WAS WIR GLAUBEN Mythen, Fakten, Religionen 26 - UZH magazin
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Nr. 1/ 2 02 3 UZH magazin Die Zeitschrift für Wissenschaft & universitäres Leben WAS WIR GLAUBEN Mythen, Fakten, Religionen — 2 6 ausserdem: Tumoren schrumpfen — 16 Flucht vor dem Klima — 20 Chinas Traum — 60
13.11.22–23.7.23 rüf muaR Gestaltung: Hannes Saxer lednawtleW Museum für Kommunikation Helvetiastrasse 16, 3000 Bern 6 Eine Stiftung von Dienstag – Sonntag, 10 – 17 Uhr, www.mfk.ch Unterstützt von: Stiftung Vinetum | BernMobil | BEKB Förderfonds | Paul Schiller Stiftung
E D ITO RIA L Göttliche Algorithmen und Desinformation Die Digitalisierung verändert nicht nur, wie wir uns eine immer wichtigere Rolle. Indem sie uns informieren und wie wir kommunizieren, sondern bestimmte Informationen anbieten und andere auch, wie und was wir glauben. Unsere Lebensent vorenthalten, beeinflussen sie, wie wir die Welt würfe und Weltbilder werden pluraler und indivi wahrnehmen. Mit dem Göttlichen gemeinsam dueller. Damit verlieren vormals einflussreiche haben Algorithmen, dass ihr Tun und Lassen Institutionen wie die traditionellen Medien, die zuweilen unergründlich ist – manchmal wissen Wissenschaft oder die Kirche einen Teil ihrer nicht einmal ihre Schöpfer genau, was sie treiben Deutungsmacht. Diese wird konkurrenziert von und weshalb. Die neue Macht der Algorithmen, einer Vielzahl alternativer Welterklärungen, die Daten und Plattformen und die damit verbundenen dank Internet und Social Media ein globales Heilserwartungen bezeichnet der Kommunika tionswissenschaftler Michael Latzer als die «digitale Dreifaltigkeit». Trotz modernster Technologien genügen weit einfachere Mittel, um Weltbilder von Menschen zu beeinflussen. Ein aktuelles Beispiel dafür ist Putins Russland. Die russische Staatspropaganda manipuliert die Bürgerinnen und Bürger mit Gegenerzählungen zum Krieg in der Ukraine. Wie die Slawistin Sylvia Sasse mit ihrer Forschung zeigt, wird dabei die Realität so verdreht, dass die Menschen nicht mehr wissen, wo ihnen der Kopf Seziert Putins Propaganda: Slawistin Sylvia Sasse. steht. Sie werden vom Staat und von den staatlich kontrollierten Medien manipuliert und mürbe Publikum erreichen können. Das ist einerseits eine gemacht, die damit ihre Macht festigen, sagt Sasse. Befreiung von Zwängen und Konventionen, Desinformationen in die Welt zu setzen, ist andererseits erschwert diese Vielstimmigkeit die dank Internet und Social Media ein Kinderspiel Orientierung. geworden. Erstaunlicherweise finden auf diesem Im Dossier dieses UZH Magazins beleuchten Weg auch obskure Verschwörungstheorien ein wir, wie sich Glaube und Spiritualität verändern (leicht)gläubiges Publikum. Gegen das allgegen und welche Rolle dabei die (neuen) Medien spielen. wärtige Virus der Desinformation helfen Wach Dabei spielen absolute Wahrheiten, wie sie Religio samkeit und kritisches Denken. Wir sollten nen zuweilen zu vermitteln versuchen, immer versuchen, uns gegen Fake News zu immunisieren, weniger eine Rolle. Das bedeutet etwa, dass viele sagt die Kommunikationswissenschaftlerin Sabrina sich von den spirituellen Angeboten jenen Kessler. Sie gibt dazu ganz konkrete Tipps, wie zuwenden, die ihnen gerade guttun, sagt die etwa die Quelle der Informationen zu checken und Theologin Sabrina Müller vom Universitären «langsamer» zu denken. Forschungsschwerpunkt «Digital Religion(s)». Den Begriff des Glaubens verstehen wir nicht Wir wünschen eine reflektierte Lektüre, nur im religiösen Sinn, sondern beziehen auch Ihre UZH Magazin-Redaktion politische, moralische oder ökonomische Über Thomas Gull, Roger Nickl & Stefan Stöcklin zeugungen ein. Statt an den lieben Gott glauben manche Menschen mittlerweile an die Allmacht Ti te lbil d: G efe; Bild r echts : Philip p Rohner von Algorithmen. Diese spielen in unserem Alltag UZH magazin 1/2 3 3
UZHmagazin — Nr. 1 / März 2 0 2 3 20 GE O GR A F IE Flucht vor der Hitze — 2 0 Der Klimawandel zwingt immer mehr Menschen, ihre Heimat zu verlassen. Ein UZH-Forschungsteam untersucht, wie Umsiedlungen erfolgreich sein können. KULTUR - UN D M ED I EN W I S S EN S C H A F T Belastete Jugend — 1 0 In aktuellen Coming-of-Age-Geschichten leiden Jugendliche nicht nur am Erwachsenwerden, sondern auch an düsteren Zukunftsperspektiven. O N KO LO GIE Krebs gezielt bekämpfen — 16 Das Tumor-Profiler-Projekt kombiniert verschiedene Analysemethoden und erlaubt, Tumoren effizienter zu behandeln. Effizientere Genschere — 2 4 Männerberufe, Frauenberufe — 2 4 4 UZH magazin 1/ 23 Bilder: Keystone, Stefan Walter; Illustr atio n: Ge fe
60 DOSSIE R INT ERV IEW — Simona Grano China und der Westen — 60 WAS WIR Das Reich der Mitte träumt von vergangener Grösse und wird immer selbstbewusster. Um China Paroli zu bieten, GLAUBEN muss der Westen geeint auftreten, sagt die Sinologin. UZH L IFE — Akademische Laufbahn Mythen, Fakten, Karriere ohne Professur — 5 0 Mit neu geschaffenen Lecturer-Stellen bietet die UZH neue, Religionen — 2 6 attraktive Karriereperspektiven für hochqualifizierte Forschende. PORT RÄT — Milo Puhan Was und wie wir glauben, verändert sich stark. Grund dafür sind die Unter die Leuten gehen — 5 6 Der Epidemiologe will mit seiner Forschung dazu beitragen, Individualisierung von Lebensentwürfen dass alle möglichst lange gesund bleiben. und die neuen Möglichkeiten, die die digitalen Medien eröffnen. Das Dossier RÜC K S PIEG EL — 6 BUC H FÜRS L EBEN — 7 lotet aus, wie unsere Weltbilder geprägt D AS UNID ING — 7 und manchmal manipuliert werden. D REIS PRUNG — 8 ERFUND EN AN D ER UZH — 9 EINS T AND — 25 IM PRES S UM — 65 NOY AU — 66 UZH magazin 1/2 3 5
