DAS IMPERIUM IST ZURÜCK - MAX-PLANCK-GESELLSCHAFT

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DAS IMPERIUM IST ZURÜCK - MAX-PLANCK-GESELLSCHAFT
wissen aus

     Das Imperium ist zurück
     Text: Jeannette Goddar

     Die Habsburgermonarchie und
     das Osmanische Reich sind
     Vergangenheit – doch in vielen
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     europäischen Städten leben
     sie fort: So kultiviert man in Wien
     die Erinnerung an die Türken-
     belagerungen und ignoriert dabei
                                                      sondern durch das Zentrum der Die Geschichte ließe sich forterzählen:
     Zehntausende Wienerinnen und
                                                      Habsburger Dynastie, die vor etwas     An einer Reihe Wiener Häuser erin-
     Wiener, die aus der Türkei stam-                 mehr als hundert Jahren endete. Da-    nern golden schimmernde „Türken-
     men. Mit der Gegenwart unterge-                  bei geht die Tour auch – mal mehr,     kugeln“ an den Kanonenbeschuss. Es
     gangener Imperien befasst sich                   mal weniger deutlich – vorbei an Spu-  gibt osmanische Reiterfiguren aus
     das Team um Jeremy Walton am                     ren, welche die zweifache Belagerung   Stein, einen Türkenschanzpark und
                                                      durch das Osmanische Reich hinter-     natürlich jede Menge Denkmäler mit
     Max-Planck-Institut zur Erforschung              ließ. 1529 und 1683 standen dessen     siegreich-stolzen Habsburgern. Und
     multireligiöser und multiethni­-                 Truppen vor der Hauptstadt der Do-     sogar das Dach des ab 1712 erbauten
     scher Gesellschaften in Göttingen.               naumonarchie; glücklos, doch im        Schlosses Belvedere wurde osmani-
                                                      Stadtbild wie in der österreichischen  schen Zelten nachempfunden, die
                                                      Geschichtsschreibung bis heute fest    einst hier standen. „Wer einmal an-
                                                      verankert. Sogar die wichtigste Kir-   fängt, sich mit den Spuren dessen zu
            Wer Wien besichtigt, setzt sich gern so   chenglocke im Stephansdom – so et-     befassen, was hier ‚Erste und Zweite
              traditionsreich wie bequem in eine      was wie ein Nationalheiligtum der      Türkenbelagerung‘ heißt, stellt fest:
              der zahllosen Kutschen, die den gan-    Österreicher – wurde 1711 überwie-     Es hört nicht auf! Allein in Wien gibt
              zen Tag in der Innenstadt um Kund-      gend aus dem Metall von Kanonen        es mehr als hundert Orte, die daran
              schaft werben Die „Fiaker“, von de-     osmanischer Truppen gegossen. Die      erinnern – in ganz Österreich noch
              nen so mancher seine Gäste noch im      erste Glocke sauste 1945 nach einem    weit mehr“, erklärt Annika Kirbis.
              21. Jahrhundert mit „Gnä’ Frau“ und     Brand in die Halle am Fuße des Süd-    Die aus Deutschland stammende So-
             „die Herrschaften“ anspricht, bringen    turms – und zerstörte ausgerechnet     zial- und Kulturanthro­pologin, die
              einen zum Stephansdom und zur           das „Türkenbefreiungsdenkmal“.         am Max-Planck-Institut zur Erfor-
              Hofburg, zu den Schlössern Schön-       Heute steht dort eine Tafel, die, auf  schung multireligiöser und multi­
              brunn und Belvedere, in den Prater.     Lateinisch, sagt: „Einst in der türki- ethnischer Gesellschaften in Göttin-
              Man könnte auch sagen: Eine typi-       schen Not zu Hilfe kam rettend Ma-     gen promoviert, zog zunächst für ihr
              sche erste Begegnung führt nicht        ria. Stolze Gestalten in Stein zeugten Masterstudium nach Wien. Statt mit
              durch die Hauptstadt Österreichs –      vom Dank ihrer Stadt.“                 der Vergangenheit hatte sie sich ei-

