"Es ist, als ob die Seele unwohl wäre - Depression - Wege aus der Schwermut Forscher bringen Licht in die Lebensfinsternis

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"Es ist, als ob die Seele unwohl wäre - Depression - Wege aus der Schwermut Forscher bringen Licht in die Lebensfinsternis
„Es ist, als ob die Seele unwohl wäre ...“
Depression – Wege aus der Schwermut

Forscher bringen Licht in die Lebensfinsternis
"Es ist, als ob die Seele unwohl wäre - Depression - Wege aus der Schwermut Forscher bringen Licht in die Lebensfinsternis
Danksagung
Die Autorin dankt dem Kompetenznetz Depression, Suizidalität für seine Unterstützung, insbesondere
Prof. Dr. Ulrich Hegerl, dem Sprecher des Kompetenznetzes, für die Durchsicht des Manuskriptes sowie
Prof. Dr. Wolfgang Eckart, Institut für Medizingeschichte der Universität Heidelberg, für seine Hilfe bei
der Erstellung des Kapitels „Die Depression ist eine sehr alte Erkrankung“. Ihr Dank gilt auch Maria B., die
ihre Lebensgeschichte erzählt hat, um deutlich zu machen, was die Erkrankung für Betroffene bedeutet.

Impressum

Herausgeber                                                        Bildnachweis
Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF)                 Schapowalow/Jaeckel: Titel
Referat Öffentlichkeitsarbeit                                      visipix.com:        S. 6, S. 22
11055 Berlin                                                       Foto B. Stühmer: S. 8, S. 9, S. 21, S. 26, S. 53
                                                                   AKG Berlin:         S. 10, S. 14, S. 18, S. 23, S. 24, S. 58, S. 64, S. 65
Bestellungen                                                       Mauritius:          S. 19, S. 33, S. 51
schriftlich an den Herausgeber,                                    Okapia:             S. 28, S. 38, S. 50 unten
Postfach 30 02 35                                                  Focus:              S. 27 unten, S. 39, S. 41
53182 Bonn                                                         DLR, Bonn:          S. 27 oben
oder per                                                           MPG, München: S. 32, S. 34 oben, S. 36, S. 37, S. 46
Tel.: 01805 – 262 302,                                             BMBF:               S. 3, S. 47
Fax: 01805 – 262 303                                               gettyimages:        S. 54
(0,14 Euro/Min. aus dem deutschen Festnetz)                        Institut für Didaktik in der Medizin, Michelstadt: S. 11, S. 31
                                                                   sanofi-aventis:     S. 40, S. 52
E-Mail: books@bmbf.bund.de                                         Deutsches Bündnis gegen Depression e. V.: S. 57, S. 60, S. 62, S. 63
Internet. www.bmbf.de                                              Bilderberg:         S. 50 oben
                                                                   Institute of Public Health of the Republic of Slovenia, Lubljana:          S. 61
Text und Redaktion                                                 Department of Radiological Sciences, UCLA School of Medicine:              S. 34 unten
Claudia Eberhard-Metzger (außer Kapitel „Mehr Wissen …“),          Edvard Munch – Verzweiflung, Melancholie, Angst:
Wissenschaftsjournalistin, Maikammer/Südliche Weinstraße           © The Munch Museum/The Munch Ellingsen Group/VG Bild-Kunst, Bonn 2001
Kompetenznetz Depression, Suizidalität (Kapitel „Mehr Wissen …“)   Conrad Felixmüller – Regen: © VG Bild-Kunst, Bonn 2001

Gestaltung                                                         Das Zitat im Titel stammt aus Erich Kästners Gedicht „Traurigkeit, die jeder kennt“.
heimbüchel pr kommunikation und publizistik GmbH, Köln/Berlin
                                                                   Diese Broschüre wurde im Auftrag des Bundesministeriums für Bildung und
Bonn, Berlin 2007 (Aktualisierung der Erstauflage von 2001)        Forschung (BMBF) erstellt. Die Autorin trägt die Verantwortung für den Inhalt.
"Es ist, als ob die Seele unwohl wäre - Depression - Wege aus der Schwermut Forscher bringen Licht in die Lebensfinsternis
„Es ist, als ob die Seele unwohl wäre ...“
Depression – Wege aus der Schwermut

Forscher bringen Licht in die Lebensfinsternis
"Es ist, als ob die Seele unwohl wäre - Depression - Wege aus der Schwermut Forscher bringen Licht in die Lebensfinsternis
"Es ist, als ob die Seele unwohl wäre - Depression - Wege aus der Schwermut Forscher bringen Licht in die Lebensfinsternis
VORWORT                                                                                                                            3

Vorwort

                                                                      schwer kranke Patienten unfähig sind, sich selbst zu helfen
                                                                      oder sich einer Selbsthilfegruppe anzuschließen.
                                                                           Rund vier Millionen Deutsche sind akut von einer behand-
                                                                      lungsbedürftigen Depression betroffen. Aber nur eine Min-
                                                                      derheit von ihnen wird optimal behandelt. Bis heute werden
                                                                      Depressionen häufig unterschätzt. Oft werden sie entweder
                                                                      als Einbildung eingeordnet oder gänzlich tabuisiert. In Wirk-
                                                                      lichkeit handelt es sich um eine ernsthafte Erkrankung, an der
                                                                      die Betroffenen keine Schuld haben. An dieser veränderten
                                                                      Sichtweise hat die Gesundheitsforschung in Deutschland
                                                                      maßgeblichen Anteil. Biologen und Psychologen, Mediziner
                                                                      und Neurowissenschaftler haben daran mitgewirkt. Nur mit
                                                                      gemeinsamen wissenschaftlichen Anstrengungen ist es mög-
                                                                      lich, das Phänomen Depression umfassend aufzuklären.
                                                                           Die vorliegende Broschüre stellt die umfassenden Fort-
                                                                      schritte in der Depressionsforschung dar. Ich bin sicher, dass
                                                                      sie zum Verständnis der Ursachen und der vielfältigen Thera-
                                                                      pien der Krankheit beitragen wird. Sie bringt den Betroffenen,
                                                                      ihren Angehörigen und allen anderen Interessierten den
                                                                      Stand der Forschung nahe und vermittelt so ein tieferes
                                                                      Verständnis der Erkrankung.

„Reiß Dich zusammen!“, „Da musst Du durch!“ – derartige
Ratschläge bekommen depressionskranke Menschen oft zu hö-
ren. Auch wenn ein solcher Ratschlag gut gemeint sein mag: Er
wirkt auf die betroffenen Menschen nicht wie ein Rat, sondern
wie ein Schlag. Wer unter Depressionen leidet, sich antriebslos
und wie gelähmt fühlt, vermag einer solchen Aufforderung              Dr. Annette Schavan, MdB
nicht zu folgen. Es liegt in der Natur der „Seelenfinsternis“, dass   Bundesministerin für Bildung und Forschung
"Es ist, als ob die Seele unwohl wäre - Depression - Wege aus der Schwermut Forscher bringen Licht in die Lebensfinsternis
4                                                                                           INHALTSVERZEICHNIS

Inhaltsverzeichnis

                                                                                                         Seite

Vorwort                                                                                                     3

Dimensionen eines Problems                                                                                  6

    Was es heißt, mit einer Depression zu leben – die Geschichte der Maria B.                               6
    „Etwas schnürt mich ab“ – ein Tag im Leben von Maria B.                                                 8
    „Ich bin heute so depressiv ...“ – wenn die Stimmung schwankt                                           9

Epidemiologie                                                                                              10

    Depression – häufige und unterschätzte Krankheit                                                       10

Symptome – woran depressive Menschen leiden                                                                14

    Gesichter der Krankheit                                                                                14
    Körperliche Krankheitszeichen                                                                          17

Medizinische Klassifikation                                                                                18

    Geordnete Vielfalt – die moderne Einteilung depressiver Störungen                                      18

Depressionsforschung                                                                                       22

    Ein die „Seele beherrschender Argwohn“ – die Depression ist eine sehr alte Erkrankung                  22
    Depressionsforschung heute: Der Stand des Wissens – ein Überblick                                      26
      – Die „Biologie“ der Depression                                                                      26
      – Das Universum im Kopf                                                                              27
      – Wie Nervenzellen kommunizieren                                                                     29
      – Die „Chemie“ der Depression                                                                        30
      – Ein Blick in das lebende Gehirn                                                                    32
      – Vom Einfluss der Hormone: Depression durch zu viel Stress?                                         35
      – Sind Depressionen erblich?                                                                         38
    Wie Psychologen die Entstehung einer Depression erklären                                               41
    Das Mehr-Faktoren-Modell oder: die „Psycho-Biologie“ der Depression                                    44
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INHALTSVERZEICHNIS                                                                        5

