Das Diphtherie-Serum und der Fall Langerhans1 - Axel C. Hüntelmann
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Das Diphtherie-Serum und der Fall Langerhans 1 Axel C. Hüntelmann Summary The Anti-Diphtheria Serum and the Case of Langerhans An eighteen-month old boy called Ernst Langerhans died shortly after being injected with a prophylactic dose of anti-diphtheria serum in April 1896. The father, a well-known pathologist in Berlin, claimed, in the obituary notice, that his son had been poisoned by Behring’s anti-diphtheria serum. This paper describes the tragic events of Spring 1896: the death of Ernst Langerhans, the official investigations that followed as well as the reactions Open Access Download von der Verlag Österreich eLibrary am 04.06.2022 um 20:28 Uhr in the daily newspapers and the medical journals. The death of Ernst Langerhans afforded the opponents of the new serotherapy an opportunity to call into question the whole im- munological concept. Supporters of the serotherapy, in turn, defended it against these at- tacks. The spectacular nature of Ernst Langerhans’s death combined with the fact that he came from a prominent family of physicians made the event a public scandal. The tuber- culine affair which had happened only a few years earlier was another reason for the pub- lic concern. Finally, the “Langerhans case” was a scandal because of the way in which Robert Langerhans published the death notice also causing resentment within the scientific community. Indeed, the publication of the accusation was one of the reasons why the “Langerhans case” failed to provoke a crisis with respect to the new therapy, as the central argument was displaced onto wider ethical questions. Furthermore, the medical admin- istration had learned from the tuberculine affair, and had subsequently implemented a large confidence-inspiring system of quality control. The “official” cause of death, follow- ing the investigations into the case, was proclaimed to be an accident; a tragic piece of bad luck. 1 Dieser Aufsatz ist im Rahmen des DFG Projektes »Industrialisierung experimentellen Wissens« – DFG HE 2220/4-1 und 2 – entstanden. Für Diskussionen und Anregun- gen danke ich Christoph Gradmann, Anne I. Hardy, Volker Hess und Jonathan Si- mon. MedGG 24 2005, S. 71-104 Franz Steiner Verlag Wiesbaden GmbH, Sitz Stuttgart Franz Steiner Verlag
72 Axel C. Hüntelmann Open Access Download von der Verlag Österreich eLibrary am 04.06.2022 um 20:28 Uhr Aufgeschreckt durch die Todesanzeige der Familie Langerhans, war im Frühjahr 1896 der ›Fall Langerhans‹ Thema in deutschen Tageszeitungen und medizinischen Fachzeitschriften. Selten habe eine »Nachricht allgemei- nere Theilnahme erregt« und auch außerhalb ärztlicher Kreise große Beun- ruhigung hervorgerufen2 als die Anzeige »über den Tod des Kindes des Pro- fessor Langerhans in Berlin«.3 Da der Vater des verstorbenen Kindes selbst Mediziner sei und »Frau Prof. Langerhans als Tochter des bekannten Geh. Rath Gerhardt gleichfalls einer ärztlichen Familie entstammt, so wird diese Todesanzeige voraussichtlich zu neuen und sehr lebhaften Erörterungen über das Heilserum führen«4, prophezeiten die Berliner Neuesten Nachrichten. Der Tod von Ernst Langerhans war in der Tat der Auftakt zu einer öffentli- chen Debatte über das Diphtherie-Serum. Die Diskussion führte allerdings nicht zu einer nachhaltigen Krise des neuen Heilverfahrens. Statt dessen sollte die öffentliche Erörterung der staatlichen Sicherungsmaßnahmen, der administrativen Vorkehrungen zur Qualitätskontrolle und die als unabhän- gig auftretende Expertise der beteiligten Organe der Serumkontrolle dazu führen, daß die Skandalisierung des Zwischenfalles das neue Heilverfahren paradoxerweise gegen weitergehende Kritik zu immunisieren schien. Eine mögliche Deutung bietet das Flecksche Modell vom Denkstil. In dem folgenden Beitrag werden die Ereignisse geschildert, die den ›Fall Langerhans‹ in den Fokus der Öffentlichkeit gerückt hatten. Daran schließt sich eine Beschreibung der staatlichen Maßnahmen und der wissenschaftli- chen Untersuchungen an, die nach dem Tod des Jungen eingeleitet worden waren. Nachfolgend werden die Reaktionen in der Presse und in der medi- zinischen Fachwelt dargestellt. Warum der Tod des Kindes Ernst Langer- hans zu einem Skandalon werden konnte, wird im darauf folgenden Kapitel analysiert. Abschließend soll dargelegt werden, warum der Skandal nicht zu 2 National-Zeitung Nr. 254 vom 19.4.1896. 3 Frankfurter Zeitung Nr. 101 vom 11.4.1896. 4 Berliner Neueste Nachrichten Nr. 166 vom 10.4.1896. Franz Steiner Verlag
Das Diphtherie-Serum und der Fall Langerhans 73 einer Krise der Serumtherapie führte, sondern letztlich das Vertrauen in das Diphtherie-Serum sogar stärkte. Die »Vergiftung« des kleinen Ernst Langerhans durch Behringsches Diphtherie-Heilserum Während der Osterfeiertage im April 1896 klagte die Köchin der Familie Langerhans über heftige Halsschmerzen. Als die Beschwerden am nächsten Tag noch nicht abgeklungen waren, schickte Robert Langerhans (1859- 1904) die Hausangestellte in das Städtische Krankenhaus Moabit, an dem er selbst als Prosektor tätig war.5 Während der aufnehmende Arzt das Mädchen gleich in die Diphtherie-Baracke überwies, konstatierte der dorti- Open Access Download von der Verlag Österreich eLibrary am 04.06.2022 um 20:28 Uhr ge Mediziner, daß das Mädchen nicht an Diphtheritis erkrankt sei. Die hin- zugezogenen leitenden Ärzte Rudolf Renvers (1854-1909)6 und Alfred Goldschneider (1858-1935)7 hielten die Halserkrankung allerdings für so dubios, daß sie ihrem Kollegen Robert Langerhans nahe legten, seinen Sohn Ernst und seine Tochter prophylaktisch mit Diphtherie-Serum zu immunisieren.8 Die beiden Kinder zeigten bislang keine Anzeichen einer Diphtherie-Erkrankung, Ernst wurde als gesund und kräftig beschrieben.9 Robert Langerhans hatte im Jahr zuvor bereits zwei seiner Kinder in Folge einer Diphtherie-Erkrankung verloren und beherzigte daher den Rat seiner Kollegen. Er entnahm der Apotheke des Krankenhauses ein Quantum Se- rum10, um nach seiner Rückkehr – trotz des »heftigen Widerstrebens der Mutter«11 – die Injektion an seinen Kindern selber durchzuführen. Auch das jüngste Kind der Familie, eine drei Monate alte Tochter, sollte »durch das Heilserum geschützt werden«. Die Mutter indes, Anna Langerhans, konnte sich »bei einem so jungen Kinde dazu nicht entschließen, sodaß die Einspritzung unterblieb.«12 Dem anderthalb Jahre alten Ernst spritzte der Vater gegen sechs Uhr abends etwa 1,2 Kubikzentimeter Serum in eine Fal- te der Bauchhaut. »Während der Einspritzung war das Kind unruhig; es 5 Neue Preußische Zeitung Nr. 177 vom 16.4.1896. 6 Renvers war Ärztlicher Direktor der I. Inneren Abteilung im Städtischen Kranken- haus Moabit. Vgl. Stürzbecher (1997), S. 33f., das Personal des Krankenhauses auf S. 103-106, hier S. 103. 7 Goldschneider war dirigierender Arzt der II. Inneren Abteilung im Städtischen Kran- kenhaus Moabit. Vgl. Stürzbecher (1997), S. 34f., 103. 8 Vgl. hierzu die Zeitungsartikel im BAB, R 86/1182, sowie R 86/2886 und im GStA PK, 1. HA, Rep. 76 VIII B, Nr. 3750. 9 Berliner Neueste Nachrichten Nr. 166 vom 10.4.1896; National-Zeitung Nr. 254 vom 19.4.1896. 10 Berliner Lokal-Anzeiger Nr. 167 vom 10.4.1896. 11 Neue Preußische Zeitung Nr. 177 vom 16.4.1896. 12 Alle Zitate aus: Berliner Neueste Nachrichten Nr. 170 vom 11.4.1896. Franz Steiner Verlag