                                                        Max Planck Forschung · 1 | 2021
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kultur & gesellschaft

                                                                             Wiederbelebter
                                                                    Nationalheld: Ban Josip
                                                                  Jelačić, einst Feldherr der
                                                                 Habsburger, wird heute in
                                                                  Kroatien teilweise wieder
                                                                 verehrt. Zur Fußball-WM
                                                                     2018 schmückten Fans
                                                                 seine Statue in Zagreb mit
                                                                              den Farben des
                                                                      kroatischen Wappens.
F o t o: Dr e a m s t i m e

                                                                                                59

                               Max Planck Forschung · 1 | 2021
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wissen aus

       gentlich mit der Gegenwart von Zu-      Die Antworten fielen sehr unter-        über Integration, bei diskriminieren-
       wanderern aus der Türkei befassen       schiedlich aus: Einigen waren all die   den Äußerungen wird die Geschichte
       wollen. Doch zunächst einmal führte     Denkmäler über Jahrzehnte verbor-       immer noch mitverhandelt, mal mehr,
       jede Datenbank- oder Suchmaschi-        gen geblieben; andere fühlten sich      mal weniger bewusst, häufig schlicht
       nen-Recherche mehrere Hundert           von der Darstellung säbelschwingen-     durch eine gewisse Belagerungs­
       Jahre zurück – obwohl auch in Öster-    der Reiter in Pluderhosen vor den       rhetorik, in die man in Wien bis heute
       reich nach Jahrzehnten von Gastar-      Kopf gestoßen. Manche erzählten ihr,    gleichsam hineinsozialisiert wird.“
       beit, Familiennachzug und Integra-      Besuche an Orten der entscheidenden
       tion 200 000 bis 300 000 Menschen       Schlachten seien bei Besuchern aus Handfeste Beispiele dafür, dass Ge-
       türkischer Herkunft leben.              der Türkei beliebt – statt als Nieder-  schichte durchaus bewusst wachge-
                                               lage empfänden sie einen gewissen       halten wird, sind ebenfalls nicht
                                               Stolz, dass die Türken bis vor Wien     schwer zu finden. So lud die rechts­
                         Die Enkel             gekommen sind. Andere, die als Tür-     populistische FPÖ am Jahrestag des
                      der Osmanen              ken wahrgenommen werden, sich
                                               selbst aber nicht so verstehen – Kur-
                                                                                       Sieges der Habsburger im September
                                                                                      2020 zur „Befreiungsfeier“ – um, wie
                                               den zum Beispiel –, hätten augen-       der Wiener Vizebürgermeister mit-
     Doch was macht das Leben inmitten all     zwinkernd so etwas angemerkt wie:       teilte, „darauf hinzuweisen, dass wir
       der Symbolik mit denen, deren Wur-     „Toll, dass ihr die rausgeschmissen      keine islamistischen Parallelgesell-
       zeln im einstigen Reich der Osmanen     habt.“ Je länger Kirbis recherchierte,  schaften (...) tolerieren“. Der türki-
       liegen? Um das herauszufinden,          als desto fragmentierter erwiesen sich  sche Präsident Recep Tayyip Er-
       führte Annika Kirbis, oft bei Stadt-    die Erinnerungen. Zugleich wurde        doğan wiederum rief im Jahr 2014 sei-
       spaziergängen, Interviews mit türki-    ihr deutlich: „Auch in migrationsge-    nen Anhängern in Wien bei einem
       schen Wienerinnen und Wienern.          sellschaftlichen Debatten, in Reden     Besuch kurz vor den Wahlen in der
                                                                                      Türkei zu, sie seien alle „Enkel von
                                                                                       Sultan Süleyman und Kara Mustafa“
60                                                                                    – Nachfahren der Männer, welche die
        Erinnerungskultur im                                                           Erste und die Zweite Türkenbelage-
       19. Jahrhundert: Mit diesen                                                     rung angeführt hatten. Das Betonen
       „Türkenköpfen“ schmückte
        die Bevölkerung in
                                                                                       kollektiver Stärke, die Sicherung poli-
        Kärnten und Südtirol                                                           tischer Macht im Dienst einer natio-
        ihre Dorfbrunnen. Heute                                                        nalen Erzählung seien „typische An-
        gehören die Köpfe zur                                                          lässe, Geschichte zu ‚reimperialisie-
        Sammlung des Volks-                                                            ren‘ “, erklärt der Anthropologe Je-
        kundemuseums in Wien.                                                          remy Walton. Verallgemeinern lasse
                                                                                       sich das allerdings nicht: Auch Reli-
                                                                                       gion und Ästhetik spielten eine Rolle,
                                                                                       ebenso die Alltagskultur: „Selbst in
                                                                                       der Mode finden sich Anleihen an
                                                                                    F o t o: A n n ika K i r bi s/MPI zu r E r f or s c h u ng m ult i r e ligiö se r

