"Es ist, als ob die Seele unwohl wäre - Depression - Wege aus der Schwermut Forscher bringen Licht in die Lebensfinsternis
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„Es ist, als ob die Seele unwohl wäre ...“ Depression – Wege aus der Schwermut Forscher bringen Licht in die Lebensfinsternis
Danksagung Die Autorin dankt dem Kompetenznetz Depression, Suizidalität für seine Unterstützung, insbesondere Prof. Dr. Ulrich Hegerl, dem Sprecher des Kompetenznetzes, für die Durchsicht des Manuskriptes sowie Prof. Dr. Wolfgang Eckart, Institut für Medizingeschichte der Universität Heidelberg, für seine Hilfe bei der Erstellung des Kapitels „Die Depression ist eine sehr alte Erkrankung“. Ihr Dank gilt auch Maria B., die ihre Lebensgeschichte erzählt hat, um deutlich zu machen, was die Erkrankung für Betroffene bedeutet. Impressum Herausgeber Bildnachweis Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) Schapowalow/Jaeckel: Titel Referat Öffentlichkeitsarbeit visipix.com: S. 6, S. 22 11055 Berlin Foto B. Stühmer: S. 8, S. 9, S. 21, S. 26, S. 53 AKG Berlin: S. 10, S. 14, S. 18, S. 23, S. 24, S. 58, S. 64, S. 65 Bestellungen Mauritius: S. 19, S. 33, S. 51 schriftlich an den Herausgeber, Okapia: S. 28, S. 38, S. 50 unten Postfach 30 02 35 Focus: S. 27 unten, S. 39, S. 41 53182 Bonn DLR, Bonn: S. 27 oben oder per MPG, München: S. 32, S. 34 oben, S. 36, S. 37, S. 46 Tel.: 01805 – 262 302, BMBF: S. 3, S. 47 Fax: 01805 – 262 303 gettyimages: S. 54 (0,14 Euro/Min. aus dem deutschen Festnetz) Institut für Didaktik in der Medizin, Michelstadt: S. 11, S. 31 sanofi-aventis: S. 40, S. 52 E-Mail: books@bmbf.bund.de Deutsches Bündnis gegen Depression e. V.: S. 57, S. 60, S. 62, S. 63 Internet. www.bmbf.de Bilderberg: S. 50 oben Institute of Public Health of the Republic of Slovenia, Lubljana: S. 61 Text und Redaktion Department of Radiological Sciences, UCLA School of Medicine: S. 34 unten Claudia Eberhard-Metzger (außer Kapitel „Mehr Wissen …“), Edvard Munch – Verzweiflung, Melancholie, Angst: Wissenschaftsjournalistin, Maikammer/Südliche Weinstraße © The Munch Museum/The Munch Ellingsen Group/VG Bild-Kunst, Bonn 2001 Kompetenznetz Depression, Suizidalität (Kapitel „Mehr Wissen …“) Conrad Felixmüller – Regen: © VG Bild-Kunst, Bonn 2001 Gestaltung Das Zitat im Titel stammt aus Erich Kästners Gedicht „Traurigkeit, die jeder kennt“. heimbüchel pr kommunikation und publizistik GmbH, Köln/Berlin Diese Broschüre wurde im Auftrag des Bundesministeriums für Bildung und Bonn, Berlin 2007 (Aktualisierung der Erstauflage von 2001) Forschung (BMBF) erstellt. Die Autorin trägt die Verantwortung für den Inhalt.
„Es ist, als ob die Seele unwohl wäre ...“ Depression – Wege aus der Schwermut Forscher bringen Licht in die Lebensfinsternis
VORWORT 3 Vorwort schwer kranke Patienten unfähig sind, sich selbst zu helfen oder sich einer Selbsthilfegruppe anzuschließen. Rund vier Millionen Deutsche sind akut von einer behand- lungsbedürftigen Depression betroffen. Aber nur eine Min- derheit von ihnen wird optimal behandelt. Bis heute werden Depressionen häufig unterschätzt. Oft werden sie entweder als Einbildung eingeordnet oder gänzlich tabuisiert. In Wirk- lichkeit handelt es sich um eine ernsthafte Erkrankung, an der die Betroffenen keine Schuld haben. An dieser veränderten Sichtweise hat die Gesundheitsforschung in Deutschland maßgeblichen Anteil. Biologen und Psychologen, Mediziner und Neurowissenschaftler haben daran mitgewirkt. Nur mit gemeinsamen wissenschaftlichen Anstrengungen ist es mög- lich, das Phänomen Depression umfassend aufzuklären. Die vorliegende Broschüre stellt die umfassenden Fort- schritte in der Depressionsforschung dar. Ich bin sicher, dass sie zum Verständnis der Ursachen und der vielfältigen Thera- pien der Krankheit beitragen wird. Sie bringt den Betroffenen, ihren Angehörigen und allen anderen Interessierten den Stand der Forschung nahe und vermittelt so ein tieferes Verständnis der Erkrankung. „Reiß Dich zusammen!“, „Da musst Du durch!“ – derartige Ratschläge bekommen depressionskranke Menschen oft zu hö- ren. Auch wenn ein solcher Ratschlag gut gemeint sein mag: Er wirkt auf die betroffenen Menschen nicht wie ein Rat, sondern wie ein Schlag. Wer unter Depressionen leidet, sich antriebslos und wie gelähmt fühlt, vermag einer solchen Aufforderung Dr. Annette Schavan, MdB nicht zu folgen. Es liegt in der Natur der „Seelenfinsternis“, dass Bundesministerin für Bildung und Forschung
4 INHALTSVERZEICHNIS Inhaltsverzeichnis Seite Vorwort 3 Dimensionen eines Problems 6 Was es heißt, mit einer Depression zu leben – die Geschichte der Maria B. 6 „Etwas schnürt mich ab“ – ein Tag im Leben von Maria B. 8 „Ich bin heute so depressiv ...“ – wenn die Stimmung schwankt 9 Epidemiologie 10 Depression – häufige und unterschätzte Krankheit 10 Symptome – woran depressive Menschen leiden 14 Gesichter der Krankheit 14 Körperliche Krankheitszeichen 17 Medizinische Klassifikation 18 Geordnete Vielfalt – die moderne Einteilung depressiver Störungen 18 Depressionsforschung 22 Ein die „Seele beherrschender Argwohn“ – die Depression ist eine sehr alte Erkrankung 22 Depressionsforschung heute: Der Stand des Wissens – ein Überblick 26 – Die „Biologie“ der Depression 26 – Das Universum im Kopf 27 – Wie Nervenzellen kommunizieren 29 – Die „Chemie“ der Depression 30 – Ein Blick in das lebende Gehirn 32 – Vom Einfluss der Hormone: Depression durch zu viel Stress? 35 – Sind Depressionen erblich? 38 Wie Psychologen die Entstehung einer Depression erklären 41 Das Mehr-Faktoren-Modell oder: die „Psycho-Biologie“ der Depression 44
INHALTSVERZEICHNIS 5 Seite Therapien – wie Depressionen behandelt werden 46 Viele Ursachen erfordern viele Therapien 46 – Psychologische Behandlungen 46 – Antidepressiv wirkende Medikamente 47 – Rückfälle vermeiden 49 – Weitere Strategien gegen die Schwermut: helles Licht, Schlafverbot und Sport 49 Aktuelle Depressionsforschung in Deutschland 52 Forschungsfragen, Forschungsziele, Forschungswege 52 – Schnellere Medikamentenentwicklung 52 – Molekulare Ansatzpunkte 52 – Pharmakogenomik – Jedem Patienten eine maßgeschneiderte Therapie? 53 – Therapieerfolge voraussagen? 54 – Gefährdung erkennen – die Behandlung leichter depressiver Störungen 54 – Suizide vermeiden 55 – Gibt es biochemische „Suizid-Anzeiger“? 56 Mehr Wissen, mehr Verständnis 58 Deutsches Bündnis gegen Depression 58 – Deutsches Bündnis 59 – European Alliance against Depression 61 Anhang 64 Eine Krankheit – viele Namen: prominente Depressive 64 Glossar 66 Zum Weiterlesen 68
