Debatte um das Betreuungsgeld: Falsche Anreize für eine moderne Familienpolitik?

 
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Debatte um das Betreuungsgeld: Falsche Anreize für eine moderne Familienpolitik?
Debatte um das Betreuungsgeld: Falsche Anreize für eine
 moderne Familienpolitik?
                                                                                                     Zur Diskussion gestellt                  7

Das 2013 eingeführte Betreuungsgeld wurde im April 2015 vom Bundesverfassungsgericht auf
seine Rechtmäßigkeit überprüft. Ein Urteil wird im Sommer 2015 erwartet. Für die Kritiker wider-
spricht die Regelung einer modernen Familienpolitik, und sie halten sie unvereinbar mit der Gleich-
stellung der Geschlechter. Die Befürworter dagegen sehen im Betreuungsgeld eine Anerkennung
und Unterstützung der Erziehungsleistung der Eltern. Setzt das Betreuungsgeld falsche Anreize
für die Familienpolitik?

Das Betreuungsgeld –                           rung und mussten ihr Leistungsspektrum
ein Rückfall in veraltete                      spürbar einschränken. In ganz Deutsch-
                                               land, so kann man vereinfachend sagen,
Traditionen der
                                               gilt seitdem der Vorrang der Wohlfahrts-
Familienpolitik                                politik – der 1945 eingeleiteten Tradition
                                               folgend – eindeutig der Familie, während
Nach dem Zweiten Weltkrieg nahm die            den öffentlichen Bildungs- und Sozialein-
Bundesrepublik Deutschland die Tradition       richtungen eine eher ergänzende und
der Wohlfahrts- und damit der Familien-        ausgleichende Rolle zugesprochen wird.
politik der Weimarer Republik und des
Kaiserreiches wieder auf und orientierte       Das Ergebnis: Kinder sind im wahrsten
sich am Vorrang der Familienförderung als      Sinn des Wortes »auf Gedeih und Ver-
Kernelement der sozialen Absicherung           derb« auf ihre Eltern angewiesen. Machen
der Bevölkerung. Zugrunde lag das Sub-                                                                         Klaus Hurrelmann*
                                               die Eltern ihre Sache gut, sind sie in der
sidiaritätsprinzip, wonach es die Familie      Lage, die ihnen »obliegende Pflicht der
als »soziale Keimzelle« der Gesellschaft       Erziehung und Pflege« zu erfüllen, dann
am besten versteht, alle ihre Mitglieder –     profitieren ihre Kinder davon, können eine
darunter natürlich auch die Kinder – zu        starke Persönlichkeit entwickeln und ihre
versorgen und zu fördern. Unter dem Ein-       Leistungsfähigkeit entfalten. Machen die
druck des totalitären Regimes der Natio-       Eltern ihre Sache schlecht, dann hat ihr
nalsozialisten, das dem Staat weitgehen-       Kind einen schweren Start ins Leben.
de Interventionen in das Familienleben         Deshalb ist es auch nicht verwunderlich,
erlaubte, waren die Verfassungsgeber ge-       dass in Deutschland die schulischen Leis-
genüber Eingriffen in das Familienleben        tungen und die Bildungsabschlüsse so
äußerst skeptisch geworden und veran-          stark von der sozialen Herkunft abhängen
kerten im Grundgesetz der Bundesrepu-          wie in kaum einem anderen hochentwi-
blik Deutschland ein monopolartiges Er-        ckelten Land der Welt.
ziehungsrecht der Eltern. In Artikel 6 steht
der bemerkenswerte Satz: »Erziehung
und Pflege der Kinder sind das natürliche      Drei Traditionen der
Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen      Wohlfahrtspolitik
obliegende Pflicht«. Eine solche Festle-
gung dürfte es wohl kaum noch einmal in        Viele andere europäische Länder schrei-
der Welt in einer Verfassung geben. Der        ben dem Staat mit seinen Erziehungs-
Staatseinfluss wurde auf ein Wächteramt        und Bildungseinrichtungen eine verant-
reduziert.                                     wortliche Rolle für jeden Bürger und jede
                                               Bürgerin zu, auch schon für die ganz jun-
Nach der Vereinigung der beiden deut-          gen. Sie relativieren damit absichtlich den
schen Staaten gilt diese Vorgabe auch für      Einfluss der Eltern. Großbritannien, die
die frühere DDR, die bis dahin auf eine        Niederlande und die skandinavischen
ganz andere Tradition der Familienpolitik      Länder, um nur einige Beispiele zu nen-
gesetzt hatte und die Elternhäuser durch       nen, investieren anteilsmäßig mehr in die
ein flächendeckend ausgebautes System          vorschulische Erziehung und Bildung als
von Erziehungs- und Betreuungseinrich-
tungen entlastete. Diese Einrichtungen
                                               * Prof. Dr. Klaus Hurrelmann lehrt in den Bereichen
erlebten seitdem einen empfindlichen             Gesundheits- und Bildungspolitik an der Hertie
Rückgang in ihrer finanziellen Absiche-          School of Governance, Berlin.

                                                                                   ifo Schnelldienst 11/2015 – 68. Jahrgang – 11. Juni 2015
Debatte um das Betreuungsgeld: Falsche Anreize für eine moderne Familienpolitik?
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    in die Unterstützung von Familien. Sie sehen die öffentliche     berale Modell der angelsächsischen Länder legt den wohl-
    Erziehungs- und Bildungspolitik als einen integralen Be-         fahrtspolitischen Akzent auf eine Starthilfe für jeden Bürger
    standteil der Wohlfahrtspolitik an und geben ihr ein entspre-    und jede Bürgerin. Beide Modelle folgen der Philosophie,
    chend hohes Gewicht. Dem liegt eine andere politische Tra-       der Staat habe gute Startbedingungen für die Entfaltung der
    dition zugrunde als in Deutschland.                              Kinder herzustellen, maßgeblich durch eine gute, von der
                                                                     Herkunftsfamilie unabhängige Erziehung und Bildung. Das
    In Europa lassen sich grob vereinfacht drei Traditionen der      deutsche Modell weicht in seiner Tradition hiervon ab und
    Wohlfahrtspolitik unterscheiden, die sich in den letzten         richtet die Aufmerksamkeit des Staates überwiegend darauf,
    30 Jahren zwar deutlich angeglichen haben, aber immer            die Familien zu stärken.
    noch die »Pfadabhängigkeit« von politischen Entscheidun-
    gen bestimmen:
                                                                     Studien zur den Effekten der Familienpolitik
    1. Die skandinavische Tradition ist darauf ausgerichtet,
       gleich stark in die individuelle Bildung der Gesellschafts-   Wie erst vor einem Jahr eine systematische Evaluation der
       mitglieder als auch in deren Absicherung gegen Risiken        Familienpolitik, offiziell vom Familienministerium noch in Zei-
       im Lebensverlauf zu investieren. Diese Tradition will je-     ten von Ministerin von der Leyen in Auftrag gegeben, bestä-
       dem Bürger und jeder Bürgerin ein Potenzial für die Ent-      tigt hat, geben wir im internationalen Vergleich sehr viel Geld
       faltung eigener Möglichkeiten, für den »Statuserwerb«-        für die Familienpolitik aus, nach Schätzung der Evaluatoren
       gewissermaßen, mit auf den Weg geben und gleichzeitig         fast 180 Mrd. Euro im Jahr. Das Kindergeld bildet einen der
       ein hohes Niveau garantierter Lebensqualität, also eine       größten Einzelposten, es wird flankiert von den alternativ
       »Statussicherung«, für alle die gewähren, die bereits ei-     wählbaren Kinderfreibeträgen, vom Kinderzuschlag, vom
       nen Status, vor allem einen beruflichen, haben. Die Fa-       Elterngeld, von Steuererleichterungen bei überdurchschnitt-
       milie soll diese Aufgabe nicht allein und auch nicht vor-     lich hohen Kosten der Kinderbetreuung, Kinderzuschlägen
       rangig erfüllen, weil sie hierdurch überfordert würde.        bei der Riester-Rente, Ausbildungsfreibeträgen, von der Mit-
    2. Die marktorientierte angelsächsische Tradition verfolgt       versicherung der Kinder in der Krankenversicherung, Bei-
       einen stimulierenden Förderansatz und ist von ihrer           tragsreduktionen für Eltern bei der Pflegeversicherung und
       Grundphilosophie her geneigt, intensiv in die Bildung des     vielen anderen Programmen mehr. Sie haben alle das gleiche
       individuellen Gesellschaftsmitglieds zu investieren, damit    Strickmuster: Familien mit Kindern sollen finanzielle Unter-
       es sich dadurch eine starke Position am Arbeitsmarkt          stützung erfahren, um den im Grundgesetzt festgelegten
       aufbauen kann. Der Statuserwerb wird also stark unter-        Auftrag erfüllen zu können.
       stützt, und zwar von der Idee her absichtlich unabhängig
       von der Herkunftsfamilie. Im weiteren Lebenslauf werden       Die Ergebnisse der Evaluation sind ernüchternd. Es gelingt
       den Bürgern hingegen zur Statussicherung nur wenige           kaum, mit den riesigen Transfersummen die erwünschten
       soziale Transferleistungen zugestanden. Der Staat si-         Effekte zu erzielen, die letztlich den Kindern direkt zugute-
       chert ihnen eine gute Ausgangsposition zu, aber den           kommen: ihre materielle Lage zu sichern, ihre körperliche
       weiteren Lebensweg sollen sie im Wettbewerb mit an-           und psychische Wohlfahrt zu stärken und ihre Bildung zu
       deren am Markt selbst gestalten.                              fördern. Die Evaluation bestätigt damit, was die internatio-
    3. Das zentraleuropäische, insbesondere das deutsche             nale Bildungsforschung schon lange zeigt, dass nämlich das
       Modell der Wohlfahrtspolitik spricht der sozialen Siche-      deutsche Modell der Familienpolitik keine wirksame und
       rung die eindeutig größte Bedeutung zu. Diese Sicherung       nachhaltige »Erziehung und Pflege« der Kinder sichert. Trotz
       wird überwiegend über die Familie vorgenommen, indem          der gewaltigen Familiensubventionen haben wir in Deutsch-
       der »Broterwerber«, meist der berufstätige Vater, der         land eine erschreckend hohe Zahl von Familien mit Kindern,
       Empfänger von Versorgungsleistungen für alle Familien-        die in relativer Armut leben, also nicht das materielle Lebens-
       mitglieder ist und die Mutter für Haushalt und Kinderer-      niveau erreichen, das bei uns durchschnittlicher Standard
       ziehung frei gestellt wird. Der öffentlichen Erziehungs-      ist. Die jüngste Studie von UNICEF spricht hier eine erschre-
       und Bildungspolitik kommt in dieser Tradition                 ckend klare Sprache. Durch die Fixierung auf die Förderung
       grundsätzlich eine geringe Rolle zu. Diese subsidiäre         von Familien als Haushalten kann nicht im Geringsten ga-
       Wohlfahrtstradition setzt darauf, dass sich die Familien      rantiert werden, dass die Geldsummen tatsächlich bei den
       selbst am besten versorgen können und auch in erster          Kindern selbst ankommen oder ihnen indirekt zugutekom-
       Linie für die Erziehung und Bildung der Kinder zuständig      men. Das »Kindergeld« zum Beispiel heißt zwar so, aber es
       und verantwortlich sind.                                      ist eigentlich ein Familiengeld, das den Eltern und nicht den
                                                                     Kindern zur Verfügung steht.
    Das skandinavische Modell geht davon aus, der Staat sei
    für die Wohlfahrt jedes einzelnen Bürgers und jeder einzel-      Nun ist es nicht so, dass die Politik in Deutschland auf die-
    nen Bürgerin direkt verantwortlich. Das marktorientierte li-     se ernüchternde Bilanz der bisherigen Tradition der Wohl-

