WAS WIR GLAUBEN Mythen, Fakten, Religionen 26 - UZH magazin

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WAS WIR GLAUBEN Mythen, Fakten, Religionen 26 - UZH magazin
Nr. 1/ 2 02 3

                   UZH magazin
                   Die Zeitschrift für Wissenschaft & universitäres Leben

WAS WIR
GLAUBEN
Mythen, Fakten,
Religionen — 2 6

                                           ausserdem:
                                           Tumoren schrumpfen — 16
                                           Flucht vor dem Klima — 20
                                           Chinas Traum — 60
WAS WIR GLAUBEN Mythen, Fakten, Religionen 26 - UZH magazin
13.11.22–23.7.23

                                                 rüf muaR
                                                                                                                                             Gestaltung: Hannes Saxer

                                              lednawtleW
Museum für Kommunikation
Helvetiastrasse 16, 3000 Bern 6                    Eine Stiftung von
Dienstag – Sonntag, 10 – 17 Uhr, www.mfk.ch
                                                 Unterstützt von: Stiftung Vinetum | BernMobil | BEKB Förderfonds | Paul Schiller Stiftung
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E D ITO RIA L

                                                      Göttliche Algorithmen
                                                      und Desinformation
                                                                      Die Digitalisierung verändert nicht nur, wie wir uns   eine immer wichtigere Rolle. Indem sie uns
                                                                      informieren und wie wir kommunizieren, sondern         bestimmte Informationen anbieten und andere
                                                                      auch, wie und was wir glauben. Unsere Lebensent­       vorenthalten, beeinflussen sie, wie wir die Welt
                                                                      würfe und Weltbilder werden pluraler und indivi­       wahrnehmen. Mit dem Göttlichen gemeinsam
                                                                      dueller. Damit verlieren vormals einflussreiche        haben Algorithmen, dass ihr Tun und Lassen
                                                                      Institutionen wie die traditionellen Medien, die       zuweilen unergründlich ist – manchmal wissen
                                                                      Wissenschaft oder die Kirche einen Teil ihrer          nicht einmal ihre Schöpfer genau, was sie treiben
                                                                      Deutungsmacht. Diese wird konkurrenziert von           und weshalb. Die neue Macht der Algorithmen,
                                                                      einer Vielzahl alternativer Welterklärungen, die       Daten und Plattformen und die damit verbundenen
                                                                      dank Internet und Social Media ein globales            Heilserwartungen bezeichnet der Kommunika­
                                                                                                                             tionswissenschaftler Michael Latzer als die
                                                                                                                             «digitale Dreifaltigkeit».
                                                                                                                                   Trotz modernster Technologien genügen weit
                                                                                                                             einfachere Mittel, um Weltbilder von Menschen
                                                                                                                             zu beeinflussen. Ein aktuelles Beispiel dafür ist
                                                                                                                             Putins Russland. Die russische Staatspropaganda
                                                                                                                             manipuliert die Bürgerinnen und Bürger mit
                                                                                                                             Gegenerzählungen zum Krieg in der Ukraine. Wie
                                                                                                                             die Slawistin Sylvia Sasse mit ihrer Forschung zeigt,
                                                                                                                             wird dabei die Realität so verdreht, dass die
                                                                                                                             Menschen nicht mehr wissen, wo ihnen der Kopf
                                                                      Seziert Putins Propaganda: Slawistin Sylvia Sasse.     steht. Sie werden vom Staat und von den staatlich
                                                                                                                             kontrollierten Medien manipuliert und mürbe
                                                                      Publikum erreichen können. Das ist einerseits eine     gemacht, die damit ihre Macht festigen, sagt Sasse.
                                                                      Befreiung von Zwängen und Konventionen,                      Desinformationen in die Welt zu setzen, ist
                                                                      andererseits erschwert diese Vielstimmigkeit die       dank Internet und Social Media ein Kinderspiel
                                                                      Orientierung.                                          geworden. Erstaunlicherweise finden auf diesem
                                                                            Im Dossier dieses UZH Magazins beleuchten        Weg auch obskure Verschwörungstheorien ein
                                                                      wir, wie sich Glaube und Spiritualität verändern       (leicht­)gläubiges Publikum. Gegen das allgegen­
                                                                      und welche Rolle dabei die (neuen) Medien spielen.     wärtige Virus der Desinformation helfen Wach­
                                                                      Dabei spielen absolute Wahrheiten, wie sie Religio­    samkeit und kritisches Denken. Wir sollten
                                                                      nen zuweilen zu vermitteln versuchen, immer            versuchen, uns gegen Fake News zu immunisieren,
                                                                      weniger eine Rolle. Das bedeutet etwa, dass viele      sagt die Kommunikationswissenschaftlerin Sabrina
                                                                      sich von den spirituellen Angeboten jenen              Kessler. Sie gibt dazu ganz konkrete Tipps, wie
                                                                      zuwenden, die ihnen gerade guttun, sagt die            etwa die Quelle der Informationen zu checken und
                                                                      Theologin Sabrina Müller vom Universitären             «langsamer» zu denken.
                                                                      Forschungsschwerpunkt «Digital Religion(s)».
                                                                            Den Begriff des Glaubens verstehen wir nicht     Wir wünschen eine reflektierte Lektüre,
                                                                      nur im religiösen Sinn, sondern beziehen auch          Ihre UZH Magazin-Redaktion
                                                                      politische, moralische oder ökonomische Über­          Thomas Gull, Roger Nickl & Stefan Stöcklin
                                                                      zeugungen ein. Statt an den lieben Gott glauben
                                                                      manche Menschen mittlerweile an die Allmacht
Ti te lbil d: G efe; Bild r echts : Philip p Rohner

                                                                      von Algorithmen. Diese spielen in unserem Alltag

                                                                                                                                                                   UZH magazin 1/2 3   3
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UZHmagazin — Nr. 1 / März 2 0 2 3

     20

    GE O GR A F IE

    Flucht vor der Hitze — 2 0
    Der Klimawandel zwingt immer mehr Menschen, ihre
    Heimat zu verlassen. Ein UZH-Forschungsteam untersucht,
    wie Umsiedlungen erfolgreich sein können.

    KULTUR - UN D M ED I EN W I S S EN S C H A F T

    Belastete Jugend — 1 0
    In aktuellen Coming-of-Age-Geschichten leiden
    Jugendliche nicht nur am Erwachsenwerden, sondern auch
    an düsteren Zukunftsperspektiven.

    O N KO LO GIE

    Krebs gezielt bekämpfen — 16
    Das Tumor-Profiler-Projekt kombiniert verschiedene
    Analysemethoden und erlaubt, Tumoren effizienter zu
    behandeln.

    Effizientere Genschere — 2 4
    Männerberufe, Frauenberufe — 2 4

4   UZH magazin 1/ 23                                         Bilder: Keystone, Stefan Walter; Illustr atio n: Ge fe
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60

DOSSIE R                                   INT ERV IEW — Simona Grano

                                           China und der Westen — 60
WAS WIR                                    Das Reich der Mitte träumt von vergangener Grösse und
                                           wird immer selbstbewusster. Um China Paroli zu bieten,

GLAUBEN
                                           muss der Westen geeint auftreten, sagt die Sinologin.

                                           UZH L IFE — Akademische Laufbahn

Mythen, Fakten,                            Karriere ohne Professur — 5 0
                                           Mit neu geschaffenen Lecturer-Stellen bietet die UZH neue,
Religionen — 2 6                           attraktive Karriereperspektiven für hochqualifizierte
                                           Forschende.