6 Was es heißt, mit einer Depression zu leben DIMENSIONEN EINES PROBLEMS Dimensionen eines Problems Was es heißt, mit einer Depression zu leben – die Geschichte der Maria B. Maria hat ein Auge für die schönen Dinge des Lebens. Das Johann Heinrich Fuessli (1741-1825): „Das Schweigen“, um 1799/1802. zeigen ihre Fotografi en, die groß umrahmt über dem Wohnzimmersofa hängen. se hat sich bleischwer über sie ergossen und jede Freude, alles Schöne erstickt. Ein hoffnungslos langer Zeit-Tunnel beginnt, Eines der Bilder zeigt den Colorado, wie er sich als lichtblaues mit Tagen, Wochen und Monaten voller Angst und Verzweif- Band durch bedrohlich dunkle Felsmassive windet. Auf einem lung, nur noch gehalten von dem Wunsch, der Seelenqual im anderen ist ein karger Hügel zu sehen, auf dessen baumlosem Schlaf – dem „Bruder des Todes“ – zu entfliehen. Nichts dringt Haupt das rote Dach einer einsamen Hütte hoffnungsvoll mehr zu Maria durch: „Ich bin ausgeliefert“, sagt sie. „Wenn leuchtet. Eine dritte Fotografie zeigt eine Häuserzeile: Eng der Zeiger erst umgestellt ist, habe ich keine Chance mehr.“ aneinandergeschmiegt trotzen sie in pastellenen Fassaden Maria B. ist 32 Jahre alt. Seit zwei Jahren bezieht die gelern- dem grauen Nebel. Die Bilder beweisen, dass Maria eine aus- te Erzieherin eine Erwerbsunfähigkeitsrente, seit vier Jahren gezeichnete Fotografin ist. Und ein wenig verraten sie auch hat sie nicht mehr gearbeitet, seit 14 Jahren kämpft sie mit das Problem und die Hoffnung, die Maria hat. ihrer Krankheit, einer „Major Depression“, wie die Ärzte sa- Vier Wochen lang, erinnert sie sich an die Amerikareise, sei gen. Schon ihre Großmutter, ihre Mutter und deren Schwes- es ihr „supergut“ gegangen. Zwei Tage nach ihrer Heimkehr tern haben an einer solch schweren (major = größeren) De- war er dann wieder da, „der Tag X“. Er beginnt stets gleich. Sie pression gelitten, auch einer ihrer Brüder ist betroffen. Zur erwacht morgens und weiß: „Es ist so weit.“ Eine schwarze Mas- Zeit geht es Maria gut. Sie ist gerade aus der Klinik entlassen
DIMENSIONEN EINES PROBLEMS Was es heißt, mit einer Depression zu leben 7 worden – fünf Monate war sie dort. Acht Elektrokrampf- Nach ihrer Entlassung zog sie in eine größere Stadt und behandlungen waren diesmal notwendig gewesen, um sie aus arbeitete „mit großer Freude“ in einem Kindergarten. „Es wur- ihrem Seelengefängnis zu befreien. In den nächsten Wochen de Herbst“, erinnert sich Maria, „und es ging wieder los – dies- wird sie regelmäßig zur „Erhaltungstherapie“ in die Klinik fah- mal ohne besonderen Anlass.“ Den ganzen Winter verbrachte ren, um sich ihr Gehirn unter Vollnarkose mit elektrischem sie im Krankenstand. Da sich trotz der Behandlung mit ver- Strom durchfluten zu lassen: „Sonst hilft bei mir nichts.“ schiedenen Medikamenten diesmal keine Besserung abzeich- Als die Depression in Marias Leben trat, war sie 22 Jahre alt. nete, kam sie im Februar in eine psychiatrische Klinik, wo sie Sie absolvierte damals ein Berufspraktikum in einem Lehrlings- erstmals mit der Elektrokrampftherapie behandelt wurde. Das wohnheim mit schwer erziehbaren Jungen und fühlte sich über- Ergebnis sei für sie ein Wunder gewesen: „Ich bin aus der Nar- fordert. Aber aufgeben wollte sie nicht. Im Gegenteil: „Ich sagte kose aufgewacht und fühlte mich blendend.“ mir, ,Du musst da durch, das musst Du schaffen’.“ Und so ging sie Wenn es Maria gut geht, ist sie voller Tatendrang. Sie lädt jeden Tag zur Arbeit – trotz ihrer Ängste, trotz der Befürchtung, sich gerne Freunde ein und kocht für sie, sie geht aus, küm- den Tag heute nicht zu bestehen. Minderwertigkeitsgefühle mert sich um ihren kleinen Haushalt, liebt ihren Beruf und schlichen sich ein: Alle anderen sind besser als ich, dachte Maria; ist eine begeisterte Sportlerin. Sie habe „normalerweise“ viel alle anderen schaffen es – nur ich nicht. Aus der Minderwertig- Freude in sich, Spaß am Leben und Lust, etwas zu tun. Sie fühle keit erwuchs Verzweiflung. „Irgendwann glaubte ich, das Leben dann auch Selbstvertrauen, ein Gefühl, das sie trägt, weil sie nicht mehr ertragen zu können, weil es nichts Schönes mehr spürt, dass sie „genauso wertvoll ist wie jeder andere auch“. In gab, an dem ich mich freuen konnte. Es gab nur noch die Last, den Zeiten der Krankheit bricht dieses Lebensgerüst wie ein diesen Tag leben zu müssen.“ Vier Monate lang quälte sie sich, Kartenhaus beim kleinsten Windstoß zusammen, und sie ver- dann – im Winter – kam der Zusammenbruch: „Einer der sinkt in tiefe Seelenfinsternis: „Wenn ich dazu in der Lage Jugendlichen bedrohte mich körperlich, das gab mir den Rest.“ wäre, würde ich alles tun, um dem zu entkommen. Keiner Sie flüchtete nach Hause zu ihren Eltern, vergrub sich, weinte bleibt freiwillig in dieser Hölle.“ tagelang, hatte Angst vor allem und jedem, konnte und wollte Sie hat in den vergangenen zehn Jahren alles probiert, was keinem Menschen entgegentreten, versank in Grübeleien und die Medizin zu bieten hat. Sie kennt die meisten Medikamente tiefer Leere, aß und trank nichts mehr. und war bei Psycho- und Verhaltenstherapeuten. Manchmal, Die Mutter wusste gleich, was mit ihrer Tochter los war, sagt sie, helfe ein Schlafentzug. Maria hält sich dann eine ganze kannte sie doch die Symptome aus eigener, lebenslanger Erfah- Nacht wach. Am Morgen danach fühle sie sich tatsächlich „auf- rung. So kam Maria rasch in ärztliche Behandlung und erhielt geweckt“, manchmal erlebe sie einen geradezu „euphorischen Medikamente. Im Laufe des Frühjahrs erholte sie sich, und im Lebenstrieb“. Sie schaltet dann frühmorgens schon gut gelaunt Sommer ging es ihr wieder richtig gut. Sie bemühte sich um das Radio an, singt und tanzt und würde am liebsten die ganze einen neuen Praktikumsplatz, schloss ihre Ausbildung ab und Welt anrufen, um zu sagen, dass es ihr jetzt gut geht und dass fühlte sich trotz einer kleinen „depressiven Episode“ im Herbst alle Freunde vorbeikommen sollen. Alles sei „irgendwie ent- „rundum zufrieden“. Im Jahr darauf trat sie ihre erste Stelle als hemmt“. Sie wisse schon, dass sie dann „etwas aus der Spur lau- Erzieherin in einer Wohngruppe mit acht Jugendlichen an. Die fe“, aber es sei ein schönes Gefühl – von nur kurzer Dauer. Arbeit habe ihr gefallen; sie sei gefordert gewesen, aber sie habe Maria hat sehr viel gekämpft und jetzt erstmals eine Zeit alles gut geschafft. Dann kam es zu einem bösen Streit, die Belas- erlebt, in der sie das Gefühl hatte, es gehe ihr „nicht richtig gut, tungen wuchsen und im Winter erlitt Maria „von einem Tag auf aber auch nicht richtig schlecht“. Es sei so eine Art Zwischen- den anderen“ ihren zweiten Zusammenbruch, der schlimmer stadium, von dem sie hofft, dass es dauerhaft anhält. Jede Be- verlief als der zwei Jahre zuvor. Danach verbrachte sie eine „sehr handlungsart, betont sie, die ihr das ermögliche, sei ihr recht: lange Zeit“ in der psychiatrischen Klinik. „Damit ich mein Leben leben kann – so, wie andere auch.“
