Das Mega-citys- Heft - Was machst du, wenn du groß bist? - Fluter
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MAGAZIN DER BUNDESZENTRALE FÜR POLITISCHE BILDUNG Nr. 24 / September 2007 Was machst du, wenn du groß bist? Das Mega- citys- Heft
EDITORIAL/ INHALT I mmer mehr Menschen treibt es in Städ- te. Seit diesem Jahr lebt mehr als jeder Zweite auf der Welt in einer Stadt. Im Jahr 2030 werden es laut Vereinten Natio- nen rund 5 von 8 Milliarden Menschen sein. 30 Mexico City Sandro Benini, 39, Schweizer, lebt seit 2004 in Cuernavaca, rund 80 km von Mexico City. Er schreibt für verschiedene deutschsprachige Me- Einige Städte wachsen ins Gigantische und dien wie die Weltwoche und den Tagesspiegel. Pro- werden fast hilflos als Megacitys bezeichnet. bleme mit Kriminalität hatte er bisher nicht, die Diese Gebilde sind Brennspiegel der jewei- Bestechlichkeit von Polizisten dagegen kennt er aus eigener Erfah- ligen natürlichen, wirtschaftlichen und kul- rung. Nachdem er kürzlich mit dem Motorrad zwei Rotlichter turellen Verhältnisse. Sie sind Zentren der ignoriert hatte und von einer Patrouille angehalten wurde, reichten Politik, Kultur und Wirtschaft. In ihnen tref- umgerechnet 25 Euro, um die Sache aus der Welt zu schaffen. fen Religionen, Hoffnungen und Visionen aufeinander. Trotz ihrer Größe vereinen sie Gegensätze auf engstem Raum. Chaos, Armut und der Kampf um das Überleben existieren neben Überfluss, Luxus und Macht. fluter hat einige Megacitys besucht, um jenseits des touristischen Blicks Menschen und deren Lebensentwürfe zu zeigen. Eines haben alle Megacitys gemeinsam: Sie sind unberechen- bar, wachsen unkontrolliert und unaufhaltsam. So verwundert es nicht, dass die Einwohner- zahlen der Riesenstädte je nach Statistik va- riieren. fluter nimmt deswegen die Bevölke- rungszahlen der Vereinten Nationen aus dem Jahr 2005 als Anhaltspunkt. Megacitys sind Ausdruck und Zwischenergebnis der maß- losen Dynamik unserer Zeit, sie sind Akteure 06 Lagos und Objekte der Globalisierung zugleich. Die Zum ersten Mal in ihrem Leben wur- Maßlosigkeit kann faszinieren oder trauma- de Judith Reker, 40, an einem Flug- tisieren. Sie ist ungeheuer und deshalb Men- hafen von der Polizei erwartet. Kein schenwerk. Wohin treibt das noch? Missverständnis, der Polizist sollte sie Thorsten Schilling abholen. Ihr Hotel hatte ihn „gemie- tet“, damit er sie sicher durch die Stadt bringt, vorbei an den area boys, an falschen und echten Polizisten, die sich mit einem Wegzoll etwas dazuverdienen wollen. Dass wenig später der nigerianische Fotograf überfallen wur- de, konnte er jedoch nicht verhindern. täglich aktuell und im Oktober mit dem Schwerpunkt: Megacitys. Dabei u.a.: Leben im Stau: In Los Angeles fordern Umweltschützer den U-Bahn-Ausbau. Neu-Delhi: Wie klingt der Alltag in der indischen Hauptstadt? Überblick: Die Firma Emporis möchte INHALT alle Hochhäuser weltweit fotografieren 04 Titelfoto: Peter Bialobrzeski / laif und gibt eine Top-25-Liste der Städte Zahlmeister: So wird man leicht zum Stadtgespräch. mit den meisten Hochhäusern heraus. Angekommen in der Global City: 06 Größenordnung: An Lagos kann man verzweifeln. Ein Spaziergang durch eine ganz normale Straße in New York zeigt, wie 12 Wetterbericht: Städte machen sich ihr Klima selbst. international die US-Metropole ist. ☞ www.fluter.de 14 Reinkultur: Tokio ist die größte Stadt der Welt. Sauber! 2 fluter.de
44 Kairo Jürgen Stryjak, 45, fiel bei seinen 14 Tokio Recherchen besonders die Orien- Christoph Neidhart, 53, lebt seit fünf tierungslosigkeit vieler Jugendlicher Jahren in Japan. Er ist dort Korrespon- auf, die zwischen alten Moralvorstel- dent der Süddeutschen Zeitung und des lungen und modernem Lifestyle ver- Zürcher Tagesanzeigers. An der Tokioter geblich nach Halt suchen. Stryjak lebt seit 1999 in U-Bahn schätzt er besonders die neu- Kairo, er ist freier Journalist, unter anderem für den en Wagen, die „weich klimatisiert“ sind – das bedeutet, Tagesspiegel und die ARD.Vor drei Jahren gehörte er zu dass den Fahrgästen keine kalte Luft ins Gesicht bläst. Im den Gründungsmitgliedern von weltreporter.net. Januar erscheint von ihm Die Kinder des Konfuzius: Was Ostasien so erfolgreich macht. 22 Shenzhen Justus Krüger, 32, lebt 38 Mumbai seit zwei Jahren auf Lan- tau Island, der größten Britta Petersen, 41, lebt seit En- Insel Hongkongs. In de 2005 als freie Autorin und Shenzhen war er erst- Korrespondentin in Neu-Delhi. mals im Jahr 2000, seitdem fährt er jedes Für fluter war sie zum ersten Mal Jahr mehrmals dorthin. Ihm fällt immer im Mumbaier Slum Dharavi. Erschüttert hat sie wieder auf, dass Shenzhen viel ruppiger ist dort nicht so sehr das Ausmaß des Elends – das ist als Hongkong, „eine typische Aufsteiger- in vielen Regionen Indiens noch viel größer. Aber atmosphäre“. Er arbeitet als freier Journalist, die Konzentration vieler Menschen auf so engem u.a. für die FTD, die NZZ und die South Raum war für sie sehr erschreckend. China Morning Post. 20 Planungsreferat: Interview mit Albert Speer junior. 36 Grundgerüst: Investition & Innovation in Städten. 22 Überholmanöver: Shenzhen ist der chinesische Traum. 38 Geldanlage: Der Slum Dharavi in Mumbai. 28 Steuersysteme: Die Soziologin Saskia Sassen im Interview. 44 Kraftwerk:Vielen hilft in Kairo beten. 30 Drohpotenzial: Mexico City kann Angst machen. 50 Kulturhauptstadt: Metropolen in der Popkultur. Magazin der bpb 3
ZAHLMEISTER Nummernrevue Fläche Die größten Städte der Welt nach Fläche in Quadratkilometern, 2005 Wo leben die ehrlichsten Menschen, 1. New York . . . . . . . . . . . . . 8683 km 2 2. Tokio/Yokohama . . . . . . . 6993 km 2 wo die schnellsten, wo die meisten? 3. Chicago . . . . . . . . . . . . . . . 5498 km 2 Fakten zum urbanen Leben. 4. Atlanta . . . . . . . . . . . . . . . 5083 km 2 5. Philadelphia . . . . . . . . . . . . 4661 km 2 21. Buenos Aires . . . . . . . . . . . 2266 km 2 27. Mexico City . . . . . . . . . . . 2072 km 2 Anteil der Menschen, die Geschätzte Slumbevölkerung 30. São Paulo . . . . . . . . . . . . . . 1968 km 2 1800 in Städten wohnten von Delhi 2015 50. Delhi . . . . . . . . . . . . . . . . . 1295 km 2 3 Prozent 10 000 000 110. Lagos . . . . . . . . . . . . . . . . . 738 km 2 Von 30 Handys, Anteil der Menschen, die Einwohnerzahl Schwedens, März 2007 die die Redaktion von „Reader’s Digest“ in 2007 in Städten wohnen Innenstädten auf der ganzen Welt platzierte, 51 Prozent 9 130 000 wurden zurückgegeben: Ljubljana/Slowenien . . . . . . . . . . . . . Toronto . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29 28 Seoul . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27 Anteil der Stadtbevölkerung Mumbai, Manila, New York . . . . . . . 24 an der Gesamtbevölkerung Europa São Paulo, Paris, Berlin . . . . . . . . . . . Mexico City . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21 20 Schätzung für das Jahr 2030 78,3 Prozent Singapur, Buenos Aires . . . . . . . . . . . 16 Lateinamerika Hongkong, Kuala Lumpur . . . . . . . . . 13 und Karibik Welt 84,3 Prozent 700 000 Afrika 50,7 Prozent 59,9 Prozent Zahl der Menschen, um die Asien Nordamerika Ozeanien Shanghai jährlich wächst 54,1 Prozent 86,7 Prozent 73,8 Prozent Die schnellsten Fußgänger Sekunden, die Fußgänger im Schnitt brau- chen, um 20 Meter zurückzulegen Wachstum Zahl der Menschen, um die Städte welt- weit täglich wachsen (2005) Singapur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10,55 Kopenhagen . . . . . . . . . . . . . . . . . 