                                                                                       Seite

Therapien – wie Depressionen behandelt werden                                            46

    Viele Ursachen erfordern viele Therapien                                             46
      – Psychologische Behandlungen                                                      46
      – Antidepressiv wirkende Medikamente                                               47
      – Rückfälle vermeiden                                                              49
      – Weitere Strategien gegen die Schwermut: helles Licht, Schlafverbot und Sport     49

Aktuelle Depressionsforschung in Deutschland                                             52

    Forschungsfragen, Forschungsziele, Forschungswege                                    52
      – Schnellere Medikamentenentwicklung                                               52
      – Molekulare Ansatzpunkte                                                          52
      – Pharmakogenomik – Jedem Patienten eine maßgeschneiderte Therapie?                53
      – Therapieerfolge voraussagen?                                                     54
      – Gefährdung erkennen – die Behandlung leichter depressiver Störungen              54
      – Suizide vermeiden                                                                55
      – Gibt es biochemische „Suizid-Anzeiger“?                                          56

Mehr Wissen, mehr Verständnis                                                            58

    Deutsches Bündnis gegen Depression                                                   58
      – Deutsches Bündnis                                                                59
      – European Alliance against Depression                                             61

Anhang                                                                                   64

    Eine Krankheit – viele Namen: prominente Depressive                                  64
    Glossar                                                                              66
    Zum Weiterlesen                                                                      68
"Es ist, als ob die Seele unwohl wäre - Depression - Wege aus der Schwermut Forscher bringen Licht in die Lebensfinsternis
6                                               Was es heißt, mit einer Depression zu leben DIMENSIONEN EINES PROBLEMS

Dimensionen
eines Problems
Was es heißt, mit einer
Depression zu leben –
die Geschichte der
Maria B.

Maria hat ein Auge für die schönen Dinge des Lebens. Das            Johann Heinrich Fuessli (1741-1825):
                                                                    „Das Schweigen“, um 1799/1802.

zeigen ihre Fotografi en, die groß umrahmt über dem

Wohnzimmersofa hängen.                                              se hat sich bleischwer über sie ergossen und jede Freude, alles
                                                                    Schöne erstickt. Ein hoffnungslos langer Zeit-Tunnel beginnt,
Eines der Bilder zeigt den Colorado, wie er sich als lichtblaues    mit Tagen, Wochen und Monaten voller Angst und Verzweif-
Band durch bedrohlich dunkle Felsmassive windet. Auf einem          lung, nur noch gehalten von dem Wunsch, der Seelenqual im
anderen ist ein karger Hügel zu sehen, auf dessen baumlosem         Schlaf – dem „Bruder des Todes“ – zu entfliehen. Nichts dringt
Haupt das rote Dach einer einsamen Hütte hoffnungsvoll              mehr zu Maria durch: „Ich bin ausgeliefert“, sagt sie. „Wenn
leuchtet. Eine dritte Fotografie zeigt eine Häuserzeile: Eng        der Zeiger erst umgestellt ist, habe ich keine Chance mehr.“
aneinandergeschmiegt trotzen sie in pastellenen Fassaden                 Maria B. ist 32 Jahre alt. Seit zwei Jahren bezieht die gelern-
dem grauen Nebel. Die Bilder beweisen, dass Maria eine aus-         te Erzieherin eine Erwerbsunfähigkeitsrente, seit vier Jahren
gezeichnete Fotografin ist. Und ein wenig verraten sie auch         hat sie nicht mehr gearbeitet, seit 14 Jahren kämpft sie mit
das Problem und die Hoffnung, die Maria hat.                        ihrer Krankheit, einer „Major Depression“, wie die Ärzte sa-
     Vier Wochen lang, erinnert sie sich an die Amerikareise, sei   gen. Schon ihre Großmutter, ihre Mutter und deren Schwes-
es ihr „supergut“ gegangen. Zwei Tage nach ihrer Heimkehr           tern haben an einer solch schweren (major = größeren) De-
war er dann wieder da, „der Tag X“. Er beginnt stets gleich. Sie    pression gelitten, auch einer ihrer Brüder ist betroffen. Zur
erwacht morgens und weiß: „Es ist so weit.“ Eine schwarze Mas-      Zeit geht es Maria gut. Sie ist gerade aus der Klinik entlassen
"Es ist, als ob die Seele unwohl wäre - Depression - Wege aus der Schwermut Forscher bringen Licht in die Lebensfinsternis
DIMENSIONEN EINES PROBLEMS Was es heißt, mit einer Depression zu leben                                                                  7

worden – fünf Monate war sie dort. Acht Elektrokrampf-                     Nach ihrer Entlassung zog sie in eine größere Stadt und
behandlungen waren diesmal notwendig gewesen, um sie aus              arbeitete „mit großer Freude“ in einem Kindergarten. „Es wur-
ihrem Seelengefängnis zu befreien. In den nächsten Wochen             de Herbst“, erinnert sich Maria, „und es ging wieder los – dies-
wird sie regelmäßig zur „Erhaltungstherapie“ in die Klinik fah-       mal ohne besonderen Anlass.“ Den ganzen Winter verbrachte
ren, um sich ihr Gehirn unter Vollnarkose mit elektrischem            sie im Krankenstand. Da sich trotz der Behandlung mit ver-
Strom durchfluten zu lassen: „Sonst hilft bei mir nichts.“            schiedenen Medikamenten diesmal keine Besserung abzeich-
     Als die Depression in Marias Leben trat, war sie 22 Jahre alt.   nete, kam sie im Februar in eine psychiatrische Klinik, wo sie
Sie absolvierte damals ein Berufspraktikum in einem Lehrlings-        erstmals mit der Elektrokrampftherapie behandelt wurde. Das
wohnheim mit schwer erziehbaren Jungen und fühlte sich über-          Ergebnis sei für sie ein Wunder gewesen: „Ich bin aus der Nar-
fordert. Aber aufgeben wollte sie nicht. Im Gegenteil: „Ich sagte     kose aufgewacht und fühlte mich blendend.“
mir, ,Du musst da durch, das musst Du schaffen’.“ Und so ging sie          Wenn es Maria gut geht, ist sie voller Tatendrang. Sie lädt
jeden Tag zur Arbeit – trotz ihrer Ängste, trotz der Befürchtung,     sich gerne Freunde ein und kocht für sie, sie geht aus, küm-
den Tag heute nicht zu bestehen. Minderwertigkeitsgefühle             mert sich um ihren kleinen Haushalt, liebt ihren Beruf und
schlichen sich ein: Alle anderen sind besser als ich, dachte Maria;   ist eine begeisterte Sportlerin. Sie habe „normalerweise“ viel
alle anderen schaffen es – nur ich nicht. Aus der Minderwertig-       Freude in sich, Spaß am Leben und Lust, etwas zu tun. Sie fühle
keit erwuchs Verzweiflung. „Irgendwann glaubte ich, das Leben         dann auch Selbstvertrauen, ein Gefühl, das sie trägt, weil sie
nicht mehr ertragen zu können, weil es nichts Schönes mehr            spürt, dass sie „genauso wertvoll ist wie jeder andere auch“. In
gab, an dem ich mich freuen konnte. Es gab nur noch die Last,         den Zeiten der Krankheit bricht dieses Lebensgerüst wie ein
diesen Tag leben zu müssen.“ Vier Monate lang quälte sie sich,        Kartenhaus beim kleinsten Windstoß zusammen, und sie ver-
dann – im Winter – kam der Zusammenbruch: „Einer der                  sinkt in tiefe Seelenfinsternis: „Wenn ich dazu in der Lage
Jugendlichen bedrohte mich körperlich, das gab mir den Rest.“         wäre, würde ich alles tun, um dem zu entkommen. Keiner
Sie flüchtete nach Hause zu ihren Eltern, vergrub sich, weinte        bleibt freiwillig in dieser Hölle.“
tagelang, hatte Angst vor allem und jedem, konnte und wollte               Sie hat in den vergangenen zehn Jahren alles probiert, was
keinem Menschen entgegentreten, versank in Grübeleien und             die Medizin zu bieten hat. Sie kennt die meisten Medikamente
tiefer Leere, aß und trank nichts mehr.                               und war bei Psycho- und Verhaltenstherapeuten. Manchmal,
     Die Mutter wusste gleich, was mit ihrer Tochter los war,         sagt sie, helfe ein Schlafentzug. Maria hält sich dann eine ganze
kannte sie doch die Symptome aus eigener, lebenslanger Erfah-         Nacht wach. Am Morgen danach fühle sie sich tatsächlich „auf-
rung. So kam Maria rasch in ärztliche Behandlung und erhielt          geweckt“, manchmal erlebe sie einen geradezu „euphorischen
Medikamente. Im Laufe des Frühjahrs erholte sie sich, und im          Lebenstrieb“. Sie schaltet dann frühmorgens schon gut gelaunt
Sommer ging es ihr wieder richtig gut. Sie bemühte sich um            das Radio an, singt und tanzt und würde am liebsten die ganze
einen neuen Praktikumsplatz, schloss ihre Ausbildung ab und           Welt anrufen, um zu sagen, dass es ihr jetzt gut geht und dass
fühlte sich trotz einer kleinen „depressiven Episode“ im Herbst       alle Freunde vorbeikommen sollen. Alles sei „irgendwie ent-
„rundum zufrieden“. Im Jahr darauf trat sie ihre erste Stelle als     hemmt“. Sie wisse schon, dass sie dann „etwas aus der Spur lau-
Erzieherin in einer Wohngruppe mit acht Jugendlichen an. Die          fe“, aber es sei ein schönes Gefühl – von nur kurzer Dauer.
Arbeit habe ihr gefallen; sie sei gefordert gewesen, aber sie habe         Maria hat sehr viel gekämpft und jetzt erstmals eine Zeit
alles gut geschafft. Dann kam es zu einem bösen Streit, die Belas-    erlebt, in der sie das Gefühl hatte, es gehe ihr „nicht richtig gut,
tungen wuchsen und im Winter erlitt Maria „von einem Tag auf          aber auch nicht richtig schlecht“. Es sei so eine Art Zwischen-
den anderen“ ihren zweiten Zusammenbruch, der schlimmer               stadium, von dem sie hofft, dass es dauerhaft anhält. Jede Be-
verlief als der zwei Jahre zuvor. Danach verbrachte sie eine „sehr    handlungsart, betont sie, die ihr das ermögliche, sei ihr recht:
lange Zeit“ in der psychiatrischen Klinik.                            „Damit ich mein Leben leben kann – so, wie andere auch.“
"Es ist, als ob die Seele unwohl wäre - Depression - Wege aus der Schwermut Forscher bringen Licht in die Lebensfinsternis
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„Etwas schnürt mich ab“ –
ein Tag im Leben von Maria B.