8 Ein Tag im Leben von Maria B. DIMENSIONEN EINES PROBLEMS „Etwas schnürt mich ab“ – ein Tag im Leben von Maria B. Ich wache in der Früh’ auf und weiß, es ist so weit. Man kann es Der Gedanke, sich aus der Welt zu nehmen, ist immer da. nicht beschreiben. Aber man weiß, es ist jetzt da. Schlagartig. In Verzweiflungsphasen wird er sehr vordergründig. Ich wei- Am Abend zuvor war man noch guter Dinge, und am nächsten ne dann sehr viel; denke, dass ich die Situation nicht mehr Morgen ist alles anders. Es ist so massiv, dass man nichts dage- ertragen kann und dass das jetzt der letzte Weg ist, um allem gen tun kann. Ich kann mich nicht mehr freuen – es gibt nur zu entkommen und meinem Freund und meiner Familie nicht schlechte Gefühle: alles ist trostlos, ausweglos, man resigniert, mehr zur Last zu fallen. Dieser Gedanke ist gleichzeitig quä- es gibt nichts Schönes mehr im Leben, es gibt einfach nichts lend wie erleichternd. Positives mehr. Man lebt trotzdem weiter, irgendwie. Warum ich verzweifelt bin, weiß ich nicht. Es ist dann so, Ich bleibe sehr lange im Bett liegen. Warum, für was sollte dass ich mich in diesen Phasen nicht mehr beruhigen kann. Es ich aufstehen? Wenn ich dann doch aufstehe, setze ich mich gibt keinen Grund dafür. Das ist es, was ich nicht verstehe: Ich vor den Fernsehapparat. Von dem, was da gezeigt wird, be- habe keinen Grund, traurig zu sein. Ich habe keinen Grund, komme ich nichts mit – der Fernseher läuft halt –, ich bin ge- mich schlecht zu fühlen. Es ist alles wie immer. Nur das danklich ganz woanders, ich grübele und grübele. Oft ist da Bewusstsein: Etwas schnürt mich ab, mir kann keiner helfen, einfach auch nur eine Leere: Es ist gar nichts da. Ich stiere vor ich bin ausgeliefert, ich komme da nicht mehr raus. Es ist wie mich hin und denke überhaupt nichts. Ich tue auch nichts. Die ein Loch, das sich auftut, und aus dem man – je nachdem, wie kleinsten Aufgaben werden zu riesigen Sachen. Sich dazu zu tief man fällt – lange Zeit nicht mehr herauskommt. überwinden, irgendetwas anzufangen, das schafft man ein- Es ist wirklich schwer, es zu beschreiben. Wenn es mir gut fach nicht. Ich gehe auch nicht ans Telefon. Wenn dann einer geht, ist alles weg. Sobald ich „Es“ nicht habe, kann ich mir sel- fragt, wie es mir geht – das kann ich gar nicht beantworten. Es ber kaum vorstellen, wie es ist – obwohl ich doch so viel Zeit ist alles zu viel, eine ungeheure Anstrengung. Ich will auch meines Lebens damit verbringe. nicht, dass mich jemand besucht. Ich ertrage es nicht. Ich müßte mich dann ja unterhalten. Aber ich habe nichts zu sagen, zu diesem Zeitpunkt. Ich warte darauf, dass mein Freund abends nach Hause „Wenn ich dann doch aufstehe, setze ich mich vor den Fernsehapparat. Von dem, was kommt. Das ist ein Lichtblick: Dass ich dann nicht mehr alleine da gezeigt wird, bekomme ich nichts mit ...“ bin. Wir können in diesen Zeiten nicht viel miteinander anfan- gen. Aber ich bin froh, wenn er da ist. Und er versteht auch, dass ich mich nicht „zusammenreißen“ kann, wie andere oft meinen – man ist nicht in der Lage dazu, man kann es nicht. So lebe ich freudlos durch den Tag. Manchmal wird es gegen Abend hin etwas leichter. Aber am nächsten Tag bin ich wieder in der gleichen Stimmung. Wenn ich ganz unten bin, arbeite ich nur auf die Stunden hin, wo ich schlafen kann. Schlafen ist dann für mich das Höchste. Dann muss ich nicht mehr denken. Ich bin einfach nicht mehr da, nichts quält mich. Ich nehme mich heraus aus der Welt. Es ist ein Ausblen- den. Darum geht es mir den ganzen Tag: Wann kann ich mich wieder hinlegen und schlafen und weg sein?
DIMENSIONEN EINES PROBLEMS Wenn die Stimmung schwankt 9 Die Depression ist keine vorübergehende Beeinträch- tigung der Gemütslage, sondern eine ernste Krank- heit, die der fachärztlichen Behandlung bedarf. „Ich bin heute so depressiv ...“ – wenn die Stimmung schwankt Der Satz „ich bin so depressiv“ ist zu einem gängigen oder übermüdet, fühlt man sich wohl oder unwohl. Was auch immer eine Verstimmung ausgelöst haben mag – sicher ist, Bestandteil der Umgangssprache geworden. Die wenigs- dass es sich um eine Beeinträchtigung der Gemütslage han- delt, die zumeist nach kurzer Zeit vorübergeht. Außerdem ten, die ihn benutzen, sind depressiv. Sie sind lediglich kann man lernen, Verstimmungen zu überwinden. Eine weitere häufige Beeinträchtigung der Gemütslage schlecht gelaunt, niedergeschlagen, enttäuscht, zornig, ist die Trauer. Wer trauert, ist bedrückt, niedergeschlagen, bisweilen hoffnungslos und verzweifelt. Trauernde zeigen abgespannt oder unsicher – sie sind missgestimmt. wenig Interesse an ihrer Umwelt, sind leicht zu verletzen und haben kaum Kraft und Energie. Die Trauer kann einer De- pression sehr ähnlich sehen. Dennoch ist die Trauer keine Solche Verstimmungszustände sind keine Krankheiten, die Krankheit, sondern eine natürliche Reaktion auf ein belas- einer Behandlung bedürfen. Es handelt sich um normale und tendes Ereignis. Der „Trauerprozess“ hat einen universell gül- notwendige Schwankungen menschlichen Befindens. Fach- tigen, typischen zeitlichen Verlauf. Die „Trauerarbeit“ kann leute sprechen auch von „Schwingungsfähigkeit“ und meinen lang und schmerzhaft sein, ist aber unverzichtbar, um sich damit die Möglichkeit, zwischen positiven und negativen von Vergangenem zu lösen und Neuem zuzuwenden. Auch Gefühlen hin und her zu pendeln. Diese Fähigkeit ist wesent- die Trauer geht irgendwann vorüber: Die Alltagsweisheit lich für die emotionale Gesundheit eines Menschen. „die Zeit heilt alle Wunden“ hat hier durchaus ihre Berech- Stimmungen sind von äußeren Einflüssen abhängig, bei- tigung. spielsweise von zwischenmenschlichen Erfahrungen, etwa Im Unterschied zu diesen normalen Beeinträchtigungen mit dem Partner, mit den Kindern, Arbeitskollegen, Nach- der Gemütslage ist die Depression eine Krankheit, welche die barn oder Freunden. Auch das Wetter oder die Jahreszeit Stimmung, das Denken, das Verhalten und die Körperfunk- können die Stimmung beeinflussen. Schließlich hängt die tionen der Betroffenen tiefgreifend und langfristig verändert Stimmung auch davon ab, in welchem körperlichen Zustand und einer speziellen Behandlung, oft durch Fachärzte oder man sich befindet: ist man hungrig oder satt, ausgeschlafen psychologische Psychotherapeuten, bedarf.
