17 Hamburg 51 2,22 40 Maximalwert 262 (Berlin) 5,68 (Baden-Württemberg) 138 (Baden-Württemberg) Deutschland 681 3,13 56 Quellen: Deutsches Patent- und Markenamt (2020), EY (2020), Statistisches Bundesamt (2020). S5
und sollten stärker genutzt werden, und sei es als Startpunkt für industrielle Anwendungen, um wichtige Skaleneffekte zu eine stärker nordeuropäische und baltische Integration. schaffen. Europäische Initiativen und Förderprogramme machen eine Fokussierung auf diese Themen zusätzlich interessant und aussichtsreich. Die OECD bescheinigt Wirtschafts- und strukturpolitische Handlungs- Norddeutschland in diesem Bereich Weltmarktführerpoten- empfehlungen zial (OECD, 2019) Die Art und die Wirkungen der großen Umbrüche machen es Medizintechnik und Life Sciences: Ein gesundes, erforderlich, die norddeutsche Wirtschaft technologiebasierter, aktives und selbstbestimmtes Leben zu führen, ist für wissenschaftsaffiner und insgesamt resilienter zu machen. Eine alle Menschen weltweit das wichtigste Ziel und somit technologie- und branchenspezifische Industriepolitik weist ins- zugleich ein großer globaler Zukunftsmarkt. Hier stellen besondere für Regionen ein hohes Risiko auf, denn der Erfolg sich neue Herausforderungen für die Menschheit, z.B. bei hängt wesentlich davon ab, ob die beschrittenen Technolo- Infektionskrankheiten und Krebs, zugleich aber stehen gie- und Entwicklungspfade jenen entsprechen, die sich global neue technologische Möglichkeiten vor dem Durchbruch. durchsetzen. Regionale Struktur- und Industriepolitik steht daher Die bestehenden hervorragenden Ansätze, etwa mit den vor der Aufgabe, einerseits vorhandene Stärken zu nutzen, an- Universitätskliniken in beiden Ländern und den Medizin- dererseits aber hinreichend transformativ ausgerichtet zu sein. technikunternehmen in Lübeck und Hamburg, können Durch den Austausch von Daten und den Einsatz von künstlicher und sollten hier konsequent auf- und ausgebaut werden. Intelligenz lösen sich Branchengrenzen jedoch ohnehin zuneh- Hier gibt es zudem Anknüpfungspunkte in der Öresund- mend auf. Region mit dem dortigen Gesundheits- und IT-Cluster. Branchen- und industrieübergreifende (Cross-Cluster-) Wert- Materialwissenschaft und 3D-Druck: Viele der neuen schöpfungsnetzwerke und informelle Innovationsmilieus spie- Lösungen bei den Klimatechnologien und in der Me- len daher in Zukunft eine bedeutende Rolle für Standorte. Die dizintechnik setzen neue Materialien und Oberflächen bereits vorhandenen vielen guten Ansätze in Norddeutschland voraus, etwa die Entwicklung von Bioplastik mit klinisch- entwickeln bislang aber noch keine kritische Größe und Rele- hygienischen Eigenschaften oder Viren abweisende und vanz. Dafür wird eine stärkere regionalwirtschaftliche Integration CO2 bindende Oberflächen. Der 3D-Druck ist in der In- benötigt, die aber derzeit auch und vor allem an administrati- dustrie und speziell in der Medizintechnik, in der Logistik ven Hürden scheitert. Vielversprechende Synergiepotenziale für und in der Luftfahrt eine der interessantesten digitalen Schleswig-Holstein und Hamburg weisen die folgenden Techno- Technologien. Mit dem Deutschen Elektronen Synchrot- logien und Innovationsbereiche auf, denn sie können die spezi- ron (DESY) und den Plänen der Science City Bahrenfeld fischen Standortstärken zu einer gemeinsamen übergeordneten gibt es in Hamburg hervorragende institutionelle und Transformationsstrategie verbinden: infrastrukturelle Anknüpfungspunkte für eine diesbezügli- che Strategie. Erneuerbare Energien und saubere Antriebstech- nologien: (Grüner) Wasserstoff und Windenergie stellen Nachhaltiger Tourismus: Die