    ifo Schnelldienst 11/2015 – 68. Jahrgang – 11. Juni 2015
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fahrts- und Familienpolitik nicht reagiert hätte. Die Regierung   den Erziehungs- und Bildungsimpulse der Elternhäuser aus-
Schröder, die in ihrer ersten Legislaturperiode noch das Kin-     zugleichen.
dergeld kräftig erhöht hatte, korrigierte später diesen Kurs
und nahm in ihrer Schlussphase entscheidende Weichen-             Die Phase der Erziehung und Bildung der Kinder in den ers-
stellungen vor. Steuervergünstigungen etwa beim Eigen-            ten, besonders formativen Lebensjahren ist durch eine un-
heimbau wurden zurückgenommen, und bis auf den Kin-               angenehme Spannung und eine teilweise verkrampfte Ab-
derzuschlag für Eltern mit niedrigem Einkommen und die            grenzung zwischen Familien und Erziehungs- und Bildungs-
Vorbereitung des Elterngeldes wurden demonstrativ keine           einrichtungen gekennzeichnet. Das ist für die Erziehung und
Geldsummen mehr in die Familienförderung traditionellen           Bildung der Kinder kontraproduktiv. Hilfreich wäre eine enge
Zuschnitts gelenkt. Stattdessen leitete die Regierung erheb-      Kooperation und Partnerschaft. International vergleichende
liche Investitionen in den Ausbau von Kindertagesstätten          Bildungsstudien haben drei strukturelle Merkmale heraus-
und Ganztagsschulen. Das war ein klarer Kurswechsel von           gearbeitet, die den verhängnisvollen Effekt der sozialen Her-
der isolierten Familienpolitik zu einer Kombination von Fa-       kunft auf die Leistungsbilanz der Kinder abschwächen kön-
milien- und Bildungspolitik.                                      nen: 1. ein möglichst hoher Anteil von Kindern in den vor-
                                                                  schulischen Bildungseinrichtungen. 2. ein möglichst langer
                                                                  Aufenthalt der Kinder in diesen Einrichtungen bei intensiver
Rückfall in veraltete Muster                                      Abstimmung der Erziehungsimpulse zwischen Elternhaus
                                                                  und Einrichtung. 3. eine möglichst spät in der Bildungslauf-
Auch die Regierungen unter Angela Merkel haben dieses             bahn einsetzende Aufteilung der Kinder in unterschiedliche
Umsteuern zuerst mitgetragen. In der ersten großen Koali-         Schultypen nach ihrem bis dahin erreichten Leistungsstand.
                                                                  Jedes dieser Merkmale erhöht das Potenzial des Bildungs-
tion wurde der Ausbau der Vorschulerziehung ebenso un-
                                                                  systems, die schulischen Leistungen bei allen Kindern un-
terstützt wie der von Ganztagsschulen, beim »Teilhabe- und
                                                                  abhängig von den Vorgaben des Elternhauses, aber immer
Bildungspaket“« wurden interessante neue Ansätze einer
                                                                  in enge Abstimmung mit dem Elternhaus, zu erhöhen und
gezielten Anreizpolitik zur Förderung der Bildung von Kin-
                                                                  auf diesem Wege auch die Persönlichkeit- und Leistungs-
dern sichtbar. Aber schon während der zweiten Regierung
                                                                  entwicklung der Kinder aus den unteren sozialen Herkunfts-
Merkel, in der Koalition ausgerechnet mit der liberalen FDP,
                                                                  schichten anzuheben.
wurde dieser Kurs aus nicht nachvollziehbaren Gründen auf-
gegeben. Aus rein machtpolitischen Gründen wurde auf
                                                                  Alle drei Aspekte waren im Visier der zweiten Regierung
Drängen des zweiten Koalitionspartners CSU, ohne jeden
                                                                  Schröder und der ersten Regierung Merkel. Das Umsteuern
erkennbaren Widerstand der Bundeskanzlerin, das Betreu-
                                                                  hat aber nur wenige Jahre angehalten. Mit dem Betreuungs-
ungsgeld eingeführt. Damit war es mit dem Umsteuern in
                                                                  geld werden wieder die alten Politikmuster bedient, obwohl
der Familien- und Bildungspolitik vorbei. Die deutsche Wohl-
                                                                  wir doch wissen, dass sie Kindern nicht zugutekommen.
fahrtspolitik war in ihre alte Pfadabhängigkeit zurückgefallen
                                                                  Nicht obwohl, sondern weil wir so viel Geld in die direkte
und leitete fortan wieder mehr Geld in die Familie als in die
                                                                  und indirekte Familienförderung hineinstecken, ist bei uns
Erziehung- und Bildungsinstitutionen.                             die Bildungsungleichheit so groß. Durch Kindergeld, Eltern-
                                                                  geld, durch die Steuerpolitik mit dem sogenannten »Ehe-
Die Auswirkungen werden bald zu spüren sein. Die Einfüh-          gattensplitting« als wichtigster struktureller Komponente
rung des Betreuungsgeldes ist ein Symptom für eine unent-         setzen wir Anreize, mit der wir die Familie von der sozialen
schiedene, ja widersprüchliche und die Eltern verunsichern-       Umwelt abschotten, statt sie mit ihr zu verzahnen.
de staatliche Familien- und Bildungspolitik. Weil die Politik
sich nicht entscheiden kann, ob sie die Kinder über eine
Förderung der Eltern oder eine Förderung der Bildungsins-         Gefragt ist eine kombinierte Familien- und
titutionen unterstützen möchte, schafft sie ambivalente An-       Bildungspolitik
reize sowohl für die Eltern als auch für Bildungsinstitutionen.
Viele Frauen und Männer fallen, sobald sie Mütter und Väter
geworden sind, in die traditionellen Geschlechtsrollen des        Ziel der Wohlfahrts- und Familienpolitik sollte es sein, pro-
konservativen Wohlfahrtsstaatsmodells zurück: Die Frau ist        grammatische und finanzielle Schritte einzuleiten, die unmit-
die Haushälterin und Kindererzieherin, der Mann der Broter-       telbar den Kindern als jungen Staatsbürgern und als Per-
werber der Familie. Viele Kindergärten und Grundschulen           sönlichkeiten mit besonderem Bedarf zugutekommen. Eine
halten sich mit Erziehungs- und Bildungsimpulsen zurück,          solche Politik ist nicht gegen Eltern und nicht gegen Fami-
weil sie nicht sicher sein können, ob das politisch erwünscht     lien gerichtet. Sie stellt die Rolle von Eltern als Dreh- und
ist. Die Folge: Es gelingt dem deutschen Schulsystem, wie         Angelpunkt für die Entwicklung des Nachwuchses nicht in
der internationale Vergleich zeigt, viel weniger als den meis-    Frage. Aber sie trägt der Tatsache Rechnung, dass Eltern
ten vergleichbaren Ländern, die immer ungleicher werden-          Laienerzieher sind und ihre natürlichen Grenzen haben,