                                           PORT RÄT — Milo Puhan
Was und wie wir glauben, verändert
sich stark. Grund dafür sind die
                                           Unter die Leuten gehen — 5 6
                                           Der Epidemiologe will mit seiner Forschung dazu beitragen,
Individualisierung von Lebensentwürfen     dass alle möglichst lange gesund bleiben.
und die neuen Möglichkeiten, die die
digitalen Medien eröffnen. Das Dossier     RÜC K S PIEG EL — 6
                                           BUC H FÜRS L EBEN — 7
lotet aus, wie unsere Weltbilder geprägt   D AS UNID ING — 7
und manchmal manipuliert werden.           D REIS PRUNG — 8
                                           ERFUND EN AN D ER UZH — 9
                                           EINS T AND — 25
                                           IM PRES S UM — 65
                                           NOY AU — 66

                                                                                       UZH magazin 1/2 3   5
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der UZH künftig noch gequalmt werden       Rauchen an der UZH zu untersagen.
                                                               darf und wo nicht. Nach langjährigen       Die Aktion scheiterte jedoch. Deshalb
                                                               Protesten der Nichtrauchenden erklär-      holte man sich die Unterstützung der
                                                               te die Uni-Leitung den Lichthof und die    Organisationen «Züri Rauchfrei» und
                                                               Cafeteria des Hauptgebäudes offiziell      «RAP, Rauchfrei am Arbeitsplatz». Da-
                                                               zur rauchfreien Zone.                      raufhin konnte das Projekt erfolgreich
                                                                     Vor und nach dem 31. Mai, der        durchgeführt werden. Das Ziel war, die
                                                               auch der internationale Tag der Nicht-     Luftqualität für alle zu verbessern, Nicht-
                                                               rauchens war, wurde im Lichthof die        rauchende nicht unfreiwillig dem Rauch
                                                               Qualität der Luft gemessen. Im Zentrum     anderer auszusetzen und Rauchende,
                                                               und auf dem Campus Irchel wurde ein        die aufhören wollten, in ihrem Vorhaben
                                                               Stand aufgestellt mit Informationen rund   zu unterstützen.
                                                               um das Thema Rauchen, fachkundiger               Bis zum vollständigen Verbot der
                                                               Beratung, Tipps zum Aufhören und           Glimmstängel dauerte es jedoch noch
Broschüre der Uni-Leitung                                      Entwöhnungsmethoden. Im «Luftibus»         eine ganze Weile: Die Zeit für eine voll-
zum Teil-Rauchverbot an der
UZH 1996.
                                                               der Lungenliga konnte man einen Lun-       ständig rauchfreie Uni war erst 2005 reif,
                                                               genfunktionstest machen. Wer sich den      als das allgemeine Rauchverbot in der
                                                               31. Mai 1996 zum Anlass nahm, mit dem      Bevölkerung schon breiter akzeptiert
     R ÜC KS P I EGEL — 1996                                   Rauchen aufzuhören, und dies mindes-       war. Doch kein Verbot ohne Ausnahme:
                                                               tens 14 Tage lang durchhielt, konnte an    In Einzelbüros durfte weiterhin geraucht
     Qualmen in                                                einem Wettbewerb der Arbeitsgemein-
                                                               schaft Tabakprävention teilnehmen. Zu
                                                                                                          werden, wenn alle Personen in benach-
                                                                                                          barten Büros damit einverstanden
     der Zone                                                  gewinnen gab es eine Reise zu zweit
                                                               ins Blumenland oder während dreier
                                                                                                          waren. Drei Jahre später trat dann das
                                                                                                          revidierte Gesundheitsgesetz des Kan-
                                                               Monate alle zwei Wochen einen Blu-         tons in Kraft mit einem generellen
     «Ab dem 31. Mai rauchen in der Uni nur                    menstrauss, wobei Letzterer 50-mal         Rauchverbot in allen öffentlichen Ge-
     noch die Köpfe» hiess es vor fast 27 Jah-                 verlost wurde.                             bäuden des Kantons und der Stadt Zü-
     ren in einer Broschüre des Rektorats, in                        Bereits Anfang der 1990er-Jahre      rich. Amra Muratovic, UZH Archiv
     der darüber informiert wurde, wo an                       hatte die Uni-Leitung versucht, das

   Internationalisierung managen,
   Bildungsangebote entwickeln

 Master Linguistic
 Diversity Management                                                                                                         NE
                                                                                                                          Ab Frü U!
                                                                                                                                hja
                                                                                                                             2024 hr
     •   Sprachlich-kulturelle Diversität als Chance
         wahrnehmen
     •   Multikulturalität und Mehrsprachigkeit in der
         Arbeitswelt managen
     •   Schwerpunkt setzen: International Programme
         Coordination, Language Education Development
         oder Language and Inclusion

  ZHAW Departement Angewandte Linguistik, Theaterstrasse 15c, 8401 Winterthur
WAS WIR GLAUBEN Mythen, Fakten, Religionen 26 - UZH magazin
BU CH FÜR S LE B E N — Jean-Michel Hatt                                                         D AS UNID ING

                                 Der nackte Affe
                                                                            verlust bei den ersten Hominiden, als
                                                                            sie die Wälder, das Biotop der meisten
                                                                            Primaten, verliessen und die Steppen
                                                                            besiedelten. Allerdings ist die Nackt­
                                                                            heit des Menschen bekanntlich nicht
                                                                            vollständig und Desmond Morris geht
                                                                            ausführlich auf die Bedeutung der
                                                                            verbleibenden Behaarung von Kopf,
                                                                                                                                 Oase der Kunst
                                                                            Achseln und Genitalbereich ein.                      Auf dem Stockwerk F des Kollegiengebäu­
                                                                                  Es geht in diesem Buch zunächst                des der UZH gibt es eine Kunstoase zu ent­
                                                                            um unsere Herkunft und die Ver­                      decken. Versteckt in einer Nische plätschert
                                                                            wandtschaft zu den Primaten. Danach                  dort seit der Einweihung des Gebäudes
                                                                            folgen Kapitel zur Fortpflanzung,                    1914 ein kleiner edler Brunnen gemächlich
                                                                            Exploration, Aggression, Ernährung                   vor sich hin. Geschaffen haben ihn zwei
                                                                            und Körperpflege. Zum Schluss                        Schweizer Künstler: Der Bildhauer Otto
                                                                            beleuchtet der Autor unsere Bezie­                   Kappeler (1884 bis 1949) war für das ver­
                                 Seit über 15 Jahren nehme ich dieses       hung zu anderen Tierarten, unsere                    zierte Brunnenbecken zuständig, der Maler
                                 Buch immer wieder zur Hand. Es ist         Sympathien und Antipathien. Morris                   Augusto Giacometti (1877 bis 1947) schuf
                                 mittlerweile voller Randbemerkungen,       verbindet geschickt eigene Erfahrun­                 das darüber befindliche bunte Mosaik.
                                 Ausrufezeichen, Fragezeichen und           gen, beispielsweise als Kurator im                         Es zeigt zwei in wallende Kleider
                                 Unterstreichungen. «The Naked Ape»         Zoo London, mit wissenschaftlichen                   gehüllte Nymphen. In einem Schriftzug aus
                                 des britischen Zoologen Desmond            Erkenntnissen.                                       hellen Steinchen am oberen Rand des
                                 Morris inspiriert und provoziert mich            Die behandelten Themen inte­                   Mosaiks werden die Auftraggeberinnen für
                                 immer wieder aufs Neue und regt            ressieren mich als Tierarzt,                         das Kunstwerk genannt: «Der Universität
                                 mich zu kritischem Denken an. Und          Wissenschaftler und Menschen.                        Zürich in ihrem neuen Heim gewidmet von
                                 da bin ich nicht der Einzige! Seit der     Meine Patienten stehen im Bezug zu                   den Frauen der Professoren 1914». Die Profes­
                                 Veröffentlichung 1967 ist dieses Buch      Menschen – Tierbesitzerinnen,                        sorengattinnen hatten Beiträge zwischen 10
                                 millionenfach verkauft und in              Pflegepersonal und Zoobesuchern. Es                  und 100 Franken gestiftet, insgesamt knapp
                                 unzählige Sprachen übersetzt worden.       geht sehr oft um Emotionen und                       2000 Franken waren durch die Spenden­
                                 «The Naked Ape» wurde in einigen           dieses Buch öffnet mir immer wieder                  sammlung zusammengekommen.
                                 Ländern sogar beschlagnahmt und            die Augen, kontextualisiert den                            Alberto Giacometti gehörte Anfang
                                 auf Geheiss der Kirche verbrannt.          Ursprung von Gefühlen und macht                      des 20. Jahrhunderts zu den gefragtesten
                                        Worum geht es in diesem Buch        sie nachvollziehbar.                                 Künstlern. Er galt als Pionier der abstrakten
                                 und weshalb ist es für mich ein Buch             Aber auch für den Umgang mit                   Malerei und wurde unter anderem für
                                 fürs Leben? Desmond Morris betrach­        Menschen im Alltag und im Privaten                   seine monumentalen Wandmalereien
                                 tet die Spezies Homo sapiens aus           ist «The Naked Ape» hilfreich, um                    bekannt. So hat er in Zürich zwischen 1923
                                 zoologischer Sicht als eine biologische    Verhaltensmuster zu erkennen und                     und 1925 etwa die Eingangshalle des Amts­
                                 Art, die sich einreiht in die Tierarten,   aus der Evolution heraus als                         hauses I, das heute eine Wache der Zürcher
                                 die die Welt bevölkern. Er konzent­        natürliche Erscheinung zu verstehen.                 Stadtpolizei beherbergt, geschaffen. Mit
                                 riert sich nicht darauf, im Gegensatz      Und last but not least ist mir dieses                Gehilfen malte Giacometti ein Meer von
                                 zu zahlreichen anderen Fachbüchern,        Buch auch immer wieder eine                          bunt leuchtenden Fantasieblumen in die
                                 den Unterschied zwischen Tieren (ins­      Inspiration dafür, wie wissenschaft­                 Gewölbe der Halle, weshalb diese zuweilen
                                 besondere Primaten) und Menschen           liche Informationen erfolgreich                      auch liebevoll «Blüemlihalle» genannt wird.
                                 herauszudestillieren.                      aufgearbeitet werden müssen, um ein                  Heute gelten Giacomettis Fresken im
                                        Ganz im Gegenteil, er sucht und     breites Publikum zu erreichen und                    Zürcher Amtshaus als eines der bedeu­
                                 findet zahlreiche Hinweise im men­         um Wissen zu vermitteln.                             tendsten Schweizer Kunstwerke des
                                 schlichen Verhalten, die zeigen, dass      Jean-Michel Hatt ist Professor für Zoo-, Heim- und   20. Jahrhunderts. Weniger monumental ist
                                 die Evolution deutliche tierische          Wildtierkrankheiten an der UZH.                      das Mosaik des Künstlers am Brunnen des
                                 Spuren in uns Menschen hinterlassen        Desmond Morris: The Nacked Ape. Vintage, 2005        Kollegiengebäudes. Dafür ist dieser eine
                                 hat. Provokativ führt er uns vor                                                                kleine und feine Oase der Kunst, die im
Bil der: UZH A rch iv; p rivat

