"Der EU-Beitritt wäre ein Gewinn - an Souveränität."

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"Der EU-Beitritt wäre ein Gewinn - an Souveränität."
Das Magazin der Neuen Europäischen Bewegung Schweiz nebs Nr. 1/2019

Interview mit Joseph Deiss

«Der EU-Beitritt wäre ein Gewinn
an Souveränität.» Seite 6
"Der EU-Beitritt wäre ein Gewinn - an Souveränität."
EDITO

INHALT
                                            Die Beitrittsdiskussion
WAHLEN 2019                                  ­gehört auf den Tisch
3   Die Europawahlen feiern
    ­ihren vierzigsten Jahrestag
4    «Make Europe Yourope», die    Liebe Leserinnen, liebe Leser
     Kampagne der EBD
5    Kampagne der UEF:             Es gibt wenig glückliche Momente in der          desrat sind im innenpolitischen Prozess
    Ich wähle Europa!              schweizerischen Europapolitik. Es war und        unabdingbar. Dazu reicht es nicht, wenn
INTERVIEW                          ist innenpolitisch seit Jahren ein Knorz.        der Bundesrat im Rahmen einer «Konsulta-
                                   Trotzdem habe ich mich vor einigen Wo-           tion» der Politik einfach mal etwas auf den
6   Joseph Deiss – «Der EU-­
                                   chen gefreut. Die Aussenpolitische Kom-          Tisch legt, selbst dazu aber keine Meinung
    Beitritt wäre ein Gewinn an
                                   mission des Nationalrates (deren Vizepräsi-      haben will. Es sollte aber in gemeinsamer
    Souveränität.»
                                   dent ich bin) hielt in ihrer Stellungnahme       Anstrengung zu schaffen sein. Mit etwas
LITERATUR                          zum institutionellen Rahmenabkommen an           Zeit und ziemlich viel Rat.
9   «Sprechen wir über Europa»     den Bundesrat nämlich Folgendes fest:            Und doch beschleicht mich nach all den
                                   «Das derzeitige Verhandlungsergebnis ist         unzähligen Sitzungen und Kaffeepausen,
                                                                                    ­
AKTIVITÄTEN DER NEBS
10 Nicht abwarten, mitmachen!
11 2019–2020: das Programm                                                          Martin Naef
   der Nebs
                                                                                    Co-Präsident der Nebs und
SEKTIONEN                                                                           Nationalrat (SP/ZH)
12 Europapolitik in einem
   schwierigen Umfeld
YES
13 «Stop Roaming»-Kampagne:
   für die Abschaffung der
   ­Roaminggebühren
                                               © Nomes-Nebs

EURO-MYTHEN AUFGESPIESST
14 Cool bleiben, Herr Geizhals:
   Sie müssen die € 22.57 ja gar
   nicht bezahlen …
                                   in weiten Teilen im Interesse der Schweiz.       wo über das Rahmenabkommen diskutiert
EU-SPOTS                           Der Abschluss eines Abkommens für den            und gestritten wurde, immer mal wieder
15 EU-Bürgerinitiative «Housing    kontinuierlichen Ausbau der Wirtschafts-         die Gewissheit, dass dies nicht ewig so
   for all» kann starten           und Handelsbeziehungen zwischen der              weitergehen kann. Spürbar ist bei allen Be-
15 Am «gefährlichsten» sind        Schweiz und der EU soll durch den Bundes-        teiligten, dass wir grundsätzlich ganz ein-
   Spielsachen und Autos           rat innert Jahresfrist angestrebt werden.»       fach Mühe damit haben, uns etwas aus­
15 ARTEFAKTE gegen Umwelt-         Fünf von sechs Fraktionen in der Kommis-         zusetzen, das letztlich ein offener Prozess
   Fake-News                       sion stellten sich hinter diese Einschät-        mit Mitsprache, aber ohne Mitentschei-
                                   zung. Das tönt nicht nach Durchbruch. Ist        dung bleibt. So sehr wir uns als Nebs für
SURFEN
                                   es auch nicht. Aber angesichts des lang-         das Rahmenabkommen und damit für eine
15 Junge EuropäerInnen und         wierigen Gestürms rund um das institutio-        weitere Vertiefung der Integration einset-
   ihre Lebensträume               nelle Abkommen, all den geäusserten              zen, so sehr ist und bleibt es unsere Auf­
15 Eine Auslegeordnung zum         ­Bedenken, ist diese Koalition für eine ver-     gabe, in der Diskussion auf die Grund-
   Problem des Plastikmülls         lässliche und stabile Beziehung zu Europa       schwäche jedes Abkommens hinzuweisen:
                                    so etwas wie ein Hoffnungsschimmer. Der         Wir sind nicht dabei, wir entscheiden nicht
                                    ist auch bitter nötig. Es ist nämlich offen-    über die Zukunft Europas und damit über
                                    sichtlich, dass der Bundesrat nicht alle Klä-   unsere eigene Zukunft. Das ist nicht nur
                                    rungen sofort wird herbeiführen können.         bedauerlich, sondern demokratisch frag-
                                                                                    ­
                                    Zu verschiedenen Punkten braucht es,            würdig und das Gegenteil von souverän.
                                    wenn nicht Verhandlungen, so doch weite-        Falls die Beitrittsfrage je wirklich vom Tisch
                                    re Gespräche mit der EU. Andere Präzisie-       war, gehört sie darum unbedingt wieder
                                    rungen und Feststellungen durch den Bun-        drauf. ★

2                                                                                                               europa.ch 1/2019
"Der EU-Beitritt wäre ein Gewinn - an Souveränität."
WAHLEN 2019

              Die Europawahlen feiern ihren
                  ­vierzigsten Jahrestag
                   Von Gilbert Casasus, Professor für Europastudien an der Universität Freiburg