10,82 Die zehn am schnellsten wachsenden Städ- te (Einwohner 2006 bis 2020, in Prozent, Schätzung) 1. Beihai, China . . . . . . . . . . . . . 10,58 180 000 Zahl der Menschen weltweit, die jährlich Madrid . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10,89 Guangzhou . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10,94 Dublin. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11,03 Berlin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11,16 New York . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12,00 Zusammengestellt von Patricia Dudeck 2. Ghaziabad, Indien . . . . . . . . . . . 5,20 neu in Slums von Großstädten ziehen Wien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12,06 3. Sanaa, Jemen . . . . . . . . . . . . . . . 5,00 Warschau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12,07 4. Surat, Indien . . . . . . . . . . . . . . . 4,99 5. Kabul, Afghanistan . . . . . . . . . . 4,74 6. Bamako, Mali . . . . . . . . . . . . . . 4,45 27 000 000 London . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12,17 Paris . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12,65 Tokio . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12,83 7. Lagos, Nigeria . . . . . . . . . . . . . . 4,44 Zahl der Menschen weltweit, die in Kairo . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14,18 8. Faridabad, Indien . . . . . . . . . . . 4,44 einem Slum leben Dubai . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14,64 9. Daressalam, Tansania . . . . . . . . . 4,39 10. Chittagong, Bangladesch . . . . . . 4,29 1 000 000 000 Bern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17,37 Blantyre / Malawi. . . . . . . . . . . . . . 31,60 4 fluter.de
Die höflichsten Einwohner Finanzmetropolen 1. London Bruttoinlandsprodukt 2005 1. New York Tokio . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1191 Mrd. US-Dollar 2. Zürich 2. New York 3. Tokio New York . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1133 Mrd. US-Dollar 3. Toronto Mexiko City . . . . . . . . . . . . . . . . . 315 Mrd. US-Dollar 4. Berlin, São Paulo, Zagreb 4. Chicago 5. Hongkong Mumbai . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 126 Mrd. US-Dollar 9. Mexico City Kairo . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 98 Mrd. US-Dollar 15. Buenos Aires, London, Paris u.a. 6. Singapur 7. Frankfurt Lagos . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30 Mrd. US-Dollar 30. Moskau, Singapur 35. Mumbai 8. Paris 9. Seoul Berlin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93 Mrd. US-Dollar Test in 35 Städten. Verfahren: In jeder Stadt 20mal hin- 10. Los Angeles BIP Deutschland 2006 . . . . . . . . . 2900 Mrd. US-Dollar ter Menschen in öffentliche Gebäude gehen und zählen, wie oft die Tür aufgehalten wird; 20 kleine Einkäufe 42. Mexico City machen und zählen, wie oft vom Verkaufspersonal „Dan- 45. Mumbai Anteil der Megacitys ke“ gesagt wird. An 20 Orten in der Stadt einen Ordner 46. Peking voller Papiere fallen lassen und zählen, wie oft jemand 48. Sao Paulo am weltweiten BIP beim Auf heben hilft. Die Kriterien: Rechts- und politisches von 59,4 Billionen System, wirtschaftliche Stabilität, ef- US-Dollar (2005) Megacity fiziente Geschäftsabwickung, Rolle als Handelszentrum, Finanzf luss, Wis- sensgenerierung, Informationsf luss 9 Prozent Städtische Agglomerationen mit mehr als 10 Millionen Einwohnern Anteil des Wirtschaftswachstums in Asien, das in Städten erwirtschaftet wird „Die Menschen, nicht die Häuser, Meta Städte mit 20 Millionen city 80 Prozent Anteil des Einkommens, den arme Bewohner von Megacitys für den Kauf von Lebensmitteln ausgeben machen die Stadt.“ Perikles, Einwohnern und mehr 60–80 Prozent 493-429 v. Ch. Menschen Die zehn größten Städte der Welt nach Einwohnern im Jahr 100 1900 1950 1. Rom . . . . . . . . . . . . . . . . . . 450 000 1. London . . . . . . . . . . . . . . . . 6,5 Mio. 1. New York . . . . . . . . . . . . . . 12,5 Mio. 2. Luoyang . . . . . . . . . . . . . . . . 420 000 2. New York . . . . . . . . . . . . . . . 4,2 Mio. 2. London . . . . . . . . . . . . . . . . 8,9 Mio. 3. Seleukia am Tigris . . . . . . . . 250 000 3. Paris . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3 Mio. 3. Tokio . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Mio. 4. Alexandria . . . . . . . . . . . . . . 250 000 4. Berlin . . . . . . . . . . . . . . . . . 2,7 Mio. 4. Paris . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5,9 Mio. 5. Antiochia (heute:Türkei) . . . . 150 000 5. Chicago . . . . . . . . . . . . . . . . 1,7 Mio. 5. Shanghai . . . . . . . . . . . . . . . 5,4 Mio. 6. Anuradhapura, Sri Lanka . . . . 130 000 6. Wien . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1,7 Mio. 6. Moskau . . . . . . . . . . . . . . . . 5,1 Mio. 7. Peshawar, Pakistan . . . . . . . . . 120 000 7. Tokio . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1,5 Mio. 7. Buenos Aires . . . . . . . . . . . . . 5 Mio. 8. Karthago (Tunesien) . . . . . . . 100 000 8. St. Petersburg . . . . . . . . . . . . 1,4 Mio. 8. Chicago . . . . . . . . . . . . . . . . 4,9 Mio. 9. Suzhou (China) . . . . . . . . . . . . . .n/a 9. Manchester . . . . . . . . . . . . . 1,4 Mio. 9. Ruhrgebiet . . . . . . . . . . . . . 4,9 Mio. 10. Smyrna (heute: Izmir,Türkei) . . 90 000 10. Philadelphia . . . . . . . . . . . . . 1,4 Mio. 10. Kalkutta . . . . . . . . . . . . . . . . 4,8 Mio. 2005 2015 (Schätzung) Die größten deutschen Städte 2006 1. Tokio . . . . . . . . . . . . . . . 35,197 Mio. 1. Tokio . . . . . . . . . . . . . . . 35,494 Mio. Berlin . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3,340 Mio. 2. Mexico City . . . . . . . . . . 19,411 Mio. 2. Mumbai . . . . . . . . . . . . . 21,869 Mio. Hamburg . . . . . . . . . . . . . . . . 1,754 Mio. 3. New York . . . . . . . . . . . . 18,718 Mio. 3. Mexico City . . . . . . . . . . 21,568 Mio.. München . . . . . . . . . . . . . . . 1,281 Mio. 4. São Paulo . . . . . . . . . . . . 18,333 Mio. 4. São Paulo . . . . . . . . . . . . 20,535 Mio. Köln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1,024 Mio. 5. Mumbai . . . . . . . . . . . . . 18,196 Mio. 5. New York . . . . . . . . . . . . 19,876 Mio.. 6. Delhi . . . . . . . . . . . . . . . 15,048 Mio. 6. Delhi . . . . . . . . . . . . . . . 18,604 Mio.. Quellen: Statistisches Bundesamt; citymayors.com; spectrum.ieee. 7. Shanghai . . . . . . . . . . . . 14,503 Mio. 7. Shanghai . . . . . . . . . . . . 17,225 Mio.. org; UNFPA; Mike Davis: Planet der Slums; Habitat, UN Departe- g ment of Economic and Social Affairs; Tertius Chandler: Four 8. Kalkutta . . . . . . . . . . . . . 14,277 Mio. 8. Kalkutta . . . . . . . . . . . . . 16,980 Mio.. Thousand Years of Urban Growth – An Historical Census; UN – The 2005 Revision Population Database; statistik-berlin.de; statistic-nord. 9. Jakarta . . . . . . . . . . . . . . 13,215 Mio. 9. Jakarta . . . . . . . . . . . . . . 16,822 Mio. de; ihk-muenchen.de; stadt-köln.de; readersdigest.com; gtz.de; bmz. 10. Buenos Aires . . . . . . . . . 12,550 Mio. 10. Dhaka . . . . . . . . . . . . . . 16,842 Mio. de; Kulturaustausch III/2006; paceof life.co.uk Magazin der bpb 5
GRÖSSENORDNUNG Fotos: George Osodi / Panos Pictures Oben: Marktfrauen unterwegs zum Island Market, wo sie Gemüse verkaufen. Unten: Haus in der Goriola Street, die von Künstlern verschönert wurde.