Anforderungen an Er- attraktive Technologiepfade für den Norden dar. Zudem lebnisqualität und Umweltschutz im Tourismus nehmen lassen sich räumliche Synergien zwischen Schleswig- deutlich zu und sind oft schwierig umsetzbar. Hier bieten Holstein und Hamburg nutzen. Für die Schifffahrt (Green sich jedoch für beide Bundesländer, auch und gerade Shipping) und die Luftfahrt sind darüber hinaus saube- in der Kombination von naturnahem Flächenland und re Antriebstechnologien zukunftsentscheidend. Airbus urbaner Metropole, attraktive Möglichkeiten für einen entwickelt bereits wasserstoffbasierte Flugzeuge. Für nachhaltigen Gesundheits- und Erlebnistourismus. Die Norddeutschland als Handels- und Logistikstandort steht Corona-Pandemie, die viele Erlebnisse und Emotionen diese strategische Ausrichtung im Einklang mit Historie reduziert hat, bietet auch gerade deshalb Chancen, sich und Selbstverständnis, was für die Akzeptanz und die hier gemeinsam noch profilschärfer mit neuen und alter- Glaubwürdigkeit von Standortstrategien sehr bedeutsam nativen Angeboten zu positionieren. Dazu gehört sehr ist. Institutionell gibt es hier Anknüpfungspunkte bei dem eng die Kultur, die neben vielen anderen Veranstaltungen Projekt NEW 4.0 (Norddeutsche EnergieWende) bzw. dem (Literatur, Theater u.a.) mit dem Schleswig-Holstein- diesbezüglichen Reallabor in Heide, insbesondere auch für Musikfestival und der Hamburger Elbphilharmonie zwei S6
auch international wahrgenommene und somit touris- ten und Erfahrungen von Menschen) ist Vermögen im dop- tisch bedeutsame Leuchttürme aufbietet. Die jüngsten pelten Wortsinn, denn es beschreibt die Fähigkeit, das Leben Auseinandersetzungen um Einreisebeschränkungen nach selbstbestimmt zu gestalten. In Zeiten zunehmender Vermö- Schleswig-Holstein und Beherbergungsverbote während gensungleichverteilung ist die Herstellung von Chancenge- der Corona-Pandemie waren diesbezüglich kontraproduk- rechtigkeit über Bildung und Ausbildung zentral. Nicht zuletzt tiv und sollten ein vorübergehendes Phänomen bleiben. vor dem Hintergrund des demografischen Wandels und eines sich beschleunigenden technologischen Fortschritts gilt es, die Nachhaltigkeitsökonomie und kreislaufwirtschaftli- Bereiche Weiterbildung und Requalifizierung weiterzuentwi- che Neutralität: Eine Klammer aller skizzierten Themen ckeln. In Zukunft werden Volkswirtschaften den Bildungs- und kann die konsequente Entwicklung einer Nachhaltigkeits- Weiterbildungssektor deutlich ausbauen (müssen), um Men- ökonomie sein, in deren Zentrum die kreislaufwirtschaftli- schen lebenslang zur wirtschaftlichen und gesellschaftlichen che Neutralität des Lebens und Wirtschaftens im Norden Teilhabe zu befähigen. Teilhabe wiederum bedeutet indivi- steht. Es ist zu erwarten, dass sich in Zukunft um grüne duelle Würde und gesellschaftlicher Zusammenhalt (vgl. z.B. Technologien, aber auch infolge nachhaltiger Lebensein- Fukuyama, 2019). stellungen neue Märkte bilden werden. „Trading Sustain- ability“ könnte in diesem Sinne ein Standortmotto sein, das Schleswig-Holstein und Hamburg haben einerseits eine hohe die historischen Traditionen des Nordens in Bezug auf Han- Tradition in dualer und berufsbegleitender Ausbildung, weisen del, Logistik, aber auch kaufmännische Verantwortung für andererseits aber insbesondere in hochtechnologischen Seg- die Welt miteinander verbindet und neu interpretiert. Gera- menten und in den sogenannten MINT-Fächern Nachholbedarf de in Schleswig-Holstein bieten die natürlichen Ressourcen auf. Der Norden kann sich zu einer „Hochburg“ der exzellenten von Wind, Wasser und Wald neue Möglichkeiten der Wert- Bildung für alle in der (dualen) Ausbildung und Weiterbildung schöpfung und Wertbewahrung. Auch die traditionelle, ver- machen, um die Humankapital-Ressourcen allgemein zu stär- mehrt industrielle Landwirtschaft kann durch Landschafts- ken, volkswirtschaftliche „Renditen“ frühkindlicher Bildung (vgl. pflege neue und zusätzliche Potenziale der Wertschöpfung Heckman, 2020) und das demografische Fachkräftepotenzial (und eben Wertbewahrung) erschließen, wenngleich der zu sichern. Dabei gilt es, auch das Fachkräftepotenzial etwa in Schritt dorthin durch die jüngste EU-Landwirtschaftsstrate- handwerklichen Berufen zu stärken, um nicht in die Falle einer gie nicht wesentlich kleiner geworden ist. Überakademisierung zu geraten, denn Bildung und Qualifizie- rung wirken an jeder Stelle der Gesellschaft. Um die skizzierten Bereiche für Innovation und Wertschöpfung zu „erschließen“, müssen Voraussetzungen geschaffen werden, die als Querschnittsthemen orthogonal und diagonal zu den Empfehlung für eine konkrete Maßnahme: skizzierten Zukunftsfeldern stehen. Darüber hinaus müssen die Anstelle eines bedingungslosen Grundeinkommens, Strategien groß genug gedacht und konsequent umgesetzt welches gelegentlich vorgeschlagen wird, um eine werden. Nicht Vieles ein bisschen zu machen, sondern Schwer- mögliche technologische Arbeitslosigkeit abzufedern, punkte zu setzen und Themen zu priorisieren, kann helfen, Sig- wird hier ein „bedingungsloses Bildungsbudget“ nifikanz zu erzeugen. Neue Geschäftsmodelle und Lösungen zu vorgeschlagen, um frühkindliche Bildung und lebens- entwickeln, sie produktiv und kreativ umzusetzen, institutionelle langes Lernen konsequent zu fördern. Das ständige Be- Schnittstellen und Kompetenzen der Transformation sowie da- mühen, Menschen in Erwerbstätigkeit zu bringen, ge- für notwendige Agilität und Kooperationsfähigkeit herzustellen, hört zu den großen Versprechen des Staates, auch und hängt entscheidend an den Handlungsfeldern Bildung und Qua- gerade in Zeiten der Umbrüche und Unsicherheit. Mit lifizierung, Forschung und Entwicklung, Gründertum und Start- einem solchen individuellen Bildungskonto könnte zum ups sowie Konnektivität und Infrastruktur. Damit verbinden sich Beispiel ein „Digital-Führerschein“ finanziert werden, folgende Forderungen, die wichtige Hebel für einen erfolgrei- der zu digitalem Arbeiten und kreativem Denken befä- chen Strukturwandel sein können: higt. Auch eine Anrechnung von Bildungs-Credits in Form von Rentenpunkten könnte einen zusätzlichen Weiterbildung und Qualifizierung zur Standortmaxime Anreiz bieten. Dies wiederum könnte der Beginn einer machen umfassenden institutionellen Erneuerung des Bildungs- Eine breite Befähigung von Menschen zum Wandel sichert Pro- sektors sein. duktivität und Teilhabe. Das „Humankapital“ (Wissen, Fähigkei- S7
Gründerhochburg werden zurück (vgl. Bertelsmann, 2020). Das gleiche gilt, sogar in noch Strukturwandel gelingt dann, wenn das „Neue“ in den Alltag stärkerem Maß (siehe Tabelle), für den Norden Deutschlands. und in das Leben kommt und als Lösung umgesetzt wird. Dazu gehören – ganz im Sinne Schumpeters – Mut und Fantasie, denn Der Exzellenzstatus der Universität Hamburg ist ein wichtiger, dadurch erst lassen sich neue Ideen denken und praktisch um- aber nur erster Schritt zur Profilierung als Wissenschaftsstandort. setzen. Träger dieser volks- und regionalwirtschaftlich so wichti- Für eine signifikante und nachhaltige Stärkung müssen die öf- gen Funktion sind Start-ups, die nicht nur ökonomisch umsetzen, fentlichen Ausgaben über einen Zeitraum von mindestens zehn sondern dabei auch technologisch und kulturell erneuern. Ein dy- Jahren deutlich erhöht