Die Europawahlen werden 40 Jahre alt. In        de sich allein unter der Bundeshauskuppel.
Vernunft und Weisheit gereift finden sie in     Dabei irrt die Schweiz gewaltig. Nach den
diesem Jahr in dreimal so vielen Ländern        Wahlen vom 26. Mai 2019 wird sie auf der
statt wie 1979, als sie in nur neun Staaten     europäischen Bühne nicht im Rampenlicht
über die Bühne gingen. Sie sind Symbol für      stehen. Andere, dringlichere Themen war-
eine viel erfolgreichere europäische Integ-     ten auf Kommission und Parlament. Her-
ration, als es die damalige Ost-West-Tei-       ausforderungen von ganz anderer Grössen-
lung erwarten liess, und sie widerspiegeln      ordnung werden sie beschäftigen, wie der
eine lange Reise, die die überzeugtesten        mehrjährige EU-Finanzrahmen, die Steue-
EuropäerInnen gegen alle Widrigkeiten be-       rung der Eurozone, die Klimaerwärmung,
wältigt haben.                                  die Migrationspolitik, die EU-Erweiterung

                                                                                                                                         © Gilbert Casasus
Zehn Jahre vor dem Fall der Berliner Mauer      auf dem Balkan oder Handelskonflikte mit
war die Europäische Gemeinschaft ein Sy-        China und den USA.
nonym für Hoffnung. Ohne wirklich daran         Zuvorderst wird man sich jedoch dem Bre-
zu glauben, träumten etliche davon, sich ihr    xit widmen. Um eine für alle akzeptable Lö-
anzuschliessen – für andere war sie ein         sung zu finden – vor allem aber, um dieser      Gilbert Casasus
hochfliegender Plan zur Veränderung ihres       Posse ein Ende zu setzen, welche immer          Professor Gilbert Casasus, geboren
Lebens. Vierzig Jahre später ist Ernüchte-      mehr einer zweitklassigen Seifenoper äh-        am 9. Oktober 1956 in Lyon, ist ein
rung eigekehrt: Für viele BürgerInnen ist       nelt. Indem die Europäische Union briti-        französisch-schweizerischer Poli-
Europa die Ursache ihres Unglücks und           sche Abgeordnete in Strassburg akzeptiert,      tikwissenschaftler. Er absolvierte
                                                                                                das Institut d'Études Politiques de
dient als Sündenbock, um sich der eigenen       diskreditiert sie sich selbst. Sie nimmt hin,
                                                                                                Lyon (1978) und promovierte am Ge-
Verantwortung zu entziehen. Das ist ein-        dass gewählte Vertreter im Strassburger
                                                                                                schwister-Scholl-Institut für Politik-
fach, es fühlt sich gut an und es hilft, sich   Plenarsaal sitzen, die kurz nach oder – noch    wissenschaft an der Universität
vor Ausländern, Migranten, Flüchtlingen         schlimmer – schon vor ihrem Amtsantritt         München (1985). Als Spezialist für
und Brüsseler Beamten zu bewahren.              aufgefordert werden, sich wieder zu verab-      deutsch-französische Beziehungen
Hier unterscheiden sich die SchweizerIn-        schieden. Auf diese Weise schafft die EU        arbeitete er zunächst für deutsch-
nen kaum von anderen EuropäerInnen, mit         Misstrauen unter ihren BürgerInnen: Diese       französische Institutionen, bevor
der einzigen Ausnahme, dass sie nicht an        erleben ein rechtlich-politisches Durch­        er 1993 eine akademische Karriere
den Europawahlen teilnehmen können. Im          einander, wo die Rechtmässigkeit von            in Deutschland, der Schweiz und
Wohlgefühl der «Reduit-Mentalität» blei-        ­parlamentarischen Entscheidungen im Wi-        Frankreich begann; zunächst als
ben sie ohne Stimme. Überzeugt davon,            derspruch steht zum Bedürfnis nach demo-       Dozent an der Universität Jena,
                                                                                                später in Genf, Grenoble und vor al-
ihre Unabhängigkeit zu schützen, ziehen          kratischer Legitimität. Die Europawahlen,
                                                                                                lem am deutsch-französischen eu-
sie sich zurück in einen imaginären Raum,        die bereits unter stetig abnehmender Wahl-
                                                                                                ropäischen Campus der Sciences
wo jegliche Übereinkunft mit der Europäi-        beteiligung leiden, verdienen etwas Besse-     Po Paris (2001-2008). Seit 2008 ist er
schen Union ihren Interessen zuwiderläuft.       res, um ernst genommen zu werden! ★            ordentlicher Professor an der Uni-
Wir kennen den Rest!                                                                            versität Freiburg und Direktor des
Es kommt den SchweizerInnen nicht in                                                            Masterstudiengangs in Europa­
den Sinn, dass die EU auch bei uns ein                                                          studien an der Philosophischen
Wort mitzureden hat. Frei von politischem                                                       ­Fakultät. Der Ritter des Verdienst­
Realitätssinn vergessen sie, dass das Euro-                                                      ordens Frankreich und Offizier des
päische Parlament an der Wahl aller Kom-                                                         Ordens des Sterns von Italien ist
missare teilnimmt, einschliesslich des Prä-                                                      auch Stiftungsratsmitglied der Fon-
                                                                                                 dation Jean Monnet pour l’Europe.
sidenten. Der Umstand, dass die nächste
                                                                                                 Er wird als Spezialist für die Ge-
Kommission der Schweiz weniger wohlge-
                                                                                                 schichte der europäischen Integra-
sinnt sein könnte, scheint sie kaum zu be-                                                       tion und die politischen Prozesse
unruhigen. Getreu dem alten Motto, dass                                                          innerhalb der Europäischen Union
die Geschehnisse in Brüssel oder Strass-                                                         in der Schweiz, Frankreich und
burg sie nicht betreffen, glauben sie immer                                                      Deutschland geschätzt.
noch, die Schweizer Europapolitik entschei-

europa.ch 1/2019                                                                                                                    3
"Der EU-Beitritt wäre ein Gewinn - an Souveränität."
WAHLEN 2019