10 Depression – häufige und unterschät zte Krankheit EPIDEMIOLOGIE Epidemiologie Depression – häufige und unter- schätzte Krankheit Zwei bis sieben Prozent der Weltbevölkerung leiden an einer Depression. In Deutschland leiden zu einem bestimmten Zeitpunkt mindestens vier Millionen Menschen an einer depressiven Störung. Epidemiologische Studien (die Epidemiologie befasst sich mit der Ausbreitung und Verteilung von Krankheiten) weisen darauf hin, dass leichtere und nicht als Depression erkannte Erkrankungsverläufe noch häufiger sind. Insgesamt gehen die Epidemiologen von rund acht Millionen Menschen aus, die hierzulande von einer Depression betroffen sind. Von der anhaltenden Seelenpein bleiben die Menschen in keinem Winkel der Erde verschont. Eine Studie der Welt- gesundheitsorganisation (WHO) zeigte dies in einer Deutlich- keit, die selbst Fachleute überraschte. Depressive Störungen gehören danach weltweit zu den häufigsten – und am meisten Edvard Munch (1863-1944): unterschätzten – Erkrankungen. In den westlichen Industrie- „Verzweiflung“, 1893. nationen ist die Depression das zweithäufigste Leiden nach den Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Gemessen an der beein- trächtigten Lebenszeit liegt die Depression laut WHO sogar auf Platz eins: Von allen körperlichen und seelischen Krank- heiten raubt sie ihren Opfern am meisten gesunde, un- beschwerte Jahre.
EPIDEMIOLOGIE Depression – häufige und unterschät zte Krankheit 11 Jede unbehandelte Depression ist eine schwere, lebens- rettende Zeit geht so verloren. Denn in vielen Fällen kann die bedrohliche Erkrankung. 15 Prozent aller Patienten mit schwe- Erkrankung erfolgreich behandelt und den Betroffenen der ren Depressionen vergällt die anhaltende Schwermut derart Lebensmut zurückgegeben werden. Noch sind längst das Leben, dass sie nur noch in der Selbsttötung nicht alle Fragen rund um die Depression (Suizid) einen Ausweg aus der Düsternis ihres geklärt; grundsätzlich aber gilt, dass es Seins sehen. Nach Angaben des Statisti- nur für wenige seelische Störungen schen Bundesamtes begehen hierzu- so wirksame und sichere Behand- lande jährlich ca. 11.000 Menschen lungsarten gibt – und dass es Suizid; die Experten gehen davon nur wenige seelische Krank- aus, dass 40 bis 50 Prozent dieser heiten gibt, die so selten rich- Suizide von nicht diagnostizier- tig behandelt werden. ten oder nicht richtig behan- Wissenschaftliche delten depressiven Patienten Studien haben in den ver- verübt werden. Etwa 10-fach gangenen Jahren wieder- höher ist die Zahl der überleb- holt und unmissverständ- ten Suizidversuche. Mehr als die lich auf die erheblichen Defi- Hälfte der an einer schweren De- zite im Erkennen und Behan- pression Erkrankten versucht min- deln von Depressionen auf- destens einmal im Leben, sich umzu- Zwei bis sieben Prozent der merksam gemacht. Besonders Weltbevölkerung leiden an bringen. groß sind die Probleme im Bereich einer Depression. Bis einem depressiven Patienten eine der Primärversorgung, das heißt, in der fachmännische Behandlung zuteil wird, verstrei- Versorgung durch den Hausarzt. Da körperli- chen oft viele Jahre. Wertvolle, unter Umständen lebens- che Beschwerden häufig im Vordergrund stehen, wird Depression: Zahlen und Fakten • Depressionen beeinträchtigen die Lebensqualität und die • Ca. 11.000 Menschen begehen hierzulande jährlich Selbst- soziale, körperliche und geistige Leistungsfähigkeit in einer mord. 40 bis 50 Prozent von ihnen sind Depressions- fundamentaleren Weise als chronische körperliche Erkran- patienten. kungen wie Bluthochdruck, die Zuckerkrankheit, Arthritis oder Rückenschmerzen. • Bei mehr als 50 Prozent der Patienten wird die depressive Erkrankung und damit oft auch die Selbstmordgefährdung • In Deutschland liegen die Kosten in Folge depressions- nicht erkannt. bedingter Frühberentungen bei ca. 1,5 Milliarden Euro jährlich. An Arbeitsunfähigkeit werden nach Angaben des • Auch bei korrekter Diagnosestellung wird mehr als die Hälf- Bundesministeriums für Gesundheit pro Jahr etwa elf Mil- te der Patienten nicht richtig behandelt (zu kurze Behand- lionen Tage durch über 300.000 depressive Erkrankungs- lungsdauer, zu niedrige Dosierung, Verordnen von Substan- fälle verursacht. zen ohne antidepressiven Wirksamkeitsnachweis). • In der Altersgruppe der 15- bis 35-Jährigen steht der Suizid • Trotz intensiver Forschung sind die Ursachen der Depressi- als Folge einer Depression nach den Unfällen an zweiter on noch immer ungeklärt. Stelle der Todesursachen.