EK N OA KETE ILE OGBO LAGOS Die Summe der Möglichkeiten Als der Stararchitekt Rem Koolhaas Lagos überflog, sah er eine verborgene Ordnung. Er wäre besser mal zu Fuß gegangen. Text: Judith Reker Fotos: George Osodi 6 °n. Sechs Grad Nord. Die Lounge mit kühlblau strahlender Glasbar, an der die Reichen und Schönen aus Cocktail- gläsern Dirty Nipples, Abuse Machines und Absolute Testa Rossas trinken, ist nach den drohen. Godwin stemmt locker 400 Pfund am Stück in einem der unzähligen Fitness- studios, die sich in Hinterhöfen der erbärm- lichsten Viertel verstecken, in Ajegunle, Okobaba, Bariga und vielen mehr. stapeln sich, geschälte Orangen formen Pyramiden. Selbst unter den mächtigen Fly- overs, den Autobahnen auf Betonpfeilern, wird gekauft und verkauft, schlafen Menschen bei ihren Ständen. Koordinaten von Lagos benannt. Dritter öst- Die Wohlhabenden von Lagos verirren sich Was man in Lagos vergeblich sucht, ist eine licher Längengrad, sechster nördlicher Brei- hierher nicht. Nur die Armen kennen beide öffentliche Hand, die schützend oder ordnend tengrad. Hier fällt sie ins Weltraster, die nige- Welten.Wenn die Banker, Geschäftsleute und eingreift. Wenn sie sichtbar wird, dann zum rianische Hafenstadt mit vielleicht 11 Milli- Landbesitzer im täglichen Stau stehen, sind Beispiel so: Ein Stau vor Ajegunle, euphemis- onen Einwohnern. Oder 18 Millionen. Je die Habenichtse immer schon da. Als flie- tisch „go slow“ genannt. Zwei gelbe Mini- nachdem, welcher der zwei offiziellen Volks- gende Händler paradieren sie bei 40 Grad busse, in denen sich Marktfrauen mit ihren zählungen im Jahr 2006 man folgt. Die Ergeb- ihre Waren an den Autofensterscheiben ent- Körben drängen. Plötzlich tauchen ein Dut- nisse liegen jedenfalls etwa so weit auseinan- lang, hinter denen die Fahrer in klimatisierter zend Polizisten auf, Spezialeinheit, Männer der, wie die Schweiz Einwohner hat. Kühle sitzen. Mit Wasserbeuteln, Taschentü- in schwarzen T-Shirts, auf denen „Raider“ Raphael Godwin ist Türsteher im 6°n. Anders chern, Spielzeug, Erdnüssen, Autoersatzteilen, steht. Sie stellen sich mit ihren Gewehren vor Fotos: George Osodi / Panos Pictures ausgedrückt: Er hat es geschafft. Der Mann aus Sonnenbrillen, Handykarten zwängen sie sich die Fahrzeuge, schreien „Raus!“, zerren die dem berüchtigten Armenviertel Ajegunle hat zwischen den Blechlawinen hindurch. Und ersten Passagiere aus den Bussen. In einer einen Job, um den ihn viele beneiden. 20 000 konkurrieren um die Lücken zwischen den Minute haben die Polizisten die öffentlichen Naira, 117 Euro, verdient er im Monat. Der Autos noch mit den dauerhupenden okáda, Verkehrsmittel samt Fahrern gekapert und billigste Champagner im 6°n geht für 87 Eu- den Mopedtaxis. bahnen sich ihren Weg zu irgendeinem Spe- ro über den Tresen. Seinen Job hat der Mitt- „Lagos ist ein einziger Markt“, sagt der zialeinsatz. Die meisten Beobachter verziehen vierziger seiner Figur zu verdanken. Vom Architekturprofessor David Aradeon. Bis keine Miene. Es ist zu gewöhnlich. Die Po- rasierten Vierkantschädel abwärts türmen sich wenige Zentimeter an die Autos heran drän- lizei hat kaum eigene Fahrzeuge, dann nimmt Muskelberge, die jeden Störer zu erdrücken gen die Marktstände. Rohe Fleischbrocken sie sich eben, was sie braucht. Magazin der bpb 7
Ganz kurz einmal war Lagos sexy. Denn da sah plötzlich einer eine Ordnung, und zwar nicht irgendeiner, sondern der niederländi- sche Architekt Rem Koolhaas, der zur inter- nationalen Avantgarde der Stadttheoretiker zählt. Er sagte sogar, die Frage sei nicht, „ob Lagos mit dem Westen Schritt halten kann, sondern ob wir in der Lage sind, mit Lagos Schritt zu halten“. Koolhaas war in den Neunzigerjahren im Präsidentenhubschrauber über die Stadt geflogen und hatte festgestellt, dass „aus der Luft betrachtet, der scheinbar brennende Müllhaufen in Wirklichkeit ein urbanes Phänomen ist, auf dessen Kruste eine hoch organisierte Gemeinschaft lebt“. Für solch im wörtlichen Sinn abgehobene Sicht bezog Koolhaas reichlich Schelte. Ein Kritiker der Zeitschrift New Yorker ätzte, mit einem so ästhetisch distanzierten Blick aufs Elend zu schauen sei genauso schlimm wie gar nicht hinzuschauen. Die Karawane des Avantgarde- Jetsets ist längst weitergezogen. Übrig geblie- ben sind die Lagosianer. Und unter ihnen jene, die versuchen, ihre Stadt ein wenig le- benswerter, ein wenig schöner zu machen. Als vor zwei Jahren ein Dutzend Künstler in die Goriola Street einfielen, wussten die Be- wohner nicht, wie ihnen geschah. Die Straße im Stadtteil Ajegunle ist ruhig, nur in der Ferne ist Mopedknattern zu hören. Sie wirkt wie ein Dorfweg, so wie viele Armenviertel und Slums eine in sich geschlossene Welt. Oyediya Kalu und Olisakwe Motunrayo sit- noch größer ist der Ruf des Viertels als Kri- nalist Chuka Nnabuife von der in Lagos er- zen vor einem gelben Haus und erinnern sich. minellen- und Versagernest. scheinenden Zeitung The Guardian ergänzt: „Wir haben uns alle gewundert. Zuerst dach- Die Aktion hat sich gelohnt, meint Oyediya „Die Leute sollten einen Touch Schönheit ten wir, das ist irgendwas Rituelles“, sagt die Kalu, die vor ihrem Haus Makkaroni und bekommen. Kunst und Schönheit werden zu 28-jährige Friseuse Motunrayo. In Nigeria Kochbananen verkauft. „Unsere angemalten sehr als Vorrecht der Reichen gesehen.“ fürchten sich viele vor Zauberei. „Dann ha- Häuser sind gut fürs Geschäft.“ Die Friseuse Schönheit, hat ein Schriftsteller gesagt, ist die ben sie uns gesagt, dass sie wirklich nur unse- stimmt ihr zu: „Leute kommen, nur um zu Verheißung von Glück.Wenn das so ist, dann re Straße schöner machen wollen.“ Ein biss- schauen. Und dann kaufen sie was zu essen muss es sich lohnen, die Schönheit zu suchen chen wundert sie sich immer noch. oder lassen sich die Haare machen. Auch die in dieser Stadt, die aufs Gemüt drückt, in der Die Idee hatte der nigerianische Künstler Musikindustrie kommt, die haben schon drei oft tagelang die Sonne ausgesperrt wird von Emeka Udemba, der seit zehn Jahren in Frei- Videos hier gedreht.“ schweren, zum Greifen nahen Wolken, die burg lebt. Gemeinsam mit elf weiteren Für Emeka Udemba, der jährlich zurückkehrt einen monochromen Grauschleier über alles Künstlern aus Lagos und den Bewohnern in die Goriola Street, „ist das Wichtigste die werfen, in der einem der Geruch von faulen bemalte der damals 39-Jährige in der Gori- Wirkung in den Köpfen. Die Leute haben Eiern und die süßlich-giftigen Dämpfe aus ola Street Hauswände, stellte Skulpturen auf, gesehen, dass sie selber etwas tun können, um den Sägewerken an der Lagune Tränen in die veranstaltete ein großes Fest. „Ich wollte dem ihre Umgebung zu verbessern.“ Kulturjour- Augen treiben. Ort durch Kunst eine Identität geben“, er- klärt er. Die Menschen hier bräuchten einen Lagos bekam seinen Namen von den Portugiesen, sie benann- Quelle: Il Foglio, 25.8.07 Grund, sich nicht für ihre Herkunft zu schä- ten es nach der Hafenstadt Lagos in Südportugal. Die Stadt men. Ajegunle ist berühmt für die Fußballer liegt auf Festland und mehreren Inseln. Bis 1991 war Lagos und Musiker, die es hervorgebracht hat. Nigerias Hauptstadt. Seit den Neunzigerjahren werden hier in Newcastle-United-Stürmer Obafemi Mar- größerem Stil Filme gedreht, heute ist „Nollywood“ die dritt- tins oder Jonathan Akpoborie, früher beim größte Traumfabrik der Welt mit ca. 1200 Filmen pro Jahr. VfL Wolfsburg, kommen aus Ajegunle. Aber 8 fluter.de