                                                 «Make Europe Yourope»,
                                                  die Kampagne der EBD
                                               Von Linn Selle, Präsidentin der Europäischen Bewegung Deutschland

                                   Die Europäische Bewegung Deutschland hat sich stark für                    den aller Sparten: Mehr Europapolitik und
                                   die ­Europawahl engagiert und konzentrierte ihre Kampagne                  mehr Wettbewerb um europapolitische In-
                                                                                                              halte! Der Wahlaufruf, der es in die Haupt-
                                   auf drei Säulen: einen Aufruf zur Abstimmung, eine Analyse                 nachrichten der ARD geschafft hat, fordert
                                   des ­Inhalts von Parteiprogrammen und eine Mobilisierungs­                 die Beibehaltung des Spitzenkandidaten-
                                   kampagne ihrer Mitgliedsorganisationen.                                    prinzips, einen besseren Zugang zu Infor-
                                                                                                              mationen, weniger Propaganda und mehr
                                                                                                              Aufklärung sowie mehr proeuropäische
                                                             «Natürlich Europa», «Ja zu Europa», «Euro-       Gesichter und Arenen.
                                                             pa. Jetzt aber richtig!» – mit diesen Slogans
                                                             zogen nicht etwa die politischen Parteien in     Einteilung in Pro- und Anti­
                                                             den Europawahlkampf, sondern grosse ge-          europäerInnen ist zu einfach
                                                             sellschaftliche Verbände (nämlich der Deut-      Welche europäische Klima-Politik verfolgen
                                                             sche Naturschutzring, der Verband der che-       die Parteien, was fordern sie zum Thema
                                                             mischen Industrie und der Deutsche               Gleichstellung und wie wollen sie Europas
                                                             Gewerkschaftsbund).                              Sicherheit, Wettbewerbsfähigkeit und Soli-
                                                             In der heissen Phase des Wahlkampfes hat         darität gewährleisten? Mit einer Tabelle, die
                                                             sich der Eindruck verfestigt, dass die euro-     die Positionen der Parteiprogramme in
© EBD/K. Neuhäuser

                                                             papolitische Auseinandersetzung der Par-         Stichpunkten zusammenfasste, wollte die
                                                             teien dürftig ist. Statt eines zukunftsge­       EBD den Wählerinnen und Wählern zeigen,
                                                             richteten demokratischen Wettbewerbs             für welche Inhalte sie sich bei der Europa-
                                                             wurden, wenn überhaupt, nur Abwehrdis-           wahl entscheiden konnten. Für die EBD
                                                             kussionen geführt. Dabei sollte es um die        stand dabei der demokratische Wettbe-
                     Linn Selle                              besten Lösungen für dringende Probleme           werb im Vordergrund – und keine verein-
                     Linn Selle ist seit 2018 Präsiden-      wie den Brexit, die Verteilung von Geflüch-      fachte Einteilung in Pro- und Antieuropäe-
                     tin der Europäischen Bewegung           teten oder auch den nächsten Mehrjähri-          rInnen.
                     Deutschland e.V. (EBD). Sie wurde       gen Finanzrahmen gehen.
                     1986 im westfälischen Havixbeck         In diese Bresche sprangen die gesellschaft-      Make Europe Yourope!
                     geboren. Nach ihrem Studium der
                                                             lichen Kräfte – und zwar stärker und enga-       Auf direkte Aktivierung setzte die EBD-Mit-
                     Politikwissenschaften in Bonn und
                                                             gierter als vor fünf Jahren. Jenseits proeuro­   gliederkampagne mit dem Slogan «Make
                     Paris absolvierte sie einen Master
                     in European Studies an der Viadri-      päischer NGOs war ein professionelles            Europe Yourope!»: Ziel war es, die Wähle-
                     na-Universität Frankfurt/Oder, wo       politisches und öffentliches Campaigning zu      rinnen und Wähler in ihrer jeweiligen
                     sie 2017 ihre Promotion zur par­        beobachten, dass Parteien, Medien und die        Lebens­ realität – als Unternehmerinnen,
                     lamentarischen Haushaltshoheit          breite Öffentlichkeit dazu aufforderte, die      Autofahrer oder Betriebsräte – unmittelbar
                     beim EU-Haushalt beendete. Seit         Europawahl ernst- und den Wahlkampf an-          anzusprechen. Die Mitgliedsorganisatio-
                     2014 ist sie Mitglied im Vorstand der   zunehmen. Genau dort setzte auch die Ar-         nen lieferten dafür die individuelle Begrün-
                     EBD und wurde im selben Jahr mit        beit der Europäischen Bewegung Deutsch-          dung, die EBD das gemeinsame Anzei­
                     dem «Preis Frau Europas» ausge-         land e.V. (EBD) im Europawahljahr 2019           gendesign. So ist frühzeitig ein stetig
                     zeichnet. Hauptberuflich ist sie        an, die auf drei Säulen fusste: einem            wachsendes Kaleidoskop unterschiedlicher
                     beim Verbraucherzentrale Bundes-
                                                             politischen Wahlaufruf, einer inhaltlichen
                                                             ­                                                Testimonials für einen proeuropäischen
                     verband tätig.
                                                             Analyse der Parteiprogramme und einer            Wahlentscheid entstanden, das die EBD
                                                             Multiplikatorenkampagne der Mitgliedsor-         auf ihrer Website präsentiert hat. Täglich
                                                             ganisationen.                                    wurde ein Motiv über die sozialen Medien
                                                                                                              gestreut.
                                                             Demokratischer Wettbewerb statt                  Demokratie im Kleinen für die Demokratie
                                                             angezogene Handbremse                            im Grossen – ohne den Einsatz der gesell-
                                                             Drei Monate vor der Europawahl forderte          schaftlichen Kräfte wäre der Europawahl-
                                                             die EBD gemeinsam mit 17 Spitzenverbän-          kampf nur halb so spannend gewesen. ★

