CSS STUDIE Der Westbalkan zwischen Russland und der EU - Zürich, Juli 2017 Matthias Bieri Center for Security Studies (CSS), ETH Zürich
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CSS STUDIE Der Westbalkan zwischen Russland und der EU Zürich, Juli 2017 Matthias Bieri Center for Security Studies (CSS), ETH Zürich
© 2017 Center for Security Studies (CSS), ETH Zürich Leitung: Oliver Thränert, Christian Nünlist Autoren: Matthias Bieri Layout: Miriam Dahinden-Ganzoni Center for Security Studies (CSS) ETH Zurich Haldeneggsteig 4, IFW 8092 Zürich Tel.: +41-44-632 40 25 www.css.ethz.ch
Inhaltsverzeichnis Executive Summary 4 1. Einleitung 4 2. Die Krise der EU-Erweiterung 5 2.1. Stand und Krise der EU-Integration 5 2.2. Widerstände in der Region 7 2.3. Die Umkehrbarkeit der europäischen Integration 8 3. Das russische Engagement im Westbalkan 8 3.1. Der Westbalkan, Russland und die Ukraine-Krise 8 3.2. Der Aufbau des heutigen russischen Engagements 10 3.2.1. Gründe für die verstärkte Präsenz 10 3.2.2. Wirtschaftliche Verbindungen 11 3.3. Soft Power 14 3.3.1. Prägung des Geschichtsbilds 14 3.3.2. Mediale Einflussnahme 15 3.3.3. Parteibeziehungen 16 3.3.4. Kirchliche Beziehungen 17 3.3.5. Kulturelle Einflussnahme 18 3.4. Die Rolle Russlands in jüngster Zeit 19 3.4.1. Unterstützung der Opposition in Montenegro 19 3.4.2. Die Krise in Mazedonien 20 3.4.3. Direkter Draht zur Republika Srpska 21 3.4.4. Aktivitäten in Serbien 21 4. Entwicklungsoptionen in der Region 21 5. Verteidigungspolitik und Konfliktpotenzial im Westbalkan 22 5.1. Militärpolitische Orientierung 22 5.2. Rüstungsbeschaffung/Verteidigungsbudgets 24 5.3. Veränderung bezüglich möglicher Konfliktdynamiken 25 6. Fazit: Der russische Einfluss und die weitere Entwicklung des Westbalkans 26
CSS STUDIE Der Westbalkan zwischen Russland und der EU Executive Summary Russlands gestiegener Einfluss im Westbalkan be- einflusst jedoch gewisse Konfliktpotenziale. Es fördert Russlands Interesse am und sein Einfluss im Westbalkan teils gewaltaffine nichtstaatliche Akteure. Ihnen könnte haben in den letzten Jahren deutlich zugenommen. Dies im fragilen Kontext der Region besonders dann eine Rolle hat im Westen Befürchtungen geweckt, dass das Projekt als Gewaltauslöser zukommen, wenn die Position Mos- der europäischen Integration der Region, das diese kaus in einzelnen Ländern grundsätzlich infrage gestellt dauerhaft befrieden sollte, ernsthaft gefährdet sei. würde. Hingegen ist derzeit nicht davon auszugehen, Der Einfluss der EU im Westbalkan ist tatsächlich dass im Westbalkan von staatlicher Seite gewaltsame gesunken. Hauptgrund dafür ist, dass sich die Region in Konflikte herbeigeführt werden. den letzten zehn Jahren unter europäischer Ägide nur noch spärlich entwickelt hat. Dabei ist auch die Zuver- sicht geschwunden, dass sich die Region im Rahmen des EU-Beitrittsprozesses rasch an den Lebens- und Demo- kratiestandard der EU annähert. Die politische und wirt- 1. Einleitung schaftliche Verbindung zur Union ist aber weiterhin stark. Die Staaten der Region halten am Ziel EU-Beitritt Die völkerrechtswidrige Annexion der Krim 2014 und die fest. Die wirtschaftliche Bedeutung des EU-Raums wie russische Intervention in der Ostukraine haben zu einer auch der EU-Unterstützung lässt eine Abkehr von die- anhaltenden Verschlechterung der Beziehungen zwi- sem Ziel vorläufig unwahrscheinlich erscheinen. Dies schen Russland und dem Westen geführt. Gegenseitige auch, weil kein anderer Akteur in der Region eine Alter- Sanktionen, anscheinend unvereinbare Vorstellungen, native zur Integration in die EU anbieten kann, was die wie die Sicherheit Europas organisiert und gewährleistet politischen Optionen der Balkanstaaten begrenzt. Mit- werden soll, sowie fehlender Dialog prägen seitdem das tel- bis langfristig ist es aber durchaus möglich, dass ein- Verhältnis zwischen den zwei Lagern. Der Umgang mit zelne Staaten der Region der EU beitreten und andere dieser Situation ist nicht nur für Russland einerseits so- das Beitrittsziel aus den Augen verlieren. Die Zukunft der wie die EU, die NATO und deren Mitgliedstaaten anderer- europäischen Perspektive des Westbalkans hängt aber seits eine Herausforderung. Länder mit engen Beziehun- auch wesentlich von der Entwicklung der EU, ihrer Auf- gen zu beiden Seiten sehen sich gegenläufigem Druck nahmefähigkeit und der Glaubwürdigkeit ihres Einsat- aus Ost und West ausgesetzt. Auch Teile des Westbal- zes in der Region ab. kans, in erster Linie Serbien, die serbische Teilrepublik in Der Balkan ist historisch eine aus Ost und West Bosnien-Herzegowina, Montenegro und Mazedonien beeinflusste Region; dies entspricht auch dem lokalen sind davon betroffen. Diese Staaten und Gebiete stehen Selbstverständnis. Die russische Verbindung zu verschie- im Zentrum dieser Studie. denen Akteuren in der Region konnte somit auf einer vor- Der Westbalkan ist nach wie vor eine fragile Regi- handenen Grundlage ausgebaut werden. Auf der Basis on. Die Staaten, die aus dem Zerfall Jugoslawiens hervor- von wirtschaftlicher Präsenz und kultureller Nähe wur- gegangen sind, haben sich teils nur mangelhaft konsoli- den Netzwerke aufgebaut; Moskau konnte sich so politi- diert. Kosovo und Bosnien-Herzegowina, wo immer noch schen Einfluss sichern. Der vorläufige Bruch mit dem internationale Friedenstruppen stationiert sind, sind kei- Westen 2014 hat vor allem die russische Haltung gegen- ne gefestigten Staaten. Auch Mazedonien hat in den letz- über der EU in der Region verändert. Die politische Lage in ten zwei Jahren eine Staatskrise durchlaufen. In Monte- Bosnien-Herzegowina, Mazedonien und Montenegro hat negro ist die Kluft zwischen Regierung und Opposition Russland dazu genutzt, sich als politischer Verbündeter anhaltend gross. Einzig Serbien und Albanien scheinen lokaler Machtzirkel und als Gegenpol zur EU ins Spiel zu stabil, ihre Beziehungen zu anderen Ländern der Region bringen. Für das grösste Land der Region, Serbien, werden haben sich jedoch in letzter Zeit verschlechtert. Die Staa- enge Beziehungen zu Russland auch in Zukunft ein wich- ten des Westbalkans kämpfen in unterschiedlichem Mas- tiges Element der Aussenpolitik bleiben. Die Vereinigung se mit einer schwachen Wirtschaft, klientelistisch ge- dieser in der Bevölkerung verankerten Beziehung mit der prägten politischen Systemen und der Korruption. Die europäischen Integration dürfte jedoch zu Problemen Politisierung der staatlichen Institutionen schwächt de- führen. Es bleibt aber trotzdem unwahrscheinlich, dass ren Legitimität, verstärkt durch ein kulturell verankertes Russland der primäre Partner eines Landes der Region Misstrauen gegen den Staat an sich. wird, insbesondere aufgrund seiner begrenzten wirt- Die Region steht zum einen im Einzugsbereich der schaftlichen Möglichkeiten. Vorerst dürfte Moskaus Inte- euro-atlantischen Integration. Diese hat in den letzten resse deshalb darin liegen, seine Beziehungen zur Region Jahren an Elan und Attraktivität verloren. Die Finanz-, weiter auszubauen und darauf hinzuarbeiten, diese Kon- Wirtschafts- und Existenzkrise der EU haben deren Aus- takte so gut es geht in politischen Einfluss ummünzen zu strahlung wie auch ihre Aufnahmefähigkeit stark ge- können. schwächt. Die Entwicklung des Westbalkans ist in den 4