Ich wache in der Früh’ auf und weiß, es ist so weit. Man kann es              Der Gedanke, sich aus der Welt zu nehmen, ist immer da.
nicht beschreiben. Aber man weiß, es ist jetzt da. Schlagartig.          In Verzweiflungsphasen wird er sehr vordergründig. Ich wei-
Am Abend zuvor war man noch guter Dinge, und am nächsten                 ne dann sehr viel; denke, dass ich die Situation nicht mehr
Morgen ist alles anders. Es ist so massiv, dass man nichts dage-         ertragen kann und dass das jetzt der letzte Weg ist, um allem
gen tun kann. Ich kann mich nicht mehr freuen – es gibt nur              zu entkommen und meinem Freund und meiner Familie nicht
schlechte Gefühle: alles ist trostlos, ausweglos, man resigniert,        mehr zur Last zu fallen. Dieser Gedanke ist gleichzeitig quä-
es gibt nichts Schönes mehr im Leben, es gibt einfach nichts             lend wie erleichternd.
Positives mehr. Man lebt trotzdem weiter, irgendwie.                          Warum ich verzweifelt bin, weiß ich nicht. Es ist dann so,
     Ich bleibe sehr lange im Bett liegen. Warum, für was sollte         dass ich mich in diesen Phasen nicht mehr beruhigen kann. Es
ich aufstehen? Wenn ich dann doch aufstehe, setze ich mich               gibt keinen Grund dafür. Das ist es, was ich nicht verstehe: Ich
vor den Fernsehapparat. Von dem, was da gezeigt wird, be-                habe keinen Grund, traurig zu sein. Ich habe keinen Grund,
komme ich nichts mit – der Fernseher läuft halt –, ich bin ge-           mich schlecht zu fühlen. Es ist alles wie immer. Nur das
danklich ganz woanders, ich grübele und grübele. Oft ist da              Bewusstsein: Etwas schnürt mich ab, mir kann keiner helfen,
einfach auch nur eine Leere: Es ist gar nichts da. Ich stiere vor        ich bin ausgeliefert, ich komme da nicht mehr raus. Es ist wie
mich hin und denke überhaupt nichts. Ich tue auch nichts. Die            ein Loch, das sich auftut, und aus dem man – je nachdem, wie
kleinsten Aufgaben werden zu riesigen Sachen. Sich dazu zu               tief man fällt – lange Zeit nicht mehr herauskommt.
überwinden, irgendetwas anzufangen, das schafft man ein-                      Es ist wirklich schwer, es zu beschreiben. Wenn es mir gut
fach nicht. Ich gehe auch nicht ans Telefon. Wenn dann einer             geht, ist alles weg. Sobald ich „Es“ nicht habe, kann ich mir sel-
fragt, wie es mir geht – das kann ich gar nicht beantworten. Es          ber kaum vorstellen, wie es ist – obwohl ich doch so viel Zeit
ist alles zu viel, eine ungeheure Anstrengung. Ich will auch             meines Lebens damit verbringe.
nicht, dass mich jemand besucht. Ich ertrage es nicht. Ich
müßte mich dann ja unterhalten. Aber ich habe nichts zu
sagen, zu diesem Zeitpunkt.
     Ich warte darauf, dass mein Freund abends nach Hause
                                                                         „Wenn ich dann doch aufstehe, setze ich mich vor den Fernsehapparat. Von dem, was
kommt. Das ist ein Lichtblick: Dass ich dann nicht mehr alleine
                                                                         da gezeigt wird, bekomme ich nichts mit ...“
bin. Wir können in diesen Zeiten nicht viel miteinander anfan-
gen. Aber ich bin froh, wenn er da ist. Und er versteht auch,
dass ich mich nicht „zusammenreißen“ kann, wie andere oft
meinen – man ist nicht in der Lage dazu, man kann es nicht.
     So lebe ich freudlos durch den Tag. Manchmal wird es
gegen Abend hin etwas leichter. Aber am nächsten Tag bin ich
wieder in der gleichen Stimmung. Wenn ich ganz unten bin,
arbeite ich nur auf die Stunden hin, wo ich schlafen kann.
Schlafen ist dann für mich das Höchste. Dann muss ich nicht
mehr denken. Ich bin einfach nicht mehr da, nichts quält
mich. Ich nehme mich heraus aus der Welt. Es ist ein Ausblen-
den. Darum geht es mir den ganzen Tag: Wann kann ich mich
wieder hinlegen und schlafen und weg sein?
DIMENSIONEN EINES PROBLEMS Wenn die Stimmung schwankt                                                                                   9

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                                                                                       tigung der Gemütslage, sondern eine ernste Krank-
                                                                                       heit, die der fachärztlichen Behandlung bedarf.