werden. Wichtig ist jedoch nicht allein die namischer regionaler Arbeitsmarkt entsteht typischerweise dann, Exzellenz der Wissenschaft, sondern vor allem die Übersetzung wenn sich organische und kongruente Systeme aus Forschung in Innovation und Wertschöpfung. Hier könnte sich gerade Ham- und Industrie etablieren, digitale Ökosysteme sowie interdiszi- burg als ein Industriestandort profilieren, der in Kooperation mit plinäre und experimentelle Innovationsmilieus bilden. Start-ups der gesamten Breite der Universitäts- und Hochschullandschaft können zudem die oft qua System disjunkten Anreizstrukturen Schleswig-Holsteins und Hamburgs auf neue Technologien und zwischen Wirtschaft und Wissenschaft überbrücken, was für wissenschaftliche Erkenntnisse adaptiv reagiert und diese als in- einen funktionierenden Technologie- und Wissenstransfer eine dustrieller Pionierstandort in Wertschöpfung und neue Lösungen zentrale Bedingung ist. Daher sind insbesondere die Programme übersetzt. für Start-ups (nach dem Vorbild etwa des Digital Hub Logistics) deutlich zu intensivieren und spezifische Studiengänge zu schaf- fen, um die Kongruenz zwischen dem Wissenschaftsprofil und Empfehlung für eine konkrete Maßnahme: der Branchenstruktur im Norden und dadurch den Wissenstrans- Der Norden sollte für die nächsten zehn Jahre jeweils fer zu verbessern. fünf Prozent der öffentlichen Ausgaben in Wissen- schaft und Forschung investieren, um damit ein klares, signifikantes und verlässliches Signal für die Wissenschaft Empfehlung für eine konkrete Maßnahme: zu geben. Darüber hinaus sollten inhaltliche Schwer- Start-ups werden für die ersten drei Jahre von allen Lan- punkte der Förderung definiert werden, damit eine hohe des- und kommunalen Steuern und Abgaben befreit. Kongruenz zwischen der Forschung und der Wirtschaft Dadurch sinken auch die bürokratischen Hürden, die entsteht, die wiederum entscheidend dafür ist, dass die oft als wesentliches Hemmnis für Start-ups identifiziert Effekte mittelfristig am Arbeitsmarkt ankommen. Gelingt werden. Damit gibt es einen Anreiz, Gründungen nach dies, sind selbstverstärkende Effekte durch Ansiedlung Schleswig-Holstein und Hamburg zu verlegen. Durch von Unternehmen und private F&E-Investitionen zu er- die steuerlichen Vorteile gelingt es womöglich darü- warten, denn gerade an letzteren fehlt es besonders. ber hinaus, das so wichtige Risikokapital anzuziehen. Bislang hat sich genau dies als sehr schwierig erwiesen, der geplante Fonds in Höhe von 100 Millionen Euro hat sich nicht realisiert. Es wird gerade nach der Coro- Mobilfunk bis zur letzten Milchkanne na-Pandemie wichtig (und möglich) sein, die Start-up- Die digitale Infrastruktur ist die Grundlage für die Realisation digi- Szene gezielt zu stärken. Sie ist eine entscheidende taler Potenziale und die Bewältigung des diesbezüglichen Struk- Brücke in die Zukunft. turwandels. Gerade für eine mittelständische Wirtschaft ist die Be- reitstellung infrastruktureller Voraussetzungen sehr wichtig, denn Infrastrukturen weisen hohe Fixkosten in der Bereitstellung auf, senken aber signifikant die variablen Kosten der einzelwirtschaft- Quantensprung in Wissenschaft und Forschung wagen lichen Nutzung. Hier sollte insbesondere Schleswig-Holstein die Die Wertschöpfung der Zukunft wird viel dichter an Wissenschaft flächendeckende Versorgung mit einem leistungsfähigen Mo- und Forschung hängen. International findet der Standortwettbe- bilfunknetz vorantreiben und zu einer Aufgabe der öffentlichen werb deshalb mittlerweile entscheidend über neue Technologi- Daseinsvorsorge machen. Der Zugang zum Internet wird mehr en statt, entlang derer zudem neue Regeln, Standards und ethi- und mehr eine Art Grundrecht, weil sich heute wesentliche Chan- sche Fragen entschieden werden. Deutschland ist im Vergleich cen der individuellen Entwicklung daran knüpfen. Neue räumli- zu anderen Ländern, allen voran China („Made in China 2025“), che Stadt-Land-Modelle und Tourismuspotenziale an den Küsten deutlich unterinvestiert und fällt bei den Patenten entsprechend hängen entscheidend an diesem Handlungsfeld. S8