CSS STUDIE Der Westbalkan zwischen Russland und der EU letzten zehn Jahren kaum vorangekommen. Ein Beitritt 2. Die Krise der EU- der Westbalkan-Staaten, die seit jeher Mühe haben, die von der EU geforderten Reformen umzusetzen, scheint Erweiterung auf absehbare Zeit ausser Reichweite. Durch den allmäh- lichen Verlust der Hoffnung auf einen EU-Beitritt ist der Die EG/EU sah sich Anfang der 1990er-Jahre mit Kriegen Einfluss der EU gesunken. Unter US-Präsident Donald im Westbalkan konfrontiert und versuchte sich als Ord- Trump herrscht zudem Unklarheit über das künftige nungsmacht in der Region. Noch während der 1990er- amerikanische Engagement im Westbalkan. Die USA Jahre bot die EU-Perspektive den jugoslawischen Nach- nahmen bislang beim Integrationsprozess die Rolle des folgestaaten eine Zukunft jenseits der Kleinstaatlichkeit. Unterstützers im Hintergrund ein, der jedoch in kriti- Die EU-Integration sollte ein Ziel jenseits von nationalisti- schen Momenten Druck auf die lokale Politik ausübte. Be- schen Ambitionen bieten, sodass strittige Grenzfragen reits Mitte der 2000er-Jahre haben sie die Führung der dereinst keine Rolle mehr spielen würden. euro-atlantischen Integration der EU übergeben – und Nachdem die EU den Westbalkanstaaten den Bei- das eigene Engagement in der Region seitdem kontinu- tritt 1999 bereits lose in Aussicht gestellt hatte, sicherte ierlich vermindert. Vor diesem Hintergrund erarbeiten sie ihnen 2003 sogar die Aufnahme zu, sofern die Balkan- sich dem Westen kritisch gegenüberstehende interne Ak- staaten die Vorbedingungen dafür erfüllen würden. Die- teure im Westbalkan neue Spielräume. Auch der Einfluss se Perspektive gab den Staaten ein Entwicklungsziel vor, externer Akteure wächst, wobei diese die traditionelle dessen Erreichung durch substanzielle Hilfe seitens der Stellung des Balkans zwischen Ost und West, wie auch EU bis heute grundsätzlich unterstützt wird. Der Weg seine anhaltende Volatilität nutzen. Sie verfolgen eigene, Richtung EU versprach jedoch nicht nur wirtschaftliche oft mit westlichen Zielvorstellungen nicht vereinbare Entwicklung, sondern beinhaltete auch die Akzeptanz Agenden. und Durchsetzung demokratisch-rechtstaatlicher Werte Einer dieser externen Akteure ist Russland. Mos- sowie regionale Versöhnung. Insofern trug die EU-Pers- kau positioniert sich vermehrt als Gegenspieler der EU pektive nach Kriegsende wesentlich zur Stabilisierung und hat sich stets gegen eine NATO-Erweiterung in der der Region bei. Region ausgesprochen. Die Qualität dieser Ablehnung hat Der Weg des Westbalkans Richtung EU ist aber sich jedoch verschärft. Heute nutzt Moskau in erster Linie mittlerweile sowohl von europäischer Seite als auch im seine sogenannte «Soft Power», um seine Stellung in der Westbalkan selber infrage gestellt worden. Dies zeigen Region auszubauen. Es gelang ihm dabei in den letzten die folgenden Abschnitte auf. Jahren, sich als attraktiver Partner zu präsentieren.1 Vor diesem Hintergrund steht in der folgenden Studie zuerst die EU-Erweiterung im Mittelpunkt. Dabei 2.1. Stand und Krise der EU-Integration soll diskutiert werden, inwiefern ein Abrücken der unter- suchten Staaten des Westbalkans vom Ziel eines EU-Bei- Die EU-Kandidaten des Westbalkans haben seit Jahren tritts zu befürchten ist. Anschliessend konzentriert sich Mühe bei der Umsetzung von Reformen. Nach wie vor äh- ein Kapitel auf den russischen Einfluss in den für diese neln sich die Probleme in der Region: mangelnde Rechts- Studie relevanten Gebieten. Nach einer Einführung zum staatlichkeit, ungenügende Regierungsführung, politi- Hintergrund der russischen Beziehung zur Region wird sierte Institutionen, politische Abhängigkeit der Medien. gezeigt, in welchen Bereichen russischer Einfluss heute Die Annahme, dass die Aussicht auf EU-Mitgliedschaft zu verzeichnen ist und welche Netzwerke den Westbal- für die regionalen Eliten genügend Reformanreize schaf- kan mit Russland verbinden. Auf der Grundlage der vor- fe, erwies sich als falsch. Zugleich hat die EU-Perspektive angehenden Analyse werden anschliessend mögliche in sämtlichen Ländern durch die ausbleibenden Entwick- Entwicklungsszenarien der Region gezeigt. Zum Ab- lungsfortschritte viel von jener Ausstrahlung verloren, schluss rücken schliesslich noch verteidigungspolitische welche die Staaten und Gesellschaften zu Reformen mo- Entwicklungen in den Fokus. Die Ergebnisse der Studie tiviert hatte. basieren ausschliesslich auf öffentlich zugänglichen In- Auf Seiten der EU dominiert seit geraumer Zeit Er- formationen sowie auf Hintergrundgesprächen mit regi- weiterungsmüdigkeit. Bereits vor dem Beitritt Bulgariens onalen Experten. und Rumäniens 2008 waren weite Teile der Politik und der Bevölkerung im EU-Raum der Ansicht, dass jede zu- sätzliche Erweiterung eine Vertiefung der EU-Integration verzögere oder gar behindere. Daraus resultierte Skepsis gegenüber neuen Erweiterungen.2 Seitdem die EU selber 1 «Soft Power» ist eine besondere Art der Machtausübung von politischen Akteuren über andere Staaten/Gesellschaften, die nicht auf militärischer Macht beruht. Zu den Mitteln zählen die Vorbildfunktion, Attraktivität und die Vermittlung eigener Normen und Werte. Vgl. dazu Bundeszentra- 2 Heinz Kramer, Wie «erweiterungsmüde» ist die EU?, in: SWP-Aktuell, März le für politische Bildung, Soft Power. 2007. 5
CSS STUDIE Der Westbalkan zwischen Russland und der EU in mehreren Krisen steckt, haben sich die Zweifel weiter Zur Frustration der Bevölkerung im Westbalkan verstärkt. Ein Beitritt scheint darum auch im Falle erfolg- über die Rolle der EU trägt bei, dass sich die Prioritäten reicher Reformen auf dem Balkan in weite Ferne gerückt. der EU verändert haben. Infolge der Flüchtlingskrise auf EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker kündigte der Westbalkanroute 2015 hat sich der Fokus von den kurz nach seinem Amtsantritt 2014 an, bis 2020 werde strukturellen Problemen der Region hin zur Erhaltung kein neues Land der EU beitreten. Im Westbalkan wurde von Stabilität verschoben. Für manche EU-Staaten zeigte dies als Absage an die Region verstanden. Es verstärkte die Krise, dass nur stabile Staaten im Westbalkan verläss- sich das Gefühl, dass auch nach 2020 keine Hoffnung auf liche Partner sind, wenn es etwa darum geht, Grenzkont- Aufnahme bestehe. Die Gewissheit der europäischen In- rollen in ihrem Sinne durchzuführen. Diese Verlagerung tegration des Westbalkans ist verblasst (siehe Kasten). bedeutet, dass die zunehmend autoritären Tendenzen Die Anreize auf dem Weg Richtung EU und die Erwar- der lokalen Führungseliten nicht mehr im Zentrum der tungshaltung von Seiten der Bevölkerung haben die regi- Kritik stehen. Der Fokus auf die Stabilität rückte auch die onalen Eliten aber trotzdem am Ziel EU festhalten lassen. Zivilgesellschaften des Westbalkans in den Hintergrund. Die EU ist aufgrund dessen weiterhin ein wichtiger nor- Diese waren zuvor im Sinne eines Korrektivs der Regie- mativer Faktor in der Region. rungen gefördert worden.7 Die EU hat im Westbalkan heute ein Glaubwürdig- keitsproblem. Zum einen steht man in Brüssel unter Der Stand der EU-Integration Druck, die Perspektive für die Region aufrechtzuerhalten. Andernfalls verlieren die Kandidaten das Interesse. Auf- Bosnien-Herzegowina ist ein potenzielles Kandidatenland grund dessen sind Fortschritte im Beitrittsprozess uner- der EU. Die EU hat sich somit bereit erklärt, mit dem Land lässlich. Fortschritte auf dem Papier entsprechen aber Beitrittsverhandlungen aufzunehmen, sobald es den dafür oftmals weder der Lebensrealität der Bevölkerung, noch vorausgesetzten Reformstand erreicht hat. Bereits 2008 hat- geschehen sie infolge tatsächlich erfüllter Bedingungen.3 te Bosnien ein Stabilisierungs- und Assoziierungsabkommen Zu einer verfälschten Wahrnehmung hat auch die man- (SAA) mit der EU unterzeichnet. Die EU machte für dessen gelhafte Kommunikation von Seiten der EU geführt. Nur Inkrafttreten jedoch die Umsetzung eines Urteils des Euro- wenige Bürger im Westbalkan fühlen sich ausreichend päischen Gerichtshofs für Menschenrechte zur Vorausset- informiert darüber, was ihnen ein EU-Beitritt bringen zung. Dies hätte jedoch eine Verfassungsänderung und die würde. Es gibt auch keine öffentliche Debatte über die Aufgabe der ethnischen Kriterien für die Zusammensetzung Konsequenzen einer EU-Annäherung. 