Oben: Kinder aus der Theatergruppe von Segun Adefila bei einem Auftritt im Bariga-Viertel. Rechts:Typischer Tag auf dem Oshodi-Markt mitten in Lagos. Doch Projekte wie das von Ajegunle sind schwer zu finden. Auch orts- und szenekun- digen Lagosianern fällt auf Nachfrage nur die Goriola Street ein. „Und selbst das kam von einem, der die Stadt verlassen hat“, sagte ein Architekt. Seine Kollegin fügte hinzu: „Sol- che Projekte klingen nicht nach lagosianischer Mentalität.“ Wo das Überleben so viel Kraft kostet, ist sich der Einzelne vielleicht noch mehr als anderswo selbst der Nächste. Hinzu kommt: Lagos zermürbt die kreativen Geister, die etwas ändern wollen. An Plänen und Ideen fehlte es nie, nur hat noch keine Regierung mit der Umsetzung ernst gemacht. „Dies hätte eine schöne Stadt sein können“, sagt David Aradeon. Er spricht vom Spiel von Wasser und Land, von den frühen Gebäuden in brasilianischer Architektur, die der Stadt Magazin der bpb 9
einen eigenen Charakter hätten geben kön- nen. Der 1932 geborene Architekt mit aus- ladendem weißem Afroschopf sitzt über einem Stadtplan von Lagos, gekauft in einem guten Buchladen. „Was ist das? Diese Karte ist Quatsch. Wer macht so etwas? Kein Kar- tograf jedenfalls.“ Land eingezeichnet, wo in Wirklichkeit Wasser ist, die Größenverhält- nisse sind falsch und so weiter. Dabei war es der einzige Stadtplan, den es überhaupt gab. Aradeon erklärt, warum der Verkehr nicht funktionieren kann. Mit dem Finger fährt er Straßen entlang, der Finger erstarrt – die Stra- ße hört einfach auf. Kein Fehler diesmal, so ist das Straßennetz von Lagos tatsächlich. Der emeritierte Stadtplaner schreibt heute lieber Aufsätze, als weiter zu hoffen, dass einmal einer seiner Pläne ausgeführt wird. Oben: Segun Adefila will Kinder davon abhalten, die nächsten „area boys“ zu werden. Ähnlich sieht es in der jüngeren Generation aus: Der Architekt Koku Konu imponierte 2002 bei einer Veranstaltung der Kasseler Kunstausstellung documenta mit Ideen zur Verbesserung der Lebensqualität. Mit seinen Kollegen vom CIA, der „Creative Intelligence Agency“, entwarf er zum Beispiel öffentliche Pissoirs, Pinkelrinnen mit Sickergruben, die ein Schritt in Richtung Hygiene gewesen wären. Aber die Stadtverwaltung finanzierte Quellen: UN – The 2005 Revision Population Database; Mercer Human Resource Consulting; ZDF; Münchner Rück sie nicht. Heute fliegt Konu von einem westafrikanischen Land zum nächsten, um Banken zu bauen. „Man hat irgendwann kei- ne Kraft mehr“, sagt er, am Telefon aus Gam- bia. „Es ist traurig, das zu sagen, aber: Unsere Ideen sind gescheitert.“ Ein noch jüngerer Architekt, Ayodele Arigbabu, entlädt sein kre- atives Potenzial in einer bissigen Magazinko- lumne. Als kürzlich das verrottende Natio- Oben: Die Skyline von Lagos. Unten: Raphael Godwin (links) beim Training mit einem Kollegen. naltheater verkauft werden sollte, das wie ein Raumschiff im grünen Sumpfland steht, schrieb der 27-Jährige: „Wie wär’s: Wir ver- kaufen es an eine Mega-Kirche? Die Kirchen wissen den Wert großer Gebäude wenigstens zu schätzen.“ Arigbabu spielte auf die riesigen Kirchen an, die sich entlang der Autobahn von Lagos nach Ibadan wie Satellitenstädte aneinanderreihen. Ihre Säle fassen mehr als 50 000 Menschen. Die Verheißung von Glück, hier findet sie statt, und Hunderttausende de- monstrieren, wie sehr sie dieser Verheißung bedürfen. „Wenn du in Nigeria Gott nicht nahe stehst, stirbst du“, hatte in Ajegunle je- mand gesagt. Und ergänzt: „Selbst die Räuber beten, bevor sie dich erschießen.“ Den Kreativen, deren Thema Lagos und sei- ne Verwaltung ist, resignieren. Doch anderen, etwa Musikern, scheint die Lagunenstadt 10 fluter.de
ständig Inspiration zu geben. Wie dem deutsch-nigerianischen Mu- Links: Junge Männer in Ajegunle bauen sich Musikinstrumente. Rechts: siker Adé Bantu. „Ich kenne Lagos seit mehr als 25 Jahren und ent- Segun Olagunju und Asuma Risla (re.) gehören zu den berüchtigten „area decke immer wieder Neues“, sagt der 36-jährige Mitgründer der boys“. Hier stehen sie nahe der Lagune im Bariga-Viertel von Lagos. afrodeutschen Gruppe Brothers Keepers. „Alles ist extrem hier, ich mag das: die Lautstärke, die extremen Gerüche, die Gegensätze.“ Klar, sagt er, sein Bild sei „romantisierend, weil ich immer wieder Abstand gewinnen kann. Lagos ist natürlich zugleich ein Moloch, hier gilt „Im Prinzip sind wir alle area boys“, sagt der Theatermacher Segun ‚survival of the fittest’.“ Aber, sagt Bantu, „Lagos gibt dir auch das Adefila, der es „wichtig“ findet, „immer wieder zu fragen: Wieso bin Gefühl, dass sich das Leben am nächsten Tag um 180 Grad drehen ich dem entkommen?“ Gemeinsam mit seinem Freund Seun Awo- könnte, dass du als Millionär aufwachst“. bajo betreut der 35-Jährige eine Kindertheatergruppe, die jeden Nach- Im Stadtteil Bariga muss man nur starkem Marihuana-Geruch folgen, mittag im engen Betonvorhof von Awobajos Haus probt. Sie tanzen, um auf eine besondere Gruppe Glücksritter zu treffen. Desperados eher, spielen Theater, lernen Instrumente. „Footprints Academy“ nennen die sogenannten area boys. Das ist der vage Sammelbegriff der Lagosia- sie sich. In die Fußstapfen der eigenen Kultur sollen sie treten, vom ner für alles, was ihnen Angst macht. Area boys, das können Gangs sein, Wissen der Älteren lernen. Für Segun ist das eine Art Jugendschutz, die vom einfachen Diebstahl über bewaffneten Raub bis zur von Poli- denn „die Jungen hier sind die nächste Generation von potenziellen tikern gekauften Wahlkampfschlägerei alles im Programm haben. Auch area boys“. Gerade proben die Kinder ein Stück über Kindesmisshand- harmlose Obdachlose werden schnell zu area boys erklärt, wenn man lung. Ein zarter Junge tritt auf. „Lasst uns über Kindesmisshandlung sich nur vor ihnen fürchtet. Wo der Slum ans Meer stößt, stehen sie sprechen“, deklamiert er. Sein Rücken ist gezeichnet von vernarbten an einem Wellblechverschlag, rauchen und trinken Gin mit Milch. Striemen. „Das Kind weiß, wovon es spricht“, sagt Adefila leise. Im Hintergrund zieht sich die Third Mainland Bridge zwölf Kilome- „Lagos übt eine Anziehungskraft aus auch auf die Ärmsten“, hatte ter lang übers Meer, um Inseln und Festland von Lagos zu verbinden. Adé Bantu gesagt. Das stimmt: Jedes Jahr kommen allein aus Westafri- „Gut, manchmal müssen wir kämpfen, um uns zu verteidigen“, sagt ka 600 000 Hoffnungsvolle. Die meisten bleiben, obwohl sie den einer. Das hier sei schließlich ihr Revier. „No Money No Love“ steht Aufstieg nie schaffen. Der Türsteher Raphael Godwin, der am Tag auf einem T-Shirt. Sie erzählen von tagelangen Schlachten, bei denen im Armenviertel lebt und in der Nacht die Reichen beschützt, gehört die Häuser der Gegner und ihre eigenen in Flammen aufgingen. da schon zu den Erfolgreichen. Manchmal hindern kulturelle Regeln die Menschen daran, Lagos wieder zu verlassen. Traditionen, die mit den Lebensbedingungen der 1 Einwohner 