der UZH künftig noch gequalmt werden Rauchen an der UZH zu untersagen. darf und wo nicht. Nach langjährigen Die Aktion scheiterte jedoch. Deshalb Protesten der Nichtrauchenden erklär- holte man sich die Unterstützung der te die Uni-Leitung den Lichthof und die Organisationen «Züri Rauchfrei» und Cafeteria des Hauptgebäudes offiziell «RAP, Rauchfrei am Arbeitsplatz». Da- zur rauchfreien Zone. raufhin konnte das Projekt erfolgreich Vor und nach dem 31. Mai, der durchgeführt werden. Das Ziel war, die auch der internationale Tag der Nicht- Luftqualität für alle zu verbessern, Nicht- rauchens war, wurde im Lichthof die rauchende nicht unfreiwillig dem Rauch Qualität der Luft gemessen. Im Zentrum anderer auszusetzen und Rauchende, und auf dem Campus Irchel wurde ein die aufhören wollten, in ihrem Vorhaben Stand aufgestellt mit Informationen rund zu unterstützen. um das Thema Rauchen, fachkundiger Bis zum vollständigen Verbot der Beratung, Tipps zum Aufhören und Glimmstängel dauerte es jedoch noch Broschüre der Uni-Leitung Entwöhnungsmethoden. Im «Luftibus» eine ganze Weile: Die Zeit für eine voll- zum Teil-Rauchverbot an der UZH 1996. der Lungenliga konnte man einen Lun- ständig rauchfreie Uni war erst 2005 reif, genfunktionstest machen. Wer sich den als das allgemeine Rauchverbot in der 31. Mai 1996 zum Anlass nahm, mit dem Bevölkerung schon breiter akzeptiert R ÜC KS P I EGEL — 1996 Rauchen aufzuhören, und dies mindes- war. Doch kein Verbot ohne Ausnahme: tens 14 Tage lang durchhielt, konnte an In Einzelbüros durfte weiterhin geraucht Qualmen in einem Wettbewerb der Arbeitsgemein- schaft Tabakprävention teilnehmen. Zu werden, wenn alle Personen in benach- barten Büros damit einverstanden der Zone gewinnen gab es eine Reise zu zweit ins Blumenland oder während dreier waren. Drei Jahre später trat dann das revidierte Gesundheitsgesetz des Kan- Monate alle zwei Wochen einen Blu- tons in Kraft mit einem generellen «Ab dem 31. Mai rauchen in der Uni nur menstrauss, wobei Letzterer 50-mal Rauchverbot in allen öffentlichen Ge- noch die Köpfe» hiess es vor fast 27 Jah- verlost wurde. bäuden des Kantons und der Stadt Zü- ren in einer Broschüre des Rektorats, in Bereits Anfang der 1990er-Jahre rich. Amra Muratovic, UZH Archiv der darüber informiert wurde, wo an hatte die Uni-Leitung versucht, das Internationalisierung managen, Bildungsangebote entwickeln Master Linguistic Diversity Management NE Ab Frü U! hja 2024 hr • Sprachlich-kulturelle Diversität als Chance wahrnehmen • Multikulturalität und Mehrsprachigkeit in der Arbeitswelt managen • Schwerpunkt setzen: International Programme Coordination, Language Education Development oder Language and Inclusion ZHAW Departement Angewandte Linguistik, Theaterstrasse 15c, 8401 Winterthur
BU CH FÜR S LE B E N — Jean-Michel Hatt D AS UNID ING Der nackte Affe verlust bei den ersten Hominiden, als sie die Wälder, das Biotop der meisten Primaten, verliessen und die Steppen besiedelten. Allerdings ist die Nackt heit des Menschen bekanntlich nicht vollständig und Desmond Morris geht ausführlich auf die Bedeutung der verbleibenden Behaarung von Kopf, Oase der Kunst Achseln und Genitalbereich ein. Auf dem Stockwerk F des Kollegiengebäu Es geht in diesem Buch zunächst des der UZH gibt es eine Kunstoase zu ent um unsere Herkunft und die Ver decken. Versteckt in einer Nische plätschert wandtschaft zu den Primaten. Danach dort seit der Einweihung des Gebäudes folgen Kapitel zur Fortpflanzung, 1914 ein kleiner edler Brunnen gemächlich Exploration, Aggression, Ernährung vor sich hin. Geschaffen haben ihn zwei und Körperpflege. Zum Schluss Schweizer Künstler: Der Bildhauer Otto beleuchtet der Autor unsere Bezie Kappeler (1884 bis 1949) war für das ver Seit über 15 Jahren nehme ich dieses hung zu anderen Tierarten, unsere zierte Brunnenbecken zuständig, der Maler Buch immer wieder zur Hand. Es ist Sympathien und Antipathien. Morris Augusto Giacometti (1877 bis 1947) schuf mittlerweile voller Randbemerkungen, verbindet geschickt eigene Erfahrun das darüber befindliche bunte Mosaik. Ausrufezeichen, Fragezeichen und gen, beispielsweise als Kurator im Es zeigt zwei in wallende Kleider Unterstreichungen. «The Naked Ape» Zoo London, mit wissenschaftlichen gehüllte Nymphen. In einem Schriftzug aus des britischen Zoologen Desmond Erkenntnissen. hellen Steinchen am oberen Rand des Morris inspiriert und provoziert mich Die behandelten Themen inte Mosaiks werden die Auftraggeberinnen für immer wieder aufs Neue und regt ressieren mich als Tierarzt, das Kunstwerk genannt: «Der Universität mich zu kritischem Denken an. Und Wissenschaftler und Menschen. Zürich in ihrem neuen Heim gewidmet von da bin ich nicht der Einzige! Seit der Meine Patienten stehen im Bezug zu den Frauen der Professoren 1914». Die Profes Veröffentlichung 1967 ist dieses Buch Menschen – Tierbesitzerinnen, sorengattinnen hatten Beiträge zwischen 10 millionenfach verkauft und in Pflegepersonal und Zoobesuchern. Es und 100 Franken gestiftet, insgesamt knapp unzählige Sprachen übersetzt worden. geht sehr oft um Emotionen und 2000 Franken waren durch die Spenden «The Naked Ape» wurde in einigen dieses Buch öffnet mir immer wieder sammlung zusammengekommen. Ländern sogar beschlagnahmt und die Augen, kontextualisiert den Alberto Giacometti gehörte Anfang auf Geheiss der Kirche verbrannt. Ursprung von Gefühlen und macht des 20. Jahrhunderts zu den gefragtesten Worum geht es in diesem Buch sie nachvollziehbar. Künstlern. Er galt als Pionier der abstrakten und weshalb ist es für mich ein Buch Aber auch für den Umgang mit Malerei und wurde unter anderem für fürs Leben? Desmond Morris betrach Menschen im Alltag und im Privaten seine monumentalen Wandmalereien tet die Spezies Homo sapiens aus ist «The Naked Ape» hilfreich, um bekannt. So hat er in Zürich zwischen 1923 zoologischer Sicht als eine biologische Verhaltensmuster zu erkennen und und 1925 etwa die Eingangshalle des Amts Art, die sich einreiht in die Tierarten, aus der Evolution heraus als hauses I, das heute eine Wache der Zürcher die die Welt bevölkern. Er konzent natürliche Erscheinung zu verstehen. Stadtpolizei beherbergt, geschaffen. Mit riert sich nicht darauf, im Gegensatz Und last but not least ist mir dieses Gehilfen malte Giacometti ein Meer von zu zahlreichen anderen Fachbüchern, Buch auch immer wieder eine bunt leuchtenden Fantasieblumen in die den Unterschied zwischen Tieren (ins Inspiration dafür, wie wissenschaft Gewölbe der Halle, weshalb diese zuweilen besondere Primaten) und Menschen liche Informationen erfolgreich auch liebevoll «Blüemlihalle» genannt wird. herauszudestillieren. aufgearbeitet werden müssen, um ein Heute gelten Giacomettis Fresken im Ganz im Gegenteil, er sucht und breites Publikum zu erreichen und Zürcher Amtshaus als eines der bedeu findet zahlreiche Hinweise im men um Wissen zu vermitteln. tendsten Schweizer Kunstwerke des schlichen Verhalten, die zeigen, dass Jean-Michel Hatt ist Professor für Zoo-, Heim- und 20. Jahrhunderts. Weniger monumental ist die Evolution deutliche tierische Wildtierkrankheiten an der UZH. das Mosaik des Künstlers am Brunnen des Spuren in uns Menschen hinterlassen Desmond Morris: The Nacked Ape. Vintage, 2005 Kollegiengebäudes. Dafür ist dieser eine hat. Provokativ führt er uns vor kleine und feine Oase der Kunst, die im Bil der: UZH A rch iv; p rivat Augen, dass wir eigentlich nicht viel universitären Alltag Erfrischung und einen mehr als «nackte Affen» sind. Morris Moment der Ruhe bietet. Roger Nickl betrachtet den progressiven Fell UZH magazin 1/23 7