4 des dreiköpfigen Staatspräsidiums und des Oberhauses des Zugleich haben die EU-Mitgliedstaaten in der Er- Parlaments verlangt. Die bosnischen Politiker konnten sich weiterungspolitik gegenüber der EU-Kommission an Ein- dazu jedoch nicht durchringen, fürchteten sie doch um ihre fluss gewonnen, was neue Herausforderungen mit sich jeweils ethnisch definierten Machtbereiche. Das SAA trat brachte. Die Europäische Kommission hatte in den letz- schliesslich 2015 in Kraft, doch nicht weil Bosnien das Urteil ten Jahren zunehmend Mühe, sich mit ihren Empfehlun- umgesetzt hatte. Vielmehr hatte die EU 2014 ihren Ansatz gen gegen einzelne Mitgliedstaaten durchzusetzen. Die verändert. Neu sollte die wirtschaftliche Entwicklung des Beitrittskandidaten beklagen, dass ihnen immer neue Be- Landes im Zentrum stehen und andere Reformbereiche in dingungen gestellt werden und bilaterale Streitigkeiten den Hintergrund rücken. Im Februar 2016 reichte Bosnien auf die europäische Ebene getragen werden.5 Die ge- schliesslich den Antrag auf EU-Mitgliedschaft ein. Somit hat stärkte Rolle der EU-Mitgliedstaaten zeigt sich auch an sein Beitrittsprozess offiziell begonnen. Ein Streit zwischen anderer Stelle: So versucht Deutschland seit 2014 den der serbischen Teilrepublik und der Föderation über den in- Stillstand im Beitrittsprozess mit dem «Berlin-Prozess» nenpolitischen Koordinationsmechanismus für den EU-Inte- zu durchbrechen. Die auf fünf Jahre angelegte Initiative grationsprozess blockiert momentan aber weitere Schritte, versammelt seitdem einmal jährlich die Staatsoberhäup- welche zur Verleihung des Kandidatenstatus führen würden. ter der sechs Westbalkanstaaten sowie mehrerer EU- Die Blockadehaltung der beiden Landesteile ist denn auch ei- Staaten und Wirtschaftsvertreter. Der Prozess hat zwar nes der Haupthindernisse für Fortschritte Richtung EU.8 Ei- eine symbolisch wichtige Funktion, konnte aber keine nen EU-Beitritt des Land würde nach wie vor eine Mehrheit neue Reformdynamik im Westbalkan entfachen.6 im Land begrüssen: 77% würden diesen Schritt eher begrü- ssen, wobei die Zustimmung unter den bosnischen Serben 3 Boris Georgievski, Macedonia will only survive as a democratic country. nur 53% beträgt.9 Interview mit Gudrun Steinacker, in: Deutsche Welle, 07.02.2017. 4 Interview mit Katarina Djokic, Belgrade Center for Security Studies, Belgrad, 12.12.2016. 5 Andrea Despot / Dušan Reljić / Günter Seufert, Zehn Jahre Einsamkeit, in: 7 Srdan Cvijic, EU is ready to trade democracy for stability in the Western SWP-Aktuell 23, April 2012. Balkans, in: European Western Balkans, 05.04.2017. 6 Velina Lilyanova, The Western Balkans’ Berlin process: A new impulse for 8 Srecko Latal / Danijel Kovacevic, Political Quarrels Again Block Bosnia’s EU regional cooperation, European Parliamentary Research Service, Brüssel Path, in: Balkan Insight, 27.02.2016. 2016; Natalia Zaba, Serbia Furious at Croatian Block on EU Negotiations, 9 Center for Insights in Survey Research, Bosnia and Herzegovina: Attitudes in: Balkan Insight, 13.12.2016. on Violent Extremism and Foreign Influence, Februar 2017. 6
CSS STUDIE Der Westbalkan zwischen Russland und der EU Mazedonien hat sich 2004 für die EU-Mitgliedschaft bewor- weil Serbien zu keinen Zugeständnissen bezüglich staatli- ben und erhielt den Kandidatenstatus schon ein Jahr später. chem Besitz in Kosovo bereit ist – eine der schwierigsten zu 2009 empfahl die EU-Kommission erstmals die Eröffnung lösenden Fragen in den Verhandlungen.13 Auch Serbien hat der Beitrittsverhandlungen. Beginnen konnten die Verhand- sich unter Premier Aleksander Vucic zwiespältig entwickelt: lungen jedoch bis heute noch nicht, da Griechenland auf- Reformbemühungen, vor allem im wirtschaftlichen Bereich, grund des Streits um den Landesnamen Mazedonien weitere werden von zunehmend autoritären Tendenzen begleitet. Schritte blockiert.10 2015 und 2016 fügte die EU-Kommission Zudem betont die Regierung zwar das Ziel EU-Beitritt, sucht in ihrem Bericht eine neue Bedingung ein, bevor es zu Ver- aber gleichzeitig enge Beziehungen zu Russland. Gemäss ei- handlungen kommen könnte: Mazedonien müsse das von ner im Dezember 2016 von der serbischen Regierung durch- der EU 2015 vermittelte Prz̆ino-Abkommen zur Beendigung geführten Umfrage würden bei einem Referendum in Serbi- der politischen Krise umsetzen und Fortschritte im Reform- en heute 47% für und 29% gegen einen EU-Beitritt stimmen.14 prozess erzielen. Die Zustimmung zu einem EU-Beitritt in Mazedonien bleibt hoch, ist aber kontinuierlich kleiner ge- worden: Im April 2016 wünschten sich noch 71% den EU-Bei- tritt ihres Landes, 2008 waren es noch 96% gewesen.11 2.2. Widerstände in der Region Montenegro hat sich 2008, zwei Jahre nach seiner Unabhän- Entscheidend für die ausbleibenden Fortschritte bei der gigkeit, um die Mitgliedschaft in der EU beworben. Es erhielt EU-Integration sind aber auch grundsätzliche Widerstän- 2010 den Kandidatenstatus zugesprochen, die Beitrittsver- de in der Region. Für Teile der Eliten ist die Einführung von handlungen begannen 2012. In den Verhandlungen mit der EU-Standards eine Bedrohung der bestehenden Verhält- EU wurden 26 der insgesamt 35 Verhandlungskapitel geöff- nisse. Transparenz und Chancengleichheit für Firmen als net. Trotz dieses positiven Verhandlungsstands ist Montene- Folge der EU-Integration bedrohen Privilegien staatsna- gro kein Musterschüler. Die montenegrinische Führung steht her Unternehmer und etablierter Patronagesysteme. Die eher für zweifelhaften Fortschritt. Die demokratische Partei Förderung von Korruptionsverfahren im Zusammenhang um Milo Djukanovic bestimmt seit 1991 die Geschicke der mit Infrastrukturprojekten erzeugte etwa in Bosnien Wi- ehemaligen jugoslawischen Teilrepublik. In dieser Zeit hat derstand gegen eine weitere Zentralisierung, die als Fol- sich die Führungsriege durch Kontakte zur organisierten Kri- ge der Europäisierung galt. Auch einzelne Militärs lehnen minalität, rücksichtslose Politik, und ein hohes Mass an Kor- eine Annäherung ab, da sie nach wie vor eine EU-geför- ruption hervorgetan. Die Zustimmung zum EU-Beitritt ist derte Aufarbeitung der Jugoslawien-Kriege fürchten. Jen- trotzdem gemäss einer von der EU in Auftrag gegebenen seits der Eliten fürchten Teile der Bevölkerung eine kultu- Umfrage konstant hoch: 76% der Befragten würden dem- relle Selbstaufgabe durch die Annäherung an die EU.15 nach im Falle eines Referendums für einen Beitritt stimmen.12 Ferner hat auch die Wirtschaftskrise die Euroskep- sis gefördert. Die Bindung an Europa hat die europäische Serbien reichte seine EU-Bewerbung 2009 ein und erhielt Krise auch in den Balkan gebracht. Die Schwierigkeiten den Kandidatenstatus 2012, nachdem im Vorjahr der EU-ver- der EU als grösster Handelspartner und Investor führte mittelte Dialog zwischen Belgrad und Pristina begonnen ab 2009 zur