Dem ,Blauen vom Himmel' begegnen - Zum aktuellen Buch des Literaturportals Bayern - Bibliotheksforum Bayern

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Dem ,Blauen vom Himmel‘
b
­ egegnen
Zum aktuellen Buch des Literaturportals Bayern
Dem ,Blauen vom Himmel' begegnen - Zum aktuellen Buch des Literaturportals Bayern - Bibliotheksforum Bayern
Bibliotheksforum Bayern                                                                                       35

         Seit sieben Jahren hat sich das ‚Literaturportal Bay-   Zwischen Feuilleton und Wissenschaft
         ern‘, eine digitale Plattform unter dem Dach der        Obwohl die Texte in ihrer Thematik oft sehr hetero-
         Bayerischen Staatsbibliothek, zur Aufgabe gemacht,      gen und breit gefächert sind, liegt den einzelnen
         das literarische Leben in Bayern in all seinen Facet-   Kapiteln des Buches immer ein bestimmter Gedanke
         ten in Form von Essays, Blog-Einträgen, lexikalischen   zugrunde, der ihnen einen inhaltlichen Rahmen gibt:
         Artikeln, Spaziergängen und Veranstaltungshinwei-
         sen online abzubilden. Mit einem Buch finden nun        • Die ‚Aufbrüche‘ markieren Neuanfänge und
         die Texte ihren Weg aus dem Internet ins Gedruckte:       ­Umbrüche in der Geschichte Bayerns.
         Der mystische ‚Bayerische Hiasl‘, die engagierte
                                                                 • Die ‚Passionen‘ lenken den Blick auf die mensch­
         Frauenrechtlerin Carry Brachvogel, der überraschend
                                                                   lichen Leiden und Verbrechen während der NS-
         vielseitig interessierte Jean Paul und die rappende
                                                                   Zeit, aber auch in der religiösen und fiktionalen
         Nina ,Fiva‘ Sonnenberg sind nur einige Beispiele für
                                                                   Kultur Bayerns.
         die vielen historischen und zeitgenössischen, be-
         kannten und fast vergessenen, realen und fiktiven       • Das Kapitel ‚Dialekt und Region‘ vereint sprach­
         bayerischen Persönlichkeiten, auf die man in den           liche und regionale Aspekte in der bayerischen
         17 Essays in diesem Buch trifft. Texte etwa über          ­Literatur.

                               Aufgeschlagene Seiten­
                                  des Themen-Essays
                        ,Unter weiß-blauem Himmel:
                        Literarische Liebespaare‘ von
                           Michaela Karl, S. 58 und 59

Mit dem vorliegenden Band
finden die Texte schließlich
ihren Weg wieder aus dem
Internet ins Analog-Gedruckte
eines literarischen Magazins.

         Mundartlyrik, Literatur im Konzentrationslager          • ‚Bilder und Bühnen‘ betonen das Künstlerisch-­
         Dachau, gerissene Verbrecher und literarische             Performative in der Populärkultur.
         ­Liebespaare laden zum Schmökern, Staunen und
                                                                 • ‚Krieg und Verbrechen‘ untersucht etwa das Ver-
          Nachdenken ein. Und mit etwas Glück begegnet
                                                                   hältnis von bayerischen Schriftstellerinnen und
          man bei der Lektüre bisweilen dem ‚Blauen vom
                                                                   Schriftstellern zum Weltkriegsjahr 1914 mit ganz
          Himmel‘. Die Texte des Bandes sind eine Auswahl
                                                                   unterschiedlichen Haltungen und schriftlichen
          aus Beiträgen, die ursprünglich im ‚Literaturportal
                                                                   Zeugnissen.
          Bayern‘ erschienen sind.
                                                                 • Und die ‚Grenzgänge‘ schlagen die Brücke zwi-
         www.literaturportal-bayern.de                             schen Spaziergang, Spurensuche und Fiktion
                                                                   ­anhand von bedeutenden Dichtern, literarischen
                                                                    Orten und Gattungen.
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     Mit dem vorliegenden Band finden die Texte                Kritik an der traditionellen Rolle der Frau geübt
     schließlich ihren Weg wieder aus dem Internet ins         (Brachvogel), die Konflikte zwischen Ehepartnern
     Analog-Gedruckte eines literarischen Magazins.            hervorgehoben (Egidy) und den Männermord als
     Dieses zeigt nicht nur die Vielfalt, die im Portal ent-   letzte Konsequenz in der Lösung von Geschlechter-
     standen ist, sondern betont zugleich den feuilleto-       problemen thematisiert (Böhlau).
     nistischen, zeitschriftenhaften Charakter, aber auch
     den wissenschaftlichen Anspruch. Kurze Themen­            Michaela Karl deckt in ihrem Essay ‚Literarischer
     einführungen, Quellnachweise, Bilder und Zitatein-        Widerstand: Europas Dichter im KZ Dachau‘ das
     schübe zwischen den Texten runden den Band ab,            Schreiben von Häftlingen als Waffe gegen die Bar-
     der als Nummer 10 in der Schriftenreihe der Bayeri-       barei des Nationalsozialismus auf: „Ihre Texte kün-
     schen Staatsbibliothek erscheint. Kooperationspart-       den nicht nur von Tod und Schrecken, sondern auch
     ner ist die Monacensia im Hildebrandhaus, das lite-       von der Solidarität und Menschlichkeit unter den
     rarisches Gedächtnis der Stadt München.                   Gefangenen und wurden zur eindringlichen Mah-
                                                               nung wider das Vergessen.“ Einem davon, Edgar
                                                               Kupfer-Koberwitz (1906 – 1991), ist ein ganzes Kapi-