                                                                             ifo Schnelldienst 11/2015 – 68. Jahrgang – 11. Juni 2015
10    Zur Diskussion gestellt

     wenn es um die Betreuung und Erziehung ihrer Kinder geht           die 150 Euro pro Monat, die zur Diskussion stehen, viel Geld,
     – weil sie berufstätig sein wollen oder müssen, ihre Bezie-        und sie werden alles tun, um an dieses Geld zu gelangen.
     hung in die Brüche geht, sie eigene Ansprüche an ein erfüll-       Was sie tun sollen ist, ihr Kind nicht in eine öffentliche Bil-
     tes Leben stellen und in vielen Belangen nicht kompetent           dungseinrichtung zu geben.
     bei der schwierig gewordenen Erziehung sind.
                                                                        Das ist eine Verkehrung der Grundidee von Förderanreizen.
     Hier setzt moderne Kinderpolitik an. Sie ist gezielte Förder-      Mit der Einführung des Betreuungsgeldes fällt Deutschland
     politik für Kinder und eben nicht nur Finanzausgleich für den      in das alte, überwunden geglaubte Muster der Familienpo-
     Elternhaushalt mit Kindern. Kinder- und Familienpolitik ge-        litik zurück. Es folgt der Logik, die Familienfixiertheit der Er-
     hören auf das Engste zusammen, ebenso wie Bildungs- und            ziehung und Bildung zu bestärken, wo wir es doch so drin-
     Familienpolitik. Wir brauchen die materielle Basisabsiche-         gend nötig haben, sie zu lockern. Das Betreuungsgeld ist
     rung des Elternhaushaltes und zugleich die vorschulische           insofern ein schwerer Rückschritt auf dem Wege, Familien-
     Betreuung und Erziehung in Kinderkrippen und Kinderta-             politik und Kinderpolitik auf die heutigen veränderten Le-
     gesstätten und die Angebote von Kindergärten und Grund-            bensbedingungen zuzuschneiden. Das Betreuungsgeld
     schulen auch am Nachmittag, weil sie die Förderimpulse der         passt in die traditionellen Muster des konservativen Wohl-
     Eltern ergänzen. Je besser die öffentliche mit der privaten        fahrtsstaates, die in Deutschland ganz offensichtlich immer
     Erziehung abgestimmt ist, desto mehr profitieren die Kinder.       noch sehr stark sind. Die vielen Millionen Euro, die Jahr für
     Und es gibt nun einmal auch Kinder, die in ihren Familien          Jahr für das Betreuungsgeld ausgegeben werden sollen,
     nicht die Anregungen und Unterstützungen bekommen, die             wären dringend nötig, um die öffentlichen Bildungs- und
     sie für ihre körperliche, psychische, sprachliche, emotiona-       Betreuungsinstitutionen um die Familie herum endlich auf
     le und intellektuelle Entwicklung unbedingt benötigen. Für         ein Niveau zu bringen, wie es im internationalen Maßstab
                                                                        üblich ist.
     sie sind die öffentlichen Einrichtungen überlebenswichtig.
     Ohne sie fallen sie zurück und sind nicht in der Lage, den
     Anforderungen des gesellschaftlichen Lebens gerecht zu
     werden.

     Gegen mehr Geld für Familien ist nichts zu sagen, aber es
     muss klug eingesetzt werden. International werden sehr gu-
     te Erfahrungen mit dem Modell des Conditional Cash Trans-
     fer gemacht, bei dem finanzielle Zuwendungen an bestimm-
     te Bedingungen geknüpft sind, die auf ein klar definiertes
     Ziel ausgerichtet sind. Beim »Teilhabe- und Bildungspaket«
     sind wir dicht an dieses Prinzip herangegangen. Zunächst
     wurde klar der Adressatenkreis definiert, der von diesen fi-
     nanziellen Transfermitteln profitieren soll: Eltern, die bereits
     Unterstützung nach dem Hartz-IV-Gesetz bekommen. Dann
     wurden die Bedingungen festgelegt: Eltern bekommen dann
     Geld, wenn sie für ihre Kinder zum Beispiel Nachhilfe oder
     die Mitgliedschaft in einem Sportverein organisieren oder es
     zum Schulmittagessen anmelden. Das sind begrüßenswer-
     te Schritte in Richtung eines an Bedingungen geknüpften
     finanziellen Zuwendungssystems.

     Die Zahlung von Mitteln an Eltern unter der Bedingung, dass
     sie ihre Kinder nicht in eine öffentliche Bildungseinrichtung
     geben, sondern zu Hause betreuen, führt diesen Ansatz in
     die Irre. Damit wird die Idee, finanzielle Anreize für bestimm-
     te Betreuungshandlungen zu gewähren, die einem Kind zu-
     gutekommen, auf den Kopf gestellt. Das in Aussicht gestell-
     te Betreuungsgeld soll das Kind an die Eltern binden und
     von den Impulsen der Erziehungs- und Bildungseinrichtun-
     gen abhalten. Damit schafft es Fehlanreize: Ohne dass das
     Betreuungsgeld an den Adressatenkreis der wirtschaftlich
     benachteiligten Eltern gebunden wäre, ist es doch genau
     für diese Eltern von unmittelbarem Interesse. Für sie sind

     ifo Schnelldienst 11/2015 – 68. Jahrgang – 11. Juni 2015
Zur Diskussion gestellt                  11