                                 Augen, dass wir eigentlich nicht viel                                                           universitären Alltag Erfrischung und einen
                                 mehr als «nackte Affen» sind. Morris                                                            Moment der Ruhe bietet. Roger Nickl
                                 betrachtet den progressiven Fell­

                                                                                                                                                            UZH magazin 1/23     7
WAS WIR GLAUBEN Mythen, Fakten, Religionen 26 - UZH magazin
D R E ISP R UNG — Eine Frage, drei Antworten

        Können wir aus
        Geschichte lernen?
                                                                                                              3
    1
                                                                                                                  Identität
                                                                                                                  konstruieren
        Sorbischer Dual                                      2                                                    Wie bei den meisten globalen Fragen,
                                                                                                                  die die Wissenschaft beantworten soll,
        Auch aufgrund seiner Geschichte ist                                                                       muss die Antwort hier lauten: Es kommt
        der slawische Sprachraum vielen ein
        Begriff. Dass gerade ein linguistischer
                                                                 Burgunder                                        darauf an. Auf der einen Seite ist in An-
                                                                                                                  lehnung an Hegel wohl richtig, dass man
        Blick helfen kann, aktuelle Themen
        einzuordnen, ist vielleicht weniger be-
                                                                 mit Kater                                        aus der Geschichte nur lernen kann,
                                                                                                                  dass man aus ihr nichts lernen kann. In
        kannt – noch weniger vermutlich, wie                     Weil Menschen lernende Wesen sind,               der Tat: «Die Geschichte» gibt es nicht
        sehr die Vielfalt dieser Sprachfamilie                   lässt sich diese Frage leicht beantworten.       und was man aus der Vergangenheit
        dazu einlädt, sich mit der Frage nach                    Wir lernen die ganze Zeit aus der Ver-           allein mit Sicherheit erkennen kann, ist
        dem Lernen aus der Geschichte zu be-                     gangenheit, wir können gar nicht anders.         der Umstand, dass dasjenige, was war,
        schäftigen.                                              Jede Erzählung, und sei sie noch so un-          komplexer ist als dasjenige, was uns
              Die strukturellen Gemeinsamkei-                    bedeutend, weckt die Erwartung, dass             davon in mehr oder weniger zufälliger
        ten des Russischen mit dem Fin-                          sie etwas enthält, das für das Gegenüber         Auswahl überliefert wurde oder erin-
        nisch-Ugrischen oder die Turzismen,                      einen gewissen Informationswert hat.             nerlich ist.
        also Entlehnungen aus dem Türkischen,                    «Ich habe letzte Woche einen teuren                    Lineare Extrapolationen von der
        im Makedonischen sind ebenso in ge-                      Burgunder getrunken, aber habe am                Vergangenheit in die Zukunft bleiben
        schichtliche Zusammenhänge eingebet-                     nächsten Tag einen grossen Kater ge-             deshalb zwangsläufig Luftschlösser. Auf
        tet wie die Bewahrung des Duals im                       habt.» Aha: Preis und Qualität müssen            der anderen Seite ist es gerade die selek-
        Sorbischen und Slowenischen. Zugleich                    nicht übereinstimmen. Wird dann noch             tiv interpretierte Geschichte, die für
        zeigen die slawischen Sprachen, wie                      das Geheimnis gelüftet, um welchen               Identitätskonstruktionen und -präsen-
        Sprache der Konstruktion historischer                    Burgunder es sich genau gehandelt hat,           tationen von Individuen, Gruppen oder
        Zusammenhänge dienen kann, beispiels-                    ergibt sich ein geradezu spektakulärer           Nationen von Bedeutung ist. Am Beispiel
        weise wenn eine Kontinuität des Idioms                   Lerneffekt.                                      meiner selbst: Die Frage «wer bin ich?»
        der Kiever Rus’ zum heutigen Russischen                          Dass wir bei diesem konstanten           beantworte ich am besten damit, dass
        konstruiert wird oder das Kroatische,                    Lernen oft Schlüsse ziehen, die sich im          ich meine Geschichte erzähle. Sie wird
        Serbische, Bosnische und Montenegri-                     Nachhinein als falsch erweisen, ist klar.        nur eine Auswahl dessen umfassen, was
        nische politisch verunterschiedlicht                     Unser Informationsstand ist immer un-            mich geprägt hat, aber diese Auswahl
        werden. Sprachen haben Geschichte und                    vollständig, und die Umstände ändern             ist wichtiger für meine Identität, als was
        mit Sprachen wird Geschichte gemacht.                    sich dauernd. Deshalb ist der Satz von           mir tatsächlich widerfahren ist. Aus der
        Diese Geschichte(n) auch in einem eu-                    Cicero, die Geschichte sei die Lehrmeis-         eigenen, konstruierten und erinnerten
        ropäischen und globalen Kontext em-                      terin des Lebens, genauso abzulehnen             «Geschichte» kann man, wenn man sie
        pirisch nachzuvollziehen, ist ein zent-                  wie der Spruch Hegels, die einzige Lehre         kritisch betrachtet, sehr gut lernen (das
        rales Erkenntnisinteresse der slavisti-                  der Geschichte bestehe darin, dass wir           gilt auch auf der überindividuellen
        schen Sprachwissenschaft.                                überhaupt nichts lernen würden. Die              Ebene). Nur muss man sie als Konstrukt
        Barbara Sonnenhauser ist Professorin für Slavische       Wahrheit liegt wie so oft irgendwo da-           erkennen und darf sie nicht mit der
        Sprachwissenschaft.                                      zwischen.                                        Geschichte als Inbegriff dessen, was
                                                                 Tobias Straumann ist Professor für               geschehen ist, verwechseln.
                                                                 Wirtschaftsgeschichte.                           Konrad Schmid ist Professor für alttestamentliche
                                                                                                                  Wissenschaft und frühjüdische
                                                                                                                  Religionsgeschichte.

8   UZH magazin 1/ 23
WAS WIR GLAUBEN Mythen, Fakten, Religionen 26 - UZH magazin
ERFUNDEN AN DER UZH

Online-Diagnose für
psychische Beschwerden
Etwa ein Drittel der Erwachsenen leiden an   Analyse der psychischen Gesundheit. Die
psychischen Störungen. Doch viele lassen     Diagnose besteht aus zwei Schritten: einem
sich nicht behandeln, etwa weil es lange     Fragebogen und einem Auswertungsge­
Wartezeiten bei den Therapeuten gibt oder    spräch mit einer Therapeutin oder einem
die Hemmschwelle aus anderen Gründen         Therapeuten. Alles für 179 Franken. «Inner­
hoch ist. Das 2017 von Damian Läge, UZH-     halb von einer Woche liegt die Diagnose
Titularprofessor für Angewandte Kogni-       mit konkreten Handlungsempfehlungen
tionspsychologie, und Andrin Schaerli        vor», sagt Henrich. Die individuelle Dia­
gegründete Start-up Klenico hat sich zum     gnose ist das neuste Produkt der Firma, die
Ziel gesetzt, Menschen mit psychischen       ihr Diagnosetool anfänglich vor allem
Beschwerden «schnell zu helfen», erklärt     Therapeuten und Kliniken angeboten hat.
Klenico-CEO Laura Henrich. Unter dem         Text: Thomas Gull; Bild: Frank Brüderli; www.klenico.com
Label «GetHelpNow» bietet Klenico eine

                                                                                       UZH magazin 1/2 3   9
WAS WIR GLAUBEN Mythen, Fakten, Religionen 26 - UZH magazin
Müssen gegen das Böse kämpfen: Harry Potter und Hermine Granger (Filmstill aus :
10   UZH magazin 1/ 23   Harry Potter and the Deathly Hallows, Part 1, 2010)
M ED I EN - U N D K U L TU RW IS S ENS C H AFT

Weltschmerz in
Krisenzeiten
Identitätssuche und Gefühlschaos von Jugendlichen sind der Stoff von
Coming-of-Age-Geschichten. Heute spielen sich diese vor dem Hintergrund
von Klimawandel, Krieg und Energiekrise ab. Dabei leiden die Jugendlichen
an der Welt, retten können oder wollen sie sie aber meist nicht.