Rezession im Westbalkan. Auch die Rimessen worden war. Dieser Dialog soll die Zusammenarbeit zwi- aus der westeuropäischen Diaspora gingen zurück, was schen den beiden Regierungen fördern und den Prozess Rich- die regionale Wirtschaft zusätzlich belastete, ebenso wie tung EU voranbringen. Im April 2013 resultierte dieser Dialog die Krise von Finanzinstituten aus dem EU-Raum, die im im ersten Normalisierungsabkommen, sodass im Januar Westbalkan eine sehr dominante Stellung einnahmen. In 2014 die Beitrittsverhandlungen mit Serbien eröffnet wur- einer zweiten Welle spürte die Region dann die Auswir- den. Der Hochstimmung über diese Fortschritte ist inzwi- kungen der griechischen Krise, da es nicht zuletzt mit schen Ernüchterung gefolgt: Die von der EU moderierten Ver- Griechenland zahlreiche wirtschaftliche Verbindungen handlungen zwischen Serbien und dem Kosovo sind zum gibt.16 Stillstand gekommen. Dies insbesondere aufgrund innenpo- Darüber hinaus wird die von der EU verlangte Um- litischen Drucks auf die kosovarische Regierung, aber auch strukturierung der Wirtschaft kritisch gesehen. Die Trans- 10 Seit Erlangung der Unabhängigkeit 1991 akzeptiert Griechenland den 13 Interview mit Djordje Popovic, Belgrade Fund for Political Excellence, offiziellen Landesnamen Mazedoniens nicht. Es verweist auf die gleich- Belgrad, 13.12.2016. namige nordgriechische Region Makedonien und befürchtet künftige 14 Maja Zivanovic, Anti-EU Tide is Rising in Serbia, NGO Warns, in: Balkan Gebietsforderungen. Überdies lehnt es die Vereinnahmung des antiken Insight, 07.02.2017. makedonischen Erbes durch Mazedonien ab. 2008 und 2009 blockierte 15 Christopher Bennett, Bosnia’s Paralysed Peace, London 2016, S. 198 – 200; Griechenland aufgrund der ausstehenden Lösung für den Namensstreit CEAS, Eyes Wide Shut; Roberto Belloni, The European Union Blowback? die weitere Integration des Nachbarlandes in die NATO und die EU. Euroscepticism and its Consequences in the Western Balkans, in: Journal 11 Center for Insights in Survey Research, Survey of Macedonian Public of Intervention and Statebuilding, 4(2016), S. 530 – 547. Opinion, April 2016. 16 Ritsa Panagiotou, The New Environment of EU Enlargement: The Impact 12 Delegation of the European Union to Montenegro, Opinion poll: conti- of Economic Crisis on the Western Balkans and their EU Accession Pros- nuous rise in support for Montenegro’s EU accession, 17.01.2017. pects, in: Contemporary Southeastern Europe 2014, 1(1), S. 33 – 57. 7
CSS STUDIE Der Westbalkan zwischen Russland und der EU formation aufgeblähter Staatsbürokratien und -betriebe Beitrittsprozesses begrüssen würden, wohl häufig in Un- bedeutet jeweils auch einen Stellenabbau. Zur Skepsis kenntnis der ökonomischen Folgen. gegenüber der EU haben auch die EU-Nachbarn der Regi- Insgesamt bleibt für die Wirksamkeit der EU-Pers- on beigetragen. Griechenland, Bulgarien, Kroatien, aber pektive aber die Entwicklung der EU selbst zentral. Das auch Ungarn zeigen, dass wirtschaftliches und soziales Bestehen einer attraktiven EU ist massgeblich für das Wohlergehen, Demokratie und Rechtstaatlichkeit nach Aufrechterhalten eines Beitrittswunsches. Eine Umfor- einem EU-Beitritt keineswegs garantiert sind. Mancher mung der Union kann überdies Auswirkungen auf die Er- Bewohner eines Westbalkanlandes glaubt darum nicht weiterung haben. Sollte es etwa zu einer grösseren Diffe- mehr daran, dass es seinem Land nach einem EU-Beitritt renzierung innerhalb der Union kommen, wäre die besser ginge.17 Integration des Westbalkans in einen äusseren Ring der Union, der weniger Integration verlangt, mit weniger Re- formen verbunden. Kommt eine solche Differenzierung 2.3. Die Umkehrbarkeit der jedoch nicht zustande, bleibt ein EU-Beitritt der Region europäischen Integration vorläufig ausser Reichweite.23 Trotz dieser negativen Anzeichen und der Integrationskri- se ist nicht von einer Abkehr der Kandidatenländer vom Ziel der EU-Mitgliedschaft auszugehen. Für die Politik ist ein Bruch mit der EU wenig opportun. Der Verlust der be- 3. Das russische achtlichen finanziellen EU-Unterstützung wäre für kei- nen Staat der Region einfach zu verkraften. Im Rahmen Engagement im des Instruments für Heranführungshilfe (IPA II) stehen im Westbalkan Zeitraum von 2014 – 2020 Summen zwischen 270.5 Mio. Euro (Montenegro) und 1.5 Mrd. Euro (Serbien) bereit. Hinzu kommen 2.96 Mrd. Euro, die für sämtliche «Erwei- 3.1. Der Westbalkan, Russland und die terungsländer» zur Verfügung stehen.18 Auch die wirt- Ukraine-Krise schaftlichen Bedürfnisse der Region werden nach wie vor mit überwältigender Mehrheit aus dem EU-Raum ge- Der Westbalkan ist traditionell eine Region im Einflussbe- deckt, auch wenn dabei enorme Defizite angehäuft wur- reich von Ost und West. Russland, Österreich-Ungarn und den.19 Diese Abhängigkeit vom Handel mit der EU macht das Osmanische Reich und damit verschiedene Kultur- ein Blick auf die Handelsbilanzen der drei Staaten deut- kreise haben ihre Spuren hinterlassen; die Sowjetunion lich, die sich nicht den EU-Sanktionen gegen Russland an- oder Deutschland, das Zielland zahlreicher jugoslawi- geschlossen haben: Serbiens Aussenhandel findet zu scher «Gastarbeiter», haben die Region ebenso beein- 63.9% mit der EU statt, Russland folgt auf Platz zwei mit flusst. Infolge der Konsolidierung Russlands und des Auf- 7.8%.20 In Mazedonien werden 71.6% des Aussenhandels stiegs der Türkei zu einer subregionalen Macht wurden mit der EU abgewickelt, Russland folgt mit 1.2% auf Rang deren Stellungen im Westbalkan wieder gestärkt. Unter 9.21 In Bosnien-Herzegowina sind es für die EU gar 84.5%, Präsident Recep Erdogan pflegt die Türkei ihre Verbin- für Russland auf Rang drei 2.8%.22 Wirtschaftlich wird sich dung zu den muslimischen Gesellschaften der Region. die Region darum auch in Zukunft an der EU ausrichten Russland wiederum hat sich seit dem ersten Amtsantritt – oder enorme wirtschaftliche Risiken in Kauf nehmen Wladimir Putins um gute Beziehungen zu den orthodo- müssen. Möglich ist jedoch auch ein nominelles Verblei- xen Slawen des Westbalkans bemüht. ben im Beitrittsprozess, ohne wirkliche Beitrittsmotivati- Anknüpfungspunkte für die heutigen russischen on. In der Bevölkerung gibt es allerdings durchaus bedeu- Beziehungen zur Region bieten sich in der Zarenzeit. Das tende Minderheiten, die einen Abbruch des russische Kaiserreich nahm bis in den Ersten Weltkrieg hi- nein die Rolle als Schutzmacht der orthodoxen Slawen auf dem Balkan wahr. Die Oktoberrevolution 1917 resul- 17 Belloni, The European Union Blowback? 18 European Commission. European Neighbourhood Policy and Enlarge- tierte aber in einem abrupten Bruch: In der Zwischen- ment Negotiations, Overview – Instrument for Pre-accession Assistance, kriegszeit gab es keine offiziellen Beziehungen zwischen 06.12.2016. 19 Tobias Flessenkemper / Dušan Reljić, EU-Erweiterung: Ein Sechs-Prozent- dem Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen und Ziel für die Westbalkanstaaten, in: Kurz gesagt. Stiftung Wissenschaft der neu gegründeten Sowjetunion. Während des Kalten und Politik, 23.06.2017. Krieges war der sowjetische Einfluss auf das zwar kom- 20 European Commission. Directorate-General for Trade, European Union, Trade in goods with Serbia, 4.11.2016. munistische, aber sich seit 1948 nicht mehr den Direkti- 21 European Commission. Directorate-General for Trade, European Union, Trade in goods with For.J.Rep.Macedonia, 04.11.2016, 22 European Commission. Directorate-General for Trade, European Union, 23 Niklaus Nuspliger, Eine Auswahlsendung für ein flexibleres Europa, in: Trade in goods with Bosnia-Herzegovina, 04.11.2016, Neue Zürcher Zeitung, 01.03.2017. 8