D R E ISP R UNG — Eine Frage, drei Antworten Können wir aus Geschichte lernen? 3 1 Identität konstruieren Sorbischer Dual 2 Wie bei den meisten globalen Fragen, die die Wissenschaft beantworten soll, Auch aufgrund seiner Geschichte ist muss die Antwort hier lauten: Es kommt der slawische Sprachraum vielen ein Begriff. Dass gerade ein linguistischer Burgunder darauf an. Auf der einen Seite ist in An- lehnung an Hegel wohl richtig, dass man Blick helfen kann, aktuelle Themen einzuordnen, ist vielleicht weniger be- mit Kater aus der Geschichte nur lernen kann, dass man aus ihr nichts lernen kann. In kannt – noch weniger vermutlich, wie Weil Menschen lernende Wesen sind, der Tat: «Die Geschichte» gibt es nicht sehr die Vielfalt dieser Sprachfamilie lässt sich diese Frage leicht beantworten. und was man aus der Vergangenheit dazu einlädt, sich mit der Frage nach Wir lernen die ganze Zeit aus der Ver- allein mit Sicherheit erkennen kann, ist dem Lernen aus der Geschichte zu be- gangenheit, wir können gar nicht anders. der Umstand, dass dasjenige, was war, schäftigen. Jede Erzählung, und sei sie noch so un- komplexer ist als dasjenige, was uns Die strukturellen Gemeinsamkei- bedeutend, weckt die Erwartung, dass davon in mehr oder weniger zufälliger ten des Russischen mit dem Fin- sie etwas enthält, das für das Gegenüber Auswahl überliefert wurde oder erin- nisch-Ugrischen oder die Turzismen, einen gewissen Informationswert hat. nerlich ist. also Entlehnungen aus dem Türkischen, «Ich habe letzte Woche einen teuren Lineare Extrapolationen von der im Makedonischen sind ebenso in ge- Burgunder getrunken, aber habe am Vergangenheit in die Zukunft bleiben schichtliche Zusammenhänge eingebet- nächsten Tag einen grossen Kater ge- deshalb zwangsläufig Luftschlösser. Auf tet wie die Bewahrung des Duals im habt.» Aha: Preis und Qualität müssen der anderen Seite ist es gerade die selek- Sorbischen und Slowenischen. Zugleich nicht übereinstimmen. Wird dann noch tiv interpretierte Geschichte, die für zeigen die slawischen Sprachen, wie das Geheimnis gelüftet, um welchen Identitätskonstruktionen und -präsen- Sprache der Konstruktion historischer Burgunder es sich genau gehandelt hat, tationen von Individuen, Gruppen oder Zusammenhänge dienen kann, beispiels- ergibt sich ein geradezu spektakulärer Nationen von Bedeutung ist. Am Beispiel weise wenn eine Kontinuität des Idioms Lerneffekt. meiner selbst: Die Frage «wer bin ich?» der Kiever Rus’ zum heutigen Russischen Dass wir bei diesem konstanten beantworte ich am besten damit, dass konstruiert wird oder das Kroatische, Lernen oft Schlüsse ziehen, die sich im ich meine Geschichte erzähle. Sie wird Serbische, Bosnische und Montenegri- Nachhinein als falsch erweisen, ist klar. nur eine Auswahl dessen umfassen, was nische politisch verunterschiedlicht Unser Informationsstand ist immer un- mich geprägt hat, aber diese Auswahl werden. Sprachen haben Geschichte und vollständig, und die Umstände ändern ist wichtiger für meine Identität, als was mit Sprachen wird Geschichte gemacht. sich dauernd. Deshalb ist der Satz von mir tatsächlich widerfahren ist. Aus der Diese Geschichte(n) auch in einem eu- Cicero, die Geschichte sei die Lehrmeis- eigenen, konstruierten und erinnerten ropäischen und globalen Kontext em- terin des Lebens, genauso abzulehnen «Geschichte» kann man, wenn man sie pirisch nachzuvollziehen, ist ein zent- wie der Spruch Hegels, die einzige Lehre kritisch betrachtet, sehr gut lernen (das rales Erkenntnisinteresse der slavisti- der Geschichte bestehe darin, dass wir gilt auch auf der überindividuellen schen Sprachwissenschaft. überhaupt nichts lernen würden. Die Ebene). Nur muss man sie als Konstrukt Barbara Sonnenhauser ist Professorin für Slavische Wahrheit liegt wie so oft irgendwo da- erkennen und darf sie nicht mit der Sprachwissenschaft. zwischen. Geschichte als Inbegriff dessen, was Tobias Straumann ist Professor für geschehen ist, verwechseln. Wirtschaftsgeschichte. Konrad Schmid ist Professor für alttestamentliche Wissenschaft und frühjüdische Religionsgeschichte. 8 UZH magazin 1/ 23
ERFUNDEN AN DER UZH Online-Diagnose für psychische Beschwerden Etwa ein Drittel der Erwachsenen leiden an Analyse der psychischen Gesundheit. Die psychischen Störungen. Doch viele lassen Diagnose besteht aus zwei Schritten: einem sich nicht behandeln, etwa weil es lange Fragebogen und einem Auswertungsge Wartezeiten bei den Therapeuten gibt oder spräch mit einer Therapeutin oder einem die Hemmschwelle aus anderen Gründen Therapeuten. Alles für 179 Franken. «Inner hoch ist. Das 2017 von Damian Läge, UZH- halb von einer Woche liegt die Diagnose Titularprofessor für Angewandte Kogni- mit konkreten Handlungsempfehlungen tionspsychologie, und Andrin Schaerli vor», sagt Henrich. Die individuelle Dia gegründete Start-up Klenico hat sich zum gnose ist das neuste Produkt der Firma, die Ziel gesetzt, Menschen mit psychischen ihr Diagnosetool anfänglich vor allem Beschwerden «schnell zu helfen», erklärt Therapeuten und Kliniken angeboten hat. Klenico-CEO Laura Henrich. Unter dem Text: Thomas Gull; Bild: Frank Brüderli; www.klenico.com Label «GetHelpNow» bietet Klenico eine UZH magazin 1/2 3 9
Müssen gegen das Böse kämpfen: Harry Potter und Hermine Granger (Filmstill aus : 10 UZH magazin 1/ 23 Harry Potter and the Deathly Hallows, Part 1, 2010)