                                                                                       längst untergegangene Reiche.“ Wal-
                                                                                       ton leitet die Forschungsgruppe „Em-
                                                                                       pires of Memory. The Cultural Poli-
                                                                                                   u n d m ult i et h n i s c h e r Ge se ll s c h af t e n

                                                                                       tics of Historicity in Former Habs-
                                                                                       burg and Ottoman Cities“, in deren
                                                                                       Rahmen Kirbis promoviert.

                                                                                                                                                                        Waltons eher zufällige Annäherung an
                                                                                                                                                                         das Thema ähnelt jener von Annika
                                                                                                                                                                         Kirbis frappierend. Der gebürtige
                                                                                                                                                                         US-Amerikaner zog vor rund fünf-
                                                                                                                                                                         zehn Jahren für seine Promotion zur
                                                                                                                                                                         muslimischen Zivilgesellschaft in die
                                                                                                                                                                         Türkei: „Das Osmanische Reich hatte
                                                                                                                                                                         ich zunächst überhaupt nicht im Fo-
                                                                                                                                                                         kus. Doch allerorten wurde es neu
                                                                                                                                                                         verhandelt und wieder ins Bewusst-
                                                                                                                                                                         sein gerufen, teils übernahmen klei-

                                                          Max Planck Forschung · 1 | 2021
DAS IMPERIUM IST ZURÜCK - MAX-PLANCK-GESELLSCHAFT
kultur & gesellschaft

F o t o: A n n ika K i r bi s/MPI zu r E r f or s c h u ng m ult i r e ligiö se r
               u n d m ult i et h n i s c h e r Ge se ll s c h af t e n

                                                                                                                                                                                                                    61

                                                                                                                                                                                  Erinnerungskultur anno 1983:
                                                                                                                                                                                     Anders als die Gedenktafel
                                                                                                                                                                                suggeriert, wurde dieses Wiener
                                                                                                                                                                                  Haus nicht von den Osmanen
                                                                                                                                                                                      zerstört, sondern von den
                                                                                                                                                                                 Wienern selbst. Sie steckten die
                                                                                                                                                                                     Vororte in Brand, um dem
                                                                                                                                                                                       Feind die Möglichkeit zu
                                                                                                                                                                                  nehmen, sich zu verschanzen.