                                                              UZH magazin 1/2 3   11
«Genderfragen, Rassismus oder Klassenunterschiede
                   lassen sich in Teenagergeschichten ausgezeichnet
                                      verhandeln.»
                                                                         Christine Lötscher, Medien- und Kulturwissenschaftlerin

                  Text: Ümit Yoker                                          Später hätten auch Freundschaftsfilme wie «The
                                                                            Goonies» oder «Stand by Me» grossen Einfluss

                 A
                           blösung von den Eltern und Ausgeschlos-          ausgeübt, sagt die ehemalige Literaturkritikerin
                           sensein, innige Freundschaft, erwachende         Christine Lötscher. «Die Motive dieser Filme findet
                           Sexualität und unerwiderte Liebe sind schon      man in Serien wie ‹Stranger Things› wieder.»
                  lange zentrale Themen in Erzählungen über das                   Heute stellt sich in Teenagerstorys jedoch
                  Erwachsenwerden. «Seit einiger Zeit entwickeln            immer öfter die Frage: «Lohnt es sich überhaupt
                  sich Coming-of-Age-Geschichten jedoch von einem           noch, erwachsen zu werden?» In aktuellen Coming-
                  primär entwicklungspsychologischen zu einem               of-Age-Erzählungen werde angesichts des Gefühls
                  gesellschaftskritischen und politischen Genre»,           allgegenwärtiger Krisen der Zweck des Erwach-
                  stellt Medien- und Kulturwissenschaftlerin Chris-         senwerdens in Frage gestellt, erklärt Christine
                  tine Lötscher fest. Das Gefühlschaos der Heran-           Lötscher: «Wir wissen als westliche Konsumge-
                  wachsenden spielt sich heute vor dem Hintergrund          sellschaft ja selbst gerade kaum, wo es hinsoll. Uns
                  von Klimawandel, Krieg und Energiekrise ab. Das           ist zwar klar, dass wir den Gletscherschwund stop-
                  persönliche Leiden hängt immer irgendwie mit              pen und die Artenvielfalt schützen sollten – aber
                  den grossen globalen Krisen zusammen. «Der ju-            darüber hinaus?»
                  gendliche Weltschmerz ist so auch Antwort auf die               Es erstaunt Lötscher nicht, dass die grossen
                  Lage der Welt», sagt Lötscher. Die Professorin für        Krisen ausgerechnet in die Geschichten über das
                  Populäre Literaturen und Medien untersucht, wie           Erwachsenwerden einfliessen. Solche Geschichten
                  in Literatur, Film oder Fernsehen gesellschaftliche       sind der Ort, wo auch schwere Themen auf unter-
                  Diskurse und Konflikte ausgehandelt werden.               haltsame und witzige Weise verhandelt werden
                                                                            können. Die Wissenschaftlerin konzentriert sich
                  Lohnt es sich, erwachsen zu werden?
                                                                            in ihrem aktuellen Forschungsprojekt darauf, wie
                  Einst drehten sich Geschichten über Jugendliche           sich dieser Paradigmenwechsel in Bildsprache und
                  vor allem um die Frage, wie aus einem jungen Men-         Erzählform niederschlägt. Bewusst wählt sie dabei
                  schen der «fertige» Erwachsene wird. Klassisches          den Begriff Coming-of-Age-Erzählung und nicht
                  Beispiel des so genannten Bildungs- oder Entwick-         Adoleszenz- oder Entwicklungsroman, weil es sich
                  lungsromans ist «Wilhelm Meisters Lehrjahre»              längst um ein Genre handelt, das verschiedene
                  von Johann Wolfgang von Goethe. Der eigentliche           Medien nutzt.
                  Übergang zum Erwachsenwerden und damit der
                                                                            Paradigmenwechsel durch Buffy
                  Jugendliche selbst (seltener: die Jugendliche) wird
                  dagegen erst ab dem 20. Jahrhundert literarisch           Den Wandel zum gesellschaftskritischen und po-
                  thematisiert. Niemand dürfte das Genre mehr               litischen Genre angestossen haben schon Mitte
                  geprägt haben als J. D. Salinger mit seinem 1951          der Neunzigerjahre die amerikanische Fernseh-
                  erschienenen Roman «Der Fänger im Roggen».                serie «Buffy, die Vampirjägerin» und deren Spin-off
                                                                                                                                   Bil der: K eystone , PD

12   UZH magazin 1/ 23
«Angel». Ein herziges blondes Mädchen, das nicht                mental sich damals das Verständnis von Jugend
               einfach Teenager sein kann, sondern mit seinen                  verändert hat, indem die Aussicht auf das Gross-
               Freunden gegen dunkle Mächte kämpfen muss,                      werden nicht mehr beflügelt, sondern erdrückt.
               Dämonen als Allegorien für patriarchale Traditio-
                                                                               Die Welt retten? Nein danke!
               nen oder Konformitätsdruck – das mag etwas ge-
               sucht klingen. «Doch zum ersten Mal wurden hier                 Harry Potter und Buffy zum Trotz: Im Gegensatz
               in einer Teenagerserie auch grosse gesellschaftliche            zu Genres wie etwa Dystopien leben Adoleszenz-
               Themen verhandelt», betont Lötscher. Heranwach-                 geschichten viel weniger von Heldinnen und Hel-
               sende mussten sich plötzlich nicht mehr nur am                  den als von ambivalenten und problematischen
               dominanten Vater und der fiesen Klassenkamera-                  Figuren, die auch einmal scheitern. Heute sind
               din abarbeiten, sondern ebenso an gesellschaftlichen            Jugendliche in Serien und Romanen denn auch
               Missständen.                                                    weder allesamt Klimaaktivistinnen noch heftig in
                     In dieselbe Zeit fällt auch eine andere Ge-               der Politik engagiert. Und die globalen Krisen kom-
               schichte, dieses Mal eines Jungen, dem ebenfalls                men meist nicht explizit zur Sprache, sondern die-
               nichts Geringeres aufgebürdet wird, als gegen das               nen meist als Hintergrund. «Katniss Everdeens
               ganz Böse zu kämpfen. Im Grunde sei auch in «Harry              sind eher selten», sagt Lötscher. Der Widerstand
               Potter» ein ganz neuer Blick auf die Jugend angelegt            der jugendlichen Protagonistinnen und Protago-
               worden, ist Lötscher überzeugt – einer, der heute               nisten zeigt sich darum selten darin, dass sie sich
               allgegenwärtig ist, ganz besonders im Zusammen-                 wie besagte Heldin Everdeen aus der Filmreihe
               hang mit dem Klimawandel, «in dem wir der he-                   «Hunger Games» einem modernen Gladiatoren-
               ranwachsenden Generation viel zu viel Verantwor-                kampf aussetzen, um die Bewohnerinnen und
               tung für die Zukunft aufbürden». Lange habe man                 Bewohner eines diktatorisch geführten Staates vor
               sich die enorme Begeisterung der Erwachsenen                    dem Hungertod zu bewahren, sondern darin, dass
               für den Zauberschüler in Hogwarts mit den diver-                sie sich genau der Erwartung verweigern, die Welt
               sen Genres erklärt, die in «Harry Potter» zusam-                zu retten. Für diese Figuren steht die Gegenwart
               menfinden; die Geschichten vereinen Elemente                    im Mittelpunkt. Ein intensives Leben und Fühlen
               aus Märchen und Krimi, aus Geschichtsroman,                     im Jetzt.
               Fantasy und eben auch Teenagerstory. Für die For-                      Wenn es aber politische Themen gibt, die im
               scherin ist jedoch viel entscheidender, wie funda-              Coming-of-Age-Genre tatsächlich zur Sprache