„Ich bin heute so depressiv ...“ –
wenn die Stimmung schwankt

Der Satz „ich bin so depressiv“ ist zu einem gängigen          oder übermüdet, fühlt man sich wohl oder unwohl. Was auch
                                                               immer eine Verstimmung ausgelöst haben mag – sicher ist,
Bestandteil der Umgangssprache geworden. Die wenigs-           dass es sich um eine Beeinträchtigung der Gemütslage han-
                                                               delt, die zumeist nach kurzer Zeit vorübergeht. Außerdem
ten, die ihn benutzen, sind depressiv. Sie sind lediglich      kann man lernen, Verstimmungen zu überwinden.
                                                                    Eine weitere häufige Beeinträchtigung der Gemütslage
schlecht gelaunt, niedergeschlagen, enttäuscht, zornig,        ist die Trauer. Wer trauert, ist bedrückt, niedergeschlagen,
                                                               bisweilen hoffnungslos und verzweifelt. Trauernde zeigen
abgespannt oder unsicher – sie sind missgestimmt.              wenig Interesse an ihrer Umwelt, sind leicht zu verletzen und
                                                               haben kaum Kraft und Energie. Die Trauer kann einer De-
                                                               pression sehr ähnlich sehen. Dennoch ist die Trauer keine
Solche Verstimmungszustände sind keine Krankheiten, die        Krankheit, sondern eine natürliche Reaktion auf ein belas-
einer Behandlung bedürfen. Es handelt sich um normale und      tendes Ereignis. Der „Trauerprozess“ hat einen universell gül-
notwendige Schwankungen menschlichen Befindens. Fach-          tigen, typischen zeitlichen Verlauf. Die „Trauerarbeit“ kann
leute sprechen auch von „Schwingungsfähigkeit“ und meinen      lang und schmerzhaft sein, ist aber unverzichtbar, um sich
damit die Möglichkeit, zwischen positiven und negativen        von Vergangenem zu lösen und Neuem zuzuwenden. Auch
Gefühlen hin und her zu pendeln. Diese Fähigkeit ist wesent-   die Trauer geht irgendwann vorüber: Die Alltagsweisheit
lich für die emotionale Gesundheit eines Menschen.             „die Zeit heilt alle Wunden“ hat hier durchaus ihre Berech-
     Stimmungen sind von äußeren Einflüssen abhängig, bei-     tigung.
spielsweise von zwischenmenschlichen Erfahrungen, etwa              Im Unterschied zu diesen normalen Beeinträchtigungen
mit dem Partner, mit den Kindern, Arbeitskollegen, Nach-       der Gemütslage ist die Depression eine Krankheit, welche die
barn oder Freunden. Auch das Wetter oder die Jahreszeit        Stimmung, das Denken, das Verhalten und die Körperfunk-
können die Stimmung beeinflussen. Schließlich hängt die        tionen der Betroffenen tiefgreifend und langfristig verändert
Stimmung auch davon ab, in welchem körperlichen Zustand        und einer speziellen Behandlung, oft durch Fachärzte oder
man sich befindet: ist man hungrig oder satt, ausgeschlafen    psychologische Psychotherapeuten, bedarf.
10                                                   Depression – häufige und unterschät zte Krankheit EPIDEMIOLOGIE

Epidemiologie
Depression –
häufige und unter-
schätzte Krankheit

Zwei bis sieben Prozent der Weltbevölkerung leiden an

einer Depression. In Deutschland leiden zu einem

bestimmten Zeitpunkt mindestens vier Millionen

Menschen an einer depressiven Störung.

Epidemiologische Studien (die Epidemiologie befasst sich mit
der Ausbreitung und Verteilung von Krankheiten) weisen
darauf hin, dass leichtere und nicht als Depression erkannte
Erkrankungsverläufe noch häufiger sind. Insgesamt gehen die
Epidemiologen von rund acht Millionen Menschen aus, die
hierzulande von einer Depression betroffen sind.
    Von der anhaltenden Seelenpein bleiben die Menschen
in keinem Winkel der Erde verschont. Eine Studie der Welt-
gesundheitsorganisation (WHO) zeigte dies in einer Deutlich-
keit, die selbst Fachleute überraschte. Depressive Störungen
gehören danach weltweit zu den häufigsten – und am meisten
                                                                 Edvard Munch (1863-1944):
unterschätzten – Erkrankungen. In den westlichen Industrie-      „Verzweiflung“, 1893.
nationen ist die Depression das zweithäufigste Leiden nach
den Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Gemessen an der beein-
trächtigten Lebenszeit liegt die Depression laut WHO sogar
auf Platz eins: Von allen körperlichen und seelischen Krank-
heiten raubt sie ihren Opfern am meisten gesunde, un-
beschwerte Jahre.
EPIDEMIOLOGIE Depression – häufige und unterschät zte Krankheit                                                                           11

    Jede unbehandelte Depression ist eine schwere, lebens-          rettende Zeit geht so verloren. Denn in vielen Fällen kann die
bedrohliche Erkrankung. 15 Prozent aller Patienten mit schwe-       Erkrankung erfolgreich behandelt und den Betroffenen der
ren Depressionen vergällt die anhaltende Schwermut derart                   Lebensmut zurückgegeben werden. Noch sind längst
das Leben, dass sie nur noch in der Selbsttötung                                         nicht alle Fragen rund um die Depression
(Suizid) einen Ausweg aus der Düsternis ihres                                                 geklärt; grundsätzlich aber gilt, dass es
Seins sehen. Nach Angaben des Statisti-                                                            nur für wenige seelische Störungen
schen Bundesamtes begehen hierzu-                                                                     so wirksame und sichere Behand-
lande jährlich ca. 11.000 Menschen                                                                      lungsarten gibt – und dass es
Suizid; die Experten gehen davon                                                                           nur wenige seelische Krank-
aus, dass 40 bis 50 Prozent dieser                                                                          heiten gibt, die so selten rich-
Suizide von nicht diagnostizier-                                                                             tig behandelt werden.
ten oder nicht richtig behan-                                                                                        Wissenschaftliche
delten depressiven Patienten                                                                                  Studien haben in den ver-
verübt werden. Etwa 10-fach                                                                                   gangenen Jahren wieder-
höher ist die Zahl der überleb-                                                                              holt und unmissverständ-
ten Suizidversuche. Mehr als die                                                                            lich auf die erheblichen Defi-
Hälfte der an einer schweren De-                                                                           zite im Erkennen und Behan-
pression Erkrankten versucht min-                                                                        deln von Depressionen auf-
destens einmal im Leben, sich umzu-                               Zwei bis sieben Prozent der          merksam gemacht. Besonders
                                                                  Weltbevölkerung leiden an
bringen.                                                                                            groß sind die Probleme im Bereich
                                                                  einer Depression.
    Bis einem depressiven Patienten eine                                                       der Primärversorgung, das heißt, in der
fachmännische Behandlung zuteil wird, verstrei-                                           Versorgung durch den Hausarzt. Da körperli-
chen oft viele Jahre. Wertvolle, unter Umständen lebens-                      che Beschwerden häufig im Vordergrund stehen, wird

Depression: Zahlen und Fakten

• Depressionen beeinträchtigen die Lebensqualität und die          • Ca. 11.000 Menschen begehen hierzulande jährlich Selbst-
  soziale, körperliche und geistige Leistungsfähigkeit in einer      mord. 40 bis 50 Prozent von ihnen sind Depressions-
  fundamentaleren Weise als chronische körperliche Erkran-           patienten.
  kungen wie Bluthochdruck, die Zuckerkrankheit, Arthritis
  oder Rückenschmerzen.                                            • Bei mehr als 50 Prozent der Patienten wird die depressive
                                                                     Erkrankung und damit oft auch die Selbstmordgefährdung
• In Deutschland liegen die Kosten in Folge depressions-             nicht erkannt.
  bedingter Frühberentungen bei ca. 1,5 Milliarden Euro
  jährlich. An Arbeitsunfähigkeit werden nach Angaben des          • Auch bei korrekter Diagnosestellung wird mehr als die Hälf-
  Bundesministeriums für Gesundheit pro Jahr etwa elf Mil-           te der Patienten nicht richtig behandelt (zu kurze Behand-
  lionen Tage durch über 300.000 depressive Erkrankungs-             lungsdauer, zu niedrige Dosierung, Verordnen von Substan-
  fälle verursacht.                                                  zen ohne antidepressiven Wirksamkeitsnachweis).