                                                                                 ments, während die »offizielle« Diskussion hängengeblie-
                                                                                 ben ist in einer unterkomplexen Gegenüberstellung der
                                                                                 »Hausfrauenehe« versus dem Modell, bei dem beide
                                                                                 gleich­berechtigt einer (vollzeitigen) Erwerbsarbeit nachge-
                                                                                 hen. Dass die klassische »Hausfrauenehe« ein Auslaufmo-
                                                                                 dell geworden ist, wird sicher keinen überraschen und er-
                                                                                 klärt zugleich, warum die Bedarfe nach teilzeitiger Kinder-
                                                                                 betreuung außerhalb der Familie ansteigen. Man sollte sich
                                                                                 aber davor hüten zu glauben, dass das spiegelbildlich be-
                                                                                 deutet, dass das gleichberechtigte, egalitär ausgerichtete
                                                                                 Partnerschaftsmodell an Bedeutung gewonnen hat. Das
                                                                                 wird erkennbar, wenn man – wie das Heike Wirth und An-
Stefan Sell*                                                                     gelika Tölke getan haben – die Entwicklung der Erwerbs-
                                                                                 konstellationen von Eltern über einen längeren Zeitraum
Das Betreuungsgeld als Instrument                                                untersucht (vgl. Wirth und Tölke 2013). Und das dann auch
                                                                                 noch im west- und ostdeutschen Vergleich, was besonders
einer mehrfach fragwürdigen
                                                                                 interessant ist vor dem Hintergrund der erheblich differie-
»Kompensationsökonomie«
                                                                                 renden Familienmodelle zum Zeitpunkt der Wiedervereini-
                                                                                 gung. Ein Befund aus der Studie von Wirth und Tölke sei
Was war das im Jahr 2013 für eine erregte Debatte. Wieder
                                                                                 hier besonders herausgestellt: Nicht nur für Ostdeutsch-
einmal ging es um ganz grundsätzliche Fragen des Seins
                                                                                 land, sondern auch für Westdeutschland – von einem be-
und wie es sein sollte bzw. nicht sein darf. Und das dann
                                                                                 reits niedrigen Niveau Anfang der 1990er Jahre ausgehend
auch noch bezogen auf »die« Familie, ein gerade in
Deutschland normativ und emotional hochgradig aufgela-                           – zeigen die Daten neben dem erwartbaren Rückgang des
denes Terrain mit vielen Fettnäpfchen, von denen man                             traditionellen Erwerbsarrangements aber auch einen Rück-
kaum alle umgehen kann. Entweder so oder anders. »Zu                             gang des egalitären Erwerbsarrangements in den Familien.
Hause« oder »Fremdbetreuung« (eine Wortschöpfung, die                            Für Westdeutschland: Hatten 1991 noch 16% der Paare
genau so antiquiert daherkommt und ist wie das wenig                             mit einem Kind im Vorschulalter ein egalitäres Erwerbsmus-
einladende »Fremdenzimmer« im ländlichen Übernach-                               ter, waren es 2009 nur noch 10%; bei Paaren mit Kindern
tungswesen). Die damals anstehende Scharfstellung des                            im Schulalter geht der Anteil von 22% (1991) auf 15%
Rechtsanspruchs auf einen Kinderbetreuungsplatz ab dem                           (2009) zurück. Noch drastischer sind die Rückgänge in
vollendeten ersten Lebensjahr zum 1. August 2013 und                             Ostdeutschland: Von 61% auf 37% bei Familien mit Kin-
die aufgeregte Diskussion über ein drohendes »Kita-Cha-                          dern im Vorschulalter. Um es auf den Punkt zu bringen:
os« im Sinne einer nicht erreichbaren »Bedarfsdeckung«                           Der Anteil der egalitären Erwerbsarrangements von Eltern
war schon spannungsgeladen genug und wurde dann                                  in Ost-, aber auch in Westdeutschland ist in heute geringer
auch noch angereichert durch das ebenfalls vor der Ein-                          als vor 25 Jahren.
führung stehende »Betreuungsgeld«, dem jüngsten
Sprössling in der langen Geschwisterreihe »familienpoliti-                       Was folgt daraus? In der Lebenswirklichkeit der meisten
scher« Leistungen.                                                               Familien geht es um Kombinationen aus familialer und au-
                                                                                 ßerfamilialer Betreuung der Kinder in durchaus unter-
In einem engeren Sinne wurden (und werden) sowohl hin-                           schiedlichen Mischungsverhältnissen. Bekanntlich hat der
sichtlich des Rechtsanspruchs auf einen Betreuungs- (und                         Tag 24 Stunden, und auch wenn man eine Kindertages-
man müsste man korrekterweise anfügen Bildungs- und                              einrichtung oder die Kindertagespflege in Anspruch nimmt,
Erziehungs-)Platz in einer Kindertageseinrichtung oder der                       verbleiben zahlreiche Stunden, in denen man sich selbst-
Kindertagespflege wie auch beim Streit über das »Betreu-                         verständlich um die Kinder kümmern muss. Vor diesem
ungsgeld« typische »Stellvertreterkriege« ausgefochten, bei                      Hintergrund hat es ja auch Sinn, dass man die Kitas aus-
denen es letztendlich um bestimmte Familienmodelle geht.                         baut als eine familienergänzende Infrastruktur, die aber
Aber dieses »Entweder-Oder« hat sich in der Realität der                         niemals eine familienersetzende Funktionalität haben wird,
Familien längst überholt und ist bei genauerem Hinschau-                         wie manche ideologisch motivierte Debattenbeiträge be-
en einem »Sowohl-als-auch« gewichen. Anders ausge-                               haupten.
drückt: In der Lebenswirklichkeit der meisten Familien do-
miniert heute eine »Mosaikstrategie« der Kombination un-                         Aber der Ausbau der Kinderbetreuungsinfratstruktur ist auf
terschiedlicher Erwerbsarbeits- und Betreuungsarrange-
                                                                                 der einen Seite mit erheblichen Kosten verbunden – die
* Prof. Dr. Stefan Sell lehrt Volkswirtschaftslehre, Sozialpolitik und Sozial-
                                                                                 dann auch die öffentliche Debatte dominieren, weil die Ki-
  wissenschaften an der Hochschule Koblenz, Campus Remagen.                      ta-Plätze als eine aus Steuermitteln hoch subventionierte

                                                                                            ifo Schnelldienst 11/2015 – 68. Jahrgang – 11. Juni 2015
12       Zur Diskussion gestellt

     Angelegenheit daherzukommen scheinen.1 Nun muss man                            Zweite Ebene: Die Kompensationsfunktion für die
     an dieser Stelle anmerken, dass die konkrete Finanzierung                      Nicht-Inanspruchnahme einer öffentlich
     der Kindertagesbetreuung keinem einheitlichen System                           finanzierten Leistung?
     folgt, sondern wir haben 16 unterschiedliche Finanzie-
     rungssysteme in durchaus heterogener Ausformung. Was                           Hier sind wir konfrontiert mit einem ordnungspolitischen (und
     man aber grob sagen kann: 60 und mehr Prozent der lau-                         logischen) Bermuda-Dreieck. Es handelt sich um eine Leis-
     fenden Kosten – die vor allem Personalausgaben sind –                          tung, die dadurch charakterisiert ist, dass sie nur dann in
     fallen auf der Ebene der Kommunen an, gefolgt von den                          Anspruch genommen werden kann, wenn eine andere öf-
     Bundesländern. Der Bund war lange Zeit gar nicht beteiligt,                    fentliche Leistung nicht in Anspruch genommen wird, denn
     seit einigen Jahren ist er über eine anteilige Finanzierung                    das Betreuungsgeld bekommen ja nur die Eltern, die ihr Kind
     vor allem der Ausbaukosten im Bereich der Plätze für unter                     nicht in eine Kita oder in die öffentlich finanzierte Tagespfle-
     dreijährige Kinder eingebunden. Das ist für die folgenden                      ge schicken. Das ist schon aus einer grundsätzlichen Per-
     Ausführungen zu den »kompensationsökonomischen« As-                            spektive mehr als fragwürdig. Denkt man diesen Ansatz
     pekten des Betreuungsgeldes hoch relevant, wie wir gleich                      konsequent zu Ende, dann könnte man durchaus argumen-
     sehen werden. Wichtig ist die Hervorhebung des Tatbe-                          tieren, dass das auch in anderen Bereichen Anwendung
     standes, dass wir es hinsichtlich der öffentlich geförderten                   finden müsste – und da würde sich ein ganzes Universum
     Kindertagesbetreuung mit einer extrem verzerrten Kos-                          an möglichen Fallkonstellationen auftun. Wie wäre es mit
     ten-Nutzen-Verteilung zu tun haben, denn die monetär be-                       den erheblichen staatlichen Subventionen, die in den Be-
     stimmbaren Nutzeneffekte fallen vor allem auf der Ebene                        reich der Opern fließen? Nun gibt es viele Menschen, die
     des Bundes und der Sozialversicherungen an, die aber nur                       aus welchen Gründen auch immer niemals in ihrem Leben
     unzureichend bzw. gar nicht an der Regelfinanzierung der                       einen Fuß in eine derart hoch subventionierte Oper setzen
     Angebote beteiligt sind.2
                                                                                    werden. Insofern könnte man nun über die Kompensation
                                                                                    derjenigen nachdenken, die die Dienstleistung Oper nicht in
                                                                                    Anspruch nehmen wollen und werden. Wo soll das enden?
     Erste Ebene: Die (partei)politische
     Kompensationsfunktion des Betreuungsgeldes?
                                                                                    Wenn man allerdings etwas genauer nachdenkt und die Fi-
                                                                                    nanzierungsgegebenheiten berücksichtigt, dann wird durch-
     Das Betreuungsgeld kann und muss verstanden werden
                                                                                    aus eine gewisse Kompensationslogik erkennbar – vor allem
     als Ergebnis eines Aushandlungsprozesses in der politi-
                                                                                    für die Ebene der Bundesländer und auch der Kommunen.
     schen Arena. Es handelt sich um ein Tauschgeschäft: Auf
                                                                                    Denn das Betreuungsgeld beschränkt ja die ansonsten hö-
     der einen Seite der Ausbau der Betreuungsplätze für un-
                                                                                    here Inanspruchnahme der öffentlich geförderten Kinderta-
     ter Dreijährige inklusive Rechtsanspruch auf einen sol-
                                                                                    gesbetreuung, die mit erheblichen Aufwendungen verbun-
     chen Platz. Auf der anderen Seite reklamierte vor allem
                                                                                    den ist, ganz überwiegend für die kommunale und die Lan-
     die CSU einen »Ausgleich« für diejenigen, die aus welchen
                                                                                    desebene. Zugleich handelt es sich um eine Leistung, die
     Gründen auch immer die Betreuungsplätze in der Alters-
                                                                                    aus Bundesmitteln finanziert wird. Daraus folgt, dass im Er-
     spanne unter drei Jahren nicht in Anspruch nehmen wol-
     len. Offensichtlich vermutet man hier ein signifikantes                        gebnis ein erst einmal »teurer« Kita-Platz substituiert werden
     Wählerklientel, und im Sinne der politischen Psychologie                       kann über die Ausreichung einer deutlich niedrigeren Geld-
     sollte diese Gruppe »honoriert« werden mit einer neuen                         leistung, die zudem noch von einer anderen föderalen Ebe-
     Geldleistung. Der hier angedeutete Mechanismus ist dem                         ne finanziert wird. Insofern handelt es sich um eine »attrak-
     politischen Geschäft ja nicht fremd, ganz im Gegenteil.                        tive«, weil kostengünstige Monetarisierung des individuellen
     Man nehme beispielsweise die »Rente mit 63« und die                            Rechtsanspruchs, dessen Einlösung ansonsten ganz ande-
     »Mütterrente« als Ergebnisse eines parteipolitischen                           re Finanzströme mobilisieren würde.
     Tauschhandels.