74 Axel C. Hüntelmann wehrte sich kräftig und rief wiederholt: ›Aua Papa! Aua Papa!‹«13 Der Jun- ge habe sich jedoch rasch beruhigen lassen und keine besonderen Sympto- me aufgewiesen. Nach fünf Minuten habe er indes eine deutliche Unruhe gezeigt und »in völlig fremder Weise« geschrieen. Alle Ablenkungsversuche seien fehlgeschlagen. Nach mehreren heftigen Hustenanfällen sei das Kind matt und zuerst blaß geworden, später dann dunkel zyanotisch, das Gesicht war aufgedunsen und die Pupillen erweitert. Feinblasiger Schaum sei aus Mund und Nase getreten. Etwa zehn Minuten nach der von seinem Vater vorgenommenen Einspritzung des Serums verstarb das Kind unter leichten Zuckungen. Ein zuvor verabreichter Löffel Tokayer-Wein und die »schnell angewandte Camphor-Aether-Injectionen« zeigten keinen Erfolg mehr. Auch die »lange fortgesetzte künstliche Athmung« konnte den Jungen nicht Open Access Download von der Verlag Österreich eLibrary am 04.06.2022 um 20:28 Uhr mehr ins Leben zurückholen.14 Nach dem Tod des Jungen wurde das Fläschchen mit dem Rest des Serums versiegelt, um es der Staatsanwaltschaft zu übergeben. Diese wurde einge- schaltet, um zu ermitteln, ob das Serum vielleicht verdorben war. »Selbst- verständlich wird die Angelegenheit bis zu ihrer endgiltigen Klarstellung als Strafsache behandelt.«15 In einer Depesche an seinen Vater und seine nächsten Angehörigen schrieb Robert Langerhans, sein Sohn sei vergiftet worden.16 Aufklärung im »Interesse der Wissenschaft« – Die Ergebnisse der »eingeleiteten amtlichen und wissenschaftlichen Untersuchungen«17 Das der Staatsanwaltschaft übergebene Fläschchen mit Diphtherie-Serum wurde bereits am folgenden Tag untersucht. In der vorläufigen amtlichen Analyse konnte keine »abnormale Zusammensetzung gefunden« oder eine veränderte Beschaffenheit des Serums18, d. h. eine Trübung, die auf einen erhöhten Eiweißgehalt des Serums hinweisen würde, festgestellt werden. Eine im Auftrag von Robert Langerhans vorgenommene chemische Analy- se habe jedoch ergeben, »daß in dem Heilserum sich ein außerordentlich 13 Vgl. das Obduktionsgutachten des gerichtlichen Physikus Strassmann (1896), S. 516. Die Obduktion wurde am 10. April 1896 vorgenommen. Robert Langerhans war vor der Obduktion anwesend und hatte den obduzierenden Ärzten die näheren Todesum- stände geschildert. Vgl. Strassmann (1896), S. 518. Dort auch alle nachfolgenden Zita- te. 14 Strassmann (1896), S. 518. 15 Vossische Zeitung vom 10.4.1896; Berliner Neueste Nachrichten Nr. 166 vom 10.4.1896. 16 Berliner Lokal-Anzeiger Nr. 167 vom 10.4.1896. Der ›Fall Langerhans‹ wird sehr plastisch und anekdotisch auch bei Jaeckel (2001), S. 595-600, geschildert. Die Dar- stellung weist jedoch eine Vielzahl sachlicher Fehler auf. 17 Die Zitate aus der National-Zeitung Nr. 254 vom 19.4.1896. 18 Berliner Neueste Nachrichten Nr. 170 vom 11.4.1896. Franz Steiner Verlag
Das Diphtherie-Serum und der Fall Langerhans 75 starkes Quantum Karbol befand, was also im Widerspruch mit dem oben mitgetheilten Befunde stehen würde«.19 Zur weiteren Klärung der Todesursache wurden der Gerichtschemiker Dr. C. Bischoff mit der chemischen Untersuchung und der »Vorsteher der amt- lichen Kontrolstation für Heilserum«, Professor Dr. Paul Ehrlich (1854- 1915), mit der bakteriologischen Untersuchung des Blutes und des Serums beauftragt. Sowohl die chemische Zusammensetzung des Serums als auch des Blutes habe keine abnorme Beschaffenheit gezeigt.20 Der Karbolgehalt des Serums habe sich auf 0,3692 Prozent des Serums berechnen lassen. Ein Tierversuch bestätigte die Ergebnisse.21 Die Leiche des Knaben Langerhans wurde von der Staatsanwaltschaft be- Open Access Download von der Verlag Österreich eLibrary am 04.06.2022 um 20:28 Uhr schlagnahmt und in die Berliner Morgue verbracht, wo sie gerichtsärztlich untersucht wurde. Die Obduktion der Leiche wurde von dem gerichtlichen Physikus Professor Dr. Fritz Strassmann (1858-1940) – »gemeinsam mit Herrn Collegen Mittenzweig – im Auftrage des Herrn Ersten Staatsanwalts beim hiesigen Landgericht« vorgenommen.22 Das Protokoll der Sektion wurde an die Staatsanwaltschaft gesandt und das Resultat – Todesursache »unbestimmbar« – vorab veröffentlicht. Am 28. Mai wurde das gerichts- medizinische Gutachten zur Publikation freigegeben. Nach der Schilderung des Todesfalles und dem Sektionsprotokoll schloß der Gerichtsarzt Strass- mann unter Bezug auf die Berichte von Dr. Bischoff und Paul Ehrlich aus, daß Ernst Langerhans an Diphtherie oder dem Serum gestorben sein könn- te. Nach der Diskussion aller in Betracht kommenden Todesursachen ka- men die obduzierenden Ärzte zu dem Ergebnis, daß der Tod des Kindes »durch Erstickung infolge Aspiration erbrochenen Mageninhalts in die Luftwege« eingetreten sei. Die Hustenanfälle, der Schaum vor Mund und Nase, die erweiterten Pupillen, die Zyanose und nicht zuletzt der in den Lungen sich befindliche reichliche Mageninhalt deuteten darauf hin.23 »Man mag nun diese unsere Annahme bezüglich der Todesursache für ge- nügend begründet oder mag man eine andere Todesursache für plausibler halten, etwa eine Vergiftung in Folge ›Idiosyncrasie‹ des Kindes gegenüber den normalen Bestandtheilen des Serums«, heißt es in dem Gutachten. Be- züglich der die Staatsanwaltschaft interessierenden Frage, ob ein strafbares Verschulden vorliege, könne jedenfalls ein eindeutiges fachliches Urteil ge- fällt werden. Die Gerichtsmediziner hielten die fehlerfreie Beschaffenheit des Serums für erwiesen, ebenso könnten die für die Prüfung des Serums sich verantwortlich zeichnenden Personen nicht zur Rechenschaft gezogen wer- 19 Berliner Neueste Nachrichten Nr. 170 vom 11.4.1896. 20 Kurz erwähnt in der National-Zeitung Nr. 254 vom 19.4.1896. 21 Die Ergebnisse und der Versuch wurden publiziert in: Strassmann (1896), S. 517. 22 Strassmann (1896), S. 516. 23 Strassmann (1896), S. 518. Franz Steiner Verlag