Technologisch ausgelöster Strukturwandel hat historisch be- trachtet immer Menschen und Regionen abgehängt, weil die- Empfehlung für eine konkrete Maßnahme: se keinen Zugang zu den entscheidenden Ressourcen mehr Offene Systeme sind weitaus innovativer und adaptiver hatten. Insoweit ist hier die dringende Aufgabe, Internet „bis als geschlossene Systeme. Der Norden sollte gemein- zur letzten Milchkanne“ sicherzustellen. Dies ist aber nur eine sam mit den baltischen Regionen einen Innovations- notwendige, aber keinesfalls hinreichende Bedingung für einen raum bilden und institutionalisieren. Durch eingespielte erfolgreichen digitalen Strukturwandel. Die digitale Ökonomie Kooperationsstrukturen lassen sich die tiefhängenden ist der Art nach wesentlich kooperativer als der klassische „In- Früchte einer stärkeren räumlich-wirtschaftlichen Inte- dustriekapitalismus“, der stärker wettbewerblich organisiert ist. gration leicht ernten. Dafür wird vorgeschlagen, eine Insoweit geraten mit der Digitalökonomie die gemeinsame Bil- übergeordnete Agentur für Ansiedlung, Vermark- dung von regionalen Plattformen, Datenpools inklusive Daten- tung und Vernetzung mit eigenem Budget und autono- schutz und Datensicherheit sowie genossenschaftliche Modelle mer Budgetverantwortung zu gründen. der Datennutzung in den Fokus. Empfehlung für eine konkrete Maßnahme: Die hier vorgeschlagenen Maßnahmen können gerade in ihrer In den nächsten zwei Jahren sollte sich der Norden an komplementären, sich selbst verstärkenden Wirkung ein wich- die Spitze aller Bundesländer in der Bereitstellung von tiges Signal für den technologischen und wirtschaftlichen Auf- Breitband- und Mobilfunknetzen setzen, um hier die be- bruch des Nordens sein. Nur eine hohe Kongruenz der Maßnah- sonderen Potenziale der digitalen Dezentralisierung men führt dazu, dass sie letztlich am Arbeitsmarkt ankommen zu nutzen. Denn digitale Dezentralisierung erfordert auf und dort für gute Arbeit und sichere Beschäftigung führen. Dies der anderen Seite die Verdichtung von Aktivität durch ist wiederum die Grundlage für nachhaltigen Wohlstand und ge- digitale Vernetzung. Neben der digitalen Infrastruktur rechte Teilhabe. Dafür braucht es in Zeiten der Pandemie und ist die Etablierung einer umfassenden Datenstrate- eines umfassenden Strukturwandels sowohl einen starken Staat gie (u.a. Datensicherheit) und Dateninfrastruktur (u.a. im Sinne funktionierender Institutionen und zukunftsgerichteter Plattformen) ein wesentliches Handlungsfeld, das mit- Politik, aber auch einer starken Wirtschaft mit hoher Innovations- telständische Unternehmen den Eintritt in digitale Wert- kraft und unternehmerischer Freiheit. In Zeiten der Transformati- schöpfung erst ermöglicht. on und der dadurch erzeugten Unsicherheit lassen sich gesell- schaftliche Stabilität und ökonomische Resilienz nachhaltig nur durch eine konsequente Strukturerneuerung erzielen. Sie setzt voraus, dass Unternehmen und Institutionen sowie nicht zuletzt Knotenpunkt im nordeuropäischen Innovationscluster die handelnden Menschen in ihnen sich zum Wandel befähigen werden oder – wie der Risikoforscher Nassim Nicholas Taleb es nennt Viele der genannten Potenziale und