12 Depression – häufige und unterschät zte Krankheit EPIDEMIOLOGIE die Erkrankung oft nicht rechtzeitig erkannt. Häufig ist auch sind die Patienten häufig in einem nur unbefriedigenden psy- das Wissen über die optimale Behandlung nicht ausreichend chischen und körperlichen Zustand. Solchen Missständen, for- oder nicht mehr auf dem aktuellen Stand der wissenschaftli- dern die Experten, könne durch umfassende qualitätssichern- chen Erkenntnis. Diese diagnostischen und therapeutischen de Maßnahmen begegnet werden. Angesichts der mittler- Defizite bedingen erhebliches persönliches und familiäres weile verfügbaren therapeutischen Möglichkeiten seien die Leid. bestehenden diagnostischen und therapeutischen Defizite Auch in der stationären Versorgung der Patienten gibt es nicht mehr tolerierbar. Eine Depression müsse ebenso sorgfäl- eine Reihe von Schwachstellen: Wie Studien ermittelten, wer- tig diagnostiziert und konsequent behandelt werden wie bei- den therapeutische Möglichkeiten – beispielsweise Psychothe- spielsweise ein Bluthochdruck. rapien – nicht in vollem Umfang genutzt; bei ihrer Entlassung Die Burden of Disease-Studie: Ergebnisse für 2001 Die 10 häufigsten Ursachen für mit Beeinträchtigung gelebte Lebensjahre in den Industrieländern 10 9 8,39 Mit Beeinträchtigung gelebte Lebensjahre (in Mio.) 8 7 6,33 6 5,39 5 4 3,77 3,77 3,46 2,86 3 2,25 2 1,68 1,53 1 0 ) ar ch is ng re PD . us n ng n te - O n al in c. ge di he rit (C mo ol ku ulä lit et au en eg r) en ) t) th be c ip un el er br rs wä an sk en (b en ul un ar M nk im ng r. p iss kr va hs eit eo lte ch es n, ra Er o lm he ku bst ac k (a hs et st sio br rk w rig ho lz O ab Se eE re an o es (A Er hö ko kr n. Ze Di in pr n im er Er ro Al ze kr De nd hw Ch do en ne Sc En m De Quelle: A. Lopez et. al 2006, www.dcp2.org/pubs/GBD/3/Table/3.15
EPIDEMIOLOGIE Depression – häufige und unterschät zte Krankheit 13 Persönlichkeitsstörungen Depressionen 5 bis 10 % 40 bis 60 % Schizophrenie „Im August 1769 und in den folgenden Mona- 5 bis 10 % ten habe ich mehr an den Selbstmord gedacht als jemals vorher, und allezeit habe ich bei mir befunden, dass ein Mensch, bei dem der Trieb zur Selbsterhaltung so geschwächt worden ist, dass er so leicht überwältigt werden kann, sich ohne Schuld ermorden könne.“ (Georg Christoph Lichtenberg, 1742–1799) Suchterkrankungen ca. 30 % Suizidursachen: Über 90 Prozent aller Suizide erfolgen im Rahmen psychiatrischer Erkrankungen. Quelle: B. Ahrens: Suizidprävention ... in: M. Wolfersdorf/ E. Etzersdorfer (Hrsg.): Fallstudien zur Suizidalität. 2005 Kompetenznetz Depression, Suizidalität: • die anwendungsorientierte Depressionsforschung verbes- europaweit einmalig sert, das heißt, Fragen aus dem ambulanten und dem haus- ärztlichen Bereich intensiver als bislang aufgegriffen, und Um die Kompetenz im Kampf gegen Depression und Suizidali- tät zu stärken, fördert das Bundesministerium für Bildung und • die Krankheit Depression, ihre Formen, Symptome und Forschung (BMBF) neben anderen vielseitigen Initiativen im Behandlungsmethoden bei Betroffenen und in der Öffent- Bereich der Depressionsforschung seit Juli 1999 das Kompe- lichkeit besser bekannt gemacht werden. tenznetz Depression, Suizidalität. Mit solchen Kompetenznet- zen für die Medizin – es gibt derzeit 17 – verfolgt das BMBF das • Eine intensive Grundlagenforschung soll das medizinische Ziel, die qualitativ besten und innovativsten Forschungs- und Wissen über die Krankheit vergrößern und neue Diagnose- Versorgungseinrichtungen in einem Krankheitsbereich zu und Behandlungsmöglichkeiten eröffnen. bündeln, um drängende medizinische Probleme effizienter und schneller zu lösen. Gut funktionierende Kommunikati- Das europaweit einmalige Projekt hat eine Laufzeit von neun onsstrukturen und interdisziplinäre Arbeitsstrukturen sollen Jahren. Das BMBF fördert das Netzwerk in dieser Zeit mit 15 Mil- dazu beitragen, Leistungsträger der medizinischen Forschung lionen Euro. Das Kompetenznetz Depression, Suizidalität ist mit den praktischen Problemen des medizinischen Alltags zu damit das größte Projekt zu dieser Thematik in der Geschichte verbinden. Diese Maßnahmen sollen sowohl der Qualität der der deutschen Gesundheitsforschung. Forschung als auch der Qualität der Gesundheitsversorgung zugute kommen. Diesem Ziel dient auch der intensivierte Ansprechpartner: Wissenstransfer aus der Grundlagenforschung in die anwen- Prof. Dr. Ulrich Hegerl dungsnahe Forschung und Industrie. Klinik und Poliklinik Im Einzelnen verfolgt das Kompetenznetz Depression, für Psychiatrie Suizidalität folgende Ziele: Universität Leipzig Johannisallee 20 • Gemeinsam mit den Hausärzten sollen die bisherigen diag- 04317 Leipzig nostischen und therapeutischen Defizite behoben, www.kompetenznetz-depression.de
14 Gesichter der Krankheit SYMPTOME Symptome – woran depressive Menschen leiden Gesichter der Krankheit „Das Bewußtsein, das wie ein Strom sein kann, in den Bäche münden und der sich dann wieder verzweigt, wurde zu einem armseligen Rinnsal. Meine Erlebniswelt verdorrte und verkümmerte (...). Meine Welt war zusam- mengeschrumpft auf das Bett zum Schlafen.“ (Piet Kuiper, Professor der Psychiatrie; Piet Kuiper litt drei Jahre lang an einer schweren, wahnhaften Depression) Edvard Munch (1863-1944): „Melancholie“, 1894/95. Die Depression hat viele Gesichter. Es handelt sich bei schwerer Ausprägung um ein eindeutiges, genau zu beschreibendes Krankheitsbild, das sich aus einer Gruppe von zum Teil sehr hete- gungen (Affekte) langfristig beeinflussen, sprechen Ärzte rogenen Krankheitszeichen (Symptomen) zusammensetzt. Hin- auch von „affektiven Störungen“. zu kommt, dass die Erkrankung sehr verschieden verlaufen kann. Der Begriff „Depression“ leitet sich vom lateinischen Wort Je nach Schwere und Verlauf unterscheidet die psychiatri- deprimere ab, was herunter- oder niederdrücken bedeutet. sche Wissenschaft heute zahlreiche Varianten der Krankheit, Dieses lang anhaltende „Heruntergedrückt sein“ ist das wich- die verschiedene Behandlungsweisen notwendig machen. tigste Krankheitszeichen der depressiven Störung. Depressive Um die Variationsbreite deutlich zu machen, sprechen Wis- Menschen sehen, erleben, fühlen und empfinden, als schau- senschaftler auch von einem „depressiven Spektrum“: Die ten sie durch eine dunkel getönte Brille. Im grauen Einerlei Bandbreite der Krankheitsformen reicht von leichten („mino- ihrer Gefühls- und Erlebenswelt gibt es keine Nuancen mehr. ren“) Depressionen, die häufig mit Angst und vielfältigen kör- Sie kennen keine Freude, nichts kann sie aufheitern. An die perlichen Beschwerden einhergehen können, bis hin zu sehr Stelle der Freude, des Genießens, der Zufriedenheit oder ande- schweren („majoren“), mit Wahnvorstellungen und starker rer normaler Gemütsbewegungen wie Zorn, Gelassenheit, Suizidgefährdung verbundenen Störungen (siehe Ärger, Hoffnung oder Zuversicht tritt eine eigentümliche „Klassifikation“, Seite 18ff.). Da Depressionen Gemütsbewe- Empfindungskälte: Alle Gefühlsregungen scheinen abhanden