CSS STUDIE Der Westbalkan zwischen Russland und der EU ven aus Moskau beugende Jugoslawien beschränkt. Ins- westlich orientierten serbischen Premiers Zoran Djindjic besondere kamen die Bindeglieder der Vor- und im März 2003 kam es unter Premier Vojislav Kostunica, Zwischenkriegszeit nicht mehr zur Geltung: Die orthodo- der ab 2004 wieder serbischen Nationalismus betrieb xe Religion wurde in Jugoslawien wie auch der Sowjet- und auch anti-westliche Töne anschlug, aber wieder zu union unterdrückt und der Panslawismus verlor nach engeren Kontakten. Insbesondere die ab 2005 intensi- dem Zweiten Weltkrieg an ideologischem Wert. Aus jugo- vierten Auseinandersetzungen über den künftigen Sta- slawischer Sicht war die Sowjetunion gar die grösste Be- tus Kosovos boten Russland die Möglichkeit, seinen Ein- drohung der eigenen Unabhängigkeit. Bis in die 1980er- fluss in Serbien zu vergrössern. Ab 2007 verbesserten sich Jahre ging man davon aus, dass bei Ausbruch eines die Kontakte zwischen Russland und Serbien spürbar.26 offenen Ost-West-Konflikts Jugoslawien von der Sowjet- Trotzdem schien 2009, als auch Serbien offiziell EU-Bei- union besetzt werden würde. Dennoch gibt es im West- trittskandidat geworden war, der EU-Kurs der Region ge- balkan im Unterschied zu früheren Warschauer-Pakt- sichert. Der Westbalkan galt nun als Ort, wo Russland Ein- Staaten keine tiefsitzende Furcht vor russischer fluss in vermeintlich künftigem EU-Territorium aufbauen Dominanz. Auch wenn sich erst unter Michael Gorbat- konnte.27 schow die politischen Beziehungen wieder erheblich ver- Seit Mitte der 2000er-Jahre verstärkten sich auch besserten, bestand in der slawisch-orthodoxen Bevölke- die russischen Kontakte mit der serbischen Teilrepublik in rung ein stetes Gefühl der Verbundenheit zu Russland.24 Bosnien-Herzegowina (Republika Srpska, RS). Russland Die Basis für das heutige Engagement Russlands nutzte hierbei seinen Sitz in für Bosnien relevanten politi- im Westbalkan wurde in den 1990er-Jahren gelegt. Wäh- schen Gremien, um der bosnisch-serbischen Entität poli- rend des blutigen Zerfalls Jugoslawien orientierte sich tischen Rückhalt zu gewähren. In der Zeit kurz vor der Un- Russland erst eng an der Linie des Westens. Im Laufe der abhängigkeit Kosovos verwies Moskau gerne auf eine 1990er-Jahre wurde der Unterschied zum Standpunkt mögliche Abspaltung der RS gemäss kosovarischem Bei- des Westens aber immer deutlicher. Russland nahm eine spiel. Es nutzte diese Positionierung auch zum Ausbau zunehmend unterstützende Haltung gegenüber den Ser- der Beziehung mit dem damaligen Premier Milorad Do- ben ein; die ethnisch-kulturelle Komponente wurde wich- dik. Russland verfolgt in der RS aber mutmasslich auch tiger bei der Definition der eigenen Politik. Zu diesem geopolitische Absichten: Es versucht, das implizite Re- Wandel kam es zum einen, um dem innenpolitischen formziel einer grösseren Zentralisierung Bosniens im Druck der oppositionellen Nationalisten in Russland ent- Zuge der westlichen Integration zu verhindern. Gemäss gegenzuwirken. Diese traten für eine bedingungslose russischer Lesart würde dies in einer bosniakischen Do- Unterstützung Serbiens und der Serben in der Region ein. minanz in Bosnien resultieren, entgegen Russlands Inter- Zum anderen war Moskau verärgert darüber, dass Ent- essen. Der gute Draht in die RS ist eine Garantie, dass die scheidungen ohne Rücksicht auf russische Einwände ge- russische Stimme bei Entscheidungen zur weiteren Ent- troffen wurden. Ausdruck dieser Entwicklung war, dass wicklung Bosniens gehört wird.28 Russland die NATO-Luftangriffe auf die bosnischen Ser- Die Unabhängigkeit Montenegros 2006 wurde ben 1995 heftig kritisierte.25 von russischer Seite nicht kritisiert, Russland war gar das Moskau übte in den 1990er-Jahren aufgrund der erste Land, das die montenegrinische Unabhängigkeit eigenen wirtschaftlichen Schwäche jedoch nur begrenz- nach dem Referendum vom 21. Mai 2006 anerkannte. ten Einfluss aus. Entschieden trat es dem Westen jedoch Dies wohl auch, weil Russland mit Montenegro gute Be- 1999 entgegen, als die NATO ohne UNO-Mandat militä- ziehungen unterhielt und seine Strategie, über den Aus- risch im Kosovo-Konflikt intervenierte und keine Rück- bau der Wirtschaftsbeziehungen politischen Einfluss zu sicht auf die russischen Bedenken nahm. Die Beziehun- generieren, nicht in Gefahr sah. Das beträchtliche wirt- gen zum westlichen Bündnis erreichten einen Tiefpunkt, schaftliche Engagement Russlands im Adria-Anrainer- die Intervention prägt seither das Verhältnis zwischen staat schien dies zu garantieren.29 Russland und der NATO. Nachdem zuletzt gute Beziehun- Die mit westlicher Unterstützung erfolgte Ausru- gen zu Präsident Slobodan Milosevic unterhalten wur- fung des unabhängigen Kosovos 2008 kann als Wende- den, schwand aber Russlands Einfluss in Serbien nach punkt in der Region angesehen werden. Das Verhältnis dessen Sturz im Oktober 2000. 2003 zog Putin die russi- zwischen Serbien und der EU hat sich dadurch verkompli- schen Soldaten aus den Friedenssicherungsmissionen im ziert. Zudem verstärkte sich durch diesen Schritt auch der Westbalkan ab. Russland schien sich damals nur begrenzt Gegensatz zwischen Russland und dem Westen im West- für den Balkan zu interessieren und setzte seine Ressour- cen bevorzugt andernorts ein. Nach der Ermordung des 26 Dušan Reljić, Russlands Rückkehr auf den Westbalkan, in: SWP-Studie (2009), S. 11 – 13. 24 James Headley, Russia and the Balkans, London 2008, S. 9 – 27. 27 Bodo Weber / Kurt Bassuener, The Western Balkans and the Ukraine Crisis, DPC Policy Paper, Berlin/Sarajevo 2014, S. 2. 25 Stephen M. Saideman, The Ties That Divide: Ethnic Politics, Foreign Policy, and International Conflict, New York 2001 und Headley, Russia and the 28 Reljić, Russlands Rückkehr, S. 30. Balkans. 29 Headley, Russia and the Balkans, S. 474 – 476. 9
CSS STUDIE Der Westbalkan zwischen Russland und der EU balkan. Die Bedeutung Russlands als Serbiens engster di- monisierung der Aussenpolitik eigentlich erwartet. Serbi- plomatischer Verbündeter in der Kosovo-Frage und Ver- en hatte sich schon zuvor öfters Russland-bezogenen teidiger serbischer Interessen auf der weltpolitischen Stellungnahmen der EU nicht angeschlossen. Der russi- Bühne wurde so zementiert.30 sche Einfluss ist heute gross genug, um einen Nachvoll- Im gleichen Jahr scheint Russland auch den Ent- zug der Sanktionen zu verhindern.33 schluss gefasst zu haben, die politischen Kontakte zu Ma- Russlands Beziehungen zu den Staaten der Region zedonien auszubauen. Im Zuge des dortigen Regierungs- stehen dennoch vor einem Problem. Der Kreml kann kei- wechsels 2017 gelangten Papiere an die Öffentlichkeit, ne Langzeitvision anbieten, welche einer EU-Mitglied- die eine russische Strategie zum gezielten Einflussaus- schaft ebenbürtig wäre. Auch Russland wohlgesonnene bau in Mazedonien seit 2008 offenbarten. Als Gelegen- Staaten halten darum auf absehbare Zeit das Ziel Brüssel heit für den russischen Einstieg in Mazedonien wurde an- aufrecht. In der Öffentlichkeit ist dieses Bewusstsein je- scheinend der gescheiterte NATO-Beitritt des Landes be- doch weniger vorhanden. Debatten darüber, was es trachtet.31 heisst, der EU beizutreten, gibt es kaum. Ebenso wenig Das Jahr 2014 sah die russische Annexion der Krim werden die