76 Axel C. Hüntelmann den. Schließlich könne auch dem Vater des Kindes als behandelndem Arzt kein Vorwurf gemacht werden, da bei der Injektion des Serums keine Luft in die Blutbahn gelangt sei. Strafrechtlich erscheine der Tod des Kindes »als ein unglücklicher Zufall, der nicht vorauszusehen war und für den deshalb Niemand verantwortlich gemacht werden kann.«24 Das nach Aufforderung des preußischen Kultusministeriums erstellte amtli- che Gutachten von Paul Ehrlich kam zu dem Schluß, daß das dem Knaben injizierte Serum als »ein den bestehenden Vorschriften vollständig entspre- chendes Präparat von durchaus normaler Beschaffenheit bezeichnet wer- den« kann.25 Ehrlich sah sich zu der Veröffentlichung seines Gutachtens veranlaßt, war doch die Kontrollstation selbst in das Kreuzfeuer der Kritik Open Access Download von der Verlag Österreich eLibrary am 04.06.2022 um 20:28 Uhr geraten. So war von verschiedenen Seiten die Frage aufgeworfen worden, »in welcher Weise die Controlstation für Diphtherie-Serum functionire und ob durch die staatliche Controle ausreichende Garantien für die Zuverläs- sigkeit des Präparates geboten seien«.26 Nach Darlegung der die staatliche Kontrolle des Diphtherie-Serums regeln- den gesetzlichen Grundlagen und der Schilderung der Arbeitsweise der Kontrollstation ging Paul Ehrlich auf den ›Fall Langerhans‹ ein. Das Cor- pus delicti – jenes am 7. April im Haus Langerhans injizierte Heilserum – wurde auf vier Ebenen geprüft. Auf der ersten Ebene war das mit dem Tod des Jungen in Verbindung gebrachte und im Originalfläschchen verbliebe- ne Rest-Serum bereits von dem Gerichtschemiker Dr. Bischoff untersucht worden.27 Auf der zweiten Ebene wurde das Fläschchen mit dem Serum identifiziert und einem Verwaltungsakt in der Kontrollstation zugewiesen sowie die ordnungsgemäße Prüfung konstatiert: Das Fläschchen sei in den Höchster Farbwerken hergestellt und mit der Kontrollnummer 216 gekenn- zeichnet worden. Die Charge 216 wurde am 16. Dezember 1895 amtlich auf ihren Wirkungsgrad und auf Keimfreiheit hin untersucht. Das Serum habe dem angegebenen Wert von einhundert Immunisierungseinheiten je Kubikzentimeter entsprochen, sei vollkommen steril gewesen und habe den vorschriftsmäßigen Gehalt an Karbolsäure aufgewiesen. Nach der erfolgten Prüfung habe man das Serum am 18. Dezember zum Vertrieb freigege- ben.28 Auf der dritten Ebene wurden die Rückstellmuster der Charge 216 nach Bekanntgabe des Todesfalles in der Kontrollstation einer »eingehenden 24 Alle vorangehenden Zitate und Paraphrasierungen aus: Strassmann (1896), passim. 25 Vgl. Ehrlich (1896). Das Gutachten wurde teilweise wiedergegeben und kommentiert in der National-Zeitung Nr. 321 vom 17.5.1896; in der Frankfurter Zeitung Nr. 139 vom 19.5.1896; in der Neuen Preußischen Zeitung Nr. 231 vom 19.5.1896; und in der Ärztlichen Sachverständigen Zeitung Nr. 11 vom 1.6.1896. 26 Ehrlich (1896), S. 441. 27 Strassmann (1896), S. 517. 28 Ehrlich (1896), S. 442. Franz Steiner Verlag
Das Diphtherie-Serum und der Fall Langerhans 77 Nachprüfung unterzogen«. Darüber hinaus wurden aus dem Depot der Charité-Apotheke, aus der Robert Langerhans über die Apotheke des Krankenhauses Moabit das Heilserum bezogen hatte, weitere Fläschchen mit der gleichen Kontrollnummer entnommen und einer Analyse unterzo- gen. Alle untersuchten Sera wiesen nach wie vor den angegebenen Sollwert an Immunisierungseinheiten auf. Die bakteriologische Analyse stellte die Keimfreiheit fest, so daß eine »nachträgliche Bildung etwaiger giftiger Bac- terienproducte ganz ausgeschlossen ist«. Auch war der Karbolgehalt nicht höher als erlaubt. Die Ergebnisse wurden durch eine Reihe von Tierversu- chen bestätigt.29 Auf der letzten Untersuchungsebene wurden mit detektivischem Gespür Open Access Download von der Verlag Österreich eLibrary am 04.06.2022 um 20:28 Uhr Nachforschungen über den Verbleib der aus der gleichen Charge stam- menden 1.300 Portionen des Serums angestellt. Bis zu dem Todesfall hatte Paul Ehrlich von keiner Seite Hinweise auf eine besondere Schädlichkeit des Serums mit der Nummer 216 erhalten. Bei der Verwendung der an die Krankenhäuser in Berlin, Würzburg, Hamburg, Kiel, Magdeburg und Kre- feld abgegebenen Sera seien keine toxischen Wirkungen beobachtet wor- den. Einem anderthalbjährigen Jungen seien sogar 16 Kubikzentimeter Se- rum der Kontrollnummer 216 injiziert worden, ohne daß dieser »irgend- welche bedrohlichen Erscheinungen« gezeigt habe. Den Direktor des Ham- burger Krankenhauses zitierend, beendete Ehrlich seinen Bericht mit den Worten: »Irgend welche üble Nachwirkung ist nicht nur nicht beobachtet, sondern auch mit aller Sicherheit auszuschliessen.«30 Todesursachen Im Laufe der hitzig geführten Diskussion wurden verschiedene Todesursa- chen erörtert. Erstens wurde als Todesursache die »Vergiftung« durch das Behringsche Heilserum angenommen. Diese Vermutung richtete sich einer- seits ganz grundsätzlich gegen die Serumtherapie. Die todbringende Gefahr einer Vergiftung durch Heilserum sollte durch die Anführung ungeklärter Todesfälle untermauert werden.31 Andererseits wurde die Vergiftung konk- ret durch das Fläschchen mit der Kontrollnummer 216 in Betracht gezogen. So mutmaßte Ludwig Brieger (1849-1919), »einer unserer hervorragendsten und bekanntesten Berliner Bakteriologen«, der Todesfall könne durch ver- dorbenes Serum hervorgerufen worden sein.32 Zweitens rankten sich die Überlegungen zur Todesursache um den Karbo- lanteil des Serums. Auch hier könnte man unterscheiden, inwieweit sich die Überlegung gegen den Karbolgehalt im Serum allgemein als schädlich rich- 29 Alle vorangehenden Zitate aus: Ehrlich (1896), S. 442. 30 Alle vorangehenden Zitate aus: Ehrlich (1896), S. 442 f. 31 Vgl. Berliner Neueste Nachrichten vom 11.4.1896. 32 Brieger wurde zitiert im Berliner Lokal-Anzeiger Nr. 167 vom 10.4.1896. Franz Steiner Verlag