                                                                                    Dritte Ebene: Eine Kompensationsleistung zur
     1
         In der Debatte werden immer wieder ausschließlich die Bruttokosten aus-    Herstellung von »Wahlfreiheit« sowie eine
         gewiesen – beispielsweise mit der Aussage, dass ein Krippenplatz um
         die 1 000 Euro pro Monat kosten würde. Zielführender wäre eine
                                                                                    Anerkennungsleistung für die Erziehungsleistung
         Betrachtung der Nettokosten, also abzüglich der Rückflüsse an die          innerhalb der Familie?
         öffentliche Hand und weitergehend eine Bilanzierung der fiskalischen
         Kosten-Nutzen-Relationen, denn gerade die Kitas – das zeigt sich derzeit
         beim Streik in den kommunalen Kitas – induzieren erhebliche Multiplika-    Die Apologeten des Betreuungsgeldes begründen die Le-
         toreffekte bei Steuern und Sozialversicherungsbeiträgen durch ihre         gitimation des Betreuungsgeldes, dass mit dieser Leistung
         Ermöglichungsfunktion von Erwerbstätigkeit bei den Eltern, vor allem den
         Müttern.                                                                   »Wahlfreiheit« hergestellt wird und gleichzeitig eine staatliche
     2
         Weiterführend dazu und mit einem konkreten Lösungsvorschlag, wie           Anerkennung der Erziehungsleistung innerhalb der Familie
         eine zweckgebundene anteilige Mitfinanzierung des Bundes (und der
         Sozialversicherungen) an den Betriebskosten der Kindertageseinrichtun-
                                                                                    erfolgen würde. Wenn man sich diese Argumentation einmal
         gen (und der Tagespflege) aussehen könnte: Sell (2014).                    genauer anschaut, dann ergeben sich doch einige notwen-

     ifo Schnelldienst 11/2015 – 68. Jahrgang – 11. Juni 2015
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dige kritische Anfragen: Diese beziehen sich nicht nur auf        noriert werden soll, auch dadurch fragwürdig, weil zwar kei-
die mehr als diskussionswürdige Höhe der Anerkennungs-            ne öffentlich finanzierte Kita oder Tagespflege in Anspruch
leistung (150 Euro pro Monat), die dem einen oder der an-         genommen werden darf, daraus aber nicht folgt, dass immer
deren nicht zu Unrecht als ein für den Staat im Vergleich zu      und in jedem Fall die betroffenen Eltern, also im Regelfall die
den ansonsten fälligen Ausgaben für die Kinderbetreuungs-         Mütter, die Leistung auch tatsächlich übernehmen. Denn
infrastruktur recht billiges »Abspeisen« der Betroffenen vor-     das Betreuungsgeld kann selbstverständlich auch in den
kommen mag.                                                       Fallkonstellationen bezogen werden, in denen beide Eltern-
                                                                  teile Vollzeit arbeiten und ein Au-pair-Mädchen aus Osteu-
Suggeriert wird unter dem positiv besetzten Begriff der           ropa einstellen, das dann in der Familie die Betreuungsauf-
Wahlfreiheit eine Entscheidungssituation Kita versus zu           gaben übernimmt. Die betroffenen Familien werden sich
Hause. Aber eine solche Situation existiert zum einen für         über die anteilige Mitfinanzierung dieser Person seitens des
die meisten Familien gar nicht, denn die stundenweise In-         Staates sicher freuen.
anspruchnahme einer Kita (und damit der Verzicht auf die
150 Euro) setzt voraus, dass man das auch realisiert be-
kommt. Auch wenn darüber nicht mehr in der Breite be-             Fazit
richtet wird – für viele Eltern stellt sich immer noch eher das
Problem, dass das Angebot an Plätzen knapp oder nicht             Die neue Geldleistung »Betreuungsgeld« ist in mehrfacher
vorhanden ist. Und auch wenn man Kita-Plätze in Anspruch          Hinsicht ein fragwürdiges Unterfangen. Auch (und gerade)
nehmen kann, wird häufig vergessen, dass damit je nach            wenn es derzeit »nur« 150 Euro pro Monat sind – denkt man
Bundesland und lokaler Gegebenheit teilweise erhebliche           den Ansatz konsequent weiter, dann rutscht man zwangs-
Kosten verbunden sind in Form von Elternbeiträgen und             läufig in die Fahrrinne einer Monetarisierung von Familien-
sonstigen Leistungen. Das kann für manche Familien meh-           leistungen, an deren Ende eine Art »Elterngehalt« stehen
rere hundert Euro im Monat bedeuten.                              müsste. Wir müssen derzeit aufgrund der Ausgestaltung als
                                                                  einkommensunabhängige Leistung (außer es handelt sich
Richtig abstrus wird es, wenn man ein wichtiges Argument          um Grundsicherungsempfänger) von erheblichen Mitnah-
der Befürworter des Betreuungsgeldes genauer unter die            meeffekten ausgehen. Das Volumen der notwendigen Aus-
Lupe nimmt: Die neue Geldleistung als eine Anerkennung            gaben wird nach Erreichen aller potenziell in Frage kommen-
der Betreuungs- und Erziehungsleistungen innerhalb der            den »Betreuungsgeldkinder« (das wird im Juli 2015 der Fall
Familien, wenn man keine außerfamilialen, öffentlich geför-       sein) im Lichte der derzeit erkennbaren Inanspruchnahme
derten Angebote nutzt.                                            bis auf 2 Mrd. Euro ansteigen. Geld, das man wesentlich
                                                                  sinnvoller einsetzen könnte.
Wenn man das Argument ernst nimmt, dass die elterliche
Erziehungsleistung innerhalb der Familie mit dieser Geldleis-
tung eine zusätzliche Anerkennung finden soll, dann ist die       Literatur
tatsächlich aber vorgenommene Regelung, dass die Eltern,
                                                                  Sell, St. (2014), Die Finanzierung der Kindertagesbetreuung vom Kopf auf
die sich im Hartz-IV-Bezug befinden, also im SGB-II-Grund-        die Füße stellen. Das Modell eines »KiTa-Fonds« zur Verringerung der
sicherungssystem, von der (eigentlich unbedingten) Zusätz-        erheblichen Unter- und Fehlfinanzierung der Kindertagesbetreuung in
                                                                  Deutschland, Remagener Beiträge zur Kinder- und Jugendhilfe 07-2014,
lichkeit dieser Leistung nichts haben, weil ihnen nämlich das     Remagen.
Betreuungsgeld auf die SGB-II-Leistungen angerechnet wird,
logisch nicht wirklich nachvollziehbar. Erbringen etwa die El-    Wirth, H. und A. Tölke (2013), »Egalitär arbeiten – familienzentriert leben:
                                                                  Kein Widerspruch für ostdeutsche Eltern«, Informationsdienst Soziale Indi-
tern, die sich in Grundsicherungsbezug befinden, keine Er-        katoren (ISI) (49), 7–11.
ziehungsleistung, die doch zusätzlich honoriert werden soll?
Diese Restriktion ist deshalb auch fragwürdig, weil das Be-
treuungsgeld ja gerade keine einkommensabhängige Leis-
tung ist, somit alle Familien, die die formalen Voraussetzungen
erfüllen, einen Anspruch auf diese Leistung haben, also auch
die Familien, die über ein hohes bzw. sehr hohes Einkommen
verfügen. Aber gerade bei denjenigen, die nun über die nied-
rigsten Einkommen verfügen, wird die Leistung gleichsam
gekappt, indem sie verrechnet wird mit einer anderen staat-
lichen Leistung. Das hat keinen logischen Sinn, sondern er-
scheint eher wie eine Bestrafungsaktion der »Hartz-IV-Eltern«,
die tief blicken lässt hinsichtlich des Familienbildes.