                     4                                                                                                                   europa.ch 1/2019
"Der EU-Beitritt wäre ein Gewinn - an Souveränität."
WAHLEN 2019

  Kampagne der UEF: Ich wähle Europa!
                Von Pauline Gessant, Vizepräsidentin der Union der Europäischen Föderalisten

Wie alle fünf Jahre sind die Europawahlen      unsere Ideen bei BürgerInnen und Kandi-
Anlass zu einem grossen Wahlkampf der          datInnen zu verbreiten, sondern sie auch
Europäischen Föderalisten (UEF). In die-       für unsere Sache zu gewinnen, um mehr
sem Jahr läuft er unter dem Motto «I choo-     Wirkung zu erzielen. Dies ist das Ziel der
se Europe», «Ich wähle Europa». Das ist        Verpflichtungen, die wir zur Unterzeich-
mehr als ein Slogan – es ist eine Gelegen-     nung vorschlagen. Die Unterzeichnenden
heit, an unser Engagement für die europä-      sind künftige Mitglieder der UEF und künf-
ische Integration zu erinnern in einem Kon-    tige Verbündete im Europäischen Parla-
text, wo N     ­ationalisten diese täglich     ment, um die von uns geforderten Refor-
herausfordern, in der Populisten hoffen,       men voranzubringen
das Europäische Parlament zu erobern, um       Diese Kampagne ist auch ein Mittel zur

                                                                                                                                      © Pauline Gessant
die EU von innen heraus zu attackieren, die    Stärkung des föderalistischen Netzwerks,
europäischen Institutionen zu schwächen        zur Entwicklung von UEF-Sektionen mit Hil-
und die europäische Solidarität in Frage zu    fe «schlüsselfertiger» Aktionen, zur Bereit-
stellen. Aber es geht nicht nur darum, den     stellung von Argumentationshilfen und
europäischen Weg zu verteidigen. Europa        Lobbyinstrumenten, zur Förderung der Zu-       Pauline Gessant
steht heute an einem Scheideweg: Entwe-        sammenarbeit zwischen der UEF und der          Pauline Gessant ist seit 2003 Mit-
der die BürgerInnen stimmen für Kandidat­      JEF (Junge Europäische Föderalisten) und       glied der föderalistischen Familie.
Innen, die mehr Integration wollen – oder      zur Schaffung einer Mobilisierungsdynamik      Von November 2011 bis Oktober
wir riskieren den Zerfall und damit den Sieg   für ein föderales Europa.                      2015 war sie Präsidentin von JEF-
                                                                                              Europe (Junge Europäische Föde-
des Nationalismus.                             Diese Dynamik muss alle Bereiche der UEF
                                                                                              ralisten), von November 2011 bis
Die EU kämpft mit vielen Herausforderun-       erfassen, nicht nur jene, die das Glück ha-
                                                                                              Dezember 2014 Mitglied des Präsi-
gen: begrenzte Befugnisse bei wirtschaft-      ben, an den Europawahlen teilnehmen zu         diums der Europäischen Bewe-
lich, ökologisch und sicherheitspolitisch      können. Eine stärkere EU ist ein Gebot der     gung International und von Januar
wichtigen Themen, ein dreifaches Demo-         Stunde, um Stabilität und Wohlstand des        2009 bis Dezember 2010 Generalse-
kratiedefizit, Regierungsführung und sozia-    gesamten Kontinents zu gewährleisten.          kretärin der Europäischen Bewe-
le Gerechtigkeit. Wir stehen also vor einer    Eine EU mit mehr Respekt für Umwelt und        gung Frankreich. Sie ist derzeit
entscheidenden Phase für die Zukunft des       soziale Gerechtigkeit schafft einen nachhal-   ­Vizepräsidentin der Union der Euro-
europäischen Kontinents. Und wir bekräfti-     tigeren Kontinent. Eine EU, die von ihren       päischen Föderalisten, Präsidentin
gen unsere Entscheidung angesichts die-        BürgerInnen besser akzeptiert wird, er-         von «Friends of JEF» (JEF Alumni
ser Herausforderungen: Ich wähle ein           zeugt Anziehungskraft für ihre kontinenta-      Network) und Mitglied des Vor-
                                                                                              stand der Europäischen Bewegung
stärkeres, sozialeres, demokratischeres,
­                                              len Nachbarn.
                                                                                              Frankreich. Sie studierte Politikwis-
föderales Europa!                              Also gemeinsam: Ja, wir wählen Europa
                                                                                              senschaft und hat einen Master-
Eingedenk der Notwendigkeit eines              als unsere Zukunft! ★                          Abschluss in Europäischen Projek-
«Schritts vorwärts» haben die Europäi-                                                        ten auf lokaler Ebene. Sie arbeitet
schen Föderalisten ein Manifest ausgear-                                                      für die französischen Verwaltung.
beitet, das unsere Erwartungen an die
nächste fünfjährige Legislatur des EU-Par-
laments darlegt. Wir verlangen die Vollen-
dung der Wirtschafts- und Währungsunion,
eine kohärente europäische Einwande-
rungs- und Asylpolitik, eine gemeinsame
europäische Aussen- und Sicherheitspoli-
tik, einen aufgestockten EU-Haushalt mit
den nötigen Eigenmitteln, einen neuen eu-
ropäischen Pakt gegen den Klimawandel,
ein föderales System, das eine wirkungs-
volle und demokratische Entscheidfindung        Mehr über die Kampagne der UEF für die
erlaubt.                                        Europawahlen erfahren Sie unter www.federalists.eu/
Diese Europawahlen sind eine Gelegenheit        activities/i-choose-europe/
für die Europäischen Föderalisten, nicht nur

europa.ch 1/2019                                                                                                                 5
"Der EU-Beitritt wäre ein Gewinn - an Souveränität."
INTERVIEW

                             «Der EU-Beitritt wäre ein
                             ­Gewinn an Souveränität.»
                                                                    Anlässlich der Publikation seines Buches «Kommt ein Pottwal von Steuerbord …
                                                                    Schilderungen einer modernen, friedlichen und glücklichen Schweiz» blickt
                                                                    ­Joseph Deiss, Alt Bundesrat und Vorsteher des Departements für auswär­tige Ange-
                                                                     legenheiten und des Volkswirtschaftsdepartements, auf seine Jahre in der Regie-
                                                                     rung zurück und befasst sich mit der Frage der Beziehungen Schweiz-EU. Für ihn
                                                                     ist der EU-Beitritt der einzige souveräne Weg.