2005: 10,866 Mio. – Einwohner 2015 (Schätzung): 16,141 Mio. Verstädterung nicht Schritt gehalten haben. So wie 2 Neueinwohner pro Tag: 6000 bei der Schneiderin Gladys Onwu. „Ich würde gern 3 Anteil der Bewohner mit Handy in den städtischen Gebieten von Lagos State: 80,2 % zurück nach Hause gehen“, sagt die 45-Jährige, die 4 Code für den sog.Vorauszahlungsbetrug, der oft mit einer E-Mail beginnt: 419 in Ajegunle ein kleines Atelier betreibt. Das geht 5 Aufschrift auf jedem Nummernschild: „Lagos: Centre of Excellence“ aber nicht. In der Tradition ihrer Volksgruppe, der 6 Platz in der Rangliste der teuersten Städte Igbo, trifft sich das Dorf jedes Jahr im August und 2007: 37 (München: 39) legt Geld zusammen.Wer nicht kommt, zahlt 5000 7 Durchschnittseinkommen: 5 US-$ Naira Strafe. Frau Onwu zahlt, aber in Lagos ver- 8 Anteil am BIP Nigerias dient sie wenigstens Geld. Und die Strafe ist immer (Schätzung): 30 % noch billiger als die Fahrt nach Hause und Ge- 9 Kleine Cola kostet 23 Cent schenke für die Großfamilie. Eine Verwandte in 10 Mehr: www.bpb.de/megastaedte Lagos ist für viele Dorfbewohner, was in Deutsch- land einmal die Tante in Amerika war. Magazin der bpb 11
WETTERBERICHT Professor Kuttler, fährt man aus der portiert wird. Sind weniger Pflanzen in einer wird. Der Mensch muss eine gewisse Körper- Stadt aufs Land, fühlt es sich dort küh- Stadt, wirkt mehr Strahlungsenergie auf die temperatur einhalten, dazu wird Energie ver- ler an. Wie kommt das? Städte ein.Weniger Bäume bedeuten weniger braucht, die auch an die Umgebung abgege- Das ist das Stadtklima, und hier speziell der Schatten, der vor Strahlung schützt. Außer- ben wird. Das sind pro menschlichen Körper sogenannte UHI, „Urban Heat Island“-Ef- dem gibt es weniger sogenannte Kaltluftbil- etwa 200 Watt. Alle gewerblichen, technischen, fekt, der Wärmeinsel-Effekt. Wir haben in dungsflächen, also Parks, Wiesen, Seen. Brei- industriellen Prozesse geben immer auch ir- Städten wie Essen oder München schon Dif- te, asphaltierte Straßen speichern sehr viel gendwie Wärme ab. Aber: Weder die noch ferenzen zwischen Stadt und Umland von bis Wärme – genau wie die ganze Stadt als drei- unsere 200 Watt spielen eine große Rolle. zu zehn Grad gemessen. dimensionaler Raum im Gegensatz zum fla- Sondern? Wie entsteht dieser große Unterschied? chen zweidimensionalen Umland. Nimmt man Kühlung und Heizung. Das kann bis zu 40 Städte fangen mehr Sonnenenergie ein als die gesamte Oberfläche der Häuser, sind Städ- Prozent der anthropogenen Wärme ausma- das Umland. Sie speichern sie besser und län- te zwischen dem Anderthalbfachen bis Zwei- chen. In Tokio muss man runterkühlen, bei ger und führen die Wärme dann schlechter fachen größer als ihr Grundriss. Mehr Fläche uns im Winter heizen. Diese Wärme gelangt, ab. Deshalb ist es im Sommer in Städten eher kann aber auch mehr Energie aufnehmen und trotz aller Bemühungen um Dämmung, ir- schwül oder, wie wir sagen, wärmebelastet. speichern. Diese Energie in Form von Wärme gendwann nach außen. Städte als Akku für Sonnenenergie? kann nachts nur schlecht abgegeben werden, Gibt es den UHI-Effekt nur in Städten? So könnte man sagen. weil die Häuser im Wege stehen. In windarmen Nächten kann man auch in Klingt gut. Mehr laue Sommerabende Es sei denn, es ist schön windig. Dörfern Unterschiede von bis zu drei Grad in der Stadt also! Ja. Aber auch der Luftaustausch durch Wind feststellen. „Ich würde nach Hamburg ziehen“ Sonne, Regen, Wind und Schnee – in Städten ist das alles anders als auf dem Land. Der Klimatologe Wilhelm Kuttler erklärt, warum wir dafür selbst verantwortlich sind. Interview: Dirk Schönlebe Im Sommer ist es in Städten dadurch oft ist in Städten geringer. Städte sind durch ih- nachts so warm, dass man schlecht schlafen re Häuser Strömungshindernisse. Der Wind kann. Diese Wärme ist vor allem für alte und weht dadurch langsamer oder sogar gar nicht nicht ganz gesunde Menschen belastend. – und die Wärme bleibt in der Stadt. Warum speichern Städte die Energie so Weniger Wind? Warum hat man in Städ- Und wie ist es dann in einer Megacity? viel besser? ten dann oft das Gefühl, dass es zieht? In Tokio wurden schon Temperaturdiffe- Der Boden einer Stadt ist stark versiegelt, Die Windgeschwindigkeiten sind in der Stadt renzen von 13 Grad gemessen. In Städten wie also mit Teer, Beton oder Stein abgedeckt. im Mittel geringer. Aber: Der Wind ist böiger New York oder Tokio wird der Stadtklima- Das verändert die Fähigkeiten des Bodens, und wechselt schneller die Richtung. Das liegt Effekt noch dadurch verstärkt, dass dort fast Wärme zu speichern und weiterzuleiten. Au- an den Kanten-, Druck- und Sogeffekten, die jeder Raum klimatisiert ist. Die warme In- ßerdem kann sich die Stadt nicht auf natür- entstehen, wenn Wind auf ein Gebäude trifft. nenraumluft wird nach außen gepumpt, die liche Weise abkühlen, weil Regenwasser in Es entstehen Wirbel, die dafür sorgen, dass die Klimaanlagen selbst verbrauchen dabei Strom, Gullys abfließt und unterirdisch abtranspor- Windgeschwindigkeit sich lokal erhöht. produzieren also noch Abwärme. tiert wird – Verdunstungskälte entsteht nicht. Was trägt noch zum UHI-Effekt bei? In Deutschland sind Klimaanlagen bis- Und das macht schon zehn Grad aus? Anthropogene Wärme. her kaum verbreitet. Es geht weiter. Pflanzen verbrauchen Energie, Und was ist das? In Bürogebäuden werden sie bedauerlicher- mit der sie Wasser in Wasserdampf umwan- Wärme, die vom Menschen abgegeben und weise trotzdem benutzt. Aus architektonischen deln, der wiederum in die Atmosphäre trans- durch das menschliche Wirtschaften freigesetzt Gründen werden seit Jahren Bürogebäude 12 fluter.de
gebaut, die verglast sind. Das ist für das Klima sind wir bei 580 000 Einwohnern. Trotzdem weniger warm und weniger Wärme abgege- nicht sehr vorteilhaft: Diese Glasfassaden, zu- nimmt der Wärmeinsel-Effekt zu. ben. Ein weiterer wichtiger Aspekt der Stadt- mindest die etwas älteren, lassen Sonnenstrah- Woran liegt das? planung in südlichen Gebieten ist, dass die len durch das Glas, um den Innenraum zu Wir haben ein höheres Wärmebedürfnis, kei- Häuser relativ eng beieinanderstehen. So kann erhellen, die entsprechende Wärme bleibt ner will bei 18 Grad im Wohnzimmer sitzen, die Sonne nicht in die Straßenschluchten dann aber auch drin. Und was hilft gegen die jeder will immer Warmwasser zur Verfügung fallen und alles aufheizen. Die Häuser müssen Wärme? Eine Klimaanlage. haben. Und:Vor 50 Jahren kamen im statisti- dann entsprechend der Windrichtung ausge- Stadtklima schadet also den Menschen? schen Mittel auf eine Person 20 Quadratme- richtet sein, damit der Wind durch die Straßen Je nachdem. In einer Stadt wie Helsinki, die ter Wohnfläche, heute sind es 50. Solche Woh- fegen kann. Andererseits ist klar, dass man in in winterkalten Gebieten liegt und wenig Luft- nungen müssen warm gehalten werden. New York oder Tokio nicht plötzlich nur noch verschmutzung hat, ist das Stadtklima für die Wie verringert man Stadtklima-Effekte? kleine schmale Straßen bauen kann. Menschen ein Segen. Dort sind dann im Win- Energie sparen. Häuser begrünen. Eine Haus- Wären breite Straßen keine Möglichkeit, ter die