• In der Altersgruppe der 15- bis 35-Jährigen steht der Suizid     • Trotz intensiver Forschung sind die Ursachen der Depressi-
  als Folge einer Depression nach den Unfällen an zweiter            on noch immer ungeklärt.
  Stelle der Todesursachen.
12                                                                                         Depression – häufige und unterschät zte Krankheit EPIDEMIOLOGIE

die Erkrankung oft nicht rechtzeitig erkannt. Häufig ist auch                                          sind die Patienten häufig in einem nur unbefriedigenden psy-
das Wissen über die optimale Behandlung nicht ausreichend                                              chischen und körperlichen Zustand. Solchen Missständen, for-
oder nicht mehr auf dem aktuellen Stand der wissenschaftli-                                            dern die Experten, könne durch umfassende qualitätssichern-
chen Erkenntnis. Diese diagnostischen und therapeutischen                                              de Maßnahmen begegnet werden. Angesichts der mittler-
Defizite bedingen erhebliches persönliches und familiäres                                              weile verfügbaren therapeutischen Möglichkeiten seien die
Leid.                                                                                                  bestehenden diagnostischen und therapeutischen Defizite
    Auch in der stationären Versorgung der Patienten gibt es                                           nicht mehr tolerierbar. Eine Depression müsse ebenso sorgfäl-
eine Reihe von Schwachstellen: Wie Studien ermittelten, wer-                                           tig diagnostiziert und konsequent behandelt werden wie bei-
den therapeutische Möglichkeiten – beispielsweise Psychothe-                                           spielsweise ein Bluthochdruck.
rapien – nicht in vollem Umfang genutzt; bei ihrer Entlassung

                                         Die Burden of Disease-Studie: Ergebnisse für 2001
                                         Die 10 häufigsten Ursachen für mit Beeinträchtigung gelebte Lebensjahre in den Industrieländern

                                                          10

                                                          9    8,39
     Mit Beeinträchtigung gelebte Lebensjahre (in Mio.)

                                                          8

                                                          7
                                                                      6,33

                                                          6
                                                                             5,39

                                                          5

                                                          4                         3,77       3,77
                                                                                                        3,46
                                                                                                                    2,86
                                                          3
                                                                                                                                2,25
                                                          2                                                                                1,68
                                                                                                                                                       1,53

                                                          1

                                                          0
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                                                                                                  ab

                                                                                                  Se
                                                                                                  eE
                                                                                                  re

                                                                                           an o
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                                                                                              in
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                                                                                       En
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  De

 Quelle: A. Lopez et. al 2006, www.dcp2.org/pubs/GBD/3/Table/3.15
EPIDEMIOLOGIE Depression – häufige und unterschät zte Krankheit                                                                          13

                                                                          Persönlichkeitsstörungen
                                                                                                                          Depressionen
                                                                                           5 bis 10 %
                                                                                                                          40 bis 60 %

                                                                     Schizophrenie
    „Im August 1769 und in den folgenden Mona-                            5 bis 10 %
    ten habe ich mehr an den Selbstmord gedacht
    als jemals vorher, und allezeit habe ich bei mir
    befunden, dass ein Mensch, bei dem der Trieb
    zur Selbsterhaltung so geschwächt worden
    ist, dass er so leicht überwältigt werden kann,
    sich ohne Schuld ermorden könne.“

    (Georg Christoph Lichtenberg, 1742–1799)

                                                                       Suchterkrankungen
                                                                                  ca. 30 %
                                                                      Suizidursachen: Über 90 Prozent aller Suizide erfolgen im
                                                                      Rahmen psychiatrischer Erkrankungen.

                                                                      Quelle: B. Ahrens: Suizidprävention ... in: M. Wolfersdorf/
                                                                      E. Etzersdorfer (Hrsg.): Fallstudien zur Suizidalität. 2005

Kompetenznetz Depression, Suizidalität:                            • die anwendungsorientierte Depressionsforschung verbes-
europaweit einmalig                                                  sert, das heißt, Fragen aus dem ambulanten und dem haus-
                                                                     ärztlichen Bereich intensiver als bislang aufgegriffen, und
Um die Kompetenz im Kampf gegen Depression und Suizidali-
tät zu stärken, fördert das Bundesministerium für Bildung und      • die Krankheit Depression, ihre Formen, Symptome und
Forschung (BMBF) neben anderen vielseitigen Initiativen im           Behandlungsmethoden bei Betroffenen und in der Öffent-
Bereich der Depressionsforschung seit Juli 1999 das Kompe-           lichkeit besser bekannt gemacht werden.
tenznetz Depression, Suizidalität. Mit solchen Kompetenznet-
zen für die Medizin – es gibt derzeit 17 – verfolgt das BMBF das   • Eine intensive Grundlagenforschung soll das medizinische
Ziel, die qualitativ besten und innovativsten Forschungs- und        Wissen über die Krankheit vergrößern und neue Diagnose-
Versorgungseinrichtungen in einem Krankheitsbereich zu               und Behandlungsmöglichkeiten eröffnen.
bündeln, um drängende medizinische Probleme effizienter
und schneller zu lösen. Gut funktionierende Kommunikati-           Das europaweit einmalige Projekt hat eine Laufzeit von neun
onsstrukturen und interdisziplinäre Arbeitsstrukturen sollen       Jahren. Das BMBF fördert das Netzwerk in dieser Zeit mit 15 Mil-
dazu beitragen, Leistungsträger der medizinischen Forschung        lionen Euro. Das Kompetenznetz Depression, Suizidalität ist
mit den praktischen Problemen des medizinischen Alltags zu         damit das größte Projekt zu dieser Thematik in der Geschichte
verbinden. Diese Maßnahmen sollen sowohl der Qualität der          der deutschen Gesundheitsforschung.
Forschung als auch der Qualität der Gesundheitsversorgung
zugute kommen. Diesem Ziel dient auch der intensivierte            Ansprechpartner:
Wissenstransfer aus der Grundlagenforschung in die anwen-          Prof. Dr. Ulrich Hegerl
dungsnahe Forschung und Industrie.                                 Klinik und Poliklinik
     Im Einzelnen verfolgt das Kompetenznetz Depression,           für Psychiatrie
Suizidalität folgende Ziele:                                       Universität Leipzig
                                                                   Johannisallee 20
• Gemeinsam mit den Hausärzten sollen die bisherigen diag-         04317 Leipzig
  nostischen und therapeutischen Defizite behoben,
                                                                   www.kompetenznetz-depression.de
14                                                                                                                         Gesichter der Krankheit SYMPTOME

Symptome –
woran depressive
Menschen leiden
Gesichter der Krankheit

„Das Bewußtsein, das wie ein Strom sein kann, in den

Bäche münden und der sich dann wieder verzweigt,

wurde zu einem armseligen Rinnsal. Meine Erlebniswelt

verdorrte und verkümmerte (...). Meine Welt war zusam-

mengeschrumpft auf das Bett zum Schlafen.“

(Piet Kuiper, Professor der Psychiatrie; Piet Kuiper litt drei Jahre lang an einer schweren,
wahnhaften Depression)
                                                                                               Edvard Munch (1863-1944):
                                                                                               „Melancholie“, 1894/95.

Die Depression hat viele Gesichter. Es handelt sich bei schwerer
Ausprägung um ein eindeutiges, genau zu beschreibendes
Krankheitsbild, das sich aus einer Gruppe von zum Teil sehr hete-                              gungen (Affekte) langfristig beeinflussen, sprechen Ärzte
rogenen Krankheitszeichen (Symptomen) zusammensetzt. Hin-                                      auch von „affektiven Störungen“.
zu kommt, dass die Erkrankung sehr verschieden verlaufen kann.                                      Der Begriff „Depression“ leitet sich vom lateinischen Wort
    Je nach Schwere und Verlauf unterscheidet die psychiatri-                                  deprimere ab, was herunter- oder niederdrücken bedeutet.
sche Wissenschaft heute zahlreiche Varianten der Krankheit,                                    Dieses lang anhaltende „Heruntergedrückt sein“ ist das wich-
die verschiedene Behandlungsweisen notwendig machen.                                           tigste Krankheitszeichen der depressiven Störung. Depressive
Um die Variationsbreite deutlich zu machen, sprechen Wis-                                      Menschen sehen, erleben, fühlen und empfinden, als schau-
senschaftler auch von einem „depressiven Spektrum“: Die                                        ten sie durch eine dunkel getönte Brille. Im grauen Einerlei
Bandbreite der Krankheitsformen reicht von leichten („mino-                                    ihrer Gefühls- und Erlebenswelt gibt es keine Nuancen mehr.
ren“) Depressionen, die häufig mit Angst und vielfältigen kör-                                 Sie kennen keine Freude, nichts kann sie aufheitern. An die
perlichen Beschwerden einhergehen können, bis hin zu sehr                                      Stelle der Freude, des Genießens, der Zufriedenheit oder ande-
schweren („majoren“), mit Wahnvorstellungen und starker                                        rer normaler Gemütsbewegungen wie Zorn, Gelassenheit,
Suizidgefährdung verbundenen Störungen (siehe                                                  Ärger, Hoffnung oder Zuversicht tritt eine eigentümliche
„Klassifikation“, Seite 18ff.). Da Depressionen Gemütsbewe-                                    Empfindungskälte: Alle Gefühlsregungen scheinen abhanden
SYMPTOME Gesichter der Krankheit                                                                                            15

                                                                  Die depressive Herabgestimmtheit kann plötzlich auftre-
                                                              ten: Maria B. umschreibt dies mit dem Bild vom Zeiger in
                                                              ihrem Kopf, der plötzlich wie umgestellt ist. Es kann auch sein,
                                                              dass ein äußeres Ereignis eine zunächst leichte melancholi-
                                                              sche Verstimmtheit bewirkt, die bestehen bleibt und sich
                                                              immer mehr verstärkt, obwohl der Anlass schon lange nicht
                                                              mehr besteht. Andere Betroffene benennen das Niederge-
                                                              drücktsein als grundsätzlich vorhandenes „pessimistisches“
                                                              Lebensgefühl.