78 Axel C. Hüntelmann teten33 und man diesen gegen den im französischen Serum verwendeten Kampfer austauschen sollte34, oder ob der Karbolgehalt in dem konkreten Fläschchen erhöht gewesen sein könnte. Die Feststellung von Robert Langerhans, die im Fläschchen verbliebenen Reste des Serums wiesen einen erhöhten Karbolgehalt auf35 – wenngleich nicht ersichtlich wird, von wem die Untersuchung ausgeführt wurde und woher Robert Langerhans das Se- rum bezogen hat, da doch das Corpus delicti versiegelt und dem Staatsan- walt übergeben worden war – zielte auf die letztgenannte Mutmaßung als einer möglichen Todesursache ab. Drittens wurde ein Kunstfehler bei der Einspritzung in Betracht gezogen. Ein solcher Fehler läge vor, wenn der behandelnde Arzt die Injektion nicht Open Access Download von der Verlag Österreich eLibrary am 04.06.2022 um 20:28 Uhr in die Bindegewebshaut oder in Muskelfasern vorgenommen, sondern das Serum direkt in die Blutbahn gespritzt hätte. Letzteres würde indes keines- falls den Tod des Patienten nach sich ziehen.36 Weiterhin wurde erwogen, Robert Langerhans habe die Einspritzung zu tief vorgenommen und ein lebenswichtiges Organ getroffen, was zum Tod seines Sohnes geführt haben könnte.37 Nachdem die naheliegenden möglichen Todesursachen durch die ersten amtlichen Untersuchungen und die Obduktion ausgeschlossen worden wa- ren, mutmaßte die National-Zeitung, einen Artikel von Professor Johann N. von Nußbaum (1829-1890) aus München über »Unglücke in der Chirurgie« zitierend, der Tod könnte in Folge der durch die Einspritzung verursachten Aufregung eingetreten sein. Professor Nußbaum hatte aus eigener Erfahrung von Todesfällen berichtet, die während der Operation aufgrund von Angst, Schrecken und Schmerz eingetreten seien. Da das Kind »aufgeregt und ver- ängstigt gewesen sein« soll, und die Einspritzung des Serums keineswegs als 33 Die National-Zeitung Nr. 254 vom 19.4.1896 erörterte diese Möglichkeit in einem Absatz. 34 Vgl. hierzu einen Artikel aus der Neuen Preußischen Zeitung Nr. 580 vom 12.12.1894, in dem über die auf den Karbolgehalt zurückgeführten Nebenwirkungen berichtet wurde. Mit dem Hinweis, daß man in Frankreich Kampfer verwende, be- gründete man die Tatsache, daß dort keine Nebenwirkungen bekannt seien. Kampfer galt als besser verträglich, wirkte jedoch weniger konservierend. Ebenso verwandte die Hamburger Firma Ruete & Enoch bei der Aufbereitung des Serums Kampfer. Vgl. die Analysen von Adolf Dieudonné und Richard J. Petri im Kaiserlichen Gesundheitsamt im März und im Juli 1895, BAB R 86/1182. 35 Berliner Neueste Nachrichten Nr. 170 vom 11.4.1896. 36 Erst die Einspritzung größerer Mengen Luft in die Blutbahn würde zu einer Lungen- embolie führen und den raschen Tod verursachen. 37 Die Vermutung eines sogenannten »Kunstfehlers« äußerte Eulenburg (1896), S. 255; das Berliner Tageblatt vom 10.4.1896; die Vermutung Briegers wurde kolportiert im Berliner Lokal-Anzeiger Nr. 167 vom 10.4.1896; so die Vermutung von Dr. M. J. in der Frankfurter Zeitung Nr. 101 vom 11.4.1896; fernerhin wurde diese Vermutung im Obduktionsbericht erörtert. Vgl. Strassmann (1896), S. 518. Franz Steiner Verlag
Das Diphtherie-Serum und der Fall Langerhans 79 schmerzlos bezeichnet werden könne, müsse man erwägen, ob Ernst Langerhans nicht in Folge einer Art »Choc«38 gestorben sei. In abgewandel- ter Form wurde diese Möglichkeit auch in dem Obduktionsbefund disku- tiert. Fritz Strassmann hatte in Betracht gezogen, ob sich aufgrund der Angst eine »tödtliche Herzlähmung« eingestellt haben oder ob infolge des Schmerzes respektive einer »Reizung bei der Injection getroffener peripherer Nerven ein reflectorischer, tödtlicher Stimmritzenkrampf« eingetreten sein könnte. Beide Möglichkeiten wurden durch den Obduktionsbefund ausge- schlossen.39 Rekurrierend auf einen Artikel seines verstorbenen Bruders Arnold Paltauf (1860-1893) verwies der Wiener Professor für Pathologie Richard Paltauf Open Access Download von der Verlag Österreich eLibrary am 04.06.2022 um 20:28 Uhr (1858-1924) auf eine weitere mögliche Todesursache. In den ersten Lebens- jahren sei der plötzliche Tod bei Kindern »überhaupt nicht so selten«. In den meisten Fällen hieße es, die Kinder seien bis kurz vor ihrem »plötzli- chen Absterben« völlig gesund gewesen. Richard Paltauf schloß nicht aus, daß es sich bei dem Tod des Jungen Langerhans auch um einen solchen Fall gehandelt haben könnte.40 Einzig das Obduktionsgutachten zog in einem Nebensatz in Erwägung, ob das Kind durch eine »Vergiftung in Folge ›Idiosyncrasie‹« gegenüber den normalen Bestandteilen des Serums gestorben sein könnte.41 In den Zei- tungsartikeln fand diese Todesursache keine Beachtung. Ebenso wenig wurde die amtlich festgestellte42 Todesursache in der Presse erörtert. Den Gerichtsmedizinern schien evident, daß Ernst Langerhans aufgrund einer »im Leben stattgehabte[n] Aspiration« von aus dem Magen nach oben ent- leerten Speisemassen erstickt sei. Es ist wohl begreiflich, dass unter diesen Umständen [der Magen war voll, das Kind hatte kurz zuvor etwas gegessen] im Anschluss an die Injection Uebelkeit, Erbrechen eintrat, und es ist nicht undenkbar, dass das Kind sich in Folge des Schmerzes in ei- nem halbohnmächtigen Zustand befand, daher die in den Rachen hochgebrachten Massen nicht auswarf, sondern in die Luftwege einathmete.43 38 Die vorhergehenden Zitate aus der National-Zeitung Nr. 254 vom 19.4.1896. 39 Strassmann (1896), S. 518. 40 Paltauf (1896), S. 297-299. 41 Strassmann (1896), S. 518. 42 Fest-Stellen im Sinne von: Aus der Vielzahl möglicher, mitunter vager »unbestimm- ter« Annahmen eine Todesursache fixieren – fest-stellen – die dann als amtliche Wahrheit definiert wird. Durch die Obduktion und das Gutachten wird die Todesur- sache mit allen daraus resultierenden rechtlichen Konsequenzen konstruiert und amt- lich legitimiert. 43 Strassmann (1896), S. 518. Franz Steiner Verlag
80 Axel C. Hüntelmann Letztlich sei der Tod des Kindes als ein unglücklicher Zufall zu betrach- ten.44 Meinungsträger Als schwerer Schicksalsschlag45, tragischer Unglücksfall46, tückischer Zu- fall47 wurde der Tod des Jungen Langerhans in der Presse dargestellt. Die Dramatik des Todesfalles und die Brisanz, die sich aus der prominenten Stellung der Eltern des Jungen ergab, erregten das öffentliche Interesse. Als Agenten dieser Öffentlichkeit bemächtigten sich die Tageszeitungen des Todesfalls und diskutierten den ›Fall Langerhans‹ lebhaft und kontrovers. Die durch die Todesanzeige publik gemachte Anschuldigung erschien Open Access Download von der Verlag Österreich eLibrary am 04.06.2022 um 20:28 Uhr reichsweit in der Vossischen Zeitung und wurde von vielen Tageszeitungen kolportiert.48 Daneben wurde der Vorfall in medizinischen Fachzeitschrif- ten erörtert49 und erregte auch internationale Aufmerksamkeit50. Die publi- zistische Debatte erstreckte sich über einen Zeitraum vom 9. April bis An- fang Juli 1896. Den Schlußpunkt bildete eine Replik des Vaters Robert Langerhans auf das gerichtliche Obduktionsgutachten, in der er die Obduk- tion zu dem Versuch einer »Ehrenrettung des Diphtherie-Serums«51 erklärte und an seiner Anklage »Tod durch Heilserum!« festhielt. 44 Strassmann (1896), S. 518. 45 Beispielsweise im Berliner Lokal-Anzeiger Nr. 167 vom 10.4.1896. 