Temperaturen nicht so niedrig. In begrünung mit Efeu schafft eine sehr gute Schneisen für den Wind zu schaffen? Städten, deren Luft sehr belastet ist und die Wärmedämmung, weil die Luft zwischen Schon, aber die Wärmestrahlung auf schwar- nicht über die Infrastruktur verfügen wie In- Wand und Efeu meistens steht und dadurch zen Asphaltstraßen ist sehr hoch. Die Tokioter dustrieländer, also zum Beispiel Mexico City, sehr gut isoliert. Dort, wo die Sonne stark Stadtverwaltung prüft,Wasserrohre dicht un- ist das natürlich eine Qual. strahlt, im Süden vor allem, sollten die Fens- ter die Straßendecken zu verlegen. Damit Welche Auswirkung hat das Stadtklima ter besser verschattet werden: also Jalousien wollen sie die Straßen abkühlen, damit die auf Schnee oder Regen? davor. Weniger mit dem Auto fahren. Das im Sommer nicht so heiß werden. Städte geben viel Wärme ab und viele Kon- produziert nämlich nicht nur Abgase, sondern Welche Auswirkungen hat das Stadtkli- densationskerne, also kleine und kleinste auch Wärme. Dann müsste man Städte anders ma auf Fauna und Flora Deutschlands? Staubpartikel. Die dienen in der Atmosphäre Es sind sehr viele Neubürger eingewandert, als Anlagerungspunkte für den dort konden- zum Beispiel der Ginkgobaum. Der kommt sierenden Wasserdampf – und es regnet. Un- „Den Autoverkehr aus dem mediterranen Raum und hat hier tersuchungen im Ruhrgebiet haben gezeigt, würde ich, soweit es eigentlich nichts zu suchen. Auch viele Tiere dass es deswegen auf der windabgewandten geht, ausschalten.“ zieht es in die Städte, weil es dort wärmer ist, Seite zu einer Erhöhung des Niederschlags vor allem im Winter. um bis zu sieben Prozent kommt. Wenn wir also die Städte nur groß ge- Es regnet mehr? nug bauen, können wir in Frankfurt Nein, der Niederschlag wird nur anders ver- bauen. Das ist natürlich hier vom Schreibtisch auch irgendwann Orangen anbauen? teilt. Die Gesamtniederschlagsmenge für die aus wunderbar zu sagen. Aber Städte brau- Im Prinzip ja. Wenn damit nicht auch die Gesamtfläche bleibt in etwa gleich. Aber der chen unverbaute Luftschneisen, entlang von ganzen Nachteile verbunden wären. typische Gewitterregen mit großen Regen- Flüssen, breiten Straßen oder alten Gleisen. Wo würden Sie am liebten wohnen? tropfen kommt öfter, weil sich durch starke Wasser in den Städten kann das Stadtklima Eigentlich würde ich sehr gern in München Aufwinde große Tropfen bilden können. verbessern, weil es eine sehr hohe Wärmeka- wohnen. Aber aus klimatischen Gründen Wie ist es mit Schnee? pazität hat. Es nimmt sehr viel Energie auf, würde ich nach Hamburg ziehen. In Städten erleben wir wesentlich weniger bevor sich die Temperatur des Wassers und Warum? Tage mit einer geschlossenen Schneedecke damit auch seine Wärmeabgabe ändern. Das Wetter ist in Hamburg und München als im Umland. In den Städten ist es einfach Wie würden Sie eine Stadt planen? nicht so fürchterlich unterschiedlich, wie man zu warm. In Deutschland würde ich sie sehr aufgelockert immer meint. Aber Hamburg hat den großen Ist doch gut: muss man im Winter nicht bauen. Lichte Straßen, mit schattenspenden- Vorteil, dass dort die Belüftung wesentlich so oft Schnee räumen. den Bäumen an den Straßenrändern, die dürf- besser ist. Die Stadt liegt eben am Meer, an Ein Doktorand hat tatsächlich die finanziellen ten aber oben nicht zusammenwachsen, sonst der Küste haben wir wesentlich höhere Wind- Auswirkungen der Stadtklima-Effekte unter- können Wärme und Abgase nicht abziehen. geschwindigkeiten. Und wenn die Bebauung sucht. Die Stadt Essen spart Geld, weil sie Grünschneisen müssen in die Stadt führen. den Wind dann nicht daran hindert, in die weniger für Winterdienste ausgibt. Es passie- Den Autoverkehr würde ich, soweit es geht, Stadt einzudringen, ist das eine feine Sache. ren weniger Verkehrsunfälle, weil es seltener ausschalten durch ein U-Bahnsystem. Ich glatte Straßen gibt. Aber das gilt heute. Wird würde Gewässer in die Stadt integrieren. Die Wilhelm Kuttler, 58, es noch wärmer, wird die Ersparnis zunichte Häuser sind bewachsen, die Hauswände be- ist Professor für An- gemacht, wenn sich die Menschen Klimaan- grünt. Und man sollte so bauen, dass die Men- gewandte Klimato- lagen anschaffen. schen keine langen Wege haben, um zur Arbeit logie und Land- Stimmt die Rechnung: Je größer die Stadt, zu kommen und den Einkauf zu machen. schaftsökologie an der desto größer der Wärmeinsel-Effekt? In vielen südlichen Städten sind die Häu- Universität Duis- Nicht unbedingt. Essen ist zum Beispiel eine ser weiß. Hat das einen Grund? burg / Essen. Er selbst typische Schrumpfungsstadt, hier lebten vor Weiß reflektiert die Sonnenstrahlung viel hat schon fünf Gara- einigen Jahren noch 620 000 Menschen, jetzt stärker als Schwarz, somit wird die Oberfläche gendächer begrünt. Magazin der bpb 13
REINKULTUR TOKIO Alles in Ordnung In der größten Stadt der K nie pres- sen sich gegen Kinfuns Schenkel, die Kante einer Map- Welt findet jeder seinen Platz. Auch der Müll. der Welt; das schnelle Shin- juku, wo alles käuflich ist; das junge schnippi- pe rammt sich in seine Text: Christoph Neidhart sche Shibuya; das Rippen. Die Tozai-S- ein wenig altbackene Bahn ist voll, aber noch im- Viertel um Ueno mit den mer drücken Leute rein. Ganz großen Museen; Ikebukuro, still. Viele haben Kopfhörer aufgesetzt, eher provinziell und proletarisch; einige versuchen zu lesen.Wer einen Sitzplatz Roppongi, das Viertel des neuen Geldes; und hat, tut, als schlafe er. Shinagawa, eine Absteige des globalen Dorfes. Jeden Morgen das Gleiche. Eingeklemmt Dazwischen erstreckt sich ein Meer kleiner zwischen fremden Menschen steckt Kinfun, Einfamilienhäuser mit winzigen Gärten und 27-jähriger Doktor der Mathematik, eine Blocks mit engen Wohnungen. Gemeinsam halbe Stunde im Zug der Tozai-Linie. Dann ist allen Stadtteilen, dass ihre Bewohner sie steigt er um, fährt weitere zwanzig Minuten fast kleinlich sauber halten. mit der Hibiya-U-Bahn. Abends geht es den Die Tozai-Linie, mit der Kinfun zur Arbeit gleichen Weg zurück. fährt, führt vom östlichen Vorort Funabashi, In Groß-Tokio leben mehr Menschen als in einer Stadt mit 580 000 Einwohnern, unter Kanada, zehnmal so viele wie in Berlin. Die Tokio hindurch nach Westen: Außerhalb der Stadt selbst hat zwölf Millionen Einwohner; Stadt ist sie eine S-Bahn, innerhalb gehört die Agglomeration, zu der vier weitere Mil- sie zum U-Bahn-Netz. Die Tozai-Linie ist Fotos: Henning Bock/ laif (2) lionenstädte gehören, 35 Millionen. Damit ist morgens zwischen 7.50 Uhr und 8.50 Uhr Tokio die größte Megacity der Welt.Von Ost zu 197 Prozent ausgelastet; es fahren also nach West dehnt sich das Häusermeer über doppelt so viele Passagiere mit den Zügen fast 100 Kilometer aus. wie eigentlich maximal vorgesehen. Die To- Ein Zentrum hat dieses Häusermeer nicht, kioter Metro transportiert täglich fast sechs sondern mehrere, sehr verschiedene: die Millionen Menschen; dazu kommen die Pas- hochnäsige Ginza, die teuerste Einkaufsstraße sagiere von Privat- und S-Bahnen. 14
Straßenszenen im Tokioter Stadtviertel Shinjuku, in dem auch der Bahnhof Shinjuku liegt: der Bahnhof mit dem weltweit höchsten Passagieraufkommen. Fotos: Henning Bock/ laif (2)