                                                                                      nere islamische Organisationen sogar    heute in acht verschiedenen Ländern        hen 20. Jahrhundert die Vertreibun-
                                                                                      die Kosten für die Renovierung von      liegen. Walton teilt sie grob in Zweier-   gen der griechischen Bevölkerung
                                                                                      Denkmälern“, erzählt er. Zur Erinne-    gruppen ein: Zu Wien und Istanbul          von türkischem Boden tiefe Spuren
                                                                                      rung: Damals war Erdoğan, der sich      als einstigen Zentren der Imperien         hinterlassen hat, und in Italien, das
                                                                                      inzwischen seit Jahren als postmoder-   kommen Budapest und Sarajevo, die          sehr bewusst darauf pocht, dass die
                                                                                      ner Sultan inszeniert, gerade erst im   beide sowohl von Habsburgern wie           1919 angegliederten Gebiete Südtirol,
                                                                                      Amt, die Türkei noch ein weit stärker   von Osmanen regiert wurden und in          Trentino und der Küstenstreifen an
                                                                                      vom Republikgründer Kemal Atatürk       denen das öffentliche Leben wie die        der nordöstlichen Adria unanfechtbar
                                                                                      geprägter säkularer Staat.              politische Debatte bis heute von bei-      italienisches Territorium sind. Wal-
                                                                                                                              den geprägt ist. Außerdem, drittens,       ton selbst forscht mit Sitz im einst
                                                                                    So entstand, sehr verkürzt, die For-      Thessaloniki und Triest, einst wich-       habsburgischen, heute kroatischen
                                                                                      schungsgruppe, die acht Städte in       tige Hafenstädte, die beide in Län-        Zagreb, das zusammen mit dem einst
                                                                                      den Fokus nimmt, die einst zur Habs-    dern liegen, die sich gerade nicht als     osmanischen und heute serbischen
                                                                                      burgermonarchie und/oder zum Os-        Nachfolger der jeweiligen Reiche ver-      Belgrad das vierte Paar bildet: „Zu se-
                                                                                      manischen Reich gehörten – und          stehen: in Griechenland, wo im frü-        hen, wie in den beiden Städten neben

                                                                                                                                Max Planck Forschung · 1 | 2021
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wissen aus

     F o t o: K laus Pic h l e r / W i e n Museu m

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                                    der imperialen die noch junge sozia-
                                    listische Vergangenheit mitverhan-
                                                                          Holocaust-Forschung in den vergan-
                                                                          genen Jahrzehnten etabliert wurde.             „Selbst in der
                                    delt wird, fügt noch einmal eine
                                    Schicht hinzu, die enorm spannend
                                                                          Der Forschungsansatz befasst sich
                                                                          nicht anhand offizieller Dokumente              Mode finden
                                    ist“, erklärt Walton. Die Fragen, um  mit historischen Ereignissen, son-
                                    die sich die Forschung der interdis­  dern durch eine Annäherung an das,             sich Anleihen
                                    ziplinären Gruppe rankt, sind ganz    was aus der Geschichte in die ge-
                                    verschieden, ebenso die Zugänge       meinsame Erinnerung und damit in                   an längst
                                    und Methoden, mit denen sie Denk-     eine gesellschaftliche Gesamterzäh-
                                    mäler, urbane Planung, Kulturgüter,   lung eingeflossen ist.                      untergegangene
                                    Diskurse und kollektive Erinnerun-
                                    gen erforschen. Was sie eint, ist – Um zu untersuchen, wie die Erzählung                   Reiche.“
                                   „Empires of Memory“ – ein Bezug        der Belagerungen die Erinnerung
                                    auf die Gedächtnisstudien, ein An-    der heutigen Migrationsgesellschaft
                                    satz, der vor allem von der deutschen beeinflusst, bringt Annika Kirbis                   Jeremy Walton

                                                                                    Max Planck Forschung · 1 | 2021
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kultur & gesellschaft

       Geteilte Erinnerung:               beschreibt, ist von Universalität noch denken an den Holocaust in einer
       Eine andere Perspektive            etwas entfernt. Sie beobachtete das    ­Einwanderungsgesellschaft lebendig
       auf die österreichische            Projekt „Migration sammeln“, das       bleibt.“
       Geschichte eröffnete vor
       drei Jahren das Wien
                                          die Stadt mit dem Wien Museum in
       Museum mit einer                   Auftrag gegeben hatte und für das Analog stellt sich die Frage: Wie schafft
       Ausstellung über das               Gegenstände und Bilder von türki-      man, am Beispiel der Belagerung von
       Leben von „Gastarbei-              schen und jugoslawischen Wienern       Wien, eine perspektivenreichere Er-
       tern“, von denen viele             eingesammelt wurden, oftmals mit       zählung? „Wichtig wäre, sich zu-
       aus der Türkei stammen.            Unterstützung von Migrantenorgani-     nächst einmal in eine kritische Dis-
                                          sationen. Unter dem Titel Geteilte     tanz zu versetzen und zu fragen: Wel-
                                          Geschichte. Viyana – Beć – Wien wur-   che Erinnerung hält diese Stadt wach?
                                          den sie schließlich ausgestellt. Und   Entspricht es der heutigen Gesell-
                                          dann, sagt Kirbis, „fand im ersten
                                          Stock des Museums rechts von der
                                          Treppe eine Ausstellung zu Migra-
                                          tion statt und links die ständige Aus-
                                          stellung, in der weite Teile der Tür-
                                          kenbelagerung gewidmet sind.“                   Auf den Punkt
                                                                                          gebracht