                                                                              „Literatur ist unscharfes
                                                                               Sprechen auf unsicherem
                                                                               Grund, ist sanft fließendes
                                                                               Stottern und taubes Über­
                                                                               hören, ist hinkendes
                                                                               ­Tanzen und stummes
                                                                                Blechtrommeln, ist halb­
                                                                                blindes Hellsehen eines
                                                                                anderen Zustandes.“

                                                               Aufgeschlagene Seiten
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                                                               ,Hochburg der Kleinkunst:
                                                               Literarisches Kabarett‘
                                                               von Thomas Steierer,
                                                               S. 160 und 161

     Vergessenes, Menschliches, Wesentliches                   tel gewidmet. Koberwitz beschrieb in seinen
     Ein besonderes Augenmerk richten die 14 Autorin-          ‚Dachauer Tagebüchern‘ nicht nur den Alltag im
     nen und Autoren, die mit einer Ausnahme allesamt          Konzentrationslager, die Häftlingsgesellschaft und
     aus dem literatur- oder geisteswissenschaftlichen         die Lager-SS, er ist auch später noch als überzeugter
     Umfeld stammen, auf Personen, Motive und The-             Vegetarier und Tierschützer seinen ethischen Prinzi-
     men, die man sonst nicht in einschlägigen Literatur-      pien während der Lagerzeit treu geblieben und rief
     geschichten vorfindet oder deren Bekanntheitsgrad         zu einem humanen Umgang mit Tieren auf.
     nur Spezialisten vorbehalten ist. So fragt Ingvild
     Richardsen in ihrem Essay ‚Modernsein: Die bürger-        Einen in seiner Intention ähnlichen Ansatz verfolgt
     liche Frauenbewegung in München und Bayern und            der Aufsatz ‚Kunst und Inklusion: Behinderung als
     ihre Schriftstellerinnen‘ nach dem neuen Selbstver-       Motiv und Metapher in der bayerischen Literatur‘
     ständnis in der Emanzipationsbewegung um 1900             von Peter Czoik und Laura Velte, indem er sich die
     und hebt dabei Autorinnen wie Carry Brachvogel            metaphorische Stärke der Literatur zunutze macht:
     (1864 – 1942), Emmy von Egidy (1872 – 1946) und           „Literatur ist unscharfes Sprechen auf unsicherem
     ­Helene Böhlau (1859 – 1940) aus dem Vergessen.           Grund, ist sanft fließendes Stottern und taubes
      Mit ihren Romanen haben diese Schriftstellerinnen        Überhören, ist hinkendes Tanzen und stummes
Bibliotheksforum Bayern                                                                                                  37