                                                                    Im Oktober 2018 haben Sie ein Buch mit dem       ten Teil meiner Amtszeit als Bundesrat Prä-
                                                                    Titel «Quand un cachalot vient de tribord …»     sident der Kommission war. Prodi schrieb
                                                                    (Kommt ein Pottwal von Steuerbord …) ver­        Geschichte, indem er die Union im Osten
                                                                    öffentlicht, in dem Sie die prägendsten Episo­   erfolgreich um zehn neue Mitglieder erwei-
                                                                    den Ihrer Karriere Revue passieren lassen.       terte. Ich hatte ausgezeichnete Beziehun-
                                                                    Europa nimmt einen herausragenden Platz          gen zu diesem grossen Europäer, welcher
© KEYSTONE/Martin Ruetschi

                                                                    ein. Woher kommt Ihre Verbundenheit mit          bei der Weiterentwicklung des Schweizer
                                                                    Europa?                                          Dossiers immer viel Wohlwollen zeigte.
                                                                    Ich hatte das Glück, von klein auf zu Fragen
                                                                    der europäischen Integration unterrichtet        Als Aussenminister haben Sie zur Unterzeich­
                                                                    zu werden. Das war anfangs der 1960er-           nung der bilateralen Abkommen I im Jahr 1999
                                                                    Jahre am Collège Saint-Michel, kurz nach         beigetragen, welche in einem Referendum
                             Joseph Deiss                           der Unterzeichnung der Römer Verträge.           von fast 70% der Bevölkerung gutgeheissen
                             Joseph Deiss ist studierter Öko-       Danach studierte ich an der Universität Frei-    wurden. Was bräuchte es Ihrer Meinung nach,
                             nom, 1984 wurde er zum Professor       burg Internationale Ökonomie und unter-          um eine derart grosse Unterstützung für die
                             für Volkswirtschaftslehre und Wirt-    richtete dies später auch.                       Schweizer Europapolitik wieder zu errei­
                             schaftspolitik an der Universität      Über Jahrtausende war Europa die Heimat          chen?
                             Freiburg ernannt, wo er von 1996 bis
                                                                    einer grossartigen Zivilisation, die auch        Der Erfolg der bilateralen Abkommen er-
                             1998 Dekan der Fakultät für Wirt-
                                                                    heute noch in die ganze Welt ausstrahlt.         klärt sich aus dem Scheitern der EWR-­
                             schafts- und Sozialwissenschaften
                             war. Als Mitglied der Christlichde-    Die Schweiz bildet da keine Ausnahme und         Abstimmung 1992 und der wirtschaftlichen
                             mokratischen Volkspartei war er        ist einer der vielen Bausteine dieses Ge-        Lethargie, die unser Land im folgenden
                             von 1981 bis 1991 im Grossen Rat       bäudes. Ich bin stolz und ergriffen, Teil die-   Jahrzehnt erfasste. Ich wünsche mir, dass
                             des Kantons Freiburg und von 1991      ses grossen christlichen und humanisti-          Fortschritte in unseren europäischen Bezie-
                             bis 1999 im Nationalrat tätig. Von     schen Abenteuers zu sein.                        hungen nicht mehr unter dem Druck von
                             1982 bis 1996 war er auch Ammann                                                        Krisensituationen erzielt werden. Unsere
                             der Gemeinde Barberêche. Joseph        Welche politischen Persönlichkeiten haben        künftigen Schritte in diesem Bereich sollten
                             Deiss war von 1999 bis 2006 Bun-       die europäische Idee Ihrer Meinung nach ver­     auf durchdachten und kohärenten Mass-
                             desrat, zunächst als Vorsteher des     körpert oder verkörpern sie?                     nahmen gründen – und auf der Überzeu-
                             Departements für auswärtige An-
                                                                    Neben den Gründervätern möchte ich die           gung, dass sich Europa nur durch Solidari-
                             gelegenheiten und dann für das
                                                                    Präsidenten der Europäischen Kommission          tät und Zusammenarbeit aller seiner Teile,
                             Volkswirtschaftsdepartement ver-
                             antwortlich. Im Jahr 2004 war er       Jacques Delors und Romano Prodi erwäh-           einschliesslich der Schweiz, auf globaler
                             Bundespräsident. Von September         nen. Der erste, weil er den Drittstaaten         Ebene verteidigen kann.
                             2010 bis September 2011 war er         eine engere Form der Assoziierung über
                             Präsident der UNO-Generalver-          den Europäischen Wirtschaftsraum (EWR)           Gemäss einer aktuellen Umfrage zur schwei­
                             sammlung.                              ermöglichte. Der zweite, weil er im gröss-       zerischen Europapolitik bleibt die öffentliche