                                                      Neuer Kontext                         Imperien wie die Habs-
                                                                                            burgermonarchie und das
                                                  für alte Denkmäler                        Osmanische Reich leben in
                                                                                            der kollektiven Erinnerung
                                                                                            fort, ihr Mythos wird
                                       „Kann man Geschichte so erzählen?“,                  vielfach gepflegt.
                                          fragt Annika Kirbis, und sie gibt die                                              63
                                                                                            In Wien erinnern zahl-
                                         Antwort im Grunde bereits in dem,
                                                                                            reiche Denkmäler an
                                          zurzeit noch vorläufigen, Titel ihrer             die Türkenbelagerungen
                                          Promotion: „Weltstadt ohne Migran-                von 1529 und 1683, pfle-
                                          ten? Transnationale Erinnerungen                  gen das Feindbild „Türke“
                                          und postimperiale Nostalgie in Wiens              und grenzen so Zuwanderer
                                          städtischem Erbe“. Die Wissen-                    aus der Türkei aus.
                                          schaftlerin plädiert dafür, Migrati-
                                                                                            Die Forschung beginnt
                                          onsgeschichte nicht als „Lücke im                 gerade, die Bedeutung
                                          Gedächtnis der Stadt“ zu begreifen,               untergegangener
                                          sondern mit einer kollektiven Erinne-             Großreiche für die
                                          rung zu arbeiten, die unterschied­                Gegenwart aufzuarbeiten;
                                          lichen Perspektiven Raum gibt. „Viele             sie rät zu einem reflektierte-
                                                                                            ren Umgang mit der
                                          Migranten machen die Erfahrung,                   imperialen Vergangenheit.
                                          trotz österreichischer Staatsangehö-
                                          rigkeit keine Zugehörigkeit zu erleben,
die Gedächtnisforschung mit Ansät-        sondern – befördert durch eine Er-
zen aus der Anthropologie, den Lite-      zählung, die lediglich die Mehrheits-
ratur- und Museumswissenschaften          gesellschaft spiegelt – als anders ange-
zusammen. Ein Fokus liegt auf dem         sehen und ausgeschlossen zu werden.“       schaft?“, erwidert Kirbis. In einem
Wien Museum, das die Städtischen          Die Forscherin verweist auf eine in        nächsten Schritt könnten die bereits
Sammlungen der österreichischen           Deutschland lebhaft debattierte Par-       vorhandenen Denkmäler zur Belage-
Hauptstadt beherbergt. „Die Samm-         allele: die schulische Vermittlung von     rung in einen Kontext gestellt wer-
lung zu den Türkenkriegen – die so-       Erinnerung an den Holocaust: „Wie          den: „Warum erzählt man nicht mit,
genannte Türkenbeute – bildete den        führt man Jugendliche, deren Vorfah-       in welcher Zeit während welcher kol-
Grundstock für die Gründung des           ren keine deutsch geprägten Erinne-        lektiven Wahrnehmung sie errichtet
Museums“, erzählt sie. Heute be-          rungen haben, an dieses Thema he-          wurden?“ Dabei würde man sich etwa
schreibt es sich selbst als „urbanes      ran? Ein, wenngleich gut gemeintes         der Frage widmen: Wie wurde 1933
Universalmuseum“, ist allerdings         ,Eure Großeltern waren ja nicht dabei‘      an die Belagerungen erinnert? Und
derzeit wegen Umbau geschlossen.          schließt diese Schüler aus – und ver-      wie zur 300-Jahr-Feier 1983? Zu-
Was Annika Kirbis aus der Zeit zuvor      hindert auf diese Weise, dass das Ge-      gleich würde Raum entstehen für die