46 Beispielsweise in den Berliner Neuesten Nachrichten Nr. 170 vom 11.4.1896. 47 Eulenburg (1896), S. 257. 48 Vossische Zeitung vom 10.4.1896. Aufgegriffen wurde die Todesanzeige in den Berli- ner Neuesten Nachrichten und der Frankfurter Zeitung, siehe die Zeitungsausschnitte in BAB R 86/1182 und R 86/2886 sowie im GStA PK, 1. HA, Rep. 76 VIII B, Nr. 3750. Die Reaktion auf die Anzeige in der Vossischen Zeitung war immens. Der ›Fall Langerhans‹ wurde unter anderem in der Frankfurter Zeitung, in der National- Zeitung, in der Kölner Zeitung, in der Breslauer Zeitung und im Hannoverschen Cou- rier, in den Münchner Neuesten Nachrichten und den Berliner Neuesten Nachrichten, im Berliner Lokal-Anzeiger und in der Neuen Preußischen Zeitung diskutiert. Es ist davon auszugehen, daß der ›Fall Langerhans‹ von lokalen Zeitungen unter Berufung auf die reichsweiten Blätter kolportiert wurde. Zu den einzelnen Zeitungen vgl. die Bei- träge in Fischer (1972); ferner Koszyk (1966); Oschilewski (1975); Stöber (2000). 49 In der Berliner Klinischen Wochenschrift, der Deutschen Medizinischen Wochen- schrift, der Münchener Medizinischen Wochenschrift, den Therapeutischen Monats- heften, der Vierteljahrsschrift für gerichtliche Medizin und der Wiener Klinischen Wochenschrift. 50 A. Seibert/F. Schwyzer: The cause of sudden death after antitoxine injections. In: New York Medical Journal vom 30.5.1896. Es handelte sich um den Abdruck einer am 26.5.1896 vor der American Paedriatic Society in Montreal gehaltenen Rede, wo der Tod von Ernst Langerhans thematisiert wurde. 51 Vgl. Langerhans (1896), S. 603f., unter Bezug auf einen Artikel in der Kölnischen Zeitung vom 3.5.1896. Franz Steiner Verlag
Das Diphtherie-Serum und der Fall Langerhans 81 Bezogen auf den ›Fall Langerhans‹ kann man feststellen, daß sich eine deut- liche Trennlinie zwischen Pro und Kontra nur schwer ziehen läßt. Nahezu alle Zeitungen zeigten Anteilnahme an dem Schicksal der Familie Langer- hans. Das Behringsche Heilserum dagegen schied die Geister in Befürworter und Gegner, wenngleich erstere überwogen. Gegen das Heilserum bezogen in den ersten Tagen die Vossische Zeitung und die Berliner Neuesten Nachrichten Stellung. Alle anderen Zeitungen verteidigten die Verwendung des Heilse- rums, forderten eine »leidenschaftslose« Debatte und gaben ihrer Hoffnung Ausdruck, daß ihre »Zeilen dazu beitragen, beruhigend zu wirken!«52 Die Berichterstattung in den Fachblättern war entsprechend ihrem Leserkreis nicht ganz so vielfältig. Den Befürwortern der Serumtherapie diente die Deutsche Medizinische Wochenschrift als Sprachrohr. Die Gegner artikulierten Open Access Download von der Verlag Österreich eLibrary am 04.06.2022 um 20:28 Uhr sich über ihre Beiträge in den Therapeutischen Monatsheften. Ein Forum boten auch die verschiedenen medizinischen Versammlungen und Tagungen. Eine Ausnahme stellte der Berliner Lokal-Anzeiger dar, der seit den 1880er Jahren immer häufiger Partei für die Regierung ergriff. Wenngleich die Zei- tung vorgab, unpolitisch zu sein, geriet sie »mehr und mehr unter dem Deckmantel der Parteilosigkeit in ein offiziöses, höfisch-gouvernementales Fahrwasser«.53 Die als General-Anzeiger konzipierte Zeitung von August Scherl (1849-1921) wurde erst in den 1880er Jahren als Massenblatt für den Mittelstand gegründet. Jeder Berliner Haushalt, der im Adreßregister ver- zeichnet war, erhielt die Zeitung kostenlos. Die Adressaten verfügten folg- lich über einen eigenen Hausstand. Die Leser waren Kleinbürger, Beamte, Offiziere. Die Zeitung finanzierte sich über Kleinanzeigen und hatte eine vergleichsweise hohe Auflage54, obzwar sich die Themen auf Berliner Er- eignisse konzentrierten. August Scherl hatte über den Berliner Lokal-Anzeiger bereits im Oktober 1894 ein Komitee ins Leben gerufen, das Spenden sammelte, um eine unentgeltliche Verteilung des Heilserums zu gewährleis- ten, damit jeder bedürftige Einwohner Berlins, »lediglich auf das Recept seines Arztes hin, ohne jede Schwierigkeit das neue Heilmittel kostenlos erhalten kann«.55 Auch wenn der ›Fall Langerhans‹ durch Berliner Lokal- 52 Die leidenschaftslose Debatte im Berliner Lokal-Anzeiger Nr. 167 vom 10.4.1896; die sedative Wirkung seiner Zeilen erhoffte der Leser Dr. M. J. der Frankfurter Zeitung Nr. 101 vom 11.4.1896. 53 Vgl. Oschilewski (1975), das Zitat S. 99; Koszyk (1966), S. 290-295; Stöber (2000), S. 203. Zu August Scherl siehe auch das Kapitel in: Mendelssohn (1982). 54 1880er Jahre: 150.000-200.000, 1899: 260.000, vgl. Stöber (2000), S. 212, 233. Zum Vergleich: 1890 hatte die Frankfurter Zeitung eine Auflage von 35.000 Zeitungen. Als eines der auflagenstärksten Blätter Deutschlands verkaufte das Berliner Tageblatt 1895 ca. 55.000 Zeitungen. Vgl. Oschilewski (1975), S. 86. 55 »Ein Appell an alle Menschenfreunde«, Zeitungsausschnitt vom Oktober 1894, BAB R 86/1182. Der Appell Scherls fand sein Vorbild im Aufruf von Gaston Calmette im September 1894 in Le Figaro. Calmette hatte die Bürger Frankreichs zu Spenden auf- gerufen, damit das Serum unentgeltlich verteilt werden könnte. Die eingehenden Franz Steiner Verlag
82 Axel C. Hüntelmann kolorit gefärbt ist, so hat das Ereignis, bedingt durch das Diphtherie- Heilserum und den Bekanntheitsgrad der Familie Langerhans, für nationa- les Aufsehen gesorgt. Die Parteinahme läßt sich nicht nur an der geäußerten Meinung ablesen, sondern zeigt sich ferner an den Personen, die zitiert wurden, denen man Glauben schenkte oder denen man ein Forum bot, ihre Meinung darzustel- len. Während sich die Vossische Zeitung und die Berliner Neuesten Nachrichten in ihrer Berichterstattung auf Max Asch, Adolf Gottstein (1857-1941) und andere Kritiker der Serumtherapie bezogen und sich auf Artikel aus den Therapeutischen Monatsheften stützten, war nach Bekanntwerden des Todesfal- les die erste Anlaufstelle des Berliner Lokal-Anzeigers Emil Behring (1854- Open Access Download von der Verlag Österreich eLibrary am 04.06.2022 um 20:28 Uhr 1917), der allerdings gerade auf Capri zur Erholung weilte. Der ersatzweise befragte Ludwig Brieger arbeitete am Institut für Infektionskrankheiten, an dem das Serum entwickelt worden war. Doch die Trennlinien zwischen Gegnern und Befürwortern der Serumtherapie sind nur schwer zu ziehen. Die zu Wort kommenden Gegner sind keinesfalls der fest strukturierten Gruppe zugehörig, die jahrzehntelang die staatliche Pockenimpfung be- kämpft hatte.56 Es handelte sich nicht um Anhänger der Naturheilkunde, der Homöopathie oder der Lebensreform, sondern zumeist um Ärzte bzw. Kinderärzte, die auf jahrzehntelange Erfahrungen in der Praxis zurückbli- cken konnten.57 Eine Grenze zwischen Gegnern und Anhängern der Serum- therapie ließe sich vielleicht am ehesten zwischen der Bakteriologie und der pathologischen Anatomie bzw. der Bakteriologie und der sich in Abgren- zung zu dieser konstituierenden Sozialhygiene ziehen.58 Die Gegner der Serumtherapie – »Signal zu einer wahren Behring- Hetze«59 Unter dem Eindruck der Ereignisse verfaßte Albert Eulenburg (1840-1917) am 11. April in der von ihm und Julius Schwalbe (1863-1930) herausgege- benen Deutschen Medizinischen Wochenschrift einen Artikel, in dem er »im In- teresse der Wissenschaft sowohl wie auch im ärztlichen Standesinteresse auf das schärfste« gegen den »Vernichtungsschlag gegen das Behring’sche Heilserum« protestierte. Der Tod des Ernst Langerhans sei »natürlich für Spenden wurden im Figaro täglich veröffentlicht, und es zeichnete sich ein außeror- dentlicher Erfolg ab. Vgl. die Akten im Archiv des Instituts Pasteur, DR-DOS 2. 