                             6                                                                                                                    europa.ch 1/2019
"Der EU-Beitritt wäre ein Gewinn - an Souveränität."
Mit Bundespräsident
                                                                                                     Pascal Couche­pin, nach der
Meinung sensibel für wirtschaftliche            befleissigt sich des gleichen Populismus,          Unter­zeichnung der bilateralen
­Argumente. Sie waren Aussenminister und        sobald es ernst wird.                               Abkommen I am 21. Juni 1999
 dann Wirtschaftsminister. Waren ökonomi­                                                                          in Luxemburg.
                                                                                                               © KEYSTONE/Lukas Lehmann
 sche Argumente ausschlaggebend für die         In Ihrem Buch beschreiben Sie die Schweiz
 von Ihnen durchgeführten Abstimmungs­          als ein «bescheidenes Schiffchen», das ein
 kampagnen?                                     starkes Interesse daran hat, «an der Gestal­
 Ein grosser Teil unserer Bevölkerung ver-      tung seines Schicksals» und an Entscheidun­
 steht die einfache Logik, dass es wichtig      gen innerhalb der EU mitzuwirken. Was
 ist, gute Beziehungen zu unseren wichtigs-     bedeutet der Begriff der Souveränität für Sie?
 ten Partnern zu haben. Ohne Zweifel sind       Dank den bilateralen Abkommen ist unser
 unsere natürlichen Verbündeten unsere          Schiff durch viele Brücken mit dem grossen
 Nachbarn und unser Kontinent, Europa. An-      Flugzeugträger EU verbunden. 8 Millionen
 dererseits darf diese Verbundenheit nicht      Einwohner gegenüber 500 Millionen! Je-
 passiv sein, wie bei den bilateralen Abkom-    des Mal, wenn sich der riesige europäische         «Ich hoffe, dass
 men, sondern souverän. Und dies wird nur       Kahn bewegt, wird die fragile und kom­
 mit umfassender Beteiligung erreicht – mit     plexe Struktur der Stege und Übergänge,           die Nebs ein Ort
 einem Beitritt.                                die uns mit ihm verbinden, umgestossen,            der offenen und
                                                ohne dass wir den Kurs des grossen Schif-
Heutzutage ist die Nebs die einzige Bewe­       fes beeinflussen können. Deshalb können            ehrlichen Refle-
gung, die für den Beitritt der Schweiz zur EU   bilaterale Abkommen, so nützlich sie auch          xion bleibt, mit
eintritt. Wie erklären Sie sich, dass diese     im Vergleich zu einer Nulllösung sein mö-
Option selbst bei Befürwortern der europäi­     gen, nur die zweitbeste Lösung sein.                unerschütterli-
schen Integration der Schweiz zum Tabu          Souveränität besteht für ein Land darin, Ent-       chem Mut im
geworden ist?                                   scheidungen zu treffen – oder an Entschei-
Durch ständiges Einhämmern negativer            dungen teilzunehmen die es betreffen. Es           Dienste der für
­Argumente, meist vereinfachend und feh-        gibt Bereiche, wo es möglich ist, den                unser Land
 lerhaft, ist es populistischen Bewegungen      eigenen Willen autonom zu bilden. Dann
                                                ­
 gelungen, die natürliche Lösung – die An-      muss man es auch tun. Anderseits mehren          ­wichtigsten Ange-
 näherung an die EU – als «Crash»-Szenario      sich die Situationen, wo es nicht möglich ist,       legenheit.»
 darzustellen. Die Mitteparteien, die in die-   den Willen anderer zu ignorieren und wo
 ser Frage eine Führungsrolle übernehmen        sich internationale Zusammenarbeit auf-
 sollten, zeigen sich kleinmütig, aus Angst,    drängt. In diesen Fällen müssen wir die Ent-
 Wähler an die nationalistische und frem-       scheidungen mitbestimmen können, und
 denfeindliche Rechte zu verlieren. Und die     bezüglich der europäischen Integration be-
 linke Seite, obwohl dem Beitritt zugeneigt,    darf es dafür einer EU-Mitgliedschaft.

europa.ch 1/2019                                                                                                                     7
"Der EU-Beitritt wäre ein Gewinn - an Souveränität."
20 ANS ENSEMBLE

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                                                  Mit US-Präsident Barack Obama am 23. September 2010 in New York am Rande der Generalversammlung
                                                  der Vereinten Nationen.