M ED I EN - U N D K U L TU RW IS S ENS C H AFT Weltschmerz in Krisenzeiten Identitätssuche und Gefühlschaos von Jugendlichen sind der Stoff von Coming-of-Age-Geschichten. Heute spielen sich diese vor dem Hintergrund von Klimawandel, Krieg und Energiekrise ab. Dabei leiden die Jugendlichen an der Welt, retten können oder wollen sie sie aber meist nicht. UZH magazin 1/2 3 11
«Genderfragen, Rassismus oder Klassenunterschiede lassen sich in Teenagergeschichten ausgezeichnet verhandeln.» Christine Lötscher, Medien- und Kulturwissenschaftlerin Text: Ümit Yoker Später hätten auch Freundschaftsfilme wie «The Goonies» oder «Stand by Me» grossen Einfluss A blösung von den Eltern und Ausgeschlos- ausgeübt, sagt die ehemalige Literaturkritikerin sensein, innige Freundschaft, erwachende Christine Lötscher. «Die Motive dieser Filme findet Sexualität und unerwiderte Liebe sind schon man in Serien wie ‹Stranger Things› wieder.» lange zentrale Themen in Erzählungen über das Heute stellt sich in Teenagerstorys jedoch Erwachsenwerden. «Seit einiger Zeit entwickeln immer öfter die Frage: «Lohnt es sich überhaupt sich Coming-of-Age-Geschichten jedoch von einem noch, erwachsen zu werden?» In aktuellen Coming- primär entwicklungspsychologischen zu einem of-Age-Erzählungen werde angesichts des Gefühls gesellschaftskritischen und politischen Genre», allgegenwärtiger Krisen der Zweck des Erwach- stellt Medien- und Kulturwissenschaftlerin Chris- senwerdens in Frage gestellt, erklärt Christine tine Lötscher fest. Das Gefühlschaos der Heran- Lötscher: «Wir wissen als westliche Konsumge- wachsenden spielt sich heute vor dem Hintergrund sellschaft ja selbst gerade kaum, wo es hinsoll. Uns von Klimawandel, Krieg und Energiekrise ab. Das ist zwar klar, dass wir den Gletscherschwund stop- persönliche Leiden hängt immer irgendwie mit pen und die Artenvielfalt schützen sollten – aber den grossen globalen Krisen zusammen. «Der ju- darüber hinaus?» gendliche Weltschmerz ist so auch Antwort auf die Es erstaunt Lötscher nicht, dass die grossen Lage der Welt», sagt Lötscher. Die Professorin für Krisen ausgerechnet in die Geschichten über das Populäre Literaturen und Medien untersucht, wie Erwachsenwerden einfliessen. Solche Geschichten in Literatur, Film oder Fernsehen gesellschaftliche sind der Ort, wo auch schwere Themen auf unter- Diskurse und Konflikte ausgehandelt werden. haltsame und witzige Weise verhandelt werden können. Die Wissenschaftlerin konzentriert sich Lohnt es sich, erwachsen zu werden? in ihrem aktuellen Forschungsprojekt darauf, wie Einst drehten sich Geschichten über Jugendliche sich dieser Paradigmenwechsel in Bildsprache und vor allem um die Frage, wie aus einem jungen Men- Erzählform niederschlägt. Bewusst wählt sie dabei schen der «fertige» Erwachsene wird. Klassisches den Begriff Coming-of-Age-Erzählung und nicht Beispiel des so genannten Bildungs- oder Entwick- Adoleszenz- oder Entwicklungsroman, weil es sich lungsromans ist «Wilhelm Meisters Lehrjahre» längst um ein Genre handelt, das verschiedene von Johann Wolfgang von Goethe. Der eigentliche Medien nutzt. Übergang zum Erwachsenwerden und damit der Paradigmenwechsel durch Buffy Jugendliche selbst (seltener: die Jugendliche) wird dagegen erst ab dem 20. Jahrhundert literarisch Den Wandel zum gesellschaftskritischen und po- thematisiert. Niemand dürfte das Genre mehr litischen Genre angestossen haben schon Mitte geprägt haben als J. D. Salinger mit seinem 1951 der Neunzigerjahre die amerikanische Fernseh- erschienenen Roman «Der Fänger im Roggen». serie «Buffy, die Vampirjägerin» und deren Spin-off Bil der: K eystone , PD 12 UZH magazin 1/ 23
«Angel». Ein herziges blondes Mädchen, das nicht mental sich damals das Verständnis von Jugend einfach Teenager sein kann, sondern mit seinen verändert hat, indem die Aussicht auf das Gross- Freunden gegen dunkle Mächte kämpfen muss, werden nicht mehr beflügelt, sondern erdrückt. Dämonen als Allegorien für patriarchale Traditio- Die Welt retten? Nein danke! nen oder Konformitätsdruck – das mag etwas ge- sucht klingen. «Doch zum ersten Mal wurden hier Harry Potter und Buffy zum Trotz: Im Gegensatz in einer Teenagerserie auch grosse gesellschaftliche zu Genres wie etwa Dystopien leben Adoleszenz- Themen verhandelt», betont Lötscher. Heranwach- geschichten viel weniger von Heldinnen und Hel- sende mussten sich plötzlich nicht mehr nur am den als von ambivalenten und problematischen dominanten Vater und der fiesen Klassenkamera- Figuren, die auch einmal scheitern. Heute sind din abarbeiten, sondern ebenso an gesellschaftlichen Jugendliche in Serien und Romanen denn auch Missständen. weder allesamt Klimaaktivistinnen noch heftig in In dieselbe Zeit fällt auch eine andere Ge- der Politik engagiert. Und die globalen Krisen kom- schichte, dieses Mal eines Jungen, dem ebenfalls men meist nicht explizit zur Sprache, sondern die- nichts Geringeres aufgebürdet wird, als gegen das nen meist als Hintergrund. «Katniss Everdeens ganz Böse zu kämpfen. Im Grunde sei auch in «Harry sind eher selten», sagt Lötscher. Der Widerstand Potter» ein ganz neuer Blick auf die Jugend angelegt der jugendlichen Protagonistinnen und Protago- worden, ist Lötscher überzeugt – einer, der heute nisten zeigt sich darum selten darin, dass sie sich allgegenwärtig ist, ganz besonders im Zusammen- wie besagte Heldin Everdeen aus der Filmreihe hang mit dem Klimawandel, «in dem wir der he- «Hunger Games» einem modernen Gladiatoren- ranwachsenden Generation viel zu viel Verantwor- kampf aussetzen, um die Bewohnerinnen und tung für die Zukunft aufbürden». Lange habe man Bewohner eines diktatorisch geführten Staates vor sich die enorme Begeisterung der Erwachsenen dem Hungertod zu bewahren, sondern darin, dass für den Zauberschüler in Hogwarts mit den diver- sie sich genau der Erwartung verweigern, die Welt sen Genres erklärt, die in «Harry Potter» zusam- zu retten. Für diese Figuren steht die Gegenwart menfinden; die Geschichten vereinen Elemente im Mittelpunkt. Ein intensives Leben und Fühlen aus Märchen und Krimi, aus Geschichtsroman, im Jetzt. Fantasy und eben auch Teenagerstory. Für die For- Wenn es aber politische Themen gibt, die im scherin ist jedoch viel entscheidender, wie funda- Coming-of-Age-Genre tatsächlich zur Sprache Jugendliche Heldin: die Figur Katniss Everdeen aus der Filmreihe «The Hunger Games».