Folgen einer engeren Bindung an Russland und den Ausbruch der Ukraine-Krise. Es gilt seither als diskutiert, was Russland momentan entgegenkommt.34 Wendepunkt in den Beziehungen zwischen Moskau und dem Westen. Dieser Bruch hat auch in den Westbalkan eine neue Dynamik gebracht. Das gewachsene wirt- 3.2. Der Aufbau des heutigen schaftliche Engagement Russlands beinhaltete zwar russischen Engagements stets eine politische Komponente, stellte die EU-Perspek- tive der Staaten des Westbalkans aber nie ernsthaft in Die russischen Ziele im Westbalkan haben sich in den Frage. Die Ukraine-Krise hat dies geändert. Russland letzten Jahren in mehrerlei Hinsicht verändert. Bis 2007 spricht inzwischen mit Blick auf den Westbalkan von ei- war Russland insgesamt ein eher passiver Akteur in der ner problematischen Rolle der EU. Zuletzt wurde dies an- Region. Die russischen Bemühungen beschränkten sich gesichts der politischen Krise in Mazedonien geäussert, auf den wirtschaftlichen Bereich. Das wirtschaftliche En- zuvor aber etwa auch mit Bezug auf die europäischen gagement wird denn auch als Basis dafür gesehen, dass Russland-Sanktionen, denen sich aus Sicht der EU die Russland seinen Einfluss in anderen Bereichen ausbauen Kandidatenländer im Westbalkan anschliessen sollten. konnte. Seitdem nutzt es seine Möglichkeiten aktiv und Seit 2014 scheint sich die russische Politik auch hier an widersetzt sich westlichem Konsens. Es stellt sich die Fra- der Logik eines Nullsummenspiels auszurichten. Der ei- ge, welche Motive hinter dem aktiven Ausbau des eige- gene Einfluss kann nur auf Kosten anderer Akteure, in nen Einflusses stehen. Die Gründe für die intensivierte diesem Fall der EU, ausgebaut werden.32 Präsenz und das wirtschaftliche Engagement sollen dar- Die Annexion der Krim zeigte überdies, dass ge- um in der Folge näher betrachtet werden. waltsame Grenzänderungen in Europa durchaus noch möglich sind. Russland hat bewiesen, dass es bereit ist, 3.2.1. Gründe für die verstärkte Präsenz Grenzveränderungen gegen den Willen des Westens Das verstärkte russische Engagement im Westbalkan ab durchzusetzen. Für revisionistische nationalistische Kräf- Mitte der 2000er-Jahre scheint auf einer politischen Ent- te im Balkan hat sich daher die Anzugskraft Russlands scheidung zu basieren, wie auch die an die Öffentlichkeit weiter verstärkt. gelangten Geheimdienstdokumente in Mazedonien na- Der russische Einfluss auf die Beitrittskandidaten helegen. Investitionen in die schwache Wirtschaft der Re- zeigte sich nicht zuletzt hinsichtlich der Russland-Sankti- gion wurden von staatlicher Seite angeregt. Die Intensi- onen der EU infolge der Ukraine-Krise. Serbien schloss vierung der ökonomischen Beziehungen zwischen sich ihnen nicht an. Die RS in Bosnien-Herzegowina ver- Serbien und Russland etwa fand in Anbetracht dessen hinderte, dass der Gesamtstaat die Sanktionen nachvoll- statt, dass sich das Verhältnis von Staat und Investoren zog. Zur Überraschung vieler blieb auch Mazedonien abs- auf russischer Seite änderte: Der Staat ist seither stark in tinent. Der Nachvollzug der Sanktionen wird von die Investitionsentscheidungen von Unternehmen invol- Kandidatenländern für den EU-Beitritt im Sinne der Har- viert, diese stimmen ihre Investitionen und Pläne mit dem Kreml ab. Erleichtert wurde der Einstieg dadurch, dass die Region eine historische Verbindung zu Russland 30 Dušan Reljić, Russia’s Voice Heard in Serbia, in: Russian Analytical Digest 39(2008), S. 2 – 5. und eine eher russlandfreundlich gesinnte Bevölkerung 31 Aubrey Belford / Saska Cvetkovska / Biljana Sekulovska / Stevan Dojci- hatte. Auf der Basis der wirtschaftlichen Beziehungen novic, Leaked Documents Show Russian, Serbian Attempts to Meddle in Macedonia, OCCRP, 04.06.2017. 32 David Clark / Andrew Foxhall, Russia’s Role in the Balkans – Cause for 33 Working Group for Chapters 30 and 31, Analysis of the harmonization Concern? London 2014; The Ministry of Foreign Affairs of the Russian of Serbia’s foreign policy declarations and measures of the EU in 2015, Federation, Russia’s stance on conflicts and problem areas in Europe, Belgrad 2016. 04.03.2016. 34 Interview mit Katarina Djokic. 10
CSS STUDIE Der Westbalkan zwischen Russland und der EU sollte in der Folge auch die kulturelle und politische Ver- Russland suche vorerst keine nachhaltigen Lösun- bindung ausgebaut werden.35 gen im Balkan und wolle damit die Europäisierung ver- Es gibt verschiedene Erklärungsansätze, wieso hindern oder verlangsamen. Die normative Kraft der EU Russland in den letzten Jahren seine Präsenz deutlich soll infrage gestellt werden. Dies geschieht unter ande- ausgebaut hat. Die offiziellen russischen Dokumente bie- rem, indem die vermeintliche moralische Überlegenheit ten zwiespältige Informationen zur Bedeutung der Regi- der EU zu demontieren versucht wird. Die Verschiebung on für den Kreml: 2013 wurde der Balkanregion im Kon- des Interesses der EU hin zu einem Fokus auf Stabilität zept für die russische Aussenpolitik grosse strategische kommt der russischen Seite entgegen. Russland betrach- Bedeutung zugeschrieben. Nach dem Bruch 2014 mit tete die europäische Verbreitung von Werten und Nor- dem Westen führte dies dort zu Fragen hinsichtlich Russ- men stets lediglich als Mittel zum Zweck handfesterer lands Absichten in der Region. Im aussenpolitischen Kon- Interessen. Diese Sichtweise versucht es im Westbalkan zept 2016 fehlt interessanterweise jeglicher Hinweis auf zu verbreiten. 40 Die Region ist somit konzeptuell von ei- den Balkan.36 nem vermeintlich von Russland akzeptierten Einflussge- Einige Beobachter gehen davon aus, dass es Russ- biet des Westens zu einem umstrittenen Gebiet gewor- lands strategisches Ziel sei, die vier slawisch-orthodoxen den. Länder neutral oder pro-russisch zu halten.37 Eine andere Erklärung für den gewachsenen russi- 3.2.2. Wirtschaftliche Verbindungen schen Einfluss geht davon aus, dass Russland lediglich Die Basis für den Ausbau der russischen Präsenz bildete den momentan grösseren Spielraum in der Region nutzt. in den letzten Jahren das vielfältige wirtschaftliche Enga- Die seit einem Jahrzehnt stagnierende Entwicklung der gement im Westbalkan, das in Serbien, Montenegro und EU-Integration hat deren Anziehungskraft im Westbal- der RS konzentriert ist. In Mazedonien sind nur wenige kan auf einen Tiefpunkt gebracht. Davon kann Russland wirtschaftliche Anknüpfungspunkte vorhanden. Russ- profitieren. Mit verstärkten Bemühungen lässt sich ein land sieht im Westbalkan einen engen Zusammenhang grosser Effekt erzielen, der in Rivalität zu einer starken EU zwischen politischer Nähe und wirtschaftlichem Ge- nicht möglich gewesen wäre. wicht. Aus diesem Grund ist der in den letzten zehn Jah- Die nachhaltige Etablierung des eigenen Einflus- ren forcierte Ausbau der wirtschaftlichen Beziehungen ses in der Region dient zudem gemäss einigen Beobach- ein strategisches Ziel. Das ökonomische Gewicht Russ- tern dem russischen Grossmachtanspruch. Ohne Russ- lands ist heute grösser denn je seit 1990. Dennoch ist land kann heute keine Lösung in Streitfragen mehr Russland keineswegs der dominierende wirtschaftliche gefunden werden, da Russland politische Verbündete ge- Partner der Region. Diese Rolle kommt ohne Zweifel wei- funden hat. Die Aktivitäten im Westbalkan bieten so poli- terhin der EU zu. tisches Kapital, das mit anderen umstrittenen europäi- Eine Intensivierung der wirtschaftlichen Koopera- schen Themen verknüpft werden kann.38 tion war lange Zeit