Maßnahmen können nur in – antifragil werden, also die Fähigkeit ausprägen, sich der Krise Kooperation tatsächlich realisiert werden, weil erst dadurch Ska- und dem Wandel aussetzen zu können, um an ihnen zu wach- lenvorteile, Schwerpunktbildung, Synergien und Relevanz möglich sen und stärker zu werden (Taleb, 2013). werden. Insoweit können und müssen Schleswig-Holstein und Hamburg von einer gemeinsamen Strategie und einer stärkeren norddeutschen wirtschaftlichen Integration profitieren. Gemeinsa- Fazit me Flächennutzungskonzepte und Kooperationen in Infrastruktur, Forschung und Ansiedlung erfordern es, die bestehenden adminis- In Zeiten großer Umbrüche und eines tiefgreifenden Struk- trativen Hemmnisse zu überwinden und regulatorische Hürden ab- turwandels kommt es vor allem darauf an, diesen rechtzeitig zubauen. Gelingt dies, kann sich Norddeutschland wirkungsvoller einzuleiten und proaktiv zu gestalten. Neue Quellen der Wert- im internationalen Standortwettbewerb positionieren. Räumliche schöpfung zu erschließen, sichert nicht nur Einkommen und Be- Kooperationsmöglichkeiten bieten sich darüber hinaus internatio- schäftigung, sondern zugleich Wohlstand und Teilhabe. Es ist zu nal und europäisch. Vor allem der Ostseeraum ist attraktiv: Hochin- erwarten, dass sich durch die Corona-Krise der Strukturwandel novative Regionen um Malmö, Kopenhagen, Helsinki und Estland in vielen Bereichen beschleunigen wird. Zugleich werden öko- bieten hervorragende Chancen der internationalen Kooperation. nomische und soziale Unterschiede innerhalb der Gesellschaft Denn auch in puncto Internationalität gibt es Aufholbedarf. und zwischen Regionen zunehmen. Gleichzeitig stehen Wirt- S9
schaft und Gesellschaft vor einer doppelten Transformation: der jetzt, da sich die Welt neu sortiert und ein fundamentaler Umbau Digitalisierung und der Dekarbonisierung. Der damit verbundene der Wirtschaft ansteht, die Chance, mit Mut zum Wandel einen Umbau der Wirtschaft erfordert ein hohes Maß an Innovations- großen Schritt in die Zukunft zu machen. Es gibt historische Zeit- und Adaptionsfähigkeit. Vor diesem Hintergrund gewinnen die fenster, die für die Zukunftsgestaltung besonders wichtig sind. Ein Bereiche Bildung und Qualifizierung, Forschung und Entwick- tiefgreifender Wandel wie der derzeitige reduziert Pfadabhängig- lung, Gründertum sowie Konnektivität durch Infrastruktur und keiten und bietet neue Gestaltungsmöglichkeiten. Der Ausgang Kooperation als Hebel für erfolgreichen Strukturwandel und Zu- aus der Corona-Krise ist daher eine Chance, die wirtschaftliche kunftsgestaltung an Bedeutung. Sie müssen in den Fokus der Erholung mit Strukturerneuerung zu verbinden. Dafür müssen die Wirtschaftspolitik rücken. aufgewendeten Mittel und die damit verbundenen Allokations- entscheidungen konsequent transformativ ausgerichtet sein. Das Für fast alle erfolgreichen Regionen lassen sich zwei grundlegen- erfordert Mut zu signifikanten Schritten und zur konsequenten de Mechanismen beobachten: Wissen zieht Wissen an und Ak- Umsetzung. Denn jeder Wandel beginnt notwendig damit, Dinge tivität löst Aktivität aus. Schleswig-Holstein und Hamburg haben anders zu machen. Dies bedeutet: Mehr Fortschritt wagen! Literatur Acemoglu, Daron, Ufuk Akcigit, Harun Alp, Nicholas Bloom, William Heckman, James (2016), There’s more to gain by taking a comprehen- Kerr (2018), Innovation, Reallocation, and Growth, American Economic sive approach to early childhood development, https://heckmanequati- Review, Vol. 108, Nr. 11, 3450 – 91. on.org/www/assets/2017/01/F_Heckman_CBAOnePager_120516.pdf Bertelsmann (2020), Weltklassepatente in Zukunftstechnologien. Die