Darüber hinaus ist die Argumentation, dass hier die Erzie-
hungsleistung innerhalb der Familie durch die Eltern ho-

                                                                                ifo Schnelldienst 11/2015 – 68. Jahrgang – 11. Juni 2015
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                                                                                     Die theoretischen Anreizwirkungen des Betreuungsgeldes
                                                                                     liegen auf der Hand. Wenn ein staatlicher Transfer unter der
                                                                                     Bedingung gezahlt wird, dass ein Kind privat betreut wird,
                                                                                     erhöhen sich damit indirekt die Fixkosten der Erwerbstätig-
                                                                                     keit mindestens eines, üblicherweise des schlechter verdie-
                                                                                     nenden, Elternteils. Ab einem bestimmten Einkommen spie-
                                                                                     len diese Fixkosten keine Rolle mehr, da die Verdienstmög-
                                                                                     lichkeiten und damit Opportunitätskosten zu hoch sein dürf-
                                                                                     ten, als dass sich ein Verzicht auf Erwerbstätigkeit zuguns-
     Miriam Beblo*                                                                   ten der Betreuung des Kindes zuhause auszahlte (ein
                                                                                     anderes, ohnehin nicht erwerbstätiges Familienmitglied, wie
                                                                                     Großmutter oder Großvater, könnte jedoch hierfür zur Ver-
                                                                                     fügung stehen). Für Gering- oder Nichtverdienende ist das
                                                                                     Betreuungsgeld ebenfalls uninteressant, da es als vorran-
     Das Betreuungsgeld: Weder modern                                                gige Leistung ausgezahlt und auf andere Leistungen wie
     noch nachhaltig                                                                 Arbeitslosengeld II, Sozialhilfe und Kinderzuschlag ange-
                                                                                     rechnet wird. Für Einkommensgruppen im unteren Mittelfeld
     Hintergrund                                                                     dagegen oder Nichterwerbstätige ohne Leistungsbezug
                                                                                     (z.B. solche Ehefrauen, denen in der Bedarfsgemeinschaft
     Unter dem Stichwort der »Wahlfreiheit« wurde im Jahr 2013                       mit ihrem gut verdienenden Ehemann kein Arbeitslosengeld
     parallel zum Ausbau der öffentlichen Kindertageseinrich-                        II zusteht) kann das Betreuungsgeld jedoch eine attraktive
     tungen das Betreuungsgeld eingeführt. Seitdem haben El-                         Nebeneinkunft darstellen und die Wahrscheinlichkeit der
     tern von mindestens einjährigen Kindern entweder den                            Aufgabe einer Erwerbstätigkeit erhöhen bzw. Aufnahme ei-
     Anspruch auf eine öffentlich geförderte Tageseinrichtung
                                                                                     ner Erwerbstätigkeit verringern.
     bzw. öffentlich finanzierte Tagespflegeperson oder aber auf
     ein Betreuungsgeld, wenn sie sich dafür entscheiden, die
                                                                                     Das erklärte Ziel des schon im Jahr 2007 eingeführten El-
     formale frühkindliche Förderung nicht in Anspruch zu neh-
                                                                                     terngeldes und der sukzessive ausgebauten Betreuungsin-
     men. Mit einem Betrag von 100 Euro pro Monat für jedes
                                                                                     frastruktur (der Rechtsanspruch für dreijährige Kinder be-
     privat betreute Kind im zweiten Lebensjahr werden Eltern
                                                                                     steht schon seit 1996) war es ja gerade, insbesondere Müt-
     in diesem Fall ab August 2013 direkt finanziell unterstützt.
                                                                                     tern einen Anreiz für den früheren Wiedereinstieg ins Er-
     Seit August 2014 beträgt das Betreuungsgeld 150 Euro;
                                                                                     werbsleben zu bieten.
     Anspruch haben nun auch Eltern mit Kindern im dritten
     Lebensjahr.
                                                                                     Aus familienökonomischer Sicht verbessert sich durch eine
                                                                                     gleichmäßigere Erwerbseinbindung und Einkommenserzie-
     Laut Website des BMFSFJ (2013) stellt das Betreuungs-
                                                                                     lung beider Elternteile die relative Verhandlungsposition der
     geld »eine neue Anerkennung und Unterstützung für Eltern
                                                                                     Frauen innerhalb der Partnerschaft. Empirische Studien zei-
     mit Kleinkindern dar, die ihre vielfältigen Betreuungs- und
                                                                                     gen, dass familiale Entscheidungen nicht nur vom Einkom-
     Erziehungsaufgaben in der Familie oder im privaten Umfeld
                                                                                     men der Familie insgesamt, sondern maßgeblich auch vom
     erfüllen.« Es schließt die »Lücke im Angebot staatlicher
                                                                                     persönlichen Einkommen abhängen (vgl. Überblick in Beb-
     Förder- und Betreuungsangebote für Kinder bis zum drit-
                                                                                     lo und Boll 2014a). Wenn nun wegen des Betreuungsgeldes
     ten Lebensjahr« und bietet Eltern damit eine »echte Wahl-
                                                                                     v.a. Frauen ihre Erwerbstätigkeit über das typischerweise in
     und Gestaltungsfreiheit bei der Betreuung ihrer Kinder«.
     Wird das Instrument Betreuungsgeld diesen Zielen tat-                           Anspruch genommene erste Elterngeldjahr hinaus unterbre-
     sächlich gerecht? Und wie wirkt sich die Wahl- und Ge-                          chen, statt wieder in den Beruf einzusteigen, bleibt die Er-
     staltungsfreiheit längerfristig auf die Erwerbs- und Ver-                       werbseinbindung und Einkommenserzielung auf längere
     dienstchancen der Mütter und Väter aus – im Sinne einer                         Sicht ungleich zwischen den Elternteilen verteilt. Das Ins­
     nachhaltigen Familienpolitik? Dies diskutiere ich im Fol-                       trument Elterngeld und das noch nicht in Kraft getretene
     genden aus theoretischer und empirischer, v.a. intrafami-                       neue ElterngeldPlus wirken eher auf eine gleichmäßigere
     lialer, Perspektive.                                                            Beteiligung der Partner am Erwerbsleben sowie Verteilung
                                                                                     von Hausarbeit und Kinderbetreuung innerhalb des Paares
                                                                                     hin. Das ökonomische Verhandlungsgefüge zwischen Vater
     * Prof. Dr. Miriam Beblo ist Inhaberin der Professur für Volkswirtschaftsleh-   und Mutter wird damit sozusagen neu sortiert. Das Instru-
       re, insbesondere Arbeitsmarkt, Migration, Gender, am Fachbereich Sozi-
       alökonomie der Fakultät Wirtschafts- und Sozialwissenschaften an der
                                                                                     ment Betreuungsgeld verstärkt dagegen die traditionelle
       Universität Hamburg.                                                          Asymmetrie.

     ifo Schnelldienst 11/2015 – 68. Jahrgang – 11. Juni 2015
Zur Diskussion gestellt                  15