Links: Flugzeug im Landeanflug auf den Flughafen Tokio-Narita. Unten: Blick auf die Akasaka-Kreu- zung der Tokioter Stadtautobahn. Zur Hauptverkehrszeit schubsen und quetschen sich die Menschen durch die Masse, aber niemand schimpft. Einige Bahnhöfe sind Shopping-Center, in denen man erst nach Passieren der Ticketschran- ke einkaufen kann. In Shinjuku, dem verkehrs- reichsten Bahnhof der Welt, an dem Linien vier ver- schiedener Bahngesellschaften aufeinandertreffen, steigen täglich bis zu vier Millionen Passagiere ein, aus oder um. Dennoch ist der Bahnhof blitzsauber, es liegen keine Papierchen am Boden, keine Essens- reste, keine Zigarettenkippen. Und das, obwohl es seit den Anschlägen vom 11. September 2001 aus Sicherheitsgründen kaum mehr Mülleimer gibt. Die Japaner haben gelernt, ihren Abfall dorthin mitzunehmen, wo sie ihn geordnet entsorgen kön- nen und getrennt: in brennbar / abbaubar, unbrenn- bar, Flaschen, Dosen, Zeitungen. Oft nehmen die Fotos:Vorherige Seite: Henning Bock / laif; Enno Kapitza / Agentur Focus, laif (2), Natsuko Mamiya (2), Andreas Seibert / lookatonline (2) Tokioter ihren Müll einfach wieder nach Hause. Groß-Tokio produziert jährlich 15 Millionen Ton- nen Müll. Der wird verbrannt oder zu künstlichen Inseln in der Bucht von Tokio aufgeschüttet. Japan ist die zweitgrößte Wirtschaftsmacht der Welt, Tokio ihr Zentrum. Dennoch ist die Luftbelastung mit Feinstaub gering oder moderat; nur ein Drit- tel aller Fahrten im Großraum Tokio geschehen mit Pkw, in Tokio selbst gar nur ein Fünftel. 15 Milliarden Bewegungen jährlich geschehen mit dem öffentlichen Verkehr, über anderthalbmal so viele wie in den USA im ganzen Land. Mit S- und U-Bahnen kommt man in Tokio immer schneller voran als mit dem Auto. Japans Bevölkerung schrumpft, in den Bergen und an der Küste verrotten verlassene Dörfer, in ande- ren leben nur noch alte Leute. Tokio dagegen wächst, die jungen Japaner wollen in die Metro- pole. Nicht nur, weil sie auf dem Land keine Arbeit finden. Auch weil es dort langweilig sei und die Freunde ebenfalls nach Tokio gehen. Auch Kinfun ist zugewandert: als Doktorand aus Hongkong. Zu Beginn gehörte ein Zimmer im Studentenwohnheim zum Stipendium. Von dort war die Fahrt ins Forschungsinstitut erträglicher. Die Ringlinie der S-Bahn, mit der er zur Arbeit fuhr, hat ihre Wagen jüngst verbreitert, in der Hauptverkehrszeit bleiben die Sitzbänke hochge- klappt. Das verschafft den 3,6 Millionen Fahrgäs- ten täglich etwas Luft. Kinfun wagt in den vollen Zügen ohnehin nicht, sich hinzusetzen. „Obwohl niemand etwas sagt“, fühle er die Missbilligung der 16 fluter.de
Obasan und Ojisan,Tantchen und Onkel. „So tiert. Papierchen wegzuwerfen wage er schon geht es fast allen Jungen.“ gar nicht. Der Einwand, Sauberkeit und gute Wenn Kinfun abends nach wieder einer Stun- Luft seien Qualitäten, die man von einer Me- de Bahnfahrt in sein winziges Studio zurück- tropole dieser Größe nicht erwarte, überrascht kehrt, isst er zuvor am Bahnhof eine Schale ihn. Darüber hat er noch nie nachgedacht. Nudeln, kauft sich eine Box Sushi oder ein Im Westen sehen viele im Recht auf Unord- Fertiggericht, manchmal kocht er auch. „Für nung eine Freiheit. „So ist es ja nicht“, sagt mehr bin ich zu müde“, sagt er.Von den span- Kinfun. Aber wenn sich die Menschen jeden nenden Seiten der Megacity hat er nichts, er Tag im Zug schubsen und stoßen oder sogar geht nicht ins Kino, zu Konzerten, ins Mu- boxen, ist das auch nicht ordentlich. „Alle seum oder zu Sportveranstaltungen. Erst recht wissen, der Einzelne kann dafür nichts“, wehrt Oben: Der 25-jährige Shunsuke ist ein soge- nicht in die Kneipe. Die Wege sind einfach Kinfun ab. „Ich glaube, das Stoßen gehört nannter „freeter“. Seine Eltern halten das für zu weit. „Hätte ich mehr Zeit, ich würde sie längst zu den Regeln.“ ein Schimpfwort. Unten: Parkplatzlift vor einem zu Hause verbringen“, so Kinfun. „Mit Lesen Auch Natsuko Mamiya kommt mit dem Zug Privathaus in Tokio: Parkplätze sind rar. und Chatten.“ Treffen kann er seine Freunde aus einem Vorort, allerdings später, wenn die nur am Wochenende, zum Beispiel zum Ka- Bahn nicht mehr so voll ist.Weil immer wie- raoke.Werktags bleibt er per SMS und übers der Frauen im Gedränge belästigt werden, Internet mit ihnen in Kontakt. Dennoch, sagt gibt es in den S-Bahn-Zügen in den Spitzen- er, lebe er gern in Tokio. „Ich habe einen zeiten Wagen nur für Frauen. Mamy, wie sich tollen Job. Im akademischen Leben sind die die 27-jährige Natsuko rufen lässt, wohnt bei Hierarchien nicht so starr wie im Business.“ ihren Eltern. Ihre Tage verbringt sie auf den Und in Tokio funktioniere alles so gut, „die Straßen von Tokio. Mit ihrer Kamera streunt Umwelt ist gesund, die Stadt sauber, auch die sie durch den Modebezirk Omotesando, wo Luft“. Das Leben sei angenehmer, wenn die der internationale Architekten-Jetset den Fotos:Vorherige Seite: Henning Bock / laif; Enno Kapitza / Agentur Focus, laif (2), Natsuko Mamiya (2), Andreas Seibert / lookatonline (2) Leute wie in Tokio die Regeln befolgten und großen Marken wie Prada, Tod’s, Louis Vuit- ordentlich seien. „Außerdem ist Tokio sicher, ton, Dior oder Armani Modetempel hinge- du musst keine Angst haben, dass jemand dir stellt hat. Auch in Harajuku hängt sie rum; den Geldbeutel klaut.“ und in Shibuya, dem Zentrum der Jugend- Umgekehrt hat er ein schlechtes Gewissen, mode. Das ist ihr Job.Tokio ist eine wichtige wenn er den Müll einmal nicht korrekt sor- Modemetropole, hier werden Trends gemacht. Mitte: Die Tokioter Trendfotografin Natsuko Mamiya. Links und rechts von ihr: von Mamiya fotografierte Beispiele für „oshare“ Mode. Magazin der bpb 17
Quellen: UN – The 2005 Revision Population Database; Tokio Statistics Division Bureau of General Affairs; Airports Council International; Mercer Human Resource Consulting; Münchner Rück; Fotos: laif (3), Getty Images (1), Bilderberg Links: Regentag im Mode- und Einkaufsviertel Shibuya. Oben: Habseligkeiten von Obdach- losen, die tagsüber fein säuberlich verschnürt am Rand vieler Parkanlagen lagern. Mamy wird von Experten als Trendsetterin die Modeprofis zu ihren wichtigsten Lesern. „Gemeinden“, die sich ihren Liebhabereien gesehen. Mamy sucht Leute, die sie „total Einige Abgebildete sind selber Designer, an- mit einer Radikalität widmen, wie man sie oshare“ findet. „Oshare“ steht für hübsch, dere wollen es werden. Die Profis holen sich in Mitteleuropa kaum kennt. Die Wege dieser süß, cool, modisch. Oder, wie Mamy sagt: hier ihre Ideen. „Es ist schon vorgekommen, Gemeinden kreuzen sich höchstens in der „Die Kombination muss stimmen. Nur wenn dass ich einen Mann fotografiert habe, und S- und U-Bahn. Und beim Einkaufen. Persönlichkeit, Gefühle und Kleider zusam- plötzlich sah man viele identisch gekleidete Die Japaner waren immer sauber: Als der mengehen, ist jemand oshare.“ Oshare kön- Männer auf der Straße.