«AUS LIEBE ZU MEINEM KÖRPER» JETZT AKTUELL EQUI- BASE® – BASISCHE KÖRPER-PFLEGE FÜR DEN SÄURE- BASEN-AUSGLEICH DER HAUT Mit den natürlichen Körperpflegeprodukten EQUI-BASE® von Biosana wird die Haut angeregt, Säuren und Schla- cken auszuscheiden. Damit wird durch die Neutrali- sation der Säuren die Rückfettung der Haut gefördert EQUI-BASE® kann Cellulite reduzieren und braune Al- tersflecken zum Verschwinden bringen. Das Hautbild wird durch die Entschlackung verfeinert und die Haut AKTION gestrafft. Die Haut fühlt sich wieder glatt, seidig und 10% geschmeidig an. RABATT CODE: UZH10% auf www.biosana.ch EQUI-BASE® ist erhältlich als: Gültig bis 30.04.2023 • Badesalz • Gesichtspflege • Körperlotion • Dusch-Peeling • Handcrème • Feuchtigkeits-Crème- • Fusscrème Maske Biosana AG Industriestrasse 16 | 3672 Oberdiessbach Telefon 031 771 23 01 | info@biosana.ch | www.biosana.ch
Tipps kommen, sind dies Genderbinarität und sexuelle Identität. In fast allen erfolgreichen aktuellen Se- Geschichten übers rien stehen Figuren im Zentrum, die konventio- nelle Geschlechterzuschreibungen in Frage stellen. Erwachsenwerden «Genderfragen, aber auch Rassismus oder Klas- senunterschiede lassen sich in Teenagergeschich- Drei Empfehlungen von Medien- ten ausgezeichnet verhandeln», sagt die Wissen- schaftlerin. «In unserer Fantasie sind junge Men- und Kulturwissenschaftlerin schen zwar gefährdete, aber eben auch widerstän- Christine Lötscher. dige Wesen, die äusserst sensibel auf Ungerech- tigkeit reagieren.» Euphoria (seit 2019, HBO) Projektionsfläche für Erwachsene «Euphoria» folgt einer Gruppe von amerikanischen Denn wohlgemerkt: Es geht hier immer um ju- Jugendlichen rund um die siebzehnjährige Rue gendliche Figuren, die von Erwachsenen geschaf- Bennet, die nach einem Drogenentzug versucht, fen wurden, um Projektionsflächen, die letztlich im Leben wieder Fuss zu fassen. In dieser Serie unsere eigenen Ängste, Hoffnungen und Wünsche zeigt sich besonders gut, wie verstrickt junge Men- in Bezug auf die Zukunft ausdrücken, und nicht schen in die grossen gesellschaftlichen und politi- unbedingt die der realen Jugendlichen. Über He- schen Krisen sind – und wie sie nicht wissen, was ranwachsende im echten Leben wissen wir nämlich, diese eigentlich mit ihnen machen. «Euphoria» übt knallharte Gesellschaftskritik. Trotzdem macht die Serie auch Spass: Immer wieder kommt es zu ka- thartischen Momenten, in denen alles in die Luft «Wir haben heute eine fliegt und Platz für Neues entsteht. enorme Obsession für We are who we are (seit 2020, HBO) das Thema Jugend.» Im Zentrum dieser Serie steht der vierzehnjährige Christine Lötscher, Medien- und Kulturwissenschaftlerin Fraser, der mit seiner Mutter, Oberst in der ame- rikanischen Armee, auf eine Militärbasis in Italien versetzt wird. Während der Suche nach sich selbst und seiner Genderidentität schliesst er Freundschaft jenseits dessen, was unter Schlagwörtern wie mit der gleichaltrigen Caitlin. Das Erwachsenwer- «Klimajugend» oder «Medienkonsum» abgehandelt den wird in einer sehr künstlerischen Bildsprache werden kann, herzlich wenig, sagt Lötscher. als eine Phase des Schwebens und des Fluiden «Wir haben heute eine enorme Obsession für vermittelt. Dazu gehört auch die Auflösung der das Thema Jugend», stellt die Medien- und Kul- Geschlechtergrenzen. turwissenschaftlerin fest. Natürlich sei dies nicht unwesentlich dem schlechten Gewissen geschuldet, welche Welt wir der nächsten Generation hinter- Sankt Irgendwas (2020, Tamara Bach) lassen. Gleichzeitig aber idealisieren wir gerade Der Film blickt in kollektiver Erzählperspektive die Jugend derzeit mehr als jedes andere Lebens- auf die Klassenfahrt der 10b zurück, wo etwas rich- alter. Es sei uns nicht gelungen, Gesellschaften zu tig schiefgegangen ist, aber erst mit der Zeit klar schaffen, in die unsere Jugendlichen gerne hinein- wird, was eigentlich. Die wechselnden Perspektiven wachsen möchten, deshalb würden wir diese Le- in diesem Buch – alle Schülerinnen und Schüler bensphase derart verklären, sagt Lötscher. «Fragt müssen in einem Protokoll über die gemeinsame man Erwachsene allerdings, ob sie selbst gerne Klassenfahrt berichten – zeigen, wie wichtig das wieder sechzehn wären, ist die Antwort meist ein- Gefühl der Zusammengehörigkeit für die Jugend- deutig: bitte nicht!» lichen ist. Gleichzeitig kommt darin auch das Stre- KONTAKT: ben nach Individualität zum Ausdruck, die Frage: Prof. Christine Lötscher, christine.loetscher@uzh.ch Wer bin ich eigentlich in dieser Gruppe? UZH magazin 1/2 3 15
KR E B SF O R S C HU NG Krebs gezielt bekämpfen Im Tumor-Profiler-Projekt werden Tumoren in noch nie dagewesener Detailtreue analysiert. Das ist ein wichtiger Schritt hin zu einer personalisierten Krebstherapie. Und es gibt bereits erste Erfolge: In einer Studie konnte bei rund einem Drittel der Patientinnen und Patienten mit Hautkrebs der Tumor zum Schrumpfen gebracht werden. Visualisiertes Krebsgewebe in 3D: Mit einer einzigartigen Methode Text: Marita Fuchs rapie zeigen keinen Erfolg. Sein Arzt weiss keinen Bilder: Marc Latzel, Ursula Meisser Rat mehr, für Heinrich B. gibt es keine weiteren Therapieoptionen. Im Medizinerjargon gilt er als H einrich B. ist schwer krank. Seine Diagno- «austherapiert». se: schwarzer Hautkrebs. Der 41-jährige Der schwarze Hautkrebs, auch Melanom ge- Buchhalter hat bereits multiple Ableger in nannt, ist die bösartigste Form aller Hautkrebser- der Haut, als 2017 nach einer Computertomografie krankungen und die fünfthäufigste Krebsart in Metastasen in der Lunge festgestellt werden. Dank der Schweiz. Pro Jahr erkranken daran etwa 3000 einer Immuntherapie mit Antikörpern kann er Menschen, Männer und Frauen sind gleich betrof- Hoffnung schöpfen. Doch dann kommt der Rück- fen. Auch Sabine M. hatte ein metastasierendes fall mit neuen Metastasen. Der aktive Radfahrer Melanom. Lange bleibt es bei der 62-jährigen Leh- leidet sehr unter seiner körperlichen Schwäche. rerin unentdeckt, so kann der Krebs in tiefere Eine erneute Chemotherapie und eine Immunthe- Hautschichten hineinwachsen, sich über Blut- und 16 UZH magazin 1/ 23