                                                                  „Die Trauer kommt und geht ganz ohne
                                                                  Grund. Und man ist angefüllt mit nichts als
                                                                  Leere. Man ist nicht krank, und ist auch nicht
                                                                  gesund. Es ist, als ob die Seele unwohl wäre ...“

                                                                  (Erich Kästner)

                                                                  Depressiven Menschen versinkt nicht nur die Welt im
                                                              freudlosen Dunkel. Auch an ihrer eigenen Person können sie
                                                              nur wenig Positives erkennen. Psychiater sprechen von einer
                                                              depressiven Veränderung des Selbsterlebens: Selbstvertrauen
                                                              und Selbstwertgefühl fehlen, die Betroffenen fühlen sich min-
                                                              derwertig und unsicher. Das Gefühl, wertlos und ungeliebt zu
                                                              sein, kann sich so sehr steigern, dass die kranken Menschen
                                                              ihres Lebens überdrüssig werden.

gekommen zu sein, es kommt zur „gefühlten Gefühllosigkeit“,       „Ich bin nichts wert. Alle anderen sind besser,
schließlich werden die Menschen sogar unfähig zu trauern          alle anderen können alles – nur ich kann
oder zu weinen („tränenlose Trauer“).                             nichts.“

                                                                  (Maria B.)

   „Alles, was früher aufheiternde Phantasien
   und kleine Geschichten mit vergnüglichen
   Aspekten ausgelöst hatte, wurde nun zum                        Die meisten depressiven Menschen haben Angst – Angst,
   Anlass trübsinniger Überlegungen. Elend fiel               Aufgaben nicht zu bewältigen, verlassen zu werden, keine
   mir auf. Wenn ich Menschen lachen sah, dach-               Luft mehr zu bekommen, an einer schweren, unheilbaren
   te ich: Wie ist das möglich, in diesem schreck-            Krankheit zu leiden, zu verarmen, die Familien zu belasten
   lichen Leben?“                                             und zu schädigen, nicht geliebt oder akzeptiert zu werden,
                                                              unerwünscht oder im Wege zu sein, Schuld und Sünde auf
   (Piet Kuiper)
                                                              sich geladen zu haben. Die Angst wird häufig von körper-
16                                                                                              Gesichter der Krankheit SYMPTOME

lichen Beschwerden begleitet und kann sich bis hin zu Panik-          „ich bin schuld“, „ich bin ein Versager“) können sich bei
attacken steigern. Die Betroffenen erleben dann schwere               schweren Depressionen wahnhaft steigern. Die düsteren Ge-
Angstanfälle mit Atemnot, Würgegefühlen, Herzrasen,                   danken von der Sinnlosigkeit des Seins können von den Betrof-
Schweißausbrüchen oder Übelkeit, ohne dass eine tatsächli-            fenen derart Besitz ergreifen, dass sie in der Selbsttötung den
che Bedrohung vorliegt.                                               einzigen Ausweg sehen. Der Gedanke wird übermächtig, und
                                                                      es werden konkrete Selbsttötungs-Überlegungen angestellt.
                                                                      Von den ersten Suizidgedanken bis zum tatsächlichen Ver-
                                                                      such können wenige Stunden, aber auch Wochen oder Mona-
     „Mein Buch erschien in den Vereinigten                           te vergehen.
     Staaten und mein Freund schmiss aus diesem                           Die Depression ist eine Erkrankung, die den ganzen Men-
     Anlass eine Party. (...) Als ich nach Hause                      schen – seine Seele und seinen Körper – betrifft. Neben den
     zurückkehrte, packte mich panische Angst.                        beschriebenen affektiven Störungen kommt es auch immer zu
     Danach lag ich schlaflos im Bett und umarmte                     körperlichen Symptomen. Das für die Diagnose „Depression“
     verzweifelt das Kopfkissen.“                                     ausschlaggebende Krankheitszeichen ist jedoch stets die
                                                                      gedrückte Stimmung.
     (Andrew Salomon, amerikanischer Journalist und Schriftsteller)

     Ein charakteristisches, wenn auch von den Betroffenen                „Und weil kein Lüftchen weht in diesem
nur selten beklagtes Symptom ist ihr gebremster Antrieb: Die              Hexenkessel und es kein Entrinnen gibt aus
Patienten sind energielos, passiv, schwach, leicht und rasch              diesem stickigen Gefängnis, ist es nur zu ver-
erschöpfbar und ohne jegliche Initiative. Jede noch so kleine             ständlich, dass das Opfer unablässig darüber
körperliche oder geistige Aktivität wird als unüberwindbarer              nachdenkt, wie es sein Bewusstsein ausschal-
Kraftakt empfunden. Bisweilen wirken die Erkrankten wie                   ten kann.“
versteinert und körperlich-seelisch blockiert. Umgekehrt
                                                                          (Der amerikanische Schriftsteller William Styron, in: „Darkness Visible
kann es auch zu einem unnatürlich gesteigerten Antrieb                    – A Memory of Madness“)
kommen. Die Menschen benehmen sich „wie unter Strom“,
sind innerlich unruhig und angespannt, nervös, fühlen sich
ziel- und rastlos umhergetrieben. Eine zielgerichtete, zu
einem Ergebnis führende Aktivität ist bei dieser „agitierten“              Nicht selten sind die körperlichen Krankheitszeichen der-
Depression unmöglich. Ebenso kann es vorkommen, dass ein              art vordergründig, dass sie die wahre Ursache – die Depression
Mensch äußerlich gehemmt, in seinem Innern aber in hohem              – verdecken. Diese „Maskierung“ macht es den Ärzten oft
Maße unruhig ist.                                                     schwer, die Erkrankung frühzeitig zu diagnostizieren und
     Auch das Denken verändert sich. Depressive Menschen              gezielte Gegenmaßnahmen einzuleiten. Hinzu kommt, dass
klagen über eine zunehmende Leere im Kopf, sind weniger               es viele Menschen noch immer als „Makel“ empfinden, „psy-
aufmerksam und konzentrationsfähig und leiden unter Ge-               chisch krank“ zu sein, weshalb ihnen die ärztliche Diagnose
dächtnisschwäche. Das langsame, umständliche und zähflüs-             „Migräne“ lieber ist als die Diagnose „Depression“. Nach einer
sige Denken macht Angst, die sich bis zur Furcht, schwachsin-         Untersuchung der Johannes Gutenberg Universität in Mainz
nig zu werden, steigern kann („depressive Pseudo-Demenz“).            befürchten 80 Prozent der depressiv erkrankten Menschen
Hinzu kommt die Unfähigkeit, sich zu entscheiden. Die Betrof-         große berufliche und gesellschaftliche Nachteile, wenn ihre
fenen wägen das Für und Wider selbst bei belanglosen All-             Erkrankung bekannt würde. Alle diese Hintergründe helfen
tagsfragen, zum Beispiel dem Gang zum Bäcker, quälend lan-            zu erklären, warum über die Hälfte aller Depressionen un-
ge ab, ohne zu einem Entschluss zu kommen. Die ständigen              erkannt bleiben, – obwohl ein Arzt, zumeist der Hausarzt,
Grübeleien in engen Gedankenkreisen („ich bin nichts wert“,           aufgesucht wird.
SYMPTOME Körperliche Krankheit szeichen                                                                                                  17