Nun wirken die angesprochenen familienpolitischen Leis-          Auch die Mikrosimulationsstudie von Beninger et al. (2010)
tungen nicht isoliert voneinander, sondern sie sind einge-       bestätigt, dass das Betreuungsgeld wesentlich geringere
bunden in ein ganzes Geflecht von familien-und ehebezo-          Auswirkungen auf hochqualifizierte Frauen mit hohem Ein-
genen Leistungen, welche das Verhalten von Familien              kommen als auf gering qualifizierte Frauen mit geringem
wechselseitig beeinflussen können (vgl. hierzu die Evalua-       Einkommen hätte (sowohl in Bezug auf ihre Inanspruchnah-
tionsergebnisse in Bonin et al. 2014). Und so stehen die         me formaler Kinderbetreuung als auch auf ihre Erwerbsbe-
Instrumente nicht nur jeweils für sich gesehen in einem Ziel-    teiligung), insbesondere solche im zweiten Einkommens-
konflikt zueinander, sondern sie entfalten insbesondere im       quartil. Die Effekte auf Mütter polarisieren somit stark. Die
Zusammenwirken mit anderen ehebezogenen Leistungen               Studie bestätigt außerdem die hochgradig geschlechtsspe-
zusätzliche entgegengesetzte Anreizwirkungen. Hier wäre          zifische Wirkung des Betreuungsgeldes, da es fast aus-
vor allem das Ehegattensplitting zu nennen, das schon für        schließlich von Müttern genutzt würde.
sich genommen die oben angesprochene traditionelle
Asymmetrie innerhalb der Ehe (zwischen Hauptverdiener            Die Mikrosimulationsstudie von Müller und Wrohlich (2014),
und Nebenverdienerin) begünstigt. Während dem Paar in            welche als einzige die Einführung beider Maßnahmen, Rechts-
dem einen Fall (bei Inanspruchnahme des Elterngeldes             anspruch und Betreuungsgeld, gleichzeitig berücksichtigt,
durch beide Elternteile und schnellen Wiedereinstieg in den      zeigt schließlich, dass die Kombination zu einem geringfügigen
Beruf) durch die bewirkte Annäherung der Partnereinkom-          Anstieg sowohl des Anteils an Kindern (ein bis drei Jahre), die
men Steuervorteile aus dem Ehegattensplitting verloren ge-       eine öffentliche Kita besuchen, als auch des Arbeitsangebots
hen, können sie nämlich in dem anderen Fall (bei Inan-           der Mütter dieser Kinder führt. Beim Rechtsanspruch allein
spruchnahme des Betreuungsgeldes durch nur ein Eltern-           (ohne gleichzeitige Einführung des Betreuungsgeldes) wären
teil) wieder generiert werden.                                   entsprechend der Kitabesuch um fast 2% und die durch-
                                                                 schnittlichen Arbeitsstunden um fast 6% gestiegen. Die allei-
                                                                 nige Einführung des Betreuungsgeldes (ohne Anspruch auf
Evidenz                                                          Kita-Platz) hätte den Kitabesuch um 1,5% und die Stunden
                                                                 um fast 3% reduziert. Wegen der Leistungsanrechnung des
Haben sich die theoretisch abgeleiteten Anreizwirkungen des      Betreuungsgeldes ist gemäß dieser Studie interessanterweise
Betreuungsgeldes in der Praxis bewahrheitet? Um diese Fra-       der positive Effekt des Rechtsanspruchs gerade für Mütter mit
ge zu beantworten, benötigen wir idealerweise eine Evalua-       geringer Bildung und niedrigem Einkommen größer.
tionsstudie. Die zeitgleiche Einführung zweier familienpoliti-
scher Maßnahmen für ein und denselben Adressatenkreis            Dies sind, wie gesagt, Schätzergebnisse auf Basis von Ver-
– der Rechtsanspruch auf eine formale Kinderbetreuung und        haltensparametern, die mit Ex-ante-Daten ermittelt und fort-
das Betreuungsgeld bei Nicht-Inanspruchnahme dieser Kin-         geschrieben wurden. Nur so scheint momentan eine Tren-
derbetreuung – erschwert allerdings eine Evaluation ihrer je-    nung der Auswirkungen von den beiden sich gegenseitig
weiligen Wirkmacht erheblich. Die einzigen mir bisher be-        ausschließenden Leistungen, nämlich Infrastruktur- und
kannten empirischen Zugänge, die eine erste empirische           Geldansprüchen, methodisch möglich zu sein. Im Gegensatz
Abschätzung der Verhaltenseffekte erlauben, bieten eine Be-      dazu konnte die Einführung des Elterngeldes im Jahr 2007
fragung unter jungen Eltern zu ihren Wünschen nach einer         vergleichsweise problemlos evaluiert werden: Bisherigen
öffentlichen Kinderbetreuung durch das Deutsche Jugendin-        Analysen zufolge sind Mütter mit dem Elterngeld im ersten
stitut (DJI 2014) sowie die Mikrosimulationsstudien mit struk-   Jahr zwar seltener, dafür aber im zweiten Jahr häufiger er-
turellen Verhaltensmodellen von Beninger et al. (2010) und       werbstätig (vgl. Kluve und Tamm 2013, Wrohlich et al. 2012).
Müller und Wrohlich (2014). Alle drei geben jedoch nur ex        Das neue ElterngeldPlus wird aller Voraussicht nach die Aus-
ante Hinweise, da sie auf Daten basieren, die vor Einführung     zeiten weiter verkürzen und stattdessen Anreize zur Aufnah-
des Betreuungsgeldes erhoben wurden.                             me einer Teilzeittätigkeit von Beginn der Elternzeit an setzen
                                                                 (weil es die finanziellen Einbußen für Teilzeitarbeit vermeidet
Mit Hilfe des DJI-Survey »Aufwachsen in Deutschland: All-        und Anreize für eine gleichzeitige Teilzeit + Elternzeit beider
tagswelten« (AID:A) und der darauf aufsetzenden jährlich         Elternteile gibt) (vgl. Beblo und Boll 2014b). Dadurch werden
wiederholten Elternbefragung im Rahmen der Kinderförde-          die Beschäftigungsfähigkeit von Müttern erhöht und unter-
rungsgesetz-(KiFöG-)Evaluation wurden insbesondere die           brechungsbedingte Lohneinbußen in der längeren Frist min-
schichtspezifische Unterschiede bei den Betreuungswün-           destens verringert.
schen untersucht. Demnach fragen v.a. die oberen Schich-
ten formale Kinderbetreuung für unter Dreijährige nach –         Zusammengefasst scheint sich also auch empirisch – bei
insbesondere wenn die Eltern unverheiratet sind und eine         aller Vorsicht wegen der schwierigen Datenlage – die theo-
hohe Bildung haben (DJI 2014). Deshalb hätte eine alterna-       retische Prognose zu bestätigen, dass den positiven Er-
tive Geldleistung wie das Betreuungsgeld für diese Gruppen       werbsanreizen des Elterngeldes und der Kinderbetreuungs-
vermutlich wenig Bedeutung.                                      infrastruktur die negativen Anreizwirkungen des Betreuungs-

                                                                             ifo Schnelldienst 11/2015 – 68. Jahrgang – 11. Juni 2015
16       Zur Diskussion gestellt

     geldes entgegenstehen. Im Saldo werden damit die quan-                        staltungsfreiräume bei der Erwerbs- und Familienarbeit ge-
     titativ bedeutsamen positiven Erwerbseffekte für Frauen                       ben und v.a. auch eine gleichmäßigere Aufteilung zwischen
     reduziert und die nachhaltige Verbesserung ihrer ökonomi-                     den Geschlechtern stimulieren sollen (Beispiele Elterngeld,
     schen Verhandlungspositionen verhindert.                                      ElterngeldPlus, Kitaplatz), scheint sie die Erreichung dieser
                                                                                   Ziele auf der anderen Seite, durch das zum Teil zeitgleich
                                                                                   eingeführte Betreuungsgeld und die gemeinsame steuerli-
     Relevanz                                                                      che Veranlagung von Ehegatten, wieder zu konterkarieren.

     Allen Erwartungen zum Trotz scheint die Nachfrage nach                        Angesichts der geringen Inanspruchnahme des Betreuungs-
     dem Betreuungsgeld bisher eher gering: Im Jahr der Ein-                       geldes mag man geneigt sein, die Debatten um dieses Ins-
     führung, 2013, habe der Bund dafür nur knapp 16,9 der                         trument als »viel Lärm um nichts« abzutun. Andererseits
     insgesamt 55 Mio. Euro ausgegeben, hieß es vom Bundes-                        scheint die familienpolitische »Strategie«, ein Nebeneinander
     familienministerium.1 Allerdings steigen die Bezüge von Be-                   diametral entgegengesetzt wirkender Politikinstrumente, zu-
     treuungsgeld laut Pressemitteilung des Statistischen Bun-                     mindest in einer Hinsicht in die gleiche Richtung zu weisen.
     desamtes (2014) an. Im zweiten Quartal 2014 beispielswei-                     Sie erzeugt nämlich gleichgerichtete Verteilungseffekte und
     se wurden schon um etwa 50% mehr Leistungsbezüge ge-                          führt längerfristig – neben einer stärkeren Bildungsungleich-
     meldet als im ersten Quartal. Nach der Statistik der Leis-                    heit unter den Kindern – zu einer stärkeren Einkommensun-
     tungsbezüge (vgl. Statistisches Bundesamt 2015) wird das                      gleichheit unter den Eltern (nämlich zwischen den Eltern-
     Betreuungsgeld dabei zu 95% von Müttern bezogen, wobei                        geld- und Kitanutzern und den Betreuungsgeldbeziehern).
     der Anteil an männlichen Beziehern im Ländervergleich bis                     Auf der einen Seite verstetigen diejenigen Instrumente, die
     zu 11% betragen kann. Das Betreuungsgeld ist außerdem                         Müttererwerbsarbeit fördern (Elterngeld, Kitaplatz) v.a. die
     ein eindeutig westdeutsches Instrument: Im früheren Bun-                      Einkommensgewinne der einkommensstärkeren gehobe-
     desgebiet wird nicht nur der Großteil der Anträge gestellt,                   nen Mittelschichtfrauen. Zu den Gewinnerinnen gehören al-
     es wünschen auch 80% und damit doppelt so viele der An-                       so höher qualifizierte, besser verdienende Frauen. Sie ge-
     tragstellerinnen wie in den neuen Ländern den maximal                         winnen nicht nur absolut an Einkommen, sondern sie ver-
     möglichen Bezugszeitraum von 22 Monaten.                                      bessern auch ihre intrafamiliale Position gegenüber ihren
                                                                                   Partnern. Auf der anderen Seite verstärken Instrumente, die
     Die Statistik der Leistungsbezüge gibt auch Hinweise auf                      die Erwerbsarbeit von Müttern hemmen (Betreuungsgeld)
     die weiter oben angesprochene Interaktion mit anderen ehe-                    eine Abkoppelung insbesondere der Einkommensschwä-
     und familienpolitischen Leistungen. Demnach sind verhei-                      cheren vom Arbeitsmarkt. Die Verliererinnen sind demnach
     ratete Elternpaare – wie schon theoretisch vermutet – über-                   die niedriger qualifizierten und geringer verdienenden Frau-
     proportional vertreten unter den Beziehern und dies umso                      en. Diese verlieren langfristig nicht nur an Einkommen, son-
     mehr, je länger die voraussichtliche Bezugsdauer des Be-                      dern auch an Verhandlungsposition und verstetigen somit
     treuungsgeldes ist.                                                           die Abhängigkeit von ihren (Ehe-)Männern.