Jugendliche Heldin: die Figur Katniss Everdeen aus der Filmreihe «The Hunger Games».
«AUS LIEBE ZU
 MEINEM KÖRPER»                                               JETZT
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                                  sation der Säuren die Rückfettung der Haut gefördert
                                  EQUI-BASE® kann Cellulite reduzieren und braune Al-
                                  tersflecken zum Verschwinden bringen. Das Hautbild
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Tipps                                                  kommen, sind dies Genderbinarität und sexuelle
                                                       Identität. In fast allen erfolgreichen aktuellen Se-
Geschichten übers                                      rien stehen Figuren im Zentrum, die konventio-
                                                       nelle Geschlechterzuschreibungen in Frage stellen.
Erwachsenwerden                                        «Genderfragen, aber auch Rassismus oder Klas-
                                                       senunterschiede lassen sich in Teenagergeschich-
Drei Empfehlungen von Medien-                          ten ausgezeichnet verhandeln», sagt die Wissen-
                                                       schaftlerin. «In unserer Fantasie sind junge Men-
und Kulturwissenschaftlerin                            schen zwar gefährdete, aber eben auch widerstän-
Christine Lötscher.                                    dige Wesen, die äusserst sensibel auf Ungerech-
                                                       tigkeit reagieren.»
Euphoria (seit 2019, HBO)                              Projektionsfläche für Erwachsene
«Euphoria» folgt einer Gruppe von amerikanischen       Denn wohlgemerkt: Es geht hier immer um ju-
Jugendlichen rund um die siebzehnjährige Rue           gendliche Figuren, die von Erwachsenen geschaf-
Bennet, die nach einem Drogenentzug versucht,          fen wurden, um Projektionsflächen, die letztlich
im Leben wieder Fuss zu fassen. In dieser Serie        unsere eigenen Ängste, Hoffnungen und Wünsche
zeigt sich besonders gut, wie verstrickt junge Men-    in Bezug auf die Zukunft ausdrücken, und nicht
schen in die grossen gesellschaftlichen und politi-    unbedingt die der realen Jugendlichen. Über He-
schen Krisen sind – und wie sie nicht wissen, was      ranwachsende im echten Leben wissen wir nämlich,
diese eigentlich mit ihnen machen. «Euphoria» übt
knallharte Gesellschaftskritik. Trotzdem macht die
Serie auch Spass: Immer wieder kommt es zu ka-
thartischen Momenten, in denen alles in die Luft          «Wir haben heute eine
fliegt und Platz für Neues entsteht.
                                                          enorme Obsession für
We are who we are (seit 2020, HBO)                         das Thema Jugend.»
Im Zentrum dieser Serie steht der vierzehnjährige
                                                              Christine Lötscher, Medien- und Kulturwissenschaftlerin
Fraser, der mit seiner Mutter, Oberst in der ame-
rikanischen Armee, auf eine Militärbasis in Italien
versetzt wird. Während der Suche nach sich selbst
und seiner Genderidentität schliesst er Freundschaft   jenseits dessen, was unter Schlagwörtern wie
mit der gleichaltrigen Caitlin. Das Erwachsenwer-      «Klimajugend» oder «Medienkonsum» abgehandelt
den wird in einer sehr künstlerischen Bildsprache      werden kann, herzlich wenig, sagt Lötscher.
als eine Phase des Schwebens und des Fluiden                  «Wir haben heute eine enorme Obsession für
vermittelt. Dazu gehört auch die Auflösung der         das Thema Jugend», stellt die Medien- und Kul-
Geschlechtergrenzen.                                   turwissenschaftlerin fest. Natürlich sei dies nicht
                                                       unwesentlich dem schlechten Gewissen geschuldet,
                                                       welche Welt wir der nächsten Generation hinter-
Sankt Irgendwas (2020, Tamara Bach)                    lassen. Gleichzeitig aber idealisieren wir gerade
Der Film blickt in kollektiver Erzählperspektive       die Jugend derzeit mehr als jedes andere Lebens-
auf die Klassenfahrt der 10b zurück, wo etwas rich-    alter. Es sei uns nicht gelungen, Gesellschaften zu
tig schiefgegangen ist, aber erst mit der Zeit klar    schaffen, in die unsere Jugendlichen gerne hinein-
wird, was eigentlich. Die wechselnden Perspektiven     wachsen möchten, deshalb würden wir diese Le-
in diesem Buch – alle Schülerinnen und Schüler         bensphase derart verklären, sagt Lötscher. «Fragt
müssen in einem Protokoll über die gemeinsame          man Erwachsene allerdings, ob sie selbst gerne
Klassenfahrt berichten – zeigen, wie wichtig das       wieder sechzehn wären, ist die Antwort meist ein-
Gefühl der Zusammengehörigkeit für die Jugend-         deutig: bitte nicht!»
lichen ist. Gleichzeitig kommt darin auch das Stre-    KONTAKT:
ben nach Individualität zum Ausdruck, die Frage:       Prof. Christine Lötscher, christine.loetscher@uzh.ch
Wer bin ich eigentlich in dieser Gruppe?

                                                                                                                UZH magazin 1/2 3   15
KR E B SF O R S C HU NG

        Krebs gezielt
        bekämpfen
        Im Tumor-Profiler-Projekt werden Tumoren in noch nie
        dagewesener Detailtreue analysiert. Das ist ein wichtiger
        Schritt hin zu einer personalisierten Krebstherapie.
        Und es gibt bereits erste Erfolge: In einer Studie konnte bei
        rund einem Drittel der Patientinnen und Patienten mit
        Hautkrebs der Tumor zum Schrumpfen gebracht werden.

                                                                                  Visualisiertes Krebsgewebe in 3D: Mit einer einzigartigen Methode

                  Text: Marita Fuchs                                    rapie zeigen keinen Erfolg. Sein Arzt weiss keinen
                  Bilder: Marc Latzel, Ursula Meisser                   Rat mehr, für Heinrich B. gibt es keine weiteren
                                                                        Therapieoptionen. Im Medizinerjargon gilt er als

                 H
                           einrich B. ist schwer krank. Seine Diagno-   «austherapiert».
                           se: schwarzer Hautkrebs. Der 41-jährige            Der schwarze Hautkrebs, auch Melanom ge-
                           Buchhalter hat bereits multiple Ableger in   nannt, ist die bösartigste Form aller Hautkrebser-
                  der Haut, als 2017 nach einer Computertomografie      krankungen und die fünfthäufigste Krebsart in
                  Metastasen in der Lunge festgestellt werden. Dank     der Schweiz. Pro Jahr erkranken daran etwa 3000
                  einer Immuntherapie mit Antikörpern kann er           Menschen, Männer und Frauen sind gleich betrof-
                  Hoffnung schöpfen. Doch dann kommt der Rück-          fen. Auch Sabine M. hatte ein metastasierendes
                  fall mit neuen Metastasen. Der aktive Radfahrer       Melanom. Lange bleibt es bei der 62-jährigen Leh-
                  leidet sehr unter seiner körperlichen Schwäche.       rerin unentdeckt, so kann der Krebs in tiefere
                  Eine erneute Chemotherapie und eine Immunthe-         Hautschichten hineinwachsen, sich über Blut- und

16   UZH magazin 1/ 23
zum Beispiel Haut-, Brust- oder Darmkrebs. «Mitt-
                                                                               lerweile weiss man, dass es sich nicht nur um eine
                                                                               veraltete, sondern auch um eine nicht ganz richti-
                                                                               ge Sicht der Dinge handelt», sagt Andreas Wicki,
                                                                               UZH-Professor für Onkologie, Leitender Arzt und
                                                                               stellvertretender Direktor der Klinik für Medizini-
                                                                               sche Onkologie und Hämatologie am Universitäts-
                                                                               spital Zürich. So können Tumoren, die in verschie-
                                                                               denen Organen entstehen, biologisch ähnlicher
                                                                               sein als Tumorarten aus dem gleichen Organ. Ge-
                                                                               genwärtig sind etwa 200 verschiedene Krebser-
                                                                               krankungen bekannt. In den vergangenen Jahren
                                                                               gelang es, für viele von ihnen Erbgutveränderungen
                                                                               zu identifizieren, die spezifisch für Tumoren sind.
                                                                               Selbst innerhalb eines Patienten kann es zu Unter-
                                                                               schieden kommen. «Metastasen unterscheiden sich
                                                                               dann genetisch vom Primärtumor», erklärt Wicki.
                                                                                     Molekular betrachtet ist jede Krebserkrankung
                                                                               also einmalig und durch die Kombination ihrer
                                                                               Mutationen charakterisiert. Wenn diese Unter-
                                                                               schiede bei der Behandlung berücksichtigt werden,
                                                                               können Therapien ausgeschlossen werden, die nur
                                                                               Nebenwirkungen und keinen medizinischen Nut-
                                                                               zen haben. Umgekehrt sinkt das Risiko, dass eine
                                                                               vielversprechende Therapie nicht eingesetzt wird.
                                                                               Individuell zugeschnittene Therapien
                                                                               Für Sabine M. und Heinrich B. eröffnete sich eine
                                                                               neue Chance, als sie vor drei Jahren von einer Stu-
                                                                               die des «Tumor Profiler»-Projekts erfuhren. Das
                                                                               Team des Tumor-Profilers analysiere den Krebs
                                                                               jedes einzelnen Patienten bis auf Zell- und Mole-
                                                                               külebene, so lautete das Versprechen. Dank diesen
                                                                               Analysen sollten aussichtsreiche Therapievorschlä-
                                                                               ge innerhalb kurzer Zeit zu den behandelnden
                                                                               Ärztinnen und Ärzten gelangen. Das könnte auch
                                                                               für austherapierte Patientinnen und Patienten wie
                                                                               Sabine M. und Heinrich B neue Therapiemöglich-
                                                                               keiten eröffnen. Beide Krebskranken entscheiden
lassen sich die an einem Tumor beteiligten Zellen differenziert analysieren.   sich, an der Studie unter der Leitung von Andreas
                                                                               Wicki teilzunehmen, die mit 240 Patientinnen und
                   Lymphbahnen im Körper ausbreiten und Ableger                Patienten startet. 95 von ihnen leiden an metas-
                   bilden. In solchen Fällen ist eine Behandlung schwie-       tasierendem schwarzem Hautkrebs, andere an
                   rig. Die Krankheit setzt ihr so zu, dass die enga-          metastasierendem Eierstockkrebs oder an akuter
                   gierte Deutschlehrerin ihre Klasse nicht mehr bis           myeloischer Leukämie.
                   zur Matura betreuen kann. Zu ihrer Freundin sagte                 Den Teilnehmenden der Studie wie Heinrich
                   sie: «Ich bin voll ausmetastasiert.» Den Begriff hat        B. und Sabine M. werden bei einer Biopsie Proben
                   sie sich ausgedacht, er zeigt ihre Verzweiflung.            entnommen. Die empfindlichen Zellen müssen
                                                                               danach in kürzester Zeit auf sieben am Projekt
                   Jeder Krebs ist anders
                                                                               beteiligte Laboratorien verteilt werden (siehe Kas-
                   Heinrich B. und Sabine M. haben beide die Dia-              ten). Über hundert Forschende haben dann etwa
                   gnose Hautkrebs. Doch jeder Krebs ist anders.               zwei Wochen Zeit, die Biopsieproben auszuwerten.
                   Klassischerweise wurden Krebserkrankungen                   Logistisch ist das eine grosse Herausforderung.
                   immer nach ihrem Ursprungsorgan benannt, also               Denn jedes der beteiligten sieben Fachlabore fo-