SYMPTOME Gesichter der Krankheit 15 Die depressive Herabgestimmtheit kann plötzlich auftre- ten: Maria B. umschreibt dies mit dem Bild vom Zeiger in ihrem Kopf, der plötzlich wie umgestellt ist. Es kann auch sein, dass ein äußeres Ereignis eine zunächst leichte melancholi- sche Verstimmtheit bewirkt, die bestehen bleibt und sich immer mehr verstärkt, obwohl der Anlass schon lange nicht mehr besteht. Andere Betroffene benennen das Niederge- drücktsein als grundsätzlich vorhandenes „pessimistisches“ Lebensgefühl. „Die Trauer kommt und geht ganz ohne Grund. Und man ist angefüllt mit nichts als Leere. Man ist nicht krank, und ist auch nicht gesund. Es ist, als ob die Seele unwohl wäre ...“ (Erich Kästner) Depressiven Menschen versinkt nicht nur die Welt im freudlosen Dunkel. Auch an ihrer eigenen Person können sie nur wenig Positives erkennen. Psychiater sprechen von einer depressiven Veränderung des Selbsterlebens: Selbstvertrauen und Selbstwertgefühl fehlen, die Betroffenen fühlen sich min- derwertig und unsicher. Das Gefühl, wertlos und ungeliebt zu sein, kann sich so sehr steigern, dass die kranken Menschen ihres Lebens überdrüssig werden. gekommen zu sein, es kommt zur „gefühlten Gefühllosigkeit“, „Ich bin nichts wert. Alle anderen sind besser, schließlich werden die Menschen sogar unfähig zu trauern alle anderen können alles – nur ich kann oder zu weinen („tränenlose Trauer“). nichts.“ (Maria B.) „Alles, was früher aufheiternde Phantasien und kleine Geschichten mit vergnüglichen Aspekten ausgelöst hatte, wurde nun zum Die meisten depressiven Menschen haben Angst – Angst, Anlass trübsinniger Überlegungen. Elend fiel Aufgaben nicht zu bewältigen, verlassen zu werden, keine mir auf. Wenn ich Menschen lachen sah, dach- Luft mehr zu bekommen, an einer schweren, unheilbaren te ich: Wie ist das möglich, in diesem schreck- Krankheit zu leiden, zu verarmen, die Familien zu belasten lichen Leben?“ und zu schädigen, nicht geliebt oder akzeptiert zu werden, unerwünscht oder im Wege zu sein, Schuld und Sünde auf (Piet Kuiper) sich geladen zu haben. Die Angst wird häufig von körper-
16 Gesichter der Krankheit SYMPTOME lichen Beschwerden begleitet und kann sich bis hin zu Panik- „ich bin schuld“, „ich bin ein Versager“) können sich bei attacken steigern. Die Betroffenen erleben dann schwere schweren Depressionen wahnhaft steigern. Die düsteren Ge- Angstanfälle mit Atemnot, Würgegefühlen, Herzrasen, danken von der Sinnlosigkeit des Seins können von den Betrof- Schweißausbrüchen oder Übelkeit, ohne dass eine tatsächli- fenen derart Besitz ergreifen, dass sie in der Selbsttötung den che Bedrohung vorliegt. einzigen Ausweg sehen. Der Gedanke wird übermächtig, und es werden konkrete Selbsttötungs-Überlegungen angestellt. Von den ersten Suizidgedanken bis zum tatsächlichen Ver- such können wenige Stunden, aber auch Wochen oder Mona- „Mein Buch erschien in den Vereinigten te vergehen. Staaten und mein Freund schmiss aus diesem Die Depression ist eine Erkrankung, die den ganzen Men- Anlass eine Party. (...) Als ich nach Hause schen – seine Seele und seinen Körper – betrifft. Neben den zurückkehrte, packte mich panische Angst. beschriebenen affektiven Störungen kommt es auch immer zu Danach lag ich schlaflos im Bett und umarmte körperlichen Symptomen. Das für die Diagnose „Depression“ verzweifelt das Kopfkissen.“ ausschlaggebende Krankheitszeichen ist jedoch stets die gedrückte Stimmung. (Andrew Salomon, amerikanischer Journalist und Schriftsteller) Ein charakteristisches, wenn auch von den Betroffenen „Und weil kein Lüftchen weht in diesem nur selten beklagtes Symptom ist ihr gebremster Antrieb: Die Hexenkessel und es kein Entrinnen gibt aus Patienten sind energielos, passiv, schwach, leicht und rasch diesem stickigen Gefängnis, ist es nur zu ver- erschöpfbar und ohne jegliche Initiative. Jede noch so kleine ständlich, dass das Opfer unablässig darüber körperliche oder geistige Aktivität wird als unüberwindbarer nachdenkt, wie es sein Bewusstsein ausschal- Kraftakt empfunden. Bisweilen wirken die Erkrankten wie ten kann.“ versteinert und körperlich-seelisch blockiert. Umgekehrt (Der amerikanische Schriftsteller William Styron, in: „Darkness Visible kann es auch zu einem unnatürlich gesteigerten Antrieb – A Memory of Madness“) kommen. Die Menschen benehmen sich „wie unter Strom“, sind innerlich unruhig und angespannt, nervös, fühlen sich ziel- und rastlos umhergetrieben. Eine zielgerichtete, zu einem Ergebnis führende Aktivität ist bei dieser „agitierten“ Nicht selten sind die körperlichen Krankheitszeichen der- Depression unmöglich. Ebenso kann es vorkommen, dass ein art vordergründig, dass sie die wahre Ursache – die Depression Mensch äußerlich gehemmt, in seinem Innern aber in hohem – verdecken. Diese „Maskierung“ macht es den Ärzten oft Maße unruhig ist. schwer, die Erkrankung frühzeitig zu diagnostizieren und Auch das Denken verändert sich. Depressive Menschen gezielte Gegenmaßnahmen einzuleiten. Hinzu kommt, dass klagen über eine zunehmende Leere im Kopf, sind weniger es viele Menschen noch immer als „Makel“ empfinden, „psy- aufmerksam und konzentrationsfähig und leiden unter Ge- chisch krank“ zu sein, weshalb ihnen die ärztliche Diagnose dächtnisschwäche. Das langsame, umständliche und zähflüs- „Migräne“ lieber ist als die Diagnose „Depression“. Nach einer sige Denken macht Angst, die sich bis zur Furcht, schwachsin- Untersuchung der Johannes Gutenberg Universität in Mainz nig zu werden, steigern kann („depressive Pseudo-Demenz“). befürchten 80 Prozent der depressiv erkrankten Menschen Hinzu kommt die Unfähigkeit, sich zu entscheiden. Die Betrof- große berufliche und gesellschaftliche Nachteile, wenn ihre fenen wägen das Für und Wider selbst bei belanglosen All- Erkrankung bekannt würde. Alle diese Hintergründe helfen tagsfragen, zum Beispiel dem Gang zum Bäcker, quälend lan- zu erklären, warum über die Hälfte aller Depressionen un- ge ab, ohne zu einem Entschluss zu kommen. Die ständigen erkannt bleiben, – obwohl ein Arzt, zumeist der Hausarzt, Grübeleien in engen Gedankenkreisen („ich bin nichts wert“, aufgesucht wird.