                                                                                   Wie die Autorinnen Fogli und Veldkamp (2011) zeigen, wird
     Fazit                                                                         der gesellschaftliche Lernprozess darüber, wie Kinder sich
                                                                                   auch (oder gerade) bei Erwerbstätigkeit ihrer Mütter entwi-
     Das Betreuungsgeld soll Eltern im Namen der Wahlfreiheit                      ckeln, vor allem dadurch befördert, dass Frauen das Verhal-
     bei Nichtinanspruchnahme eines Kitaplatzes für die ihnen                      ten anderer Mütter und Kinder in ihrer unmittelbaren Umge-
     entgangenen staatlichen Subventionen kompensieren.                            bung beobachten. Welche Lerneffekte sollen wir nun ange-
     Müssten nach derselben Logik nicht all diejenigen, deren                      sichts der zu erwartenden Polarisierung der Erwerbseinbin-
     Kinder sich nicht für ein Abitur und anschließendes Studium                   dungen und Verdienstmöglichkeiten von hoch- und gering-
     entscheiden, für die entgangene fiskalische Förderung ent-                    qualifizierten Frauen erwarten?
     schädigt werden und stattdessen Geldleistungen erhalten?
     Die Anreiz- und Verteilungseffekte wären vermutlich die glei-
     chen wie beim Betreuungsgeld – wenn auch weniger ge-                          Literatur
     schlechtsspezifisch ausgeprägt.
                                                                                   Beblo, M. und C. Boll (2014a), »Ökonomische Analysen des Paarverhaltens
                                                                                   aus der Lebensverlaufsperspektive und politische Implikationen«, Familien-
     Während die Familienpolitik auf der einen Seite also gesetz-
                                                                                   politische Maßnahmen in Deutschland – Evaluationen und Bewertungen,
     liche Rahmenbedingungen schafft, die den Eltern mehr Ge-                      Vierteljahrshefte zur Wirtschaftsforschung 83(1), 121–144.

     1
         Demgegenüber steht der Befund, dass die Betreuungsquote (in Tages-        Beblo, M. und C. Boll (2014b), »Die neuen Elterngeld-Komponenten: Will
         einrichtungen) für Kinder unter drei Jahren von März 2013 bis März 2014   Money Trump Gender?«, Wirtschaftsdienst (8), 564–569.
         deutschlandweit durchschnittlich um 3 Prozentpunkte gestiegen ist und
         dass die Differenz zwischen geäußertem Betreuungsbedarf und Betreu-       Beninger, D., H. Bonin, J. Hortsschräer und G. Mühler (2010), »Wirkungen
         ungsquote 9,2 Prozentpunkte beträgt (BMFSFJ 2015).                        eines Betreuungsgeldes bei bedarfsgerechtem Ausbau frühkindlicher Kin-

     ifo Schnelldienst 11/2015 – 68. Jahrgang – 11. Juni 2015
Zur Diskussion gestellt                     17

dertagesbetreuung: Eine Mikrosimulationsstudie«, Vierteljahrshefte zur
Wirtschaftsforschung 79(3), 147–168.

BMFSFJ (2013), Website des Ministeriums, Eintrag Betreuungsgeldgesetz,
11. September 2013, verfügbar unter: http://www.bmfsfj.de/BMFSFJ/fami-
lie,did=200354.html, aufgerufen am 2. Juni 2015.

BMFSFJ (2015), Fünfter Bericht zur Evaluation des Kinderförderungsge-
setzes, Kurzfassung. Berlin.

Bonin, H., C.K. Spieß, H. Stichnoth und K. Wrohlich (Hrsg.) (2014), Famili-
enpolitische Maßnahmen in Deutschland – Evaluationen und Bewertun-
gen, Vierteljahrshefte zur Wirtschaftsforschung 83(1).

DJI (2014), Empirische Daten und Analysen zur Wirkung des Betreuungs-
geldes, Stellungnahme des Deutschen Jugendinstituts, Februar.

Fogli, A und L. Veldkamp (2011), »Nature or Nurture? Learning and the Geo-
graphy of Female Labor Force Participation«, Econometrica 79(4), 1103–        Notburga Ott*
1138.

Kluve, J. und N. Tamm (2013), »Parental Leave Regulations, Mothers‘ Labor
Force Attachment and Fathers‘ Childcare Involvement: Evidence from a
Natural Experiment«, Journal of Population Economics 26(3), 983–1005.
                                                                              Zurück in die 1960er: Zankapfel
                                                                              Betreuungsgeld
Müller, K.-U. und K. Wrohlich (2014), »Two Steps Forward - One Step Back?
Evaluating Contradicting Child Care Policies in Germany«, DIW Discussion
Papers 1396.                                                                  Mal wieder wird ein Thema heiß diskutiert und ein ideologi-
Statistisches Bundesamt (2014), »Betreuungsgeld für 224 400 Kinder«,          scher Gegensatz hochstilisiert, den wir endlich überwunden
Pressemitteilung Nr. 294, 20. August.                                         glaubten und der beim Großteil der Bevölkerung längst
Statistisches Bundesamt (2015), Statistik der Leistungsbezüge (Statistik      schon keiner mehr ist: Diejenigen, die Kleinkinder am besten
zum Betreuungsgeld – Leistungsbezüge 4. Vierteljahr 2014), Wiesbaden.         ausschließlich bei der Mutter aufgehoben sehen, sind für
Wrohlich, K., E. Berger, J. Geyer, P. Haan, D. Sengül, C. K. Spieß und A.
                                                                              das Betreuungsgeld, die anderen, die dagegen sind, miss-
Thiemann (2012), Elterngeld Monitor, Endbericht zum Forschungsprojekt         trauen der familiären Erziehung und wollen Mütter am Ar-
im Auftrag des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und
Jugend, DIW, Berlin.
                                                                              beitsmarkt sehen. Dafür wird eine Vielzahl von Argumenten
                                                                              ins Feld geführt, die überwiegend einer nüchternen Betrach-
                                                                              tung nicht standhalten.

                                                                              Das Betreuungsgeld ist im Bundeselterngeld- und Eltern-
                                                                              zeitgesetz (BEEG, §§4a–4d) verankert. Danach erhalten El-
                                                                              tern ab dem 15. bis zum 36. Lebensmonat des Kindes (bis
                                                                              zu) 150 Euro monatlich, wenn sie den Rechtsanspruch auf
                                                                              Förderung in Tageseinrichtungen oder Tagespflege nach §24
                                                                              SGB VIII nicht in Anspruch nehmen.

                                                                              Die Argumente der Politik zur Einführung waren die »Aner-
                                                                              kennung und Unterstützung der Erziehungsleistung von El-
                                                                              tern mit Kleinkindern«, die Verbesserung der »Wahlfreiheit
                                                                              von Vätern und Müttern« und die Schließung der »verblie-
                                                                              bene(n) Lücke im Angebot staatlicher Förder- und Betreu-
                                                                              ungsangebote für Kinder bis zum dritten Lebensjahr« (BT-
                                                                              Drs. 17/9917). Die Opposition bemängelt die Verletzung
                                                                              gleichstellungspolitischer Ziele und die der Chancengleich-
                                                                              heit von Kindern aus benachteiligten Elternhäusern. Von Sei-
                                                                              ten der Wirtschaft werden negative Effekte auf das Arbeits-
                                                                              angebot und die negativen Folgen unterbliebener frühkind-
                                                                              licher Förderung bestimmter Bevölkerungsgruppen betont.
                                                                              Die Familienverbände sind sich uneins in ihrer Prioritätenset-
                                                                              zung für einen weiteren Kita-Ausbau oder Verbesserung der
                                                                              monetären Anerkennung familialer Leistungen, lehnen aber

                                                                              * Prof. Dr. Notburga Ott ist Inhaberin des Lehrstuhls für Sozialpolitik und
                                                                                Institutionenökonomik an der Ruhr-Universität Bochum.

                                                                                           ifo Schnelldienst 11/2015 – 68. Jahrgang – 11. Juni 2015
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