Körperliche Krankheitszeichen

Die körperlichen Krankheitszeichen einer Depression sind                   schauer, ein allgemeines körperliches Missempfinden und das
                                                                           Nachlassen der Libido. Nicht selten wird auch darüber geklagt,
sehr vielfältig, haben aber meist keine nachweisbare                       dass Sinnesleistungen, etwa die Fähigkeit zu hören, zu sehen, zu
                                                                           riechen und zu schmecken, nachlassen. Bisweilen kommt es zu
Ursache. Die Ärzte sprechen deshalb von „funktionellen“                    überempfindlichen Reaktionen: alles sei „zu laut“, „so grell“,
                                                                           „scharf und stechend“.
oder „psychosomatischen“ Störungen.                                             Neben den körperlichen Symptomen können auch Störun-
                                                                           gen im zwischenmenschlichen Bereich und im Verhalten mögli-
Häufige körperliche Krankheitszeichen betreffen Schlaf, Appetit,           che frühe Warnsymptome sein, die vor den eigentlichen seeli-
Verdauung, Herz und Atmung. Schlafstörungen sind häufig die                schen Anzeichen auffallen. Oft kommt es beispielsweise zu einer
ersten Symptome, über die ein depressiver Mensch klagt. Die                vom Betroffenen ängstlich registrierten Unfähigkeit, Kontakte zu
Betroffenen können nicht einschlafen, wachen oft während der               knüpfen oder Beziehungen aufrecht zu erhalten – der Wunsch
Nacht auf („zerhackter Schlaf“) und erwachen sehr früh, häufig             nach sozialen Kontakten zu Verwandten, Freunden, Bekannten
mit dem Gefühl, „ein Berg ruhe auf ihrer Brust“. Neuere wissen-            und Arbeitskollegen ist dennoch unverändert vorhanden. Auch
schaftliche Erkenntnisse erklären die Schlafstörungen damit,               ein unerklärlicher „Rückzug“ ist ein verdächtiges Zeichen:
dass bei depressiv erkrankten Menschen die „innere Uhr“ ver-               Freundschaften werden vernachlässigt, alte Beziehungen abge-
stellt ist. Die innere Uhr legt normalerweise fest, in welchen zeit-       brochen und keine neuen geknüpft, Hobbys aufgegeben. Im
lichen Rhythmen bestimmte körperliche Prozesse stattfinden.                beruflichen Umfeld ist zu beobachten, dass alltägliche Aufgaben,
Dazu zählt auch der Schlaf-Wach-Rhythmus. Auch Appetitlosig-               die sonst selbstverständlich bewältigt wurden, zu scheinbar un-
keit und ein schwindendes Körpergewicht gehören zu den häu-                überwindlichen Schwierigkeiten auswachsen und deshalb erst
figeren körperlichen Zeichen einer Depression. Ein Gewichtsver-            gar nicht begonnen werden. Werden Verrichtungen angegan-
lust bis zu zehn Kilogramm ist bei schweren depressiven Zustän-            gen, wird es oft zum Problem, sie durchzuhalten. Dies betrifft
den keine Seltenheit. Es kann allerdings auch umgekehrt zu                 bereits die alltägliche Routine und wird für den Betroffenen zur
Heißhungerattacken kommen.                                                 besonderen Belastung, wenn neue, ungewöhnliche, unerwar-
                                                                           tete oder schwierige Aufgaben an ihn herangetragen werden.

    „Mir war, als quälte mich ein unglaublich drin-
    gendes körperliches Bedürfnis, für das es kei-                             „Zuerst hatte ich das Gefühl, dass sich da bei
    ne Lösung gab – als müsste ich mich ständig                                mir irgend etwas eingeschlichen hatte. Ich
    übergeben, ohne einen Mund zu haben.“                                      wusste nicht, dass ich depressiv war, so psy-
                                                                               chisch halt. Ich wusste nur, dass ich mich
    (Andrew Salomon, in: „Depression – Anatomie einer seelischen Krise“,       schlecht fühlte. (...) Was ich wusste war, dass ich
    Geo, November 1998)
                                                                               kein Vertrauen in meine Arbeit und in die Leute
                                                                               hatte, mit denen ich zusammenarbeitete.“

                                                                               (Joshua Logan in seinem Buch „Moodswings“)
    Nicht nur der gestörte Appetit, auch Verdauungsprobleme
gehören zur Depression. Die Betroffenen klagen über vielfältige
Beschwerden, etwa Übelkeit, Brechreiz, Völlegefühl, Blähungen,
Magendruck, Krämpfe, Verstopfung und Durchfall. Auch Enge-                     Insgesamt machen die vielfältigen Symptome und die
und Druckgefühle in Brust („Reifen“ um den Brustkorb, vor allem            mangelnden Warn- oder Früh-Symptome die Depression zu
nach dem frühen Erwachen) oder Kopf („enger Helm“) werden                  einem nicht immer leicht zu erkennenden Krankheitsbild.
beschrieben, ebenso Kreislaufbeschwerden, Schmerzen in der                 Grundsätzlich gilt: Eine „Verdachtsdiagnose“ Depression, die
Herzgegend und Atemnot. Hinzu kommen Klagen über Ver-                      sich im weiteren Verlauf als Irrtum herausstellt, ist für die
spannungen, Gelenk- und Muskelschmerzen, Mundtrockenheit,                  Betroffenen weniger belastend als eine lange verkannte und
Zungenbrennen, Hitzewallungen, starkes Schwitzen, Kälte-                   unbehandelt bleibende Depression.
18                                         Die moderne Einteilung depressiver Störungen MEDIZINISCHE KLASSIFIKATION

Medizinische
Klassifikation
Geordnete Vielfalt – die
moderne Einteilung
depressiver Störungen

Umgangssprachlich wird nicht zwischen verschiedenen

Depressionsformen unterschieden. In der Fachwelt gibt es

dafür umso mehr Begriffe, welche die unterschiedlichen

Krankheitsbilder beschreiben. Auf den ersten Blick mag

die moderne Klassifikation depressiver Störungen verwir-

rend erscheinen, sie ist jedoch eine notwendige Voraus-

setzung, damit der Arzt eine exakte Diagnose stellen und

die richtige Therapie einleiten kann.

Früher wurden die Krankheitsbilder der Depression im We-
sentlichen zwei Kategorien zugeordnet: den psychogenen
und den endogenen Depressionen. Als Ursache einer psycho-
genen – seelisch ausgelösten – Depression galt ein belastendes
lebensgeschichtliches Ereignis, beispielsweise der Tod einer
geliebten Person oder andere akute oder lang andauernde
                                                                 Edvard Munch (1863-1944):
seelische Belastungen. Im Gegensatz dazu sollten endogene        „Angst“, 1894.
Depressionen von „innen heraus“ (endogen), also ohne er-
MEDIZINISCHE KLASSIFIKATION Die moderne Einteilung depressiver Störungen                                                                  19

                                                         Depressionen können heute erfolgreich behandelt werden. Voraussetzung ist die exakte
                                                         Diagnose der Depressionsform, an der eine Person leidet.

                                                         kennbaren äußeren Auslöser, entstehen und eine körperliche
                                                         Ursache haben.
                                                             Diese Zuordnungsweise entspricht nicht mehr dem aktu-
                                                         ellen Stand wissenschaftlicher Erkenntnis. Neuere Arbeiten
                                                         der Depressionsforschung weisen darauf hin, dass die Krite-
                                                         rien „seelisch“ oder „körperlich bedingt“ nur ein scheinbares
                                                         Gegensatzpaar sind: Bei vielen (wenn auch nicht allen) depres-
                                                         siven Menschen ist der Erkrankung ein emotional belastendes
                                                         Ereignis – zu viel Stress, Ärger im Beruf, veränderte Lebens-
                                                         situationen etc. – vorausgegangen; der Auslöser wurde jedoch
                                                         nicht erkannt oder in seiner Bedeutung für die Person unter-
                                                         schätzt. Auch angeblich endogene Depressionen können
                                                         also eine seelische Ursache haben. Umgekehrt hat jede „see-
                                                         lisch bedingte“ Depression auch eine körperliche Seite – man
                                                         kennt sie nur noch nicht genau.
                                                             Um dem gegenwärtigen Forschungsstand gerecht zu
                                                         werden, hat die psychiatrische Wissenschaft die alten medi-
                                                         zinischen Einteilungen zu Gunsten einer Klassifikation auf-
                                                         gegeben, welche die neuen wissenschaftlichen Erkenntnisse
                                                         berücksichtigt. Die neuen Einteilungen versuchen, in die vie-
                                                         len unterschiedlichen depressiven Erscheinungsformen eine
                                                         zuverlässige Ordnung zu bringen und international gültige
                                                         Begrifflichkeiten einzuführen. Federführend für das neue
                                                         System ist die Weltgesundheitsorganisation (WHO) mit ihrer
                                                         internationalen Klassifikation (der so genannte ICD-10 =
                                                         „International Classification of Diseases“; zehnte Überarbei-
                                                         tung) und die Amerikanische Psychiatrische Vereinigung mit
                                                         ihrem „Diagnostischen und Statistischen Manual psychischer
                                                         Störungen“ (DSM-IV = „Diagnostic and Statistical Manual of
                                                         Mental Disorders“; vierte überarbeitete Auflage). Grundsätz-
                                                         liche Gesichtspunkte der Einteilung depressiver Störungen
                                                         sind die Schwere (leicht, mittelgradig, schwer; siehe Info-
                                                         Kasten, Seite 20) und der Verlauf der Erkrankung. Im Folgen-
                                                         den werden die wichtigsten Unterscheidungen genannt und
                                                         kurz beschrieben.
20                                               Die moderne Einteilung depressiver Störungen MEDIZINISCHE KLASSIFIKATION