                                                  Was würde die Schweizer Bevölkerung neben        notwendig, sich auf das Wesentliche zu
                                                  der Mitwirkung an der Entscheidungsfindung       konzentrieren. So wie es die Schweizer
                                                  und dem europäischen Stimmrecht mit der          1848 für ihre Eidgenossenschaft taten, in-
                                                  EU-Mitgliedschaft gewinnen?                      dem sie den Kantonen grosse Autonomie
                                                  Entgegen der landläufigen Meinung bräch-         beliessen. Hubert Védrine spricht dies noch
                                                  te uns dies einen Gewinn an Souveränität.        deutlicher aus, sinngemäss etwa so: «Es
                                                  Wir würden (Entscheidungs-)Befugnisse            ist unumgänglich, die angsterregenden,
                                                  zurückgewinnen, die wir freiwillig aufga-        haarspalterischen Spitzfindigkeiten der eu-
                                                  ben, weil wir uns rausgehalten haben. Au-        ropäischen Integration ausdrücklich fallen
Im Oktober 2018 veröffentlichte Jo-               sserdem, und diese Weisheit ist so alt wie       zu lassen.»
seph Deiss seine politischen Me-
                                                  die Welt, würden unsere Interessen dank
moiren mit dem Titel «Quand un ca-
chalot vient de tribord …» (Kommt
                                                  der Macht der Union auf globaler Ebene           Wenn Sie der Nebs einen Rat für ihr zukünfti­
ein Pottwal von Steuerbord…) bei                  besser verteidigt.                               ges Engagement geben müssten, welcher
Editions de l’Aire. Der geheimnis-                                                                 wäre es?
volle Titel bezieht sich auf ein Zitat            Die Debatte über das institutionelle Rahmen­     Grundsätzlich gebe ich keine Ratschläge an
des Seglers Olivier de Kersauson.                 abkommen steht seit Monaten im Zentrum der       Organisationen und Verbände, denen ich
Laut Deiss ist «unser Schicksal mit               Schweizer Politik. Was ist Ihre Einschätzung     nicht angehöre. Ich hoffe jedoch, dass die
dem Europas verbunden und […]                     zur künftigen Entwicklung der Beziehungen        Nebs ein Ort der offenen und ehrlichen Re-
unter den Pottwalen ist es die EU,                zwischen der Schweiz und der EU?                 flexion und Argumentation bleibt, mit uner-
die für unser bescheidenes Schwei-                Angesichts unserer zahlreichen bilateralen       schütterlichem Mut im Dienste der für un-
zer Boot am unausweichlichsten                    Abkommen mit der EU wäre es ein echtes           ser Land wichtigsten Angelegenheit. ★
ist». In seinem Buch blickt er auf sei-
                                                  Versäumnis, ohne Vereinbarung über Me-
ne Beziehungen zu Europa zurück
und zeichnet den kurvenreichen
                                                  chanismen zur Lösung potenzieller Umset-
Weg der Schweiz zu einer stärkeren                zungskonflikte zu bleiben. Eine Ablehnung
europäischen Integration nach. Als                hätte jedoch viel tiefgreifendere Folgen:
privilegierter Zeuge bei der Unter-               Die wichtigsten bilateralen Abkommen wä-
zeichnung der bilateralen Abkom-                  ren damit in Frage gestellt. Damit droht ein
men I und II bekräftigt Joseph Deiss              echter Rückschritt in unseren Beziehungen
seine Unterstützung eines Beitritts               zur EU, eine Art «Swexit».
der Schweiz zur Europäischen Uni-
on. Auch im Rest seines Quer-                     In welche Richtung sollte sich die EU Ihrer
schnitts durch sein politisches Le-               Meinung nach entwickeln, um die Herausfor­
ben spart er nicht mit Details. Ein
                                                  derungen zu bewältigen, vor denen sie steht?
Buch reich an «Schilderungen einer
modernen, friedlichen und glückli-
                                                  In seinem jüngsten «Face au chaos, sauver
chen Schweiz».                                    l’Europe !» verweist Hubert Védrine, ehe-
                                                  maliger französischer Aussenminister, dar-
Joseph Deiss, «Quand un cachalot vient de tri-
bord … Récits d’une Suisse moderne, pacifique     auf, was er «die richtige Formel» von Jac-
et heureuse», Editions de l’Aire, Oktober 2018,   ques Delors nennt, die «Föderation der
475 Seiten                                        Nationalstaaten». Ich halte es wie er für

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"Der EU-Beitritt wäre ein Gewinn - an Souveränität."
LITERATUR

                   «Sprechen wir über Europa»
                        Von Felix Brun, ehemaliger Mitarbeiter der Nebs, Autor und Lehrer

Ganz am Anfang stand für mich der Gedan-          rung enthalten ist die Einsicht: Es ist kom-
ke der Kompliziertheit: Europa als ein Ort        pliziert, aber das darf es auch sein. Die Ver-
der Kompliziertheit, als ein Ort der Verwor-      einfachung – und damit meine ich ganz
renheit. Als ich vor zwei Jahren mit mei-         grundsätzlich den heutigen Populismus –
nem Buchprojekt über Europa begann, hat           fällt als Antwort auf die Frage der Kompli-
diese Verworrenheit noch keine Gestalt ge-        ziertheit ausser Betracht. Denn, so sieht es
habt, es war eher ein Gefühl, negativ, eine       auch der im Buch porträtierte Zürcher Ger-
Idee, etwas, das mich verunsicherte und           manist Peter von Matt, die Vereinfachung
ratlos machte.                                    braucht als Mittel zu ihrer Durchsetzung die