                                             Max Planck Forschung · 1 | 2021
DAS IMPERIUM IST ZURÜCK - MAX-PLANCK-GESELLSCHAFT
wissen aus

     Frage, welche Bilder bis heute unre- Zu beschreiben, welche Bilder und Sym-              ist gesorgt. Nach dem Auslaufen der
     flektiert wiederholt werden und wel-     bole wachgehalten und dabei nicht               Forschungsgruppe am Max-Planck-
     che eher weniger in eine kollektive Er-  selten auch passend zur jeweiligen              Institut in Göttingen wird Jeremy
     innerung eingeflossen sind: So brach-    Ära modifiziert werden, ist nicht die           Walton noch in diesem Jahr mit einer
     ten die Osmanen auch den Kaffee mit,     einzige Herausforderung der For-                Förderung des Europäischen For-
     der erst all die Wiener Kaffeehäuser     schungsgruppe. „Am interessantes-               schungsrates an die kroatische Uni-
     möglich machte, und auch das si-         ten ist oft, was nicht gezeigt wird –           versität Rijeka wechseln. Der Titel der
     chelförmige Vanillekipferl ist der Le-   weil es zutage treten lässt, was gezeigt        künftigen Gruppe ist der Rückkehr
     gende nach vom islamischen Halb-         und was zum Schweigen gebracht                  aus dem Reich der Toten – oder auch
     mond inspiriert. Kirbis: „Den meis-      werden soll“, erklärt Jeremy Walton.            nur Totgeglaubten – entlehnt: „RE-
     ten Wienern sind diese Einflüsse         Hier allerdings setzt auch das größte           VENANT: Revivals of Empire – Nos-
     schon bewusst. Bislang haben sie al-     Problem der Gedächtnisstudien an:               talgia, Amnesia, Tribulation“. Das
     lerdings noch nicht dazu geführt, all    Was nie bewahrt wurde, konnte nicht             Imperium ist zurück, zumindest als
     jene Bilder abzuschwächen, die bis       in die kollektive Erinnerung eingehen.          Wiedergänger.
     heute das ‚Feindbild Türke‘ transpor-   „Wie finden wir heraus, was bereits in
     tieren.“ Insgesamt, folgert sie, sei es  früheren Zeiten unterdrückt wurde?“,
     mit dem Hinzufügen von ein paar zu-      fragt Walton und ergänzt: „Wo uns
                                                                                                                  Glorifizierung alter
     sätzlichen Erinnerungen hier und da      das nicht gelingt, muss uns zumin-                              Zeiten: Im ungarischen
     ohnehin nicht getan: „Migrationsge-      dest bewusst sein, dass es Lücken                                   Szigetvár errichtete
     schichte fordert dazu auf, bestehende    gibt.“ Dafür, dass diese und andere                                   die Türkei in den
     Erzählungen, wie jene zur Belage-        Fragen rund um die Habsburger­                                   1990er-Jahren am Ort
     rung, zu hinterfragen und ganz neu       monarchie und das Osmanische                                einer historischen Schlacht
     zu denken.“                              Reich weiterhin beantwortet werden,                             die monströsen Büsten
                                                                                                            des osmanischen Sultans
                                                                                                                   Süleyman (rechts),
                                                                                                             und seines Gegners, des
64                                                                                                          Feldherrn Miklós Zrínyi.

                                                                                                                                         F o t o: J e r e m y Walt on/MPI zu r E r f or s c h u ng m ult i r e ligiö se r u n d m ult i et h n i s c h e r Ge se ll s c h af t e n

                                                            Max Planck Forschung · 1 | 2021
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