SYMPTOME Körperliche Krankheit szeichen 17 Körperliche Krankheitszeichen Die körperlichen Krankheitszeichen einer Depression sind schauer, ein allgemeines körperliches Missempfinden und das Nachlassen der Libido. Nicht selten wird auch darüber geklagt, sehr vielfältig, haben aber meist keine nachweisbare dass Sinnesleistungen, etwa die Fähigkeit zu hören, zu sehen, zu riechen und zu schmecken, nachlassen. Bisweilen kommt es zu Ursache. Die Ärzte sprechen deshalb von „funktionellen“ überempfindlichen Reaktionen: alles sei „zu laut“, „so grell“, „scharf und stechend“. oder „psychosomatischen“ Störungen. Neben den körperlichen Symptomen können auch Störun- gen im zwischenmenschlichen Bereich und im Verhalten mögli- Häufige körperliche Krankheitszeichen betreffen Schlaf, Appetit, che frühe Warnsymptome sein, die vor den eigentlichen seeli- Verdauung, Herz und Atmung. Schlafstörungen sind häufig die schen Anzeichen auffallen. Oft kommt es beispielsweise zu einer ersten Symptome, über die ein depressiver Mensch klagt. Die vom Betroffenen ängstlich registrierten Unfähigkeit, Kontakte zu Betroffenen können nicht einschlafen, wachen oft während der knüpfen oder Beziehungen aufrecht zu erhalten – der Wunsch Nacht auf („zerhackter Schlaf“) und erwachen sehr früh, häufig nach sozialen Kontakten zu Verwandten, Freunden, Bekannten mit dem Gefühl, „ein Berg ruhe auf ihrer Brust“. Neuere wissen- und Arbeitskollegen ist dennoch unverändert vorhanden. Auch schaftliche Erkenntnisse erklären die Schlafstörungen damit, ein unerklärlicher „Rückzug“ ist ein verdächtiges Zeichen: dass bei depressiv erkrankten Menschen die „innere Uhr“ ver- Freundschaften werden vernachlässigt, alte Beziehungen abge- stellt ist. Die innere Uhr legt normalerweise fest, in welchen zeit- brochen und keine neuen geknüpft, Hobbys aufgegeben. Im lichen Rhythmen bestimmte körperliche Prozesse stattfinden. beruflichen Umfeld ist zu beobachten, dass alltägliche Aufgaben, Dazu zählt auch der Schlaf-Wach-Rhythmus. Auch Appetitlosig- die sonst selbstverständlich bewältigt wurden, zu scheinbar un- keit und ein schwindendes Körpergewicht gehören zu den häu- überwindlichen Schwierigkeiten auswachsen und deshalb erst figeren körperlichen Zeichen einer Depression. Ein Gewichtsver- gar nicht begonnen werden. Werden Verrichtungen angegan- lust bis zu zehn Kilogramm ist bei schweren depressiven Zustän- gen, wird es oft zum Problem, sie durchzuhalten. Dies betrifft den keine Seltenheit. Es kann allerdings auch umgekehrt zu bereits die alltägliche Routine und wird für den Betroffenen zur Heißhungerattacken kommen. besonderen Belastung, wenn neue, ungewöhnliche, unerwar- tete oder schwierige Aufgaben an ihn herangetragen werden. „Mir war, als quälte mich ein unglaublich drin- gendes körperliches Bedürfnis, für das es kei- „Zuerst hatte ich das Gefühl, dass sich da bei ne Lösung gab – als müsste ich mich ständig mir irgend etwas eingeschlichen hatte. Ich übergeben, ohne einen Mund zu haben.“ wusste nicht, dass ich depressiv war, so psy- chisch halt. Ich wusste nur, dass ich mich (Andrew Salomon, in: „Depression – Anatomie einer seelischen Krise“, schlecht fühlte. (...) Was ich wusste war, dass ich Geo, November 1998) kein Vertrauen in meine Arbeit und in die Leute hatte, mit denen ich zusammenarbeitete.“ (Joshua Logan in seinem Buch „Moodswings“) Nicht nur der gestörte Appetit, auch Verdauungsprobleme gehören zur Depression. Die Betroffenen klagen über vielfältige Beschwerden, etwa Übelkeit, Brechreiz, Völlegefühl, Blähungen, Magendruck, Krämpfe, Verstopfung und Durchfall. Auch Enge- Insgesamt machen die vielfältigen Symptome und die und Druckgefühle in Brust („Reifen“ um den Brustkorb, vor allem mangelnden Warn- oder Früh-Symptome die Depression zu nach dem frühen Erwachen) oder Kopf („enger Helm“) werden einem nicht immer leicht zu erkennenden Krankheitsbild. beschrieben, ebenso Kreislaufbeschwerden, Schmerzen in der Grundsätzlich gilt: Eine „Verdachtsdiagnose“ Depression, die Herzgegend und Atemnot. Hinzu kommen Klagen über Ver- sich im weiteren Verlauf als Irrtum herausstellt, ist für die spannungen, Gelenk- und Muskelschmerzen, Mundtrockenheit, Betroffenen weniger belastend als eine lange verkannte und Zungenbrennen, Hitzewallungen, starkes Schwitzen, Kälte- unbehandelt bleibende Depression.
18 Die moderne Einteilung depressiver Störungen MEDIZINISCHE KLASSIFIKATION Medizinische Klassifikation Geordnete Vielfalt – die moderne Einteilung depressiver Störungen Umgangssprachlich wird nicht zwischen verschiedenen Depressionsformen unterschieden. In der Fachwelt gibt es dafür umso mehr Begriffe, welche die unterschiedlichen Krankheitsbilder beschreiben. Auf den ersten Blick mag die moderne Klassifikation depressiver Störungen verwir- rend erscheinen, sie ist jedoch eine notwendige Voraus- setzung, damit der Arzt eine exakte Diagnose stellen und die richtige Therapie einleiten kann. Früher wurden die Krankheitsbilder der Depression im We- sentlichen zwei Kategorien zugeordnet: den psychogenen und den endogenen Depressionen. Als Ursache einer psycho- genen – seelisch ausgelösten – Depression galt ein belastendes lebensgeschichtliches Ereignis, beispielsweise der Tod einer geliebten Person oder andere akute oder lang andauernde Edvard Munch (1863-1944): seelische Belastungen. Im Gegensatz dazu sollten endogene „Angst“, 1894. Depressionen von „innen heraus“ (endogen), also ohne er-
MEDIZINISCHE KLASSIFIKATION Die moderne Einteilung depressiver Störungen 19 Depressionen können heute erfolgreich behandelt werden. Voraussetzung ist die exakte Diagnose der Depressionsform, an der eine Person leidet. kennbaren äußeren Auslöser, entstehen und eine körperliche Ursache haben. Diese Zuordnungsweise entspricht nicht mehr dem aktu- ellen Stand wissenschaftlicher Erkenntnis. Neuere Arbeiten der Depressionsforschung weisen darauf hin, dass die Krite- rien „seelisch“ oder „körperlich bedingt“ nur ein scheinbares Gegensatzpaar sind: Bei vielen (wenn auch nicht allen) depres- siven Menschen ist der Erkrankung ein emotional belastendes Ereignis – zu viel Stress, Ärger im Beruf, veränderte Lebens- situationen etc. – vorausgegangen; der Auslöser wurde jedoch nicht erkannt oder in seiner Bedeutung für die Person unter- schätzt. Auch angeblich endogene Depressionen können also eine seelische Ursache haben. Umgekehrt hat jede „see- lisch bedingte“ Depression auch eine körperliche Seite – man kennt sie nur noch nicht genau. Um dem gegenwärtigen Forschungsstand gerecht zu werden, hat die psychiatrische Wissenschaft die alten medi- zinischen Einteilungen zu Gunsten einer Klassifikation auf- gegeben, welche die neuen wissenschaftlichen Erkenntnisse berücksichtigt. Die neuen Einteilungen versuchen, in die vie- len unterschiedlichen depressiven Erscheinungsformen eine zuverlässige Ordnung zu bringen und international gültige Begrifflichkeiten einzuführen. Federführend für das neue System ist die Weltgesundheitsorganisation (WHO) mit ihrer internationalen Klassifikation (der so genannte ICD-10 = „International Classification of Diseases“; zehnte Überarbei- tung) und die Amerikanische Psychiatrische Vereinigung mit ihrem „Diagnostischen und Statistischen Manual psychischer Störungen“ (DSM-IV = „Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders“; vierte überarbeitete Auflage). Grundsätz- liche Gesichtspunkte der Einteilung depressiver Störungen sind die Schwere (leicht, mittelgradig, schwer; siehe Info- Kasten, Seite 20) und der Verlauf der Erkrankung. Im Folgen- den werden die wichtigsten Unterscheidungen genannt und kurz beschrieben.