Wie schwer ist die Depression?                                        Bei einer leichten Depression sind von den Symptomen „re-
                                                                      duzierte Konzentration“, „verminderte Aufmerksamkeit“,
Der Schweregrad einer Depression kann leicht, mittelschwer            „herabgesetztes Selbstwertgefühl und Selbstvertrauen“,
und schwer sein. Bei einer leichten bis mittelgradigen Depres-        „Schuldgefühle, Gefühle von Wertlosigkeit“, „Pessimismus“,
sion zeigen sich mindestens zwei, bei einer schweren Depressi-        „Suizidgedanken“, „Schlafstörungen“, „geringer Appetit“ min-
on alle drei der folgenden Krankheitszeichen: ständige Nieder-        destens zwei, bei mittelgradigen Depressionen mindestens drei
gedrücktheit, vermindertes Interesse, schnelle Erschöpfung.           und bei schweren Depressionen mindestens vier vorhanden.

                                                                      Major Depression kann in jedem Alter auftreten, das durch-
 15.000                                                               schnittliche Alter bei Krankheitsbeginn liegt bei etwa 25 Jah-
                                                                      ren. Es kommt vor, dass die Erkrankung einmalig ist; es sind
                                                                      aber auch wiederkehrende Verläufe möglich. Menschen, die
                                                                      an einer Major Depression erkrankt sind, sind ohne rechtzeiti-
 10.000                                                               ge kompetente Behandlung hoch suizidgefährdet: Etwa 10 bis
                      Frauen
                                                                      15 Prozent der Menschen mit schweren, rezidivierenden de-
                                                                      pressiven Störungen sterben durch Selbsttötung. Die Major
                                                                      Depression ist bei Frauen häufiger als bei Männern. Gleichsam
                                                                      am anderen Ende des Spektrums stehen leichte „minore“
     5.000           Männer                                           Depressionsformen, die oft unbehandelt bleiben und in schwe-
                                                                      re depressive Störungen übergehen können (siehe „Gefähr-
                                                                      dung erkennen“, Seite 54f.)
                                                                           Von einer bipolaren Störung sprechen die Ärzte, wenn die
        0                                                             Depression zwei deutlich voneinander unterscheidbare Pole
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                                                                      selnde Auftreten zweier Stimmungspole früher manisch-
 Ca. 11.000 Menschen begehen hierzulande jährlich Suizid.
                                                                      depressiv. Bipolare Störungen wiederholen sich meist: Mehr als
 Die Experten schätzen, dass bis zu 50 Prozent der Suizide von
 depressiven Patienten verübt werden, deren Erkrankung                90 Prozent depressiv erkrankter Menschen, die eine manische
 nicht erkannt oder nicht richtig behandelt wurde.                    Phase erlebt haben, erleiden weitere derartige Episoden. Auch
 (Quelle: Statistisches Bundesamt, 2005)
                                                                      hier besteht unbehandelt ein hohes Selbsttötungsrisiko: Zehn
                                                                      bis 15 Prozent der Betroffenen beenden ihr Leben von eigener
                                                                      Hand. Bipolare Störungen sind nicht geschlechtsspezifisch; sie
    Die hinsichtlich Schwere und Verlauf bedeutendste                 kommen bei Frauen und Männern gleich häufig vor.
depressive Störung ist die Major Depression (Major Depressive              Von einer bipolaren Störung schwer zu unterscheiden, ist
Disorder, MDD; typische Depression). Sie besteht dann, wenn           die so genannte zyklothyme Störung (Zyklothymia). Auch hier
ein Patient über längere Zeit – mindestens aber zwei Wochen           kommt es zu Perioden mit abwechselnd niedergedrückten
lang – an depressiven Symptomen leidet und seine sonst übli-          und gehobenen Stimmungen, allerdings weniger deutlich
chen Alltagsaktivitäten nicht mehr aufrechterhalten kann. Die         ausgeprägt. Die Erkrankung entwickelt sich meist im frühen
MEDIZINISCHE KLASSIFIKATION Die moderne Einteilung depressiver Störungen                                                      21

Erwachsenenalter und nimmt dann einen chronischen Ver-
lauf. Zyklothyme Störungen bleiben oft unerkannt und unbe-
handelt; häufig sind es Menschen aus der näheren Umgebung
eines Betroffenen, denen die Verhaltensänderungen und
Stimmungsschwankungen auffallen. Studien haben ergeben,
dass zyklothyme Störungen häufig bei Verwandten von Pa-
tienten vorkommen, die an einer schweren bipolaren Störung
leiden.
     Eine weitere häufige depressive Erkrankung ist die Dysthy-
mia, früher als neurotische oder depressive Neurose bezeich-
net. Es handelt sich dabei um eine ständige depressive Herab-
gestimmtheit: Die Patienten fühlen sich müde, alles ist ihnen
zu viel, nichts kann freudig erlebt werden, die Gedankenwelt
ist pessimistisch gefärbt. Die Krankheitszeichen sind die einer
schweren Depression, sie sind nur weniger ausgeprägt, und die
Betroffenen können ihren alltäglichen Aufgaben noch weitest-
gehend nachkommen. Die Symptome der Dysthymia sind zwar
weniger schwer – aber sie können besonders hartnäckig sein
und den Menschen das Leben dauerhaft vergällen. Die Krank-
heit beginnt zumeist in frühen Erwachsenenjahren. Der Zu-
stand dauert mindestens zwei Jahre an, in manchen Fällen
bleibt er lebenslang bestehen.
     Eine in den letzten Jahren besonders bekannt gewordene
Depressionsform ist die Winterdepression oder saisonal             lichen Ländern mit kurzen Sommern und langen Wintern sind
abhängige Depression (SAD). Die davon Betroffenen klagen           durchweg höhere Suizidraten zu verzeichnen. Ausnahmen von
vor allem im Herbst und im Winter über auffällige Verhaltens-      dieser Regel bilden freilich England mit niedrigen und Ungarn
änderungen mit typischen depressiven Symptomen, die mit            mit hohen Suizidraten.
Beginn des Frühjahrs wieder abebben. Neuere Untersuchun-               Andere, in bestimmten Zeiten auftretende depressive
gen zeigen, dass depressive Erkrankungen im Winter um rund         Erkrankungen sind die so genannte Postpartum-Depression,
zehn Prozent ansteigen. Nach einer amerikanischen Studie kla-      eine depressive Störung, die etwa fünf bis zehn Prozent der
gen in Alaska über 20 Prozent der Bevölkerung über die Symp-       Frauen nach der Geburt eines Kindes durchleiden, und die
tome einer Winterdepression, in New York sind es nur noch          zyklusabhängige oder prämenstruelle Depression (prä-
rund zwölf und in Florida weniger als drei Prozent. Eine weitere   menstruelle dysphorische Störung), die so ausgeprägt sein
Studie wies in europäischen Ländern ein „Nord-Süd-Gefälle“         kann, dass es den betroffenen Frauen (Schätzungen sprechen
der Suizide nach. Zu den wenigsten Selbsttötungen kommt es         von zwei bis zehn Prozent) kaum noch gelingt, ihren beruf-
in den sonnigen Ländern Griechenland und Italien; in nörd-         lichen und sozialen Alltag aufrechtzuerhalten.
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