         Blechtrommeln, ist halbblindes Hellsehen eines an-       man sich mit ihr und der englischen Autorin Mary
         deren Zustandes.“ Dadurch, dass Literatur gesell-        Shelley (1797 – 1851) zur Abfassung des „ersten
         schaftliche Problemstellungen wie Behinderung            Science-Fiction-Klassikers, an dem sich viele Nach-
         und Inklusion transparent und zu ihrem eigenen           folgewerke orientierten“, nach Ingolstadt begibt:
         Thema macht, erreichen die Erfahrungen, Gefühle,         1818 veröffentlichte Mary Shelley den Roman ‚Fran-
         Gedanken und Interaktionen der ,fiktiv Behinderten‘      kenstein oder Der moderne Prometheus‘ mit seinem
         immer auch einen hohen Grad an Authentizität. An-        dortigen Schauplatz.
         hand der Werke der katholischen Dichterin Regina
         Ullmann (1884 – 1961), die sich zeitlebens durch         Bayerische Orte und Regionen spielen auch bei ei-
         schwere Krankheit, Geburt, Armut, finanzielle Ab-        nem anderen Genre eine wichtige Rolle: dem Krimi.
         hängigkeit etc. kämpfen musste, wird Behinderung         Die erste deutsche Kriminalnovelle vermutet Gunna
         so nicht als Erschwernis, sondern als ,das Hilfreiche    Wendt bei dem von 1808 bis 1814 in Bamberg leben­
         und Wesentliche‘ im Leben erkannt.                       den Dichter E.T.A. Hoffmann (1776–1822) und seinem
                                                                  Werk ‚Das Fräulein von Scuderi. Die Geschichte
         Dichterbiografien, Genres und Regionen                   ­eines Mörders‘. Noch Jahrhunderte später wird eine
         Dass dem Band vielfältige Themen zugrunde liegen,         ‚echte‘ fränkische Schriftstellerin diesen Krimi auf
         wird den Leserinnen und Lesern beim Durchblättern         ihre Art fortschreiben: Die aus Coburg stammende
         der einzelnen Kapitel schnell offensichtlich. Dass er     und heute in Bamberg lebende Autorin Friederike
         aber viel mehr beinhaltet als spezielle Bestandsauf-      Schmöe (geb. 1967) lässt ihre Protagonistin, die
         nahmen oder breit angelegte lexikalische Einträge         ­Privatdetektivin Katynka Palfy, in Bamberg auf E.T.A.
         zur bayerischen Literatur wird dann klar, sobald           Hoffmanns Spuren wandeln und mysteriöse Todes-
         man den Blick schärft für die Dichterbiografien, die       fälle lösen.
         die meisten der 17 Essays schmücken, die literari-
         schen Genres, die ebenfalls zahlreich vorkommen,         Mit seinen grenzübergreifenden und grenzspezifi-
         sowie die regionalen Untersuchungen, deren Lese-         schen Betrachtungen auf die bayerische Literatur
         horizont weiter reicht, als nur Unterschiede in der      gelingt dem im Münchner Allitera-Verlag erschiene-
         bayerischen Literaturlandschaft zu markieren. Die        nen Band, was nur wenige literaturhistorische Kom-
         Übergänge können dabei fließend sein – etwa bei          pendien mit regionalem Schwerpunkt zustande
         Andreas Unger: Seine ‚Gedanken zur bairischen            bringen – eine ausgewogene Vielfalt zu schaffen.
         Mundartlyrik‘ oszillieren „zwischen Brecht-Referen-      ­Erfrischend wirkt in diesem Zusammenhang auch
         zen, persönlichen Anekdoten und beispielhafter            der Umstand, dass er nicht nur Lesenswertes aus
         Darstellung, um die politische Vehemenz bayrischer        Alt- und Oberbayern zu bieten hat. Wer immer et-
         Mundartdichter herauszustreichen“, wie der Rezen-         was über ‚Oberpfälzer Passionsspiele im 19. und
         sent des Buches Jürgen Ertl, im ‚magazin lichtung‘ 4,     20. Jahrhundert‘ (Manfred Knedlik), ‚Glanzstücke
         2020, treffend festgestellt hat.                          aus der schwäbischen Literatur‘ (Klaus Wolf) oder
                                                                   fränkische ‚Dichterwege‘ zu Jean Paul (Peter Czoik
                                     Überhaupt sind viele der      und Katrin Schuster) erfahren will, kommt nicht
Dass dem Band vielfältige            vorgestellten literari-       ­umhin, dem ‚Blauen vom Himmel‘ zu begegnen.
Themen zugrunde liegen,              schen Gattungen für ei-
                                     ne bayerische ­Literatur­-   Von Dr. Peter Czoik
wird den Leserinnen und              geschichte – für die der     Leiter des Sachbereichs Literaturportal Bayern
Lesern beim Durchblättern            Band Bausteine bereit-       in der Abteilung Digitale Bibliothek und Bavarica
                                     hält – eher unkonventio-
der einzelnen Kapitel                nell und dem Geist ge-
                                                                  der Bayerischen Staatsbibliothek

schnell offensichtlich.              genwärtiger literarischer
                                     Tendenzen verschrieben.
         So kann man in dem Beitrag von Ingold Zeisberger
         über ‚Comics und Literatur in Bayern‘ erfahren, wie
         Bayern im zeitgenössischen Comic abgebildet wird.
         Man kann auch ‚Hochburgen der Kleinkunst: Litera-
         risches Kabarett‘ sowie ‚Hochburgen der Bühnenpo-
         esie: Poetry Slam in München‘ in den Essays von
                                                                                Das Blaue vom Himmel. Bayerns Literatur
         Thomas Steierer und Marina Babl erkunden. Oder
                                                                                in E
                                                                                   ­ ssays. Hg. v. Peter Czoik, Stephan Kellner
         man spürt den Anfängen von ‚Science Fiction und                        und Fridolin Schley. Allitera Verlag, München,
         Utopie in Bayern‘ bei Gunna Wendt nach, indem                          268 Seiten, 25 Euro
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