nicht nur durch die wirtschaftliche Andere wiederum sehen es zudem heute als russi- Schwäche Russlands und der Region behindert. Auch aus- sche Doktrin an, durch den Ausbau des eigenen Einflus- stehende Schulden Moskaus aus Sowjetzeiten erschwer- ses ohne gewaltsame Mittel die Kohärenz des westlichen ten dies. Erst ein Abkommen 2003 zur Aufteilung der ge- Systems zu zerstören. Dabei sei es Teil des Plans, Politiker schuldeten Summe unter den jugoslawischen Republi- und politische Prozesse zu beeinflussen. Das Modell einer ken regelte dieses Erbe aus der kommunistischen Zeit. illiberalen Demokratie werde dabei als Vorbild für eine Die Schuldlast erleichterte Russland den wirtschaftlichen neue Generation von Politikern angeboten, auch inner- Einstieg in der Region. Teilweise konnte es dadurch lang- halb der EU. Zentral sei die Vermischung von privaten und fristiges Engagement im Energiebereich sichern, etwa in- öffentlichen Interessen. Das heisst, dass durch die klien- dem es ausstehende Schulden in Serbien durch Projektin- telistisch motivierte Vergabe von öffentlichen Zuschlä- vestitionen ausglich. Die Schulden gegenüber gen und Vergütungen persönliche Loyalitäten geschaffen Bosnien-Herzegowina in Höhe von 125 Mio. Dollar sollen werden und das so entwickelte, weitverzweigte Netz- demnächst beglichen werden. 41 werk die eigene Macht sichert.39 Serbien unter Präsident Slobodan Milosevic und Russland unterzeichneten im September 2000 ein Frei- 35 Pivovarenko, Modern Russia in the Modern Balkans. handelsabkommen und erweiterten dieses 2009 und 36 Aussenministerium der Russischen Föderation, Konzeption der Aussenpo- litik der Russischen Föderation, gebilligt am 12.02.2013; The Ministry of 2011. Dessen Wirkung blieb aber stets auf vergleichsweise Foreign Affairs of the Russian Federation, Foreign Policy Concept of the bescheidenem Niveau. Darüber hinaus ist auch Russ- Russian Federation, 01.12.2016. lands Rolle als Investor in Serbien bescheiden. Zudem 37 IISS, Balkan rumblings, in: Strategic Comments Volume 23, Comment 20, Juni 2017. 38 Jaroslaw Wisniewski, Russia has a years-long plot to influence Balkan politics. The U.S. can learn a lot from it, in: Washington Post, 19.09.2016. 40 James Headley, Challenging the EU’s claim to moral authority: Russian 39 Heather A. Conley et al., The Kremlin Playbook. Understanding Russian talk of ‹double standard›, in: Asia Europe Journal 13(2015), S. 297 – 307. Influence in Central and Eastern Europe, Lanham 2016, S. 3 – 4. 41 Headley, Russia and the Balkans, S. 463. 11
CSS STUDIE Der Westbalkan zwischen Russland und der EU sind fast alle russischen Investitionen auf den Energie- Auch in der RS fasste Russland über den Energie- sektor beschränkt. Russland war 2016 Serbiens Handels- sektor wirtschaftlich Fuss. Die staatliche russische Ölfir- partner Nummer vier (Import, 1.5 Mrd. Dollar) bezie- ma Zarubezhneft sicherte sich 2007 bei der Privatisierung hungsweise Nummer fünf (Export, 795 Mio. Dollar). 2015 des bosnischen Ölsektors wichtige Industrien, insbeson- war es überdies für 4.6% der ausländischen Direktinvesti- dere Ölraffinerien, in der serbischen Teilrepublik. 46 Die tionen (FDI) in Serbien verantwortlich. Zum Vergleich: Der Partnerschaft zwischen der RS und Russland im Energie- Anteil der Schweiz an den FDI betrug 4.5%, derjenige der bereich wurde zuletzt weiter verfestigt. Gazprom unter- EU 72.4%. 42 Die wirtschaftliche Verbindung zu Serbien soll zeichnete im März 2015 erstmals einen Versorgungsver- gemäss jüngsten Plänen jedoch um ein Freihandelsab- trag direkt mit der RS, also unter Umgehung der kommen mit der russisch dominierten Eurasischen Wirt- gesamtstaatlichen Ebene Bosniens. Die RS profitiert nun schaftsunion erweitert werden. Momentan finden dazu von günstigen Preisen, welche Russland ausschliesslich Konsultationen statt. geopolitischen Alliierten gewährt. 47 Russland nutzte nicht zuletzt Privatisierungspro- Seit dem Einstieg in den Ölsektor sind weitere rus- gramme im Energiebereich, um wirtschaftlich Fuss in sische Investitionen jedoch weitgehend ausgeblieben. Serbien zu fassen. 2003 erwarb die russische Lukoil für 117 Die politische Führung der RS ist aber daran interessiert, Mio. Euro 79.5% des serbischen Ölunternehmens Beopet- die wirtschaftlichen Beziehungen mit Russland weiter rol und dessen Verteilnetz. 2008 sicherte sich Gazprom auszubauen. Das Wirtschaftswachstum soll vor allem im für 400 Mio. Euro 51% der Anteile am staatlichen serbi- Energiebereich vorangetrieben werden, die RS ist etwa an schen Öl- und Gasunternehmen Naftna Industrija Srbjie russischen Investitionen im Wasserkraftbereich interes- (NIS), das damals 17% des serbischen BIPs erwirtschafte- siert. Eine vertiefte Zusammenarbeit wird zudem in der te. Heute besitzt Gazprom 56% der Anteile. Einigen Quel- Landwirtschaft angestrebt, wobei die RS bereits jetzt vor len zufolge waren die Bedingungen des Kaufs sehr güns- allem landwirtschaftliche Produkte nach Russland lie- tig, es ist die Rede von einem Fünftel des eigentlichen fert. 48 Russland seinerseits exportiert in erster Linie Öl Marktwertes. Russland verpflichtete sich im Gegenzug zu und Gas nach Bosnien. 49 2014/2015 wuchs die Handelsbi- Investitionen in die Modernisierung der serbischen Ener- lanz zwischen Bosnien und Russland um 40%, was vor al- gieinfrastruktur, die noch unter den Zerstörungen der lem auf die EU-Sanktionen zurückzuführen ist. 2016 war NATO-Intervention 1999 litt. Seit dem Jahr 2000 haben Russland jedoch immer noch lediglich der viertgrösste russische Firmen rund 20 Mrd. Dollar in den serbischen Handelspartner der RS nach Serbien, Italien und Deutsch- Energiebereich investiert und eine intensive Ausbeutung land. der serbischen Öl- und Gasfelder initiiert. Mehrmals wurde in den vergangenen Jahren auch 80% des serbischen Gasbedarfs werden heute aus über russische Darlehen verhandelt, welche die Verringe- Russland gedeckt. Zu beachten ist aber, dass Gas lediglich rung der Abhängigkeit von Geldern westlich dominierter 4% des gesamten Energieverbrauchs Serbiens bildet. 19% Finanzorganisationen, insbesondere des Internationalen davon werden von NIS in Serbien gefördert und zur Ver- Währungsfonds (IWF), ermöglichen würden. Diese Pläne fügung gestellt, der Rest wird von Gazprom bezogen. 43 zerschlugen sich jedoch, die Darlehen kamen entweder Beim Kauf von NIS durch Gazprom wird davon ausgegan- nicht zustande oder reichten nur für eine beschränkte gen, dass der politische Kontext der Kosovo-Frage rele- Zeit. 2016 erhielt Bosnien nach zwei Jahren Unterbruch vant war und es zu einer Vermischung von politischen wieder ein IWF-Darlehen, nachdem auch die RS die ver- und wirtschaftlichen Interessen kam. Die Zusicherung langten Arbeitsrechtreformen umgesetzt hatte. Der neue russischer Unterstützung hinsichtlich Kosovos sei mit der Kredit ist nicht zuletzt ein Zeichen dafür, dass eine enge serbischen Zustimmung zu diesem Handel geschehen. 44 Anbindung an Russland in diesem Bereich unrealistisch Die Verquickung von wirtschaftlichen und politi- ist.50 schen Interessen scheint auch auf persönlicher Ebene re- Darüber hinaus ist Russland im Bankensektor der levant zu sein. Russland verfügt über lokale Vertrauens- RS und Serbiens präsent, allerdings auf vergleichsweise leute, die es für seine Interessen einspannen kann. Beispielsweise ist der Direktor der staatlichen Gasunter- 46 LSEE Research on South Eastern Europe & SEESOX South East European Studies at Oxford, Russia in the Balkans. Conference Report, 13.03.2015. nehmung Srbijagas zugleich Parlamentsabgeordneter 47 Gazprom Export, Gazprom Export signs gas supply contract with the der russlandfreundlichen Koalitionspartei SPS. 45 Republika Srpska (a part of Bosnia and Herzegovina), 27.02.2015. 