56 Vgl. Wolff (1996), S. 79-108. Impfgegner waren insbesondere »Nichtärzte« und die oben genannten Gruppen. 57 Gottstein (1895) berichtet zur Bekräftigung seiner Argumente von seiner 14jährigen Praxistätigkeit; Rubens (1896); Bernheim (1896) führt seine Aufzeichnungen aus zwanzigjähriger Praxiserfahrung an. 58 Vgl. Engelhardt (1985); Hüntelmann (2005). 59 Vgl. Eulenburg (1896), S. 255. Franz Steiner Verlag
Das Diphtherie-Serum und der Fall Langerhans 83 alle offenen und versteckten Gegner der Serumbehandlung das Signal zu einer wahren Behring-Hetze«.60 Generell sind die Meinungen der Gegner zu differenzieren. Stabsarzt Dr. Barth unterschied in seinem Artikel über den ›Fall Langerhans‹ erstens Gegner, die einem »therapeutischen Nihilismus« frönten, also keine Be- handlung anwandten.61 Adolf Gottstein beispielsweise beschränkte sich auf hygienische, diätetische, hydrotherapeutische Maßnahmen und die Scho- nung der Körperkräfte.62 Als zweite Gruppe nannte Barth diejenigen Ärzte, die aus Angst vor den Nebenwirkungen – der sogenannten »Serumkrank- heit«: nesselartige Hautausschläge, Erytheme, papulöse Exantheme, hohes Fieber oder schmerzhafte Anschwellungen der Gelenke – das Heilserum Open Access Download von der Verlag Österreich eLibrary am 04.06.2022 um 20:28 Uhr nicht anwandten.63 Diese zweite Gruppe verneinte nicht grundsätzlich den Heilerfolg der Serumtherapie oder hielt zumindest das Serum nicht per se für schädlich. In ihrem persönlichen Nutzenkalkül trat die Anwendung des Serums in Verbindung mit möglichen unkalkulierbaren Nebenwirkungen gegenüber den eigenen Erfahrungen zurück. Letztere beruhten auf verschie- denen Behandlungsmethoden: Einmal sollte der Patient durch besondere Diäten gestärkt werden64, weiterhin wurden Schwitzkuren empfohlen65. Ferner wurde die Entzündung örtlich behandelt: durch Gurgeln mit desinfi- zierenden Lösungen oder das Bestreichen des Rachens mit ätzender Flüs- sigkeit wie Eisenchlorid. Eine Immunisierung der Gesunden zum Schutz vor Diphtherie lehnten sie aufgrund der Nebenwirkungen ab.66 Die dritte Gruppe in Barths Kategorisierung betraf diejenigen, die »die Richtigkeit der theoretischen Prinzipien« der Serumtherapie »verleugnen« – oder ablehnten.67 Zu dieser Gruppe ließen sich die bei Dr. Eisenschlitz in seinem ausführlichen Literaturüberblick zum Thema Diphtherie-Heilserum als »vorwiegend gegnerische Stimmen« kategorisierten Mediziner David P. Hansemann (1858-1920), Rudolf Emmerich (1852-1914) und Max Kasso- witz (1842-1913) zählen.68 Hansemann, ebenso wie Robert Langerhans As- sistent von Rudolf Virchow (1821-1902), bezweifelte auf der Sitzung der 60 Vgl. Eulenburg (1896), S. 255. 61 Vgl. Barth (1896), S. 396. 62 Vgl. Gottstein (1895), S. 239. 63 Vgl. Barth (1896), S. 396. 64 Dies empfiehlt Gottstein (1895). 65 Vgl. Wachsmuth (1895); zur Schwitzkur nach Wachsmuth siehe auch BAB R 86/1180. 66 Ähnlich auch Bernheim (1896). 67 Vgl. Barth (1896), S. 396. 68 Vgl. Eisenschlitz u. a. (1895), S. 115-128, dort auch alle nachfolgenden Zitate. Rudolf Emmerich war nach dem Tod Pettenkofers der führende Protagonist der lokalistischen Theorie. Vgl. Weyer-von Schoultz (2000), S. 331. Franz Steiner Verlag
84 Axel C. Hüntelmann Berliner Medizinischen Gesellschaft vom 28. November 1894, ob das »Löff- ler’sche Bacillus« überhaupt mit der Bretonneauschen Erkrankung identisch sei. Man habe den Bazillus einerseits nicht »in allen Fällen von (anatomi- scher) Diphtherie« gefunden und andererseits habe man den Erreger bei Krankheiten entdeckt, die nicht identisch mit der Diphtherie seien. Ferner sei es überhaupt nicht zwingend notwendig, daß die Immunisierung im Tierversuch auch für den Menschen gelte. Schließlich behauptete Hanse- mann, daß das Serum keinesfalls indifferent wirke, sondern negative Aus- wirkungen auf die Nierenfunktion habe.69 Max Kassowitz bezweifelte, ob das Diphtherie-Serum überhaupt eine Aus- wirkung auf den Krankheitsverlauf habe. Präventiv behandelte Kinder seien Open Access Download von der Verlag Österreich eLibrary am 04.06.2022 um 20:28 Uhr trotzdem innerhalb der nächsten Wochen an Diphtherie erkrankt und sogar gestorben. Eine Neuinfektion sei auch bei Kindern beobachtet worden, die nach der Injektion des Heilserums genesen seien. Gleichzeitig habe man eine Anzahl von Wirkungen beobachtet, die nach der Injektion des Diph- therie-Serums aufgetreten seien, aber eindeutig nicht zum Krankheitsbild der Diphtherie gehörten. Auf der anderen Seite »besitzen wir keinen einzi- gen wissenschaftlichen verwerthbaren Beweis dafür, dass jemals durch die Präventivimpfung die Erkrankung eines Menschen an Diphtherie verhin- dert worden war«.70 Aus Sicht der Gegner führte die Tragödie des ›Falls Langerhans‹ die schädlichen Wirkungen des sogenannten ›Heilserums‹ evi- dent vor Augen, da Ernst Langerhans unmittelbar nach der Einspritzung des Serums verstorben war und sich zuvor bester Gesundheit erfreut hatte. Am 10. April 1896 konnten die Gegner der Serumtherapie in der Vossischen Zeitung einen Artikel lancieren, der einleitend die Frage stellte, ob man in dem tragischen Geschick einen Unglücksfall erblicken solle oder ob Gründe vorhanden seien, »die zu der Annahme zwingen, daß zwischen dem Tode des Kindes und der vorhergegangenen Einspritzung mit Behring’schem Heilserum ein ursächlicher Zusammenhang vorhanden ist.«71 Die Frage war freilich rhetorisch gestellt – die Antwort wurde dem Leser in den nächs- ten Zeilen dargeboten. Der Autor bezog sich auf einen Artikel vom Februar 1896 in den Therapeutischen Monatsheften, der »objektiv und nüchtern alle bisherigen Erfahrungen sammelt«.72 Es wurden eine Reihe schwerer Er- krankungen angeführt, die nach der Anwendung des Diphtherie-Serums aufgetreten seien und Wochen und Monate angedauert haben sollen. Be- 69 Vgl. Eisenschlitz u. a. (1895), S. 115f. 70 Vg. Eisenschlitz u. a. (1895), S. 121, Kassowitz auf einer Tagung der Gesellschaft der Aerzte in Wien zitierend; weiterhin Kassowitz: Diphtherieheilserum (1896); Kassowitz: Diphtheriestatistik (1896). 71 Vossische Zeitung und Berliner Neueste Nachrichten vom 10.4.1896. Die Berliner Neuesten Nachrichten wiederholten zeitlich versetzt die Nachrichten der Vossischen Zeitung. 72 So die Meinung des Autors in den Berliner Neuesten Nachrichten vom 10.4.1896. Franz Steiner Verlag