                                                                                                                              UZH magazin 1/2 3   17
«Einem Drittel der Krebskranken konnten wir
                          mit der Tumor-Profiler-Analyse helfen. Ihre
                                   Tumoren schrumpften.»
                                                                                       Andreas Wicki, Onkologe

           Big Data in der Onkologie

           Das Tumor-
           Profiler-Projekt                                          kussiert sich auf eine spezielle Methode. Untersucht
                                                                     werden unter anderem DNA, RNA und die Pro-
           Im «Tumor Profiler»-Projekt bündeln etwa hundert          teine der Krebszellen und die Zellen des Immun-
           Klinikerinnen, Kliniker und Forschende der Univer-        systems. «Neu und revolutionär an unserem Ansatz
           sität Zürich, des Universitätsspitals Basel und der ETH   sind die Kombination der Analyseverfahren sowie
           Zürich in sieben Speziallaboratorien ihre Kräfte, um      die Pipeline der Datenverarbeitung», sagt Wicki.
           neue Wege in der Krebsforschung und -behandlung                 So gelangen Proben von Heinrich B. und Sa-
           einzuschlagen. Forschende des Universitätsspitals         bine M. ins Labor von Lucas Pelkmans, Professor
           Zürich unterstützen das Projekt. Mit sich ergänzenden     für Molekularbiologie an der UZH. Er führt In-vi-
           wissenschaftlichen Verfahren analysieren die betei-       tro-Medikamententests durch. In der Schweiz gibt
           ligten Forschenden Proben von Krebskranken und            es etwa 180 von Swissmedic zugelassene Krebs-
           geben die Ergebnisse direkt an die behandelnden           medikamente, rund 60 davon werden regelmässig
           Ärztinnen und Ärzte weiter. Darüber hinaus arbeiten       bei Krebsbehandlungen eingesetzt. Die Forschen-
           sie daran, Mechanismen von Krebserkrankungen              den arbeiten mit bekannten Medikamenten oder
           besser zu verstehen. «Sie etablieren innovative Tech-     mit einem neuen Medikamentenmix und testen
           nologien und entwickeln neuartige Therapieansätze         ex vivo, wie die Tumorzellen der Krebskranken auf
           auf der Grundlage datenbasierter Medizin», sagt Be-       sie reagieren. Es geht darum, zu verstehen, welche
           atrice Beck Schimmer, Professorin für Anästhesiolo-       Prozesse in der Zelle von welchen Medikamenten
           gie an der UZH und Direktorin Universitäre Medizin        beeinflusst werden und ob bestimmte Medika-
           Zürich (UMZH), die das Projekt finanziell unterstützt.    mente, die zuvor für die jeweilige Krebsart nicht
                  Neu und wirklich experimentell ist beim Tumor-     eingesetzt wurden, bei der jeweiligen Probe wirken.
           Profiler-Projekt, dass quasi jede Zelle und auch ihre     So entstehen neue Behandlungsmöglichkeiten. Ein
           Umgebung analysiert werden, dadurch werden Daten          Ergebnis ist, dass es in bestimmten Fällen besser
           gewonnen, die einerseits den Krebskranken direkt          sein kann, Medikamente einzusetzen, die für an-
           helfen können, andererseits entstehen durch die rie-      dere Krebsarten zugelassen sind, als mit der Stan-
           sigen Datenmengen grosse Datenpools, die Hinweise         dardtherapie zu arbeiten.
           auf die vielen genetischen und molekularen Typen
                                                                     Den Tumor verstehen
           von Krebs geben. «Beim Profiling der Tumoren erge-
           ben sich 43 000 einzelne Datenpunkte», erklärt der        In einem weiteren Labor analysiert UZH-Professor
           Onkologe Andreas Wicki, «Dank der Daten wird es           Bernd Bodenmiller mit seinem Team die Gewebe-
           möglich sein, aus dem molekularen Profil eines Krebs-     schnitte von Heinrich B. und Sabine M. «Wir haben
           patienten eine perfekt passende Therapie abzuleiten.»     eine einzigartige Methode entwickelt, mit der wir
           Das zumindest ist das Fernziel von Big Data in der        Dutzende von Biomarkern gleichzeitig im Gewebe
           Onkologie. Das Tumor-Profiler-Projekt bietet auf den      visualisieren können», sagt Bodenmiller, Direktor
           Patienten zugeschnittene Präzisionsmedizin an, gleich-    des Instituts für Quantitative Biomedizin an der
           zeitig fördert es die datengetriebene Medizin. «Dies      UZH und Professor im Departement Biologie der
           alles hat eine unglaubliche Wirkung für unsere Pati-      ETH Zürich. «Wir schauen uns die Immunzellen
           entinnen und Patienten, aber auch für die gesamte         und die Tumorzellen an und sehen, wie sie räum-
           Gesellschaft», bilanziert Beck Schimmer.                  lich agieren und potenziell kommunizieren.» Dank
                                                                     der Biomarker erhalten die Forschenden ein Bild
           www.umzh.uzh.ch/projekt/tumorprofilercenter               vom Zustand des Tumors. «Wir erkennen die Kom-

18   UZH magazin 1/ 23
«Neu und revolutionär an unserem Ansatz ist die Kombination von mehreren Analyseverfahren»: Onkologe Andreas Wicki.

              ponenten eines Tumors und wie diese zusammen-                 therapie, die sich aus der Analyse der Laboratorien
              spielen. Dies ermöglicht uns, dessen Funktion mit             ergeben hat. Im Laufe der nächsten Monate
              Medikamenten zielgerichtet zu stören.»                        schrumpft sein Tumor. Wie auch bei Sabine M. Sie
                    Am Ende der Kette stehen der «Leonhard                  erhält eine neue Immuntherapie in Kombination
              Med Secure Scientific Platform Service» sowie die             mit einem Kinasehemmer. Das sind Arzneimittel,
              «Nexus Personalized Health Technologies» der ETH              die spezifische Enzyme binden und ihre Funktion
              Zürich. Hier werden die Daten der sieben Labora-              hemmen.
              torien zusammengetragen und mit Hilfe von Da-                        Für einen Teil der Patientinnen und Patienten
              tenexpertinnen und -experten und Algorithmen                  der Studie mit Melanom konnten die Forschenden
              analysiert. Die Datenwissenschaftler der ETH be-              eine überraschend positive Bilanz ziehen: «Einem
              reiten die Daten für das interdisziplinäre Tumor-             Drittel der so genannt austherapierten Krebskran-
              board auf. Danach entscheiden die behandelnden                ken konnten wir mit einem individuell abgestimm-
              Onkologinnen und Onkologen zusammen mit den                   ten Medikamentenmix mit der Tumor-Profiler-Ana-
              Betroffenen über die neue Therapie. «Wir haben                lyse helfen. Ihre Tumoren schrumpften», resümiert
              einen Prozess entwickelt, der die Krebsmedizin                Andreas Wicki. «Bei über der Hälfte der Teilneh-
              weiterbringt und den Patientinnen und Patienten               menden konnte das Tumorwachstum zumindest
              dient», bilanziert Mitch Levesque, UZH-Professor              stabilisiert werden.» Eine Erfolgsgeschichte – Hein-
              für Experimentelle Hautkrebsforschung, einer der              rich B. und Sabine M. jedenfalls sind glücklich.
              an der Studie beteiligten Forschenden.                        Heinrich B. kann wieder ausdauernd Rad fahren
                                                                            und Sabine W. unterrichtet wieder an ihrer Schu-
              Gute Nachrichten
                                                                            le, allerdings mit reduziertem Pensum.
              Die Arbeit des Tumor-Profiler-Teams hilft auch                KONTAKT:
              Heinrich B. und Sabine M. Einige Wochen nach                  Prof. Andreas Wicki, andreas.wicki@uzh.ch
              der Biopsie erhält Heinrich B. eine neue Immun-