“ schwedische Arzt Carl Peter Thunberg vor ne man in Markenkleidern sein oder in Kla- Tokio ist groß genug für viele Welten, die sich gut 200 Jahren von Nagasaki ins heutige To- motten aus dem Secondhandshop. Mamy hält gegenseitig kaum wahrnehmen. Kinfun, mo- kio reiste, wunderte er sich, die Japaner wür- Ausschau nach Leuten in Straßenmode, die disch gekleidet, hat noch nie von Mamys den täglich baden, die Städte seien sauber, es sie überzeugen. Findet sie jemanden total Szene gehört, internationale Modeschöpfer stinke nicht: Anders als in Europa spülte man oshare, spricht sie die Person an. Und macht indes beobachten sie genau.Von der Jazzsze- hier in den Großstädten die menschlichen auf der Stelle ihre Fotos. Die Straße ist ihr ne über Computernerds, Film-Geeks, Auto- Exkremente nicht in eine Kanalisation, man Studio; sauber genug ist sie allemal. „Wenn fans – sie treffen sich mit fantastisch umge- sammelte sie täglich ein, wie den Hausmüll. ich zögere, dann sind die Leute meist nicht bauten Modellen jeweils samstagnachts unter Das tägliche Bad ist bis heute Pflicht, wie in gut genug.“ Fünf Tage pro Woche wandert einer Autobahnbrücke auf einer künstlichen Deutschland das Zähneputzen. Selbst viele sie fünf Stunden in den Straßen herum. Insel vor Yokohama – Karaokesänger und Obdachlose rasieren sich täglich, sind sauber Manchmal, ohne ein einziges Bild zu machen. Elvis-Presley-Imitatoren, aber auch Men- gekleidet und trennen ihren Müll. Auch un- „Weil niemand genügend oshare war.“ schen, die Naziramsch sammeln, gibt es Hun- ter ihnen herrscht ein Gruppendruck zur Die Mode, die sie fotografiert, ist eher ver- derte sogenannter otaku, informeller Fan- Ordentlichkeit. In der Früh packen sie ihre rückt, manchmal punkig, oft schräg, selten auch beinahe unauffällig. Und stets auf ihre Weise perfekt. Fast nur junge Leute. Das sei 1 Einwohner 2005: 35,197 Mio. – Einwohner 2015 (Schätzung): 35,494 Mio. keine Absicht: „Aber der Anteil Älterer, die 2 Platz in der Liste der teuersten Städte der Welt 2007: 4 (München: 39, Moskau: 1) in Tokio gut angezogen sind, ist extrem ge- 3 Platz in der Liste der lebenswertesten Städte 2007: 35 (von 215, München: 8, Zürich: 1) ring.“ Wenn ihre Generation älter werde, 4 Tokio-Haneda: 2006 viertgrößter Flughafen der Welt (65,810 Mio. Passagiere/ dürfte sich das ändern.Von jenen, die sich für Frankfurt: 52,810 Mio., Platz 8) viel Geld von Kopf bis Fuß bei Armani, Guc- 5 Anteil am BIP Japans (Schätzung): 40 % ci,Versace, Dior und den andern einkleiden, 6 Zahl der Menschen, die beim letzten großen Erdbeben 1923 ums Leben kamen: 143 000 hält Mamy wenig: „Das sind Leute, die sich 7 Szenario für ein kommendes starkes Beben: 5000 Tote; 180 000 Verletzte; kaum für Mode interessieren, aber doch gut 3,3 Mio. Evakuierte, Sachschäden in Höhe von 1 Billion US-$ aussehen wollen. Sie kaufen Brands, dann 8 Wahrscheinlichkeit eines solchen Bebens in den nächsten 30 Jahren: 70 % können sie nicht viel falsch machen.“ 9 Tägliche Pendler im Großraum Tokio: 6,5 Mio. Mamy arbeitet für Fruits, Tune und Street, Mo- 10 Eine Dose Cola kostet 80 Cent demagazine fast ohne Text. Neben den jungen 11 Mehr: www.bpb.de/megastaedte Leuten, die selber oshare sein wollen, gehören 18 fluter.de
The 2005 Revision Population Database; Tokio Statistics Division Bureau of General Affairs; Airports Council International; Mercer Human Resource Consulting; Münchner Rück; Fotos: laif (3), Getty Images (1), Bilderberg Oben: Pendler in der U-Bahn. Jeden Tag strömen 6,5 Millionen Pendler in die Stadt. Rechts: Blick auf das Einkaufs- und Restaurant- viertel Ginza. Habe in blaue Plastikplanen säuberlich zu- dem Englischen „free“. Ihre neue Freiheit ist würden, verstünden die Japaner, dass kein sammen, verschnüren sie zu riesigen Paketen. freilich eine Selbsttäuschung. Sie zahlen einen anderes Land so starr ist. Hier gibt es Regeln Dieser Hausrat steht tagsüber am Rande vie- hohen Preis dafür, wie der 25-jährige Tokio- für alles.Warum darf man zum Beispiel in der ler Parks. ter Shunsuke allmählich merkt. S-Bahn nicht telefonieren? Japan ist eine Ausländer wie Kinfun, die in Tokio leben, „Ich halte freeter nicht für ein Schimpfwort, Zwangsjacke.“ An die Regeln hält sich Shun- nehmen die Reinlichkeit bald an. Genau wie meine Eltern schon“, sagt er. „Überhaupt die suke trotzdem auch. Seinen Müll sortiert er die Gewohnheit, sich abzugrenzen. Japaner Alten. Wenn einer in der S-Bahn nicht auf- nach insgesamt acht Kategorien. schaffen für alles einen Rahmen. Und igno- steht, ist er ein freeter.“ Er hatte die Nase voll rieren, was nicht in diese Rahmen passt. von der Schule, verließ das teure Privatcollege, Bis 1991 wuchs Japans Wirtschaft so rasch für das sein Vater seit dem Kindergarten be- wie heute jene Chinas, dann kam sie ins Stot- zahlt hatte. Entsprechend sauer reagierte die- tern. Und hat sich davon bis heute nicht er- ser. Ein Jahr fuhr Shunsuke Lunchboxen aus, holt. Die Lasten dieser Krise trägt die Provinz; täglich von sieben bis drei auf den verstopften und mehr noch die Jungen. Früher fand fast Straßen Tokios. „Fürchterlich.“ Abends koch- jeder Schul- oder Uni-Abgänger eine feste te er in einer Kneipe noch Spaghetti. Dann Stelle. Die behielt man auch, meist fürs Leben. ging er nach New York, wo er als Sushi-Koch Heute jobbt ein Drittel aller jungen Leute als ohne Arbeitsbewilligung arbeitete. Seine ja- sogenannte arubatio, das Wort leitet sich vom panische Nationalität genügte als Qualifika- deutschen „Arbeiter“ ab. Arubatio sind unter- tion. Seit er aus Amerika zurück ist, jobbt er bezahlte Teilzeitarbeiter, denen keine Sozial- bei einer Neubaureinigung. Und abends wie- leistungen oder Jobsicherheit gewährt wer- der in einer Kneipe. Damit kommt er grade den. Mit den arubatio verfügen die Firmen so durch. Renten- und Sozialbeiträge zahlt über eine Manövriermasse, die ihnen rasches er genauso wenig wie eine Krankenversiche- Reagieren auf veränderte Bedingungen er- rung, Steuern sowieso nicht. laubt. Nicht nur Supermärkte, 24-Stunden- Für Tokios Konsumangebote hat Shunsuke Läden, Hotels, Restaurants, Nachtbars, Sex- kein Geld. Auch keine Zeit. Zwischen Bau- clubs und Baufirmen heuern arubatio an, auch reinigung und Kneipe kommt er gerade mal Jährlich benutzen etwa 2,85 Milliarden Fahr- große, weltbekannte Konzerne. zum Musikhören. Gleichwohl sagt er, „für gäste die Tokioter U-Bahn. 2005 wurden auf Manch junge Japaner sperren sich gegen die den Moment“ sei er zufrieden mit seinem Tokios Straßen 91 561 Menschen bei Unfällen starren Konventionen ihrer Gesellschaft. Sie freeter-Dasein. Aber er denkt immer öfter, es verletzt, 289 starben. Am häufigsten kracht es verweigern den Überstunden- und Krawat- wäre schon gut, noch eine Schule zu machen, zwischen 8 und 10 Uhr sowie 16 und 18 Uhr. tenzwang, scheuen die strikte Hackordnung zum Beispiel Architekt zu werden. „Vielleicht Selbstmörder werden auf Schildern gebeten, und die Pflicht-Sauftouren mit dem Chef. brauche ich bloß etwas länger“, sagt er, „um nicht zur Rushhour von einer Brücke zu sprin- Quellen: UN Das Leben, finden sie, sollte mehr sein als Ar- erwachsen zu werden.“ gen – um den ohnehin zäh fließenden Verkehr beit, Arbeitsweg und Schlaf. Sie wollen „frei“ Die zwanghafte Korrektheit der Japaner stört nicht noch weiter zu behindern. sein. Und nennen sich deshalb freeter, nach Shunsuke. „Wenn hier mehr Ausländer leben Magazin der bpb 19
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