Das Diphtherie-Serum und der Fall Langerhans 85 sonders bekannt sei der Fall des Geheimen Medizinalrates Dr. Moritz Pis- tor, dessen siebenjährige Tochter nach der Einspritzung von Diphtherie- Serum »volle drei Monate unter andauernd schweren Symptomen krank darniederlag«.73 Die Vossische Zeitung wußte auch von einigen Todesfällen zu berichten, die infolge einer immunisierenden Injektion des Diphtherie-Serums, bei sonst gesunden Kindern, vorgekommen sein sollten. Die Erfahrungen des Char- lottenburger Arztes Dr. Max Asch würden die Behauptung widerlegen, »die immer wieder und wieder von den am Erfolge interessirten Seiten in die Oeffentlichkeit gebracht wird, daß die Anwendung des Heilserums nicht mit Gefahr verbunden sei«. Es müsse im »Gegentheil nachdrücklich darauf Open Access Download von der Verlag Österreich eLibrary am 04.06.2022 um 20:28 Uhr hingewiesen werden, daß es im ganzen medizinischen Heilschatz wenig Mittel giebt, deren Anwendung so oft zu so traurigen Konsequenzen geführt hat wie das gepriesene Serum«. Die bisherigen Erfahrungen mit der Präven- tiv-Impfung von Heilserum seien daher als »nutzlos und gefährlich zu ver- werfen«. Das Heilserum stelle eine große Gefahr dar, um so mehr, als sich die Vorstellung des um Schutz Suchenden als »trügerische Illusion« ent- puppe.74 Die betonten Heilerfolge, die Behring ins Feld führe75, hätte Adolf Gottstein jüngst »als höchst zweifelhaftes Material zur Beurtheilung des Nutzens des Heilserums« entlarvt.76 Viele Todesfälle nach der Behandlung mit Serum seien in der Behringschen Statistik »höchst willkürlich auf ande- re Ursachen zurückgeführt« worden. Der Artikel gipfelte in der Aussage, daß alle »diese Vorgänge« nicht möglich und erklärlich wären, wenn wir nicht schon seit Jahren in ein Stadium ministerieller Staatsmedizin hinge- rathen wären, wo jede wissenschaftliche Bestrebung, falls sie nur die Billigung und Zu- stimmung der zuständigen Behörde findet, sofort als staatlich konzessionirtes Dogma verkündet wird.77 Max Asch hielt das Behringsche Diphtherie-Heilserum generell für gesund- heitsschädlich. Es könnten keine Zweifel darüber bestehen, daß die Ein- spritzung des Diphtherie-Serums eine große Anzahl schwerer Erkrankungen und sogar einen Todesfall zur Folge gehabt hätte. Die angeblichen Erfolge der Serumtherapie beruhten auf einer Illusion, denn die Statistik, die den Erfolg des Serums angeblich beweise, basiere auf einer groben Selbsttäu- schung.78 73 Vossische Zeitung und Berliner Neueste Nachrichten vom 10.4.1896. Über die Kran- kengeschichte der Tochter von Moritz Pistor wurde ausführlich in der Deutschen Aerzte-Zeitung Nr. 24 (1895) berichtet. 74 Berliner Neueste Nachrichten vom 10.4.1896. 75 Vgl. Behring (1895). 76 Vgl. Gottstein (1895). 77 Berliner Neueste Nachrichten Nr. 166 vom 10.4.1896. 78 Max Asch: Das Behring’sche Heilserum und die Statistik. In: Berliner Neueste Nach- richten Nr. 181 vom 18.4.1896. Franz Steiner Verlag
86 Axel C. Hüntelmann Die Medizinalstatistik im Brennpunkt der Diskussion – Kampf um die Deutungshoheit der ›alles richtenden Statistik‹79 Nach Meinung der Gegner lag die Tragik im ›Fall Langerhans‹ darin be- gründet, daß das Kind einem staatlich verordneten Dogma geopfert wurde – ein Heilungsprinzip, das sich in das Gegenteil verkehrt. Ernst Langerhans sei nicht ein Unglücksfall, sondern nur einer von vielen Todesfällen, die – dies die logische Konsequenz ihrer Argumentation – statistisch verfälscht wurden. Das Perfide daran sei nicht nur, daß eine in den Augen der Gegner schädliche Heilmethode staatlich protegiert wurde, sondern die statistische Beweismethode – die Gerichtsbarkeit der Statistik80 – staatlicherseits mani- puliert und verfälscht würde.81 Open Access Download von der Verlag Österreich eLibrary am 04.06.2022 um 20:28 Uhr Eine wesentliche Kritik der Gegner der Serumtherapie zielte auf die amtli- chen Statistiken und die in den einzelnen Veröffentlichungen zitierten Krankenhausstatistiken, folglich galt die Kritik letztlich auch den vom Kai- serlichen Gesundheitsamt herausgegebenen »Ergebnissen der Sammelfor- schung über das Diphtherieheilserum für die Zeit vom April 1895 bis März 1896«.82 Basierend auf den wöchentlichen Statistiken des Kaiserlichen Ge- sundheitsamtes, den Sammelforschungen der Deutschen Medizinischen Wo- chenschrift und des Berliner Lokal-Anzeigers83 sowie auf den Auswertungen einzelner Studien, hatte Emil Behring 1895 seine Veröffentlichung »Die Statistik in der Heilserumfrage« verfaßt, der insgesamt 11.000 Fälle zu Grunde lagen.84 79 »Die Statistik erfindet nichts, aber sie richtet, und ihre Gerichtsbarkeit erstreckt sich auf Alles, was auf heilenwollen Anspruch macht.« Einleitendes Zitat aus: Behring (1895), S. 1. 80 Auf die Beweiskraft und Gesetzeskraft der Statistik beruft sich Behring (1895), S. 1; ferner Porter (1995). 81 Dies gilt natürlich auch vice versa. So diente Behring (1895), S. 10, die Behauptung Gottsteins »als eine prächtige Illustration zu dem Thema der Gefährlichkeit von Er- findungen auf statistischem Gebiet«. 82 Die Ergebnisse erschienen in: Arbeiten aus dem Kaiserlichen Gesundheitsamte 13 (1897), S. 254-292. Die Ergebnisse wurden wöchentlich in den Veröffentlichungen aus dem Kaiserlichen Gesundheitsamte publiziert. Quartalsweise wurden die Ergebnisse zu einem Bericht zusammengefaßt und an die Medizinalbehörden und Bibliotheken (200 Exemplare) versandt. Im Reichsanzeiger wurde ein kurzer Artikel mit dem Hin- weis auf die Ergebnisse veröffentlicht mit der Bemerkung, »daß Fachmänner, welche sich für die Einzelheiten der gewonnenen Erfahrungen interessieren, einen Abdruck der Zusammenstellung, soweit der Vorrath reicht, vom Gesundheitsamt beziehen können«, vgl. Staatssekretär des Innern, von Bötticher, an den Direktor des Kaiserli- chen Gesundheitsamtes, 3.8.1895, BAB R 86/1183, dort auch weitere Angaben zur Entstehung der Sammelforschungen. 83 Vgl. hierzu die Fragebögen im Behring-Archiv, 8-04. 84 Behring hatte im August 1895 im Kaiserlichen Gesundheitsamt angefragt, ob er ver- gleichende Zahlenangaben über die Morbiditäts- und Mortalitätsverhältnisse zur Diphtherie innerhalb der letzten Jahre im Deutschen Reich und speziell in Berlin er- Franz Steiner Verlag