48 The Ministry of Foreign Affairs of the Russian Federation, Foreign Minister Sergey Lavrov replies to a media question about the results of his talks 42 National Bank of Serbia, Annual Monetary Policy Report 2015, Juni 2016; with Milorad Dodik, President of the Republika Srpska (Bosnia and Her- Statistical Office of the Republic of Serbia, Statistical Pocketbook of the zegovina), St Petersburg, 19.06.2015. Republic Of Serbia 2017, Belgrad 2017, S. 66. 49 Rodolfo Toe, Bosnian Serbs Woo Investors from Russia, in: Balkan Insight, 43 International Comparative Legal Guides, Serbia. Oil & Gas Regulation 31.03.2016; Republika Srpska. Institute of Statistics, External Trade Statis- 2017, 04.01.2017. tics. Preliminary Data, 30.01.2017. 44 Stratfor, Serbia, Russia: The Best Deal for a Cash-Strapped Belgrade, 50 International Monetary Fund, IMF Executive Board Approves Three-Year 24.12.2008. €553.3 Million Extended Arrangement under EFF for Bosnia and Her- 45 Conley et al., Kremlin Playbook, S. 7 und S. 59. zegovina, 07.09.2016. 12
CSS STUDIE Der Westbalkan zwischen Russland und der EU bescheidenem Niveau. Hier ist die staatlich-russische scher Hand. Zudem stammt ein Viertel aller Touristen im Sberbank seit 2011, als sie den Osteuropa-Zweig der Volks- Adriastaat, 2015 waren es 298‘000 Besucher, aus Russ- bank International für 600 Mio. Euro aufkaufte, ein wich- land. Rund 7000 Russen haben überdies ihren Wohnsitz tiger Akteur in Serbien und Bosnien-Herzegowina. Seit in Montenegro (Gemäss Volkszählung 2013: 621‘383 Ein- 2003 hat die Sberbank in Serbien 33 Niederlassungen er- wohner). Die russischen Versuche, die wirtschaftliche öffnet. Auch die Bank of Moscow ist seit 2008 im serbi- Verflechtung in politischen Einfluss auf die montenegri- schen Markt präsent, seit 2013 unter dem Namen VTB Bel- nische Regierung umzumünzen, schlugen jedoch fehl, grad. 2016 kaufte die zwar tschechische, aber dem wie zuletzt der NATO-Beitritt Montenegros zeigte.56 russischen Geschäftsmann Igor Kim gehörende Expo- Perspektiven für einen Ausbau der Wirtschaftsbe- bank die serbische Marvin Bank. Ferner soll die ebenfalls ziehung zwischen der Region und Russland bietet even- russische Expobank bald Geschäfte in Serbien aufneh- tuell der Chemiebereich. So eröffnete bereits 2012 das men.51 Im Zuge der EU-Sanktionen wurden sowohl das russische Pharmazeutik-Unternehmen Protek eine neue Energieunternehmen NIS als auch die Sberbank Serbien Fabrik in Mazedonien, wo Russland ansonsten wirtschaft- und die VTB Belgrad mit Sanktionen belegt, da sie mit lich noch nicht Fuss gefasst hat. Die serbischen Firmen russischem Kapital operieren.52 Hemofarm (Pharma) und Sintelon (synthetische Stoffe) Russland hat überdies Serbien 2013 ein 800 Mio. verfügen über Geschäftsinteressen in Russland.57 Dollar-Darlehen gewährt, das für die Modernisierung des Auch der Energiebereich wird immer wieder ge- serbischen Schienennetzes vorgesehen ist. Die Nut- nannt, wenn es um den Ausbau der wirtschaftlichen Be- zungsfrist für das Darlehen wurde im Dezember 2016 bis ziehung des Westbalkans zu Russland geht. Der Abbruch ins Jahr 2021 verlängert.53 des South Stream-Projekts 2014 galt als schwerer Schlag, Die wirtschaftliche Präsenz Russlands in Monte- das Pipeline-Projekt spielte eine wichtige Rolle in der Visi- negro unterscheidet sich von derjenigen in Serbien und on künftiger Beziehungen zur Region. Die Entscheidung der RS. Montenegro ist das einzige Land des Westbalkans, zum Abbruch des Projekts wurde im Zuge von Einwänden in dem russische Investitionen in den letzten Jahren von der EU gegen die Auftragsvergabe in Bulgarien und der quantitativer Bedeutung waren. Russland hat aber weder Einführung der Sanktionen getroffen. In Serbien und Bul- in den Finanz- noch in den Energiesektor investiert. Die garien soll nun gar bis 2019 ein Pipelineprojekt vorange- Investitionen in Montenegro sind auf den Immobilienbe- trieben werden, das die Abhängigkeit von Russland redu- reich und nicht auf strategische Sektoren konzentriert. zieren würde.58 Russland und die Türkei besiegelten im Aus diesem Grund sind die Investitionen auch weniger Oktober 2016 das Projekt Turkish Stream, welches die stra- staatsnah als etwa in Serbien. Die Statistik zeigt zudem, tegische Funktion von South Stream einnehmen soll. Rus- dass russische Investitionen seit 2014 nicht mehr an der sisches Gas soll durch das Schwarze Meer in die Türkei Spitze der Rangliste liegen. 2015 und 2016 wurde aus Ös- anstatt nach Bulgarien gelangen. Die Pipeline soll der terreich und Norwegen mehr investiert.54 Auch in Monte- Versorgung der Westtürkei dienen, jedoch auch Gas via negro fasste Russland Mitte der 2000er-Jahre im Zuge Westbalkan Richtung Zentraleuropa transportieren und von Privatisierungen wirtschaftlich Fuss. Die heutige rus- somit den Gastransit durch die Ukraine ersetzen. Für die sische Central European Aluminum Company (CEAC), ein Staaten des Westbalkans ist dabei wie bereits im Falle Zweig der russischen En+ Grouper, erwarb 2005 das Kom- von South Stream ihre potenzielle Rolle als Transitstaaten binat Alumina Podgorica (KAP) und Bauxit-Minen für ins- von Interesse. Transitgebühren garantieren hohe Ein- gesamt rund 57.5 Mio. Euro. Die KAP war damals für 12% künfte ohne grosse Eigenleistung.59 Die europäische Inte- des montenegrinischen BIPs verantwortlich, die Privati- gration könnte mit Blick auf den Energiebereich jedoch sierung dementsprechend umstritten. Beteiligt waren zu einem Hindernis für eine Intensivierung der Beziehun- auf russischer Seite der Geschäftsmann Oleg Deripaska, gen werden. Das Sekretariat der Europäischen Energiege- auf montenegrinischer Seite verhandelte der damalige meinschaft sandte vor kurzem einen Brief an die serbi- Premier Milo Djukanovic.55 sche Regierung, wonach sie die Einhaltung von Verträgen Insgesamt befindet sich gemäss Schätzungen ein im Energiesektor verfehle. Insbesondere ein Abkommen Drittel der montenegrinischen Unternehmen in russi- zwischen Gazprom und seinem serbischen Gegenpart sei 51 Stevan Veljovic, Buy-Ups Shake up Serbia’s Banking Sector, in: Balkan Insight, 17.02.2017. 52 Ministry of Foreign Affairs of the Russian Federation, Foreign Minister Sergey Lavrov’s remarks and answers to media questions at a joint news 56 Dusica Tomovic, Putin’s Party to Foster Ties With Montenegro, in: Balkan conference following talks with First Deputy Prime Minister and Minister Insight, 11.04.2016; Clark/Foxall, Russia’s Role in the Balkans, S. 9 – 10. of Foreign Affairs of the Republic of Serbia Ivica Dacic, 12.12.2016. 57 Pivovarenko, Modern Russia in the Modern Balkans. 53 Andrew Byrne, Serbia Caught between Russia and the West, in: Financial 58 Mariya Cheresheva, Maja Zivanovic, Bulgaria, Serbia Voice High Hopes Times, 03.12.2014. About Gas Pipeline, in: Balkan Insight, 20.01.2017. 54 Central Bank of Montenegro, Balance of payments of Montenegro in 59 Putin und Erdoğan besiegeln Gaspipeline-Deal, in: Zeit online, 11.10.2016; accordance with BPM6 (2010 – 2016), 22.02.2017. Alexej Lossan, Turkish Stream: Was bringt die neue Pipeline?, in: Russia 55 Montenegro – Russia Relations, in: globalsecurity.org. Beyond the Headlines, 12.10.2016. 13
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