zum Beispiel Haut-, Brust- oder Darmkrebs. «Mitt- lerweile weiss man, dass es sich nicht nur um eine veraltete, sondern auch um eine nicht ganz richti- ge Sicht der Dinge handelt», sagt Andreas Wicki, UZH-Professor für Onkologie, Leitender Arzt und stellvertretender Direktor der Klinik für Medizini- sche Onkologie und Hämatologie am Universitäts- spital Zürich. So können Tumoren, die in verschie- denen Organen entstehen, biologisch ähnlicher sein als Tumorarten aus dem gleichen Organ. Ge- genwärtig sind etwa 200 verschiedene Krebser- krankungen bekannt. In den vergangenen Jahren gelang es, für viele von ihnen Erbgutveränderungen zu identifizieren, die spezifisch für Tumoren sind. Selbst innerhalb eines Patienten kann es zu Unter- schieden kommen. «Metastasen unterscheiden sich dann genetisch vom Primärtumor», erklärt Wicki. Molekular betrachtet ist jede Krebserkrankung also einmalig und durch die Kombination ihrer Mutationen charakterisiert. Wenn diese Unter- schiede bei der Behandlung berücksichtigt werden, können Therapien ausgeschlossen werden, die nur Nebenwirkungen und keinen medizinischen Nut- zen haben. Umgekehrt sinkt das Risiko, dass eine vielversprechende Therapie nicht eingesetzt wird. Individuell zugeschnittene Therapien Für Sabine M. und Heinrich B. eröffnete sich eine neue Chance, als sie vor drei Jahren von einer Stu- die des «Tumor Profiler»-Projekts erfuhren. Das Team des Tumor-Profilers analysiere den Krebs jedes einzelnen Patienten bis auf Zell- und Mole- külebene, so lautete das Versprechen. Dank diesen Analysen sollten aussichtsreiche Therapievorschlä- ge innerhalb kurzer Zeit zu den behandelnden Ärztinnen und Ärzten gelangen. Das könnte auch für austherapierte Patientinnen und Patienten wie Sabine M. und Heinrich B neue Therapiemöglich- keiten eröffnen. Beide Krebskranken entscheiden lassen sich die an einem Tumor beteiligten Zellen differenziert analysieren. sich, an der Studie unter der Leitung von Andreas Wicki teilzunehmen, die mit 240 Patientinnen und Lymphbahnen im Körper ausbreiten und Ableger Patienten startet. 95 von ihnen leiden an metas- bilden. In solchen Fällen ist eine Behandlung schwie- tasierendem schwarzem Hautkrebs, andere an rig. Die Krankheit setzt ihr so zu, dass die enga- metastasierendem Eierstockkrebs oder an akuter gierte Deutschlehrerin ihre Klasse nicht mehr bis myeloischer Leukämie. zur Matura betreuen kann. Zu ihrer Freundin sagte Den Teilnehmenden der Studie wie Heinrich sie: «Ich bin voll ausmetastasiert.» Den Begriff hat B. und Sabine M. werden bei einer Biopsie Proben sie sich ausgedacht, er zeigt ihre Verzweiflung. entnommen. Die empfindlichen Zellen müssen danach in kürzester Zeit auf sieben am Projekt Jeder Krebs ist anders beteiligte Laboratorien verteilt werden (siehe Kas- Heinrich B. und Sabine M. haben beide die Dia- ten). Über hundert Forschende haben dann etwa gnose Hautkrebs. Doch jeder Krebs ist anders. zwei Wochen Zeit, die Biopsieproben auszuwerten. Klassischerweise wurden Krebserkrankungen Logistisch ist das eine grosse Herausforderung. immer nach ihrem Ursprungsorgan benannt, also Denn jedes der beteiligten sieben Fachlabore fo- UZH magazin 1/2 3 17
«Einem Drittel der Krebskranken konnten wir mit der Tumor-Profiler-Analyse helfen. Ihre Tumoren schrumpften.» Andreas Wicki, Onkologe Big Data in der Onkologie Das Tumor- Profiler-Projekt kussiert sich auf eine spezielle Methode. Untersucht werden unter anderem DNA, RNA und die Pro- Im «Tumor Profiler»-Projekt bündeln etwa hundert teine der Krebszellen und die Zellen des Immun- Klinikerinnen, Kliniker und Forschende der Univer- systems. «Neu und revolutionär an unserem Ansatz sität Zürich, des Universitätsspitals Basel und der ETH sind die Kombination der Analyseverfahren sowie Zürich in sieben Speziallaboratorien ihre Kräfte, um die Pipeline der Datenverarbeitung», sagt Wicki. neue Wege in der Krebsforschung und -behandlung So gelangen Proben von Heinrich B. und Sa- einzuschlagen. Forschende des Universitätsspitals bine M. ins Labor von Lucas Pelkmans, Professor Zürich unterstützen das Projekt. Mit sich ergänzenden für Molekularbiologie an der UZH. Er führt In-vi- wissenschaftlichen Verfahren analysieren die betei- tro-Medikamententests durch. In der Schweiz gibt ligten Forschenden Proben von Krebskranken und es etwa 180 von Swissmedic zugelassene Krebs- geben die Ergebnisse direkt an die behandelnden medikamente, rund 60 davon werden regelmässig Ärztinnen und Ärzte weiter. Darüber hinaus arbeiten bei Krebsbehandlungen eingesetzt. Die Forschen- sie daran, Mechanismen von Krebserkrankungen den arbeiten mit bekannten Medikamenten oder besser zu verstehen. «Sie etablieren innovative Tech- mit einem neuen Medikamentenmix und testen nologien und entwickeln neuartige Therapieansätze ex vivo, wie die Tumorzellen der Krebskranken auf auf der Grundlage datenbasierter Medizin», sagt Be- sie reagieren. Es geht darum, zu verstehen, welche atrice Beck Schimmer, Professorin für Anästhesiolo- Prozesse in der Zelle von welchen Medikamenten gie an der UZH und Direktorin Universitäre Medizin beeinflusst werden und ob bestimmte Medika- Zürich (UMZH), die das Projekt finanziell unterstützt. mente, die zuvor für die jeweilige Krebsart nicht Neu und wirklich experimentell ist beim Tumor- eingesetzt wurden, bei der jeweiligen Probe wirken. Profiler-Projekt, dass quasi jede Zelle und auch ihre So entstehen neue Behandlungsmöglichkeiten. Ein Umgebung analysiert werden, dadurch werden Daten Ergebnis ist, dass es in bestimmten Fällen besser gewonnen, die einerseits den Krebskranken direkt sein kann, Medikamente einzusetzen, die für an- helfen können, andererseits entstehen durch die rie- dere Krebsarten zugelassen sind, als mit der Stan- sigen Datenmengen grosse Datenpools, die Hinweise dardtherapie zu arbeiten. auf die vielen genetischen und molekularen Typen Den Tumor verstehen von Krebs geben. «Beim Profiling der Tumoren erge- ben sich 43 000 einzelne Datenpunkte», erklärt der In einem weiteren Labor analysiert UZH-Professor Onkologe Andreas Wicki, «Dank der Daten wird es Bernd Bodenmiller mit seinem Team die Gewebe- möglich sein, aus dem molekularen Profil eines Krebs- schnitte von Heinrich B. und Sabine M. «Wir haben patienten eine perfekt passende Therapie abzuleiten.» eine einzigartige Methode entwickelt, mit der wir Das zumindest ist das Fernziel von Big Data in der Dutzende von Biomarkern gleichzeitig im Gewebe Onkologie. Das Tumor-Profiler-Projekt bietet auf den visualisieren können», sagt Bodenmiller, Direktor Patienten zugeschnittene Präzisionsmedizin an, gleich- des Instituts für Quantitative Biomedizin an der zeitig fördert es die datengetriebene Medizin. «Dies UZH und Professor im Departement Biologie der alles hat eine unglaubliche Wirkung für unsere Pati- ETH Zürich. «Wir schauen uns die Immunzellen entinnen und Patienten, aber auch für die gesamte und die Tumorzellen an und sehen, wie sie räum- Gesellschaft», bilanziert Beck Schimmer. lich agieren und potenziell kommunizieren.» Dank der Biomarker erhalten die Forschenden ein Bild www.umzh.uzh.ch/projekt/tumorprofilercenter vom Zustand des Tumors. «Wir erkennen die Kom- 18 UZH magazin 1/ 23