20 Die moderne Einteilung depressiver Störungen MEDIZINISCHE KLASSIFIKATION Wie schwer ist die Depression? Bei einer leichten Depression sind von den Symptomen „re- duzierte Konzentration“, „verminderte Aufmerksamkeit“, Der Schweregrad einer Depression kann leicht, mittelschwer „herabgesetztes Selbstwertgefühl und Selbstvertrauen“, und schwer sein. Bei einer leichten bis mittelgradigen Depres- „Schuldgefühle, Gefühle von Wertlosigkeit“, „Pessimismus“, sion zeigen sich mindestens zwei, bei einer schweren Depressi- „Suizidgedanken“, „Schlafstörungen“, „geringer Appetit“ min- on alle drei der folgenden Krankheitszeichen: ständige Nieder- destens zwei, bei mittelgradigen Depressionen mindestens drei gedrücktheit, vermindertes Interesse, schnelle Erschöpfung. und bei schweren Depressionen mindestens vier vorhanden. Major Depression kann in jedem Alter auftreten, das durch- 15.000 schnittliche Alter bei Krankheitsbeginn liegt bei etwa 25 Jah- ren. Es kommt vor, dass die Erkrankung einmalig ist; es sind aber auch wiederkehrende Verläufe möglich. Menschen, die an einer Major Depression erkrankt sind, sind ohne rechtzeiti- 10.000 ge kompetente Behandlung hoch suizidgefährdet: Etwa 10 bis Frauen 15 Prozent der Menschen mit schweren, rezidivierenden de- pressiven Störungen sterben durch Selbsttötung. Die Major Depression ist bei Frauen häufiger als bei Männern. Gleichsam am anderen Ende des Spektrums stehen leichte „minore“ 5.000 Männer Depressionsformen, die oft unbehandelt bleiben und in schwe- re depressive Störungen übergehen können (siehe „Gefähr- dung erkennen“, Seite 54f.) Von einer bipolaren Störung sprechen die Ärzte, wenn die 0 Depression zwei deutlich voneinander unterscheidbare Pole e te hat: Es gibt Zeiten, in denen der Patient ausgesprochen nieder- id to iz rs Su gedrückt (depressiv) ist; und es gibt Zeiten, in denen er krank- eh rk Ve haft hochgestimmt (manisch) ist. Man nannte dieses abwech- selnde Auftreten zweier Stimmungspole früher manisch- Ca. 11.000 Menschen begehen hierzulande jährlich Suizid. depressiv. Bipolare Störungen wiederholen sich meist: Mehr als Die Experten schätzen, dass bis zu 50 Prozent der Suizide von depressiven Patienten verübt werden, deren Erkrankung 90 Prozent depressiv erkrankter Menschen, die eine manische nicht erkannt oder nicht richtig behandelt wurde. Phase erlebt haben, erleiden weitere derartige Episoden. Auch (Quelle: Statistisches Bundesamt, 2005) hier besteht unbehandelt ein hohes Selbsttötungsrisiko: Zehn bis 15 Prozent der Betroffenen beenden ihr Leben von eigener Hand. Bipolare Störungen sind nicht geschlechtsspezifisch; sie Die hinsichtlich Schwere und Verlauf bedeutendste kommen bei Frauen und Männern gleich häufig vor. depressive Störung ist die Major Depression (Major Depressive Von einer bipolaren Störung schwer zu unterscheiden, ist Disorder, MDD; typische Depression). Sie besteht dann, wenn die so genannte zyklothyme Störung (Zyklothymia). Auch hier ein Patient über längere Zeit – mindestens aber zwei Wochen kommt es zu Perioden mit abwechselnd niedergedrückten lang – an depressiven Symptomen leidet und seine sonst übli- und gehobenen Stimmungen, allerdings weniger deutlich chen Alltagsaktivitäten nicht mehr aufrechterhalten kann. Die ausgeprägt. Die Erkrankung entwickelt sich meist im frühen
MEDIZINISCHE KLASSIFIKATION Die moderne Einteilung depressiver Störungen 21 Erwachsenenalter und nimmt dann einen chronischen Ver- lauf. Zyklothyme Störungen bleiben oft unerkannt und unbe- handelt; häufig sind es Menschen aus der näheren Umgebung eines Betroffenen, denen die Verhaltensänderungen und Stimmungsschwankungen auffallen. Studien haben ergeben, dass zyklothyme Störungen häufig bei Verwandten von Pa- tienten vorkommen, die an einer schweren bipolaren Störung leiden. Eine weitere häufige depressive Erkrankung ist die Dysthy- mia, früher als neurotische oder depressive Neurose bezeich- net. Es handelt sich dabei um eine ständige depressive Herab- gestimmtheit: Die Patienten fühlen sich müde, alles ist ihnen zu viel, nichts kann freudig erlebt werden, die Gedankenwelt ist pessimistisch gefärbt. Die Krankheitszeichen sind die einer schweren Depression, sie sind nur weniger ausgeprägt, und die Betroffenen können ihren alltäglichen Aufgaben noch weitest- gehend nachkommen. Die Symptome der Dysthymia sind zwar weniger schwer – aber sie können besonders hartnäckig sein und den Menschen das Leben dauerhaft vergällen. Die Krank- heit beginnt zumeist in frühen Erwachsenenjahren. Der Zu- stand dauert mindestens zwei Jahre an, in manchen Fällen bleibt er lebenslang bestehen. Eine in den letzten Jahren besonders bekannt gewordene Depressionsform ist die Winterdepression oder saisonal lichen Ländern mit kurzen Sommern und langen Wintern sind abhängige Depression (SAD). Die davon Betroffenen klagen durchweg höhere Suizidraten zu verzeichnen. Ausnahmen von vor allem im Herbst und im Winter über auffällige Verhaltens- dieser Regel bilden freilich England mit niedrigen und Ungarn änderungen mit typischen depressiven Symptomen, die mit mit hohen Suizidraten. Beginn des Frühjahrs wieder abebben. Neuere Untersuchun- Andere, in bestimmten Zeiten auftretende depressive gen zeigen, dass depressive Erkrankungen im Winter um rund Erkrankungen sind die so genannte Postpartum-Depression, zehn Prozent ansteigen. Nach einer amerikanischen Studie kla- eine depressive Störung, die etwa fünf bis zehn Prozent der gen in Alaska über 20 Prozent der Bevölkerung über die Symp- Frauen nach der Geburt eines Kindes durchleiden, und die tome einer Winterdepression, in New York sind es nur noch zyklusabhängige oder prämenstruelle Depression (prä- rund zwölf und in Florida weniger als drei Prozent. Eine weitere menstruelle dysphorische Störung), die so ausgeprägt sein Studie wies in europäischen Ländern ein „Nord-Süd-Gefälle“ kann, dass es den betroffenen Frauen (Schätzungen sprechen der Suizide nach. Zu den wenigsten Selbsttötungen kommt es von zwei bis zehn Prozent) kaum noch gelingt, ihren beruf- in den sonnigen Ländern Griechenland und Italien; in nörd- lichen und sozialen Alltag aufrechtzuerhalten.
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