Institut der deutschen Wirtschaft (2020), Bildungsmonitor 2020, htt- Innovationskraft Ostasiens, Nordamerikas und Europas, Gütersloh. ps://www.iwd.de/artikel/stillstand-im-bildungssystem-480589/ Bundesministerium für Verkehr und digitale Infrastruktur (2020), htt- Mazzucato, Mariana (2020), Mission Economics: A Moonshot Ap- ps://www.bmvi.de/DE/Themen/Digitales/Breitbandausbau/Breitband- proach to the Economy, MIT Press. atlas-Karte/start.html OECD (2019), OECD-Berichte zur Regionalentwicklung: Metropolregion Deutsches Patent- und Markenamt (2020), https://www.dpma.de/ Hamburg, Deutschland, OECD Publishing, Paris. dpma/veroeffentlichungen/statistiken/patente/index.html Open Signal (2020), https://www.opensignal.com/de/re- Dohnanyi, Klaus von, Vöpel, Henning (2020), Zeitenwende. Für ein ports/2020/05/germany/mobile-network-experience Post-Corona-Zukunftsprogramm, HWWI Policy Paper 122, Hamburg. Statistisches Bundesamt (2020), https://www.destatis.de/DE/Themen/ Ernst & Young (2020), Startup-Barometer, https://start-up-initiative. Gesellschaft-Umwelt/Bildung-Forschung-Kultur/Forschung-Entwick- ey.com/wp-content/uploads/2020/01/EY-Startup-Barometer-Janu- lung/Tabellen/bip-bundeslaender-sektoren.html;jsessionid=C124BDE21 ar-2020.pdf 25BD845C03790F34716B4CA.internet8742 Friedrich-Ebert-Stiftung (2020), Deutschland 2035: Eine Reise in die Taleb, Nassim Nicholas (2013), Antifragilität: Anleitung für eine Welt, die Zukunft, Szenarien für die wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwick- wir nicht verstehen, Knaus Verlag. lung, Berlin. Fukuyama, Francis (2019), Identität. Wie der Verlust der Würde unsere Demokratie gefährdet, Hoffmann und Kampe. S 10
In der Reihe Managerkreis Impulse sind zuletzt Diese Publikation ist Teil der Serie erschienen: Created by Germany – Wirtschaftspolitische Impulse für Deutschland 2035 Geldwäsche bekämpfen, aber bitte sachgerecht und effizient Hier sind zuletzt erschienen: Harald Noack, Indranil Ganguli, Oktober 2020. Wirtschaftspolitische Impulse für Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen 2035. Städte für Menschen bauen – Joachim Ragnitz. Best-Practice-Beispiele aus Deutschland und Europa Oktober 2020. Elena Müller, Oktober 2020. Created by Germany – Wirtschaftspolitische Impulse Forderungen zur Bewältigung der Folgen der für Deutschland 2035. Corona-Krise für Mitteldeutschland Managerkreis der Friedrich-Ebert-Stiftung, Managerkreis Mitteldeutschland der Friedrich-Ebert-Stiftung, Dezember 2019. Juni 2020. Die dazugehörigen Veröffentlichungen finden Sie unter: Stark mit Quote – Unternehmenserfolg durch https://www.managerkreis.de/was-uns-bewegt/ erfolgreiche Frauen im Vorstand? deutschland-2035 Beate Kummer, Katrin Rohmann, Petra Rossbrey, Juni 2020. Die Veröffentlichungen der Managerkreis Impulse finden Sie unter: https://www.managerkreis.de/publikationen/impulse Über den Autor: Henning Vöpel ist seit 2014 Direktor des Hamburgischen WeltWirtschaftsInstitut (HWWI). Im Jahr 2010 wurde er als Professor für Volkswirtschaftslehre an die HSBA Hamburg School of Business Administration berufen. Die Ausführungen und Schlussfolgerungen sind von dem Autor in eigener Verantwortung vorgenommen worden und geben ausschließlich seine persönliche Meinung wieder. Impressum: © Friedrich-Ebert-Stiftung | Herausgeber: Managerkreis der Friedrich-Ebert-Stiftung, Hiroshimastr. 17, 10785 Berlin www.managerkreis.de | ISBN: 978-3-96250-714-5 | November 2020 Eine gewerbliche Nutzung der von der FES herausgegebenen Medien ist ohne schriftliche Zustimmung durch die FES nicht gestattet. Design: Lobo-Design.com S 11
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