«Neu und revolutionär an unserem Ansatz ist die Kombination von mehreren Analyseverfahren»: Onkologe Andreas Wicki. ponenten eines Tumors und wie diese zusammen- therapie, die sich aus der Analyse der Laboratorien spielen. Dies ermöglicht uns, dessen Funktion mit ergeben hat. Im Laufe der nächsten Monate Medikamenten zielgerichtet zu stören.» schrumpft sein Tumor. Wie auch bei Sabine M. Sie Am Ende der Kette stehen der «Leonhard erhält eine neue Immuntherapie in Kombination Med Secure Scientific Platform Service» sowie die mit einem Kinasehemmer. Das sind Arzneimittel, «Nexus Personalized Health Technologies» der ETH die spezifische Enzyme binden und ihre Funktion Zürich. Hier werden die Daten der sieben Labora- hemmen. torien zusammengetragen und mit Hilfe von Da- Für einen Teil der Patientinnen und Patienten tenexpertinnen und -experten und Algorithmen der Studie mit Melanom konnten die Forschenden analysiert. Die Datenwissenschaftler der ETH be- eine überraschend positive Bilanz ziehen: «Einem reiten die Daten für das interdisziplinäre Tumor- Drittel der so genannt austherapierten Krebskran- board auf. Danach entscheiden die behandelnden ken konnten wir mit einem individuell abgestimm- Onkologinnen und Onkologen zusammen mit den ten Medikamentenmix mit der Tumor-Profiler-Ana- Betroffenen über die neue Therapie. «Wir haben lyse helfen. Ihre Tumoren schrumpften», resümiert einen Prozess entwickelt, der die Krebsmedizin Andreas Wicki. «Bei über der Hälfte der Teilneh- weiterbringt und den Patientinnen und Patienten menden konnte das Tumorwachstum zumindest dient», bilanziert Mitch Levesque, UZH-Professor stabilisiert werden.» Eine Erfolgsgeschichte – Hein- für Experimentelle Hautkrebsforschung, einer der rich B. und Sabine M. jedenfalls sind glücklich. an der Studie beteiligten Forschenden. Heinrich B. kann wieder ausdauernd Rad fahren und Sabine W. unterrichtet wieder an ihrer Schu- Gute Nachrichten le, allerdings mit reduziertem Pensum. Die Arbeit des Tumor-Profiler-Teams hilft auch KONTAKT: Heinrich B. und Sabine M. Einige Wochen nach Prof. Andreas Wicki, andreas.wicki@uzh.ch der Biopsie erhält Heinrich B. eine neue Immun- UZH magazin 1/2 3 19
KLIMA KR IS E Auf der Flucht vor dem Klimawandel Weltweit verlieren Menschen aufgrund klimatischer Extrem ereignisse ihre Lebensgrundlage und müssen diese andernorts neu aufbauen. Welche Gebiete besonders bedroht sind und wie Menschen erfolgreich umgesiedelt werden könnten, analysiert das interdisziplinäre Forschungsprojekt RETRANS. Text: Patrizia Widmer D ürren, Stürme, Hochwasser, Meeresspie- gelanstieg und Waldbrände: Die Folgen des Klimawandels sind bereits heute deut- lich spür- und messbar und bedrohen die Lebens- grundlagen von Menschen weltweit. Laut dem Weltklimarat flüchten seit 2008 jährlich etwa 20 Mil- lionen Menschen vor Dürren, tropischen Stürmen, Starkregen und Fluten. Doch das ist erst der Anfang. Geografie-Professor Christian Huggel erwartet, dass die Zahl der Klimaflüchtlinge in den nächsten Jahrzehnten weiter ansteigen wird. Vorauszusagen, wie viele genau betroffen sein werden, ist schwierig. Die Prognosen reichen von 30 bis zu 140 Millionen Menschen, die bis 2050 in Zentral- und Südamerika, in Subsahara-Afrika und in Südasien auf Grund klimatischer Verände- rungen mit temporären oder permanenten Um- siedlungen konfrontiert sein könnten. «Es kommen riesige Herausforderungen auf uns zu – national und international», sagt Christian Huggel. Chaotische Umsiedlungen Flüchten vor Überschwemmungen: Menschen in Jaffarabad, einer Region im Heute verlassen Menschen meist aus wirtschaft- lichen, politischen, sozialen und kulturellen Grün- aus vom Klimawandel bedrohten Gebieten umzu- den ihre Heimat. Der Klimawandel wird diesen siedeln und ihnen eine neue Zukunftsperspektive Migrationsdruck weiter verstärken. Christian Hug- zu bieten. «Bisher verliefen solche Umsiedlungen gel erwartet, dass er künftig immer häufiger über- meist chaotisch und unkontrolliert», sagt Huggel. haupt der Grund für Migration sein wird. Damit Weshalb das so ist, will der Geograf heraus- sind auch die Regierungen der betroffenen Länder finden. Deshalb hat er an der UZH das grossange- gefordert. Etwa wenn es darum geht, Menschen legte interdisziplinäre Forschungsprojekt RE-TRANS 20 UZH magazin 1/ 23
Südosten Pakistans. lanciert. Ziel ist es, bisherige Umsiedlungen aus Umsiedlungen zu erleichtern und nachhaltiger zu historischer, technischer, finanzieller, rechtlicher, gestalten. aber auch aus politologischer und natur- und so- Um sich einen Überblick zu verschaffen, ent- zialwissenschaftlicher Perspektive zu analysieren wickeln die Forschenden zurzeit eine globale Ri- und daraus Lehren für die Zukunft zu ziehen. sikokarte zu klimabedingten Umsiedlungen. Sie Schlussendlich will das Forschungsteam einen soll eine Übersicht über die vom Klimawandel Bil d: Fida Hu ssai n, Keystone Leitfaden für die Praxis erarbeiten, um künftige besonders bedrohten Gebiete geben, in denen die UZH magazin 1/2 3 21
Grenze der Bewohnbarkeit künftig erreicht und Ökosysteme und Menschen gegenseitig beein- Umsiedlungen unausweichlich werden könnten. flussen. Und sie analysiert, welche Umsiedlungs- Konkret werden die Forscherinnen und Forscher möglichkeiten aus sozialer und ökologischer Sicht bedrohte Gebiete im Bengal-Delta (Meeresspie- bestehen und wie sich Umsiedlungen auf Biodi- gelanstieg, Fluten und Dürren), in Zentralkolum- versität und Ökosystemprozesse auswirken würden. bien (Waldrodungen und Hitze), aber auch in der Die Hitze in vielen Gebieten Indiens belastet peruanischen Altiplano-Region und den Schweizer nicht nur die Menschen stark, sondern auch die Bergen (Gletscherschmelze) untersuchen. Natur. Die Böden trocknen aus, die Vegetation stirbt Was Huggel in seiner bisherigen Forschung ab und das Klima wird sich ohne den kühlenden bereits festgestellt hat: Menschen tendieren stark Effekt der Pflanzen noch weiter erwärmen. Das dazu, sich dem Klimawandel anzupassen und etwa Land steht vor grossen Dürren, die die Nahrungs- zerstörte Infrastrukturen wiederaufzubauen – vo- mittelproduktion einschränken werden. Gleich- rausgesetzt, sie können es sich leisten. «Häufig ist zeitig drohen in bestimmten Regionen Überschwem- es auch so, dass nicht alle gleichzeitig wegziehen», mungen. Auch die Elektrizität dürfte knapp werden, sagt der Forscher. Ob es sich lohnt, zu bleiben oder wenn das Wasser für Kraftwerke fehlt. All diese die Heimat zu verlassen, ist oftmals der individu- Entwicklungen könnten zahlreiche Menschen zur ellen Risikobeurteilung überlassen. Beeinflusst Flucht veranlassen. Maria J. Santos erwartet in wird der Entscheid auch von der Frage, ob es an- Indien drei klimabedingte Migrationsströme: aus dernorts interessante Perspektiven gibt oder nicht. den ländlichen von Dürren und Überschwemmun- «Die meisten bedrohten Menschen gehen freiwil- gen geplagten Gebieten, aus den Megastädten, die lig, wenn ihnen die Regierung eine gute Alterna- zu Hitzeinseln werden, und aus den Delta-Gebie- tive bietet», ist Huggel überzeugt. ten, die im Meer versinken werden. Gefährlich wird es aber auch in anderen Re- Hitze, Brände, Stürme gionen der Welt – etwa wegen Wald- und Busch- Indien gehört zu den Ländern, die jetzt schon be- bränden. «Vor drei Jahren gab es beispielsweise in sonders stark unter den Folgen des Klimawandels Südeuropa, Kalifornien und Australien bereits leiden. Bereits heute werden auf dem indischen heftige Buschbrände. Ganze Ortschaften wurden Subkontinent Temperaturen von bis zu 50 °C ge- zerstört», erzählt Huggel. Dies stellte die Bevölke- messen. «Die Temperaturen werden vermutlich rung vor die Frage, ob es sich überhaupt noch lohnt, noch weiter steigen», sagt Maria J. Santos, Profes- zerstörte Infrastrukturen