Das Diphtherie-Serum und der Fall Langerhans 87 Die Befürworter konnten statistisch nachweisen, daß parallel mit der Ein- führung des Heilserums auch die Mortalität der Diphtherie gesunken war. Aus dieser Gleichzeitigkeit schlossen sie, daß das Sinken der Sterblichkeits- rate in der Einführung des Heilserums begründet lag. Behrings Quintessenz lautete: Die Statistik gebe vereinzelten Zufälligkeiten Sinn und weise durch die »Zählung an sehr vielen Einzelfällen« eine Gleichmäßigkeit nach, die so groß sei, »dass man es wagen konnte, aus der zeitweiligen Änderung der durchschnittlichen Verhältniszahl auf das Eingreifen eines ungewöhnlichen ursächlichen Moments zu schließen und die Natur desselben zu fixieren.«85 Dieses Moment war nach Meinung der Befürworter – allen voran Behring – das Diphtherie-Serum. Open Access Download von der Verlag Österreich eLibrary am 04.06.2022 um 20:28 Uhr Die Kausalität dieser Korrelation bezweifelten die Gegner. Ihre Kritik betraf die Folgerung, die die Therapiebefürworter aus zwei singulären Ereignissen zogen. Verkürzt lautete ihr Argument, daß Korrelation ungleich Kausalität sei.86 Das Sinken der Diphtherie-Mortalität beruhte nach Meinung der Gegner der Serumtherapie auf dem Umstand, daß der »Genius epidemicus« in den Jahren von 1894 bis 1896 außerordentlich mild war.87 Eine ganz andere, das Sinken der Diphtherie-Mortalität erklärende Kausalität konstru- ierten Gottstein und Asch. Generell kritisierte Gottstein, daß das statistische Material allein auf Auswertungen aus Krankenhäusern beruhe, die nur ei- nen Ausschnitt aus der gesamten Anzahl aller Diphtherie-Fälle abdeckten. Gottstein meinte eine Veränderung des Krankenmaterials feststellen zu können. Aufgrund der neuen Serumtherapie schickten die Angehörigen ihre Kranken früher in die Hospitäler, weil diese im Gegensatz zu den praktizie- renden Ärzten über einen reichlichen Vorrat an Heilserum verfügten und nicht zögerten, davon Gebrauch zu machen. Daher habe seit 1894 die Bele- gung der Krankenhäuser zugenommen. Es handele sich allerdings bei dem vermehrten Zustrom von Diphtherie-Kranken um leichtere Fälle als ehe- dem, die folglich auch einen weniger schweren Krankheitsverlauf näh- halten könne. Der Direktor des Kaiserlichen Gesundheitsamtes, Karl Köhler, sagte ihm zu, das Material bereit und Behring einen Arbeitsplatz in seiner Behörde zur Ver- fügung stellen zu wollen. Auf die Bitte Behrings, der bis September Marburg nicht ver- lassen könne, sandte man Behring – was sonst unüblich war, da man das »Material nicht nach außen« gibt – die Unterlagen und Zeitschriften zu, mit der Bitte, diese nach Gebrauch wieder an das Kaiserliche Gesundheitsamt retournieren zu wollen. Vgl. BAB R 86/1181. Der Hinweis auf die 11.000 Fälle und seine empirische Basis in Beh- ring (1895), S. 6. 85 Behring (1895), S. 2; auf einen außerordentlichen Heilfaktor schloß auch O. Vierordt in der Deutschen Medizinischen Wochenschrift Nr. 11 (1895). 86 Vgl. beispielsweise Max Asch: Das Behring’sche Heilserum und die Statistik. In: Ber- liner Neueste Nachrichten Nr. 181 vom 18.4.1896. 87 Vgl. Gottstein (1895); unter Verweis auf Sörensen, der hervorhob, »dass die Gutartig- keit der Epidemie im Jahre 1895 eine bis dahin unbekannte Höhe erreicht hat«. In: Kassowitz: Diphtherieheilserum (1896), S. 4. Franz Steiner Verlag
88 Axel C. Hüntelmann men.88 Es lag somit, Gottstein Unterstellung folgend, eine »self-fullfilling prophecy« vor.89 Ungeachtet der statistischen Fehlschlüsse, die Gottstein aus seinen absoluten [!] Zahlenangaben zog und die Behring mühelos parie- ren konnte, argumentierten die Gegner, daß die Wirkungskraft des Serums noch in keinem Fall statistisch bewiesen wurde, während die Nebenwirkun- gen und Komplikationen der Serumtherapie offen zutage träten. Die Anhänger der Serumtherapie Die Argumentation der Gegner der Serumtherapie rief bei ihren Befürwor- tern heftigen Widerstand hervor. Gegen die Instrumentalisierung des Un- glücksfalles, »die Fructificierung des traurigen und vorläufig noch ganz un- Open Access Download von der Verlag Österreich eLibrary am 04.06.2022 um 20:28 Uhr aufgeklärten Ereignisses« müsse im Interesse der Wissenschaft protestiert werden.90 Die Befürworter der Serumtherapie mußten sich keiner weit- schweifigen Argumentation bedienen, sie wußten die Mehrheit der Medizi- ner, besonders die Ordinarien, die Krankenhäuser und die medizinalstaatli- chen Institutionen hinter sich. Die Doyens der Kinderheilkunde waren selbst an der Entwicklung der Serumtherapie beteiligt – Otto Heubner (1842-1926), Karl Binz (1832-1913), Eduard Henoch (1820-1910) mit ihren jeweils eigenen ›Schulen‹ und Verbindungen. Sie verteidigten somit ihren eigenen Forschungsanteil an der Heilmethode. Die Infragestellung der Se- rumtherapie hätte bereits 1896 eine Vielzahl von Publikationen – und folg- lich deren Autoren – in Frage gestellt. Alle Zeitungen bedauerten den tragischen Todesfall. Gleichwohl nahmen einige Anstoß an der Anzeige, mit der Robert Langerhans den Tod seines Sohnes bekannt gegeben hatte. Die Ursache des Ablebens teilte er »mit ge- sperrten, mächtig großen Buchstaben« mit. Nicht genug damit, wiederholte er die Begründung einen Tag später und gab bekannt, daß sein Kind durch Behringsches Heilserum vergiftet worden sei.91 Besonderen Anstoß daran nahmen das Berliner Tageblatt und der Herausgeber der Deutschen Medizini- schen Wochenschrift.92 Robert Langerhans habe eine »Behauptung in der denkbar krassesten Form ausgesprochen«, ohne einen wissenschaftlichen Beweis zu erbringen. »Einfach aus der Aufeinanderfolge zweier Thatsachen auf ihren ursächlichen Zusammenhang zu schließen, ist durchaus nicht an- 88 Vgl. Gottstein (1895); Max Asch: Das Behring’sche Heilserum und die Statistik. In: Berliner Neueste Nachrichten Nr. 181 vom 18.4.1896. 89 Gottstein unterstellt die von Robert K. Merton (1995), S. 399-414, beschriebene self- fulfilling prophecy. 90 Vgl. Eulenburg (1896). 91 Berliner Tageblatt vom 10.4.1896. 92 Sowohl der Aufbau des Textes und die Argumentation als auch die Wortwahl legen die Vermutung nahe, daß das Berliner Tageblatt sich auf Eulenburg bezieht bzw. die- sen als Informationsquelle nutzte – oder aber, daß Eulenburg hier seinen Artikel be- reits an prominenter Stelle in der Öffentlichkeit lancieren konnte. Franz Steiner Verlag
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