                                                                                                                            UZH magazin 1/2 3   19
KLIMA KR IS E

        Auf der Flucht vor
        dem Klimawandel
        Weltweit verlieren Menschen aufgrund klimatischer Extrem­
        ereignisse ihre Lebensgrundlage und müssen diese andernorts
        neu aufbauen. Welche Gebiete besonders bedroht sind und wie
        Menschen erfolgreich umgesiedelt werden könnten, analysiert
        das interdisziplinäre Forschungsprojekt RE­TRANS.

                  Text: Patrizia Widmer

                 D
                          ürren, Stürme, Hochwasser, Meeresspie-
                          gelanstieg und Waldbrände: Die Folgen
                          des Klimawandels sind bereits heute deut-
                  lich spür- und messbar und bedrohen die Lebens-
                  grundlagen von Menschen weltweit. Laut dem
                  Weltklimarat flüchten seit 2008 jährlich etwa 20 Mil-
                  lionen Menschen vor Dürren, tropischen Stürmen,
                  Starkregen und Fluten. Doch das ist erst der Anfang.
                  Geografie-Professor Christian Huggel erwartet,
                  dass die Zahl der Klimaflüchtlinge in den nächsten
                  Jahrzehnten weiter ansteigen wird.
                        Vorauszusagen, wie viele genau betroffen
                  sein werden, ist schwierig. Die Prognosen reichen
                  von 30 bis zu 140 Millionen Menschen, die bis 2050
                  in Zentral- und Südamerika, in Subsahara-Afrika
                  und in Südasien auf Grund klimatischer Verände-
                  rungen mit temporären oder permanenten Um-
                  siedlungen konfrontiert sein könnten. «Es kommen
                  riesige Herausforderungen auf uns zu – national
                  und international», sagt Christian Huggel.
                  Chaotische Umsiedlungen                                 Flüchten vor Überschwemmungen: Menschen in Jaffarabad, einer Region im
                  Heute verlassen Menschen meist aus wirtschaft-
                  lichen, politischen, sozialen und kulturellen Grün-     aus vom Klimawandel bedrohten Gebieten umzu-
                  den ihre Heimat. Der Klimawandel wird diesen            siedeln und ihnen eine neue Zukunftsperspektive
                  Migrationsdruck weiter verstärken. Christian Hug-       zu bieten. «Bisher verliefen solche Umsiedlungen
                  gel erwartet, dass er künftig immer häufiger über-      meist chaotisch und unkontrolliert», sagt Huggel.
                  haupt der Grund für Migration sein wird. Damit                 Weshalb das so ist, will der Geograf heraus-
                  sind auch die Regierungen der betroffenen Länder        finden. Deshalb hat er an der UZH das grossange-
                  gefordert. Etwa wenn es darum geht, Menschen            legte interdisziplinäre Forschungsprojekt RE-TRANS

20   UZH magazin 1/ 23
Südosten Pakistans.

                                  lanciert. Ziel ist es, bisherige Umsiedlungen aus       Umsiedlungen zu erleichtern und nachhaltiger zu
                                  historischer, technischer, finanzieller, rechtlicher,   gestalten.
                                  aber auch aus politologischer und natur- und so-              Um sich einen Überblick zu verschaffen, ent-
                                  zialwissenschaftlicher Perspektive zu analysieren       wickeln die Forschenden zurzeit eine globale Ri-
                                  und daraus Lehren für die Zukunft zu ziehen.            sikokarte zu klimabedingten Umsiedlungen. Sie
                                  Schlussendlich will das Forschungsteam einen            soll eine Übersicht über die vom Klimawandel
Bil d: Fida Hu ssai n, Keystone

                                  Leitfaden für die Praxis erarbeiten, um künftige        besonders bedrohten Gebiete geben, in denen die

                                                                                                                                        UZH magazin 1/2 3   21
Grenze der Bewohnbarkeit künftig erreicht und          Ökosysteme und Menschen gegenseitig beein-
   Umsiedlungen unausweichlich werden könnten.            flussen. Und sie analysiert, welche Umsiedlungs-
   Konkret werden die Forscherinnen und Forscher          möglichkeiten aus sozialer und ökologischer Sicht
   bedrohte Gebiete im Bengal-Delta (Meeresspie-          bestehen und wie sich Umsiedlungen auf Biodi-
   gelanstieg, Fluten und Dürren), in Zentralkolum-       versität und Ökosystemprozesse auswirken würden.
   bien (Waldrodungen und Hitze), aber auch in der               Die Hitze in vielen Gebieten Indiens belastet
   peruanischen Altiplano-Region und den Schweizer        nicht nur die Menschen stark, sondern auch die
   Bergen (Gletscherschmelze) untersuchen.                Natur. Die Böden trocknen aus, die Vegetation stirbt
         Was Huggel in seiner bisherigen Forschung        ab und das Klima wird sich ohne den kühlenden
   bereits festgestellt hat: Menschen tendieren stark     Effekt der Pflanzen noch weiter erwärmen. Das
   dazu, sich dem Klimawandel anzupassen und etwa         Land steht vor grossen Dürren, die die Nahrungs-
   zerstörte Infrastrukturen wiederaufzubauen – vo-       mittelproduktion einschränken werden. Gleich-
   rausgesetzt, sie können es sich leisten. «Häufig ist   zeitig drohen in bestimmten Regionen Überschwem-
   es auch so, dass nicht alle gleichzeitig wegziehen»,   mungen. Auch die Elektrizität dürfte knapp werden,
   sagt der Forscher. Ob es sich lohnt, zu bleiben oder   wenn das Wasser für Kraftwerke fehlt. All diese
   die Heimat zu verlassen, ist oftmals der individu-     Entwicklungen könnten zahlreiche Menschen zur
   ellen Risikobeurteilung überlassen. Beeinflusst        Flucht veranlassen. Maria J. Santos erwartet in
   wird der Entscheid auch von der Frage, ob es an-       Indien drei klimabedingte Migrationsströme: aus
   dernorts interessante Perspektiven gibt oder nicht.    den ländlichen von Dürren und Überschwemmun-
   «Die meisten bedrohten Menschen gehen freiwil-         gen geplagten Gebieten, aus den Megastädten, die
   lig, wenn ihnen die Regierung eine gute Alterna-       zu Hitzeinseln werden, und aus den Delta-Gebie-
   tive bietet», ist Huggel überzeugt.                    ten, die im Meer versinken werden.
                                                                 Gefährlich wird es aber auch in anderen Re-
   Hitze, Brände, Stürme
                                                          gionen der Welt – etwa wegen Wald- und Busch-
   Indien gehört zu den Ländern, die jetzt schon be-      bränden. «Vor drei Jahren gab es beispielsweise in
   sonders stark unter den Folgen des Klimawandels        Südeuropa, Kalifornien und Australien bereits
   leiden. Bereits heute werden auf dem indischen         heftige Buschbrände. Ganze Ortschaften wurden
   Subkontinent Temperaturen von bis zu 50 °C ge-         zerstört», erzählt Huggel. Dies stellte die Bevölke-
   messen. «Die Temperaturen werden vermutlich            rung vor die Frage, ob es sich überhaupt noch lohnt,
   noch weiter steigen», sagt Maria J. Santos, Profes-    zerstörte Infrastrukturen wiederaufzubauen, oder
   sorin für Erdsystemwissenschaften an der UZH,          ob sie besser wegziehen sollten.
   die zum Team des RE-TRANS-Projekts gehört.                    Steigen die Temperaturen, schmilzt das Eis
   Santos erforscht unter anderem in Indien, wie sich     an den Polen und Küstenregionen versinken im
                                                          Meer. Neben kleinen Inseln, die ganz untergehen
                                                          werden, sind vom Meeresspiegelanstieg auch viele
UZH Foundation                                            Grossstädte betroffen, wie etwa New York. «Dort
                                                          wird schon jetzt viel getan, um die Menschen und
Der Klimakrise                                            die Infrastruktur vor dem Meeresspiegelanstieg
                                                          zu schützen», sagt Huggel.
die Stirn bieten                                                 Gefahren durch den Klimawandel kombi-
                                                          nieren sich häufig. Das zeige sich am Beispiel Flo-
Die Bedrohungen durch klimatische Veränderun-             ridas, betont der Geograf. Im amerikanischen
gen sind Realität geworden und kennen keine               Bundesstaat steigt nicht nur der Meeresspiegel an,
(Landes-)Grenzen. Um dem entgegenzuwirken,                sondern tropische Stürme gelangen gleichzeitig
gilt es nun, die richtigen Weichen zu stellen. Füh-       weiter ins Landesinnere und verursachen dort grosse
rende Experten der Universität Zürich erarbeiten          Schäden. Hochwasser und Stürme, deren Intensi-
im Rahmen der Forschungsinitiative RE-TRANS               tät und Frequenz durch den Klimawandel zuneh-
Massnahmen, um die Migration zu steuern und               men werden, sind eine weitere grosse Gefahr, die
zu bewältigen, die durch die Klimakrise ausgelöst         zur Klimamigration beitragen wird.
wird. Die UZH Foundation engagiert sich für die
                                                          Die Ärmsten trifft es am härtesten
Finanzierung des Forschungsprojekts und wirbt
dafür Unterstützungsgelder ein.                           Was trotz der unzureichenden Datenlage zur Klima-
KONTAKT:                                                  migration bereits jetzt klar ist: Die Ärmsten wird
Sabine Schweidler, sabine.schweidler@uzhfoundation.ch     es am meisten treffen. Um zu migrieren, fehlen
www.uzhfoundation.ch/relocation
«Die meisten bedrohten Menschen gehen
       freiwillig, wenn ihnen die Regierung eine gute
                     Alternative bietet.»
                                                                                 Christian Huggel, Geograf