wiederaufzubauen, oder sorin für Erdsystemwissenschaften an der UZH, ob sie besser wegziehen sollten. die zum Team des RE-TRANS-Projekts gehört. Steigen die Temperaturen, schmilzt das Eis Santos erforscht unter anderem in Indien, wie sich an den Polen und Küstenregionen versinken im Meer. Neben kleinen Inseln, die ganz untergehen werden, sind vom Meeresspiegelanstieg auch viele UZH Foundation Grossstädte betroffen, wie etwa New York. «Dort wird schon jetzt viel getan, um die Menschen und Der Klimakrise die Infrastruktur vor dem Meeresspiegelanstieg zu schützen», sagt Huggel. die Stirn bieten Gefahren durch den Klimawandel kombi- nieren sich häufig. Das zeige sich am Beispiel Flo- Die Bedrohungen durch klimatische Veränderun- ridas, betont der Geograf. Im amerikanischen gen sind Realität geworden und kennen keine Bundesstaat steigt nicht nur der Meeresspiegel an, (Landes-)Grenzen. Um dem entgegenzuwirken, sondern tropische Stürme gelangen gleichzeitig gilt es nun, die richtigen Weichen zu stellen. Füh- weiter ins Landesinnere und verursachen dort grosse rende Experten der Universität Zürich erarbeiten Schäden. Hochwasser und Stürme, deren Intensi- im Rahmen der Forschungsinitiative RE-TRANS tät und Frequenz durch den Klimawandel zuneh- Massnahmen, um die Migration zu steuern und men werden, sind eine weitere grosse Gefahr, die zu bewältigen, die durch die Klimakrise ausgelöst zur Klimamigration beitragen wird. wird. Die UZH Foundation engagiert sich für die Die Ärmsten trifft es am härtesten Finanzierung des Forschungsprojekts und wirbt dafür Unterstützungsgelder ein. Was trotz der unzureichenden Datenlage zur Klima- KONTAKT: migration bereits jetzt klar ist: Die Ärmsten wird Sabine Schweidler, sabine.schweidler@uzhfoundation.ch es am meisten treffen. Um zu migrieren, fehlen www.uzhfoundation.ch/relocation
«Die meisten bedrohten Menschen gehen freiwillig, wenn ihnen die Regierung eine gute Alternative bietet.» Christian Huggel, Geograf vielen vom Klimawandel betroffenen Menschen zu finden, wird auch angesichts der grossen Be- allerdings die finanziellen Mittel. In Indien bei- völkerungsdichte für viele Menschen nicht einfach spielsweise existiert wie auch an vielen anderen werden. «Umsiedlungen sind deshalb aus zahlrei- Orten der Welt grosser Reichtum neben riesiger chen Gründen ein sehr schwieriges Thema», re- Armut. Trotz des Wirtschaftsbooms lebten 2022 sümiert Maria J. Santos. laut der Vereinten Nationen immer noch etwa Ob und wie sie – in Indien und in anderen 16 Prozent der Bevölkerung in Armut. Zudem ist Ländern mit ähnlichen Herausforderungen – ge- die indische Gesellschaft sehr hierarchisch. Es gibt lingen könnten, auf diese Fragen wollen die For- eine grosse Vielfalt an Ethnien und die Landnutzung schenden von RE-TRANS in den nächsten fünf ist von sehr unterschiedlichen Traditionen geprägt – Jahren Antworten finden. aus sozialen und kulturellen Gründen haben des- KONTAKT: halb einige Gruppen gar nicht die Möglichkeit zu Prof. Christian Huggel, christian.huggel@geo.uzh.ch migrieren. Prof. Maria J. Santos, maria.j.santos@geo.uzh.ch Indien ist momentan mit einer Population von über 1,4 Milliarden das zweitbevölkerungs- reichste Land der Welt. Platz für eine neue Heimat Bild: Chuttersnap; Gestaltung: supersonix CAS Wissenschaftsjournalismus Komplexe Zusammenhänge attraktiv vermitteln www.maz.ch/wissenschaftsjournalismus MAZ – Die Schweizer Journalistenschule, Murbacherstrasse 3, Luzern, www.maz.ch
schen und Mäusen getestet worden und es ist frei B IO M EDI Z I N verfügbar. Bevor es beim Menschen eingesetzt werden kann, braucht es noch weitere präklinische Effizientere Studien. Genschere S OZIOL OG IE Forschende der Universität Zürich haben ein neues Tool entwickelt, um die Wirksamkeit der Ge- Männerberufe, nom-Editierung zu verbessern. Die Genom-Edi- tierung bietet neue Möglichkeiten, genetische Frauenberufe Krankheiten zu behandeln. So wird etwa die weit verbreitete CRISPR/Cas9-Genschere genutzt, um das Erbmaterial in Zellen zu verändern. Die Prime-Editing-Technologie ist eine Wei- terentwicklung dieser Methode. Im Gegensatz zur herkömmlichen Genschere, die einen Bruch in beiden Strängen des DNA-Moleküls erzeugt, wird beim Prime Editing die DNA nur an einem Ein- zelstrang geschnitten und repariert. Die sogenann- te Prime Editing Guide RNA (pegRNA) steuert punktgenau die Zielstelle im Genom an und stellt die neuen genetischen Informationen bereit. Für eine erfolgreiche Anwendung ist es allerdings wich- Apothekerinnen: Wenn ein Beruf vermehrt von Frauen tig, dass unbeabsichtigte Nebeneffekte wie Fehler gewählt wird, verlassen ihn die Männer. bei der DNA-Korrektur oder die Veränderung der DNA an anderen Stellen minimiert werden. Mit Auf dem Arbeitsmarkt gibt es noch immer eine starke Geschlechtertrennung, obwohl sich die be- rufliche Stellung der Geschlechter in den letzten fünfzig Jahren angeglichen hat. So sind zum Beispiel viele Pflegeberufe weiblich dominiert, während viele Handwerksberufe vor allem von Männern ausgeübt werden. Andere Berufe wie zum Beispiel Lehrer oder Apotheker ändern ihre Geschlechter- zusammensetzung mit der Zeit, obwohl sich der Beruf kaum verändert. Auch innerhalb von Beru- fen gibt es geschlechtsspezifische Spezialisierungen, die sich schwer erklären lassen: So arbeiten in der Ein Algorithmus verbessert die Wirksamkeit der Genom-Editierung. Radiologie eher Männer und in der Dermatologie eher Frauen. Prime Editing kommt es zu wesentlich weniger In der Genderforschung gibt es daher die unbeabsichtigten Änderungen als bei der herkömm- Theorie, dass Männer Berufe verlassen, in denen lichen CRISPR/Cas9-Genschere. Momentan müs- der Frauenanteil steigt. Per Block, Professor für sen Forschende allerdings noch viel Zeit aufwenden, Soziologie an der UZH, hat diese Theorie mithilfe um die pegRNA für ein bestimmtes Ziel im Genom neuer Methoden aus der Netzwerkforschung und zu optimieren. Daten aus Grossbritannien empirisch überprüft. Nun haben Gerald Schwank, Professor am Seine Studie zeigt deutlich, dass Männer Berufe Institut für Pharmakologie und Toxikologie der verlassen, in die Frauen wechseln. Die Studie ver- UZH, und Michael Krauthammer, Professor am gleicht zwei hypothetische Berufe mit identischen Institut für Quantitative Biomedizin der UZH, eine Merkmalen. Sie unterscheiden sich einzig darin, Methode entwickelt, die auf künstlicher Intelligenz dass im einen 25 Prozent und im anderen 75 Prozent basiert, mit der vorhergesagt werden kann, wie Frauen arbeiten. «Wie die Analyse zeigt, verlassen effizient die pegRNAs ist. «Der Algorithmus kann Männer mit doppelter Wahrscheinlichkeit den sich die effizienteste pegRNA ermitteln, um eine be- feminisierenden Beruf», sagt Per Block. stimmte Mutation zu korrigieren», erklärt Michael Ausführliche Berichte und weitere Themen: Krauthammer. So können Fehler verringert werden. www.media.uzh.ch Das Tool ist bereits erfolgreich in Zellen von Men- Bi lder: iStock 24 UZH magazin 1/ 23
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