vielen vom Klimawandel betroffenen Menschen            zu finden, wird auch angesichts der grossen Be-
allerdings die finanziellen Mittel. In Indien bei-     völkerungsdichte für viele Menschen nicht einfach
spielsweise existiert wie auch an vielen anderen       werden. «Umsiedlungen sind deshalb aus zahlrei-
Orten der Welt grosser Reichtum neben riesiger         chen Gründen ein sehr schwieriges Thema», re-
Armut. Trotz des Wirtschaftsbooms lebten 2022          sümiert Maria J. Santos.
laut der Vereinten Nationen immer noch etwa                  Ob und wie sie – in Indien und in anderen
16 Prozent der Bevölkerung in Armut. Zudem ist         Ländern mit ähnlichen Herausforderungen – ge-
die indische Gesellschaft sehr hierarchisch. Es gibt   lingen könnten, auf diese Fragen wollen die For-
eine grosse Vielfalt an Ethnien und die Landnutzung    schenden von RE-TRANS in den nächsten fünf
ist von sehr unterschiedlichen Traditionen geprägt –   Jahren Antworten finden.
aus sozialen und kulturellen Gründen haben des-        KONTAKT:
halb einige Gruppen gar nicht die Möglichkeit zu       Prof. Christian Huggel, christian.huggel@geo.uzh.ch
migrieren.                                             Prof. Maria J. Santos, maria.j.santos@geo.uzh.ch

      Indien ist momentan mit einer Population
von über 1,4 Milliarden das zweitbevölkerungs-
reichste Land der Welt. Platz für eine neue Heimat
                                                             Bild: Chuttersnap; Gestaltung: supersonix

                                                                   CAS Wissenschaftsjournalismus

                                                                   Komplexe Zusammenhänge
                                                                   attraktiv vermitteln

                                                                   www.maz.ch/wissenschaftsjournalismus

                                                                   MAZ – Die Schweizer Journalistenschule, Murbacherstrasse 3, Luzern, www.maz.ch
schen und Mäusen getestet worden und es ist frei
                  B IO M EDI Z I N                                      verfügbar. Bevor es beim Menschen eingesetzt
                                                                        werden kann, braucht es noch weitere präklinische
                  Effizientere                                          Studien.

                  Genschere                                             S OZIOL OG IE

                  Forschende der Universität Zürich haben ein neues
                  Tool entwickelt, um die Wirksamkeit der Ge-
                                                                        Männerberufe,
                  nom-Editierung zu verbessern. Die Genom-Edi-
                  tierung bietet neue Möglichkeiten, genetische
                                                                        Frauenberufe
                  Krankheiten zu behandeln. So wird etwa die weit
                  verbreitete CRISPR/Cas9-Genschere genutzt, um
                  das Erbmaterial in Zellen zu verändern.
                        Die Prime-Editing-Technologie ist eine Wei-
                  terentwicklung dieser Methode. Im Gegensatz zur
                  herkömmlichen Genschere, die einen Bruch in
                  beiden Strängen des DNA-Moleküls erzeugt, wird
                  beim Prime Editing die DNA nur an einem Ein-
                  zelstrang geschnitten und repariert. Die sogenann-
                  te Prime Editing Guide RNA (pegRNA) steuert
                  punktgenau die Zielstelle im Genom an und stellt
                  die neuen genetischen Informationen bereit. Für
                  eine erfolgreiche Anwendung ist es allerdings wich-   Apothekerinnen: Wenn ein Beruf vermehrt von Frauen
                  tig, dass unbeabsichtigte Nebeneffekte wie Fehler     gewählt wird, verlassen ihn die Männer.
                  bei der DNA-Korrektur oder die Veränderung der
                  DNA an anderen Stellen minimiert werden. Mit          Auf dem Arbeitsmarkt gibt es noch immer eine
                                                                        starke Geschlechtertrennung, obwohl sich die be-
                                                                        rufliche Stellung der Geschlechter in den letzten
                                                                        fünfzig Jahren angeglichen hat. So sind zum Beispiel
                                                                        viele Pflegeberufe weiblich dominiert, während
                                                                        viele Handwerksberufe vor allem von Männern
                                                                        ausgeübt werden. Andere Berufe wie zum Beispiel
                                                                        Lehrer oder Apotheker ändern ihre Geschlechter-
                                                                        zusammensetzung mit der Zeit, obwohl sich der
                                                                        Beruf kaum verändert. Auch innerhalb von Beru-
                                                                        fen gibt es geschlechtsspezifische Spezialisierungen,
                                                                        die sich schwer erklären lassen: So arbeiten in der
     Ein Algorithmus verbessert die Wirksamkeit der Genom-Editierung.
                                                                        Radiologie eher Männer und in der Dermatologie
                                                                        eher Frauen.
                  Prime Editing kommt es zu wesentlich weniger                In der Genderforschung gibt es daher die
                  unbeabsichtigten Änderungen als bei der herkömm-      Theorie, dass Männer Berufe verlassen, in denen
                  lichen CRISPR/Cas9-Genschere. Momentan müs-           der Frauenanteil steigt. Per Block, Professor für
                  sen Forschende allerdings noch viel Zeit aufwenden,   Soziologie an der UZH, hat diese Theorie mithilfe
                  um die pegRNA für ein bestimmtes Ziel im Genom        neuer Methoden aus der Netzwerkforschung und
                  zu optimieren.                                        Daten aus Grossbritannien empirisch überprüft.
                        Nun haben Gerald Schwank, Professor am          Seine Studie zeigt deutlich, dass Männer Berufe
                  Institut für Pharmakologie und Toxikologie der        verlassen, in die Frauen wechseln. Die Studie ver-
                  UZH, und Michael Krauthammer, Professor am            gleicht zwei hypothetische Berufe mit identischen
                  Institut für Quantitative Biomedizin der UZH, eine    Merkmalen. Sie unterscheiden sich einzig darin,
                  Methode entwickelt, die auf künstlicher Intelligenz   dass im einen 25 Prozent und im anderen 75 Prozent
                  basiert, mit der vorhergesagt werden kann, wie        Frauen arbeiten. «Wie die Analyse zeigt, verlassen
                  effizient die pegRNAs ist. «Der Algorithmus kann      Männer mit doppelter Wahrscheinlichkeit den sich
                  die effizienteste pegRNA ermitteln, um eine be-       feminisierenden Beruf», sagt Per Block.
                  stimmte Mutation zu korrigieren», erklärt Michael     Ausführliche Berichte und weitere Themen:
                  Krauthammer. So können Fehler verringert werden.      www.media.uzh.ch
                  Das Tool ist bereits erfolgreich in Zellen von Men-
                                                                                                                                Bi lder: iStock

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