                                                                                                                                                            © Nomes-Nebs/Thomas Humm
Wer ist schuld an dieser Verworrenheit            Gewalt: «Sobald Schüsse fallen, wird die
auf unserem Kontinent, ist es die Globali-        Welt einfacher. Man war in Probleme ver-
sierung, ist es die EU, ist es die Digitalisie-   strickt, sie sind gelöst. Man hat sich mit Fra-
rung? Wie ist damit umzugehen, und ist            gen herumgeschlagen, sie sind beantwor-
der Mensch überhaupt dafür gemacht? Im            tet.»
Laufe meiner Recherchen über Schweizer            Mir persönlich ist also der Begriff der Viel-
Persönlichkeiten und ihre Äusserungen zum         gestaltigkeit während meiner Arbeit am                 Felix Brun
Thema Europa hat diese Verworrenheit              Buch immer wichtiger geworden, ich habe                Felix Brun ist Masterstudent in
dann Gestalt angenommen, etwa im Be-              ihn, wie man so schön sagt, liebgewonnen.              Europastudien an der Universität
                                                                                                         ­
griff der «Vielgestaltigkeit», wie ihn der im     Was wäre, wenn wir die Chancen dieser                  Freiburg. Er arbeitete als wissen-
Buch porträtierte Jean Rudolf von Salis viel-     europäischen Vielgestaltigkeit erkennen                schaftlicher Mitarbeiter im Gene-
                                                                                                         ralsekretariat der Neuen Europäi-
fach verwendete. In einem vielgestaltigen         könnten? Was wäre, wenn tatsächlich alle
                                                                                                         schen Bewegung Schweiz (Nebs)
Europa lässt sich schon eher leben als in         Gestalten Europas gleichberechtigt neben-
                                                                                                         in Bern und als Journalist. Aktuell
­einem verworrenen Europa. Facettenreich          und miteinander existieren könnten? Wel-               unterrichtet er am Gymnasium und
 ist dieses vielgestaltige Europa, und man        che politischen Formen könnten diese «co-              hat gerade sein erstes Buch «Spre-
 ahnt, dass hier alle Gestalten gleichberech-     habitation», wie es der Künstler Ben Vautier           chen wir über Europa» bei Hier und
tigt neben- und miteinander existieren, man       nennt, gewährleisten? Was wäre, wenn                   Jetzt veröffentlicht. Felix Brun lebt
ahnt aber auch Schwierigkeiten, Kommuni-          wir Europäerinnen und Europäer uns zur                 mit seiner Familie in Oberburg im
kationsschwierigkeiten etwa, oder Identifi-       Kompliziertheit und zur Verworrenheit be-              Kanton Bern.
kationsschwierigkeiten. Mit welcher Gestalt       kennen könnten, im Wissen darum, dass
Europas kann und will ich mich identifizie-       diese Kompliziertheit reich ist und uns be-
ren?                                              reichert? Gemeint ist eine geistige und
Es sind Schwierigkeiten, die Schweizer In-        seelische Bereicherung, nicht eine materi-
tellektuelle das gesamte 20. Jahrhundert          elle. ★
hindurch beschäftigt haben und bis heute
beschäftigen. In meinem Buch «Sprechen
wir über Europa» werden diese Schwierig-
keiten erlebbar, etwa in den immer wieder-
                                                                                              Die Frage, wie weit sich die Schweiz in der
kehrenden Fragen, die sich alle zehn im
                                                                                              Aussenpolitik öffnen soll, entfachte und
Buch porträtierten Persönlichkeiten ge-                                                       entfacht immer noch Leidenschaft und
stellt haben: Was ist die Schweiz? Wo ist ihr                                                 Emotionen. Felix Bruns Buch rezensiert
Platz in Europa? Was ist unsere Aufgabe in                                                    zehn Reden und Texte von Schweizer Per-
diesem Europa? Auf viele Fragen gibt es                                                       sönlichkeiten, die das Nachdenken der
auch viele Antworten, doch letztlich laufen                                                   Schweiz über ihre Beziehungen zu Europa
bei den im Buch vorgestellten Persönlich-                                                     in den letzten hundert Jahren widerspie-
keiten alle Fragen auf die eine Antwort hin-                                                  geln. Jeder Text wird vom Autor vorgestellt
aus: Man kann sich einig sein in der Unei-                                                    und in seiner Originalversion wiedergege-
nigkeit, man kann sich gleich sein in der                                                     ben. Zu den Beitragenden gehören unter
                                                                                              anderem Gret Haller, Peter von Matt und
Verschiedenartigkeit, man kann sich selbst
                                                                                              Lukas Bärfuss.
finden in der Verworrenheit. Möglich wird
dies durch die europäischste aller Ideen:                                                     Felix Brun, «Sprechen wir über Europa», Hier und Jetzt,
                                                                                              Baden, April 2019, 224 Seiten
die Aufklärung. Im Bekenntnis zur Aufklä-

europa.ch 1/2019                                                                                                                                        9
"Der EU-Beitritt wäre ein Gewinn - an Souveränität."
AKTIVITÄTEN DER NEBS

                     Nicht abwarten, mitmachen!
                                        Von Raphaël Bez, Co-Generalsekretär der Nebs

Als das Projekt der Europäischen Union noch in den Kinderschuhen                        Ufer des Vierwaldstättersees stattfand; die
steckte, hat die Schweizer Zivilgesellschaft aktiv dazu beigetragen und                 UEF hielt 1947 ihren Gründungskongress
                                                                                        in Montreux ab, und die Paneuropäische
Raum für Dialog und Austausch ermöglicht. Mit ihrem Engagement auf                      Union des österreichischen Grafen Richard
europäischer Ebene setzt die Nebs heute diese lange Tradition fort.                     Coudenhove-Kalergi organisierte 1947 und
                                                                                        1948 Treffen in Gstaad und Interlaken. Die
                                                                                        in diesen Vorhaben engagierten Schweize-
                                                                                        rInnen – vor allem aus der Zivilgesellschaft
                                                                                        und nicht aus den herrschenden Klassen
                                        Eine «europäische Renaissance» wünscht          stammend – teilten das Gefühl einer «eu-
Europäische Bewegung Interna­           sich der französische Präsident Emmanuel        ropäischen Mission» und glaubten zu erle-
tional (EBI): Sie ist in 34 Ländern     Macron. Annegret Kramp-Karrenbauer, seit        ben, was auch Europa erleben sollte, näm-
vertreten, vereint Akteure aus Zivil-   dem Rücktritt von Angela Merkel CDU-            lich ein demokratisches und harmonisches
gesellschaft, Wirtschaft, Gewerk-       Chefin, teilt viele dieser französischen For-   Zusammenleben unterschiedlicher Kultu-
schaften, NROs, politischen Par­
                                        derungen nicht. Der spanische Regierungs-       ren, Sprachen und Religionen. Die Europa-
teien, Hochschulen und lokalen
                                        chef Pedro Sanchez hat im Europäischen          Union Schweiz, die Schweizer Sektion der
Behörden und setzt sich ein für die
europäische Zusammenarbeit und          Parlament in Strassburg für ein Europa mit      UEF und Vorgängerin der Nebs, hat sich für
Integration gemäss den Grundsät-        föderaler Struktur plädiert. Ich könnte auch    die Schaffung einer demokratischen Euro-
zen des Friedens, der Demokratie,       noch eine weitere Vision von Europa er-         päischen Verfassung, eines Europäischen
der Freiheit, der Solidarität, der      wähnen: jene von Mark Rutte, dem nieder-        Parlaments, eines Europäischen Bundes-
­Gerechtigkeit und der Achtung von      ländischen Ministerpräsidenten. Diese Dis-      gerichts und einer Europäischen Regie-
 Menschenrechten und Rechts-            sonanzen sind nicht neu und uns sogar           rung eingesetzt. Die Zuständigkeit dieser
 staatlichkeit. Die Nebs ist die        ziemlich vertraut: Tatsächlich gehen die        föderalen Institutionen sollte die Aussen-,
 Schweizer Sektion.                     Meinungen darüber, wohin sich der euro-         Verteidigungs-, Zoll- und Geldpolitik umfas-
                                        päische Integrationsprozess bewegen soll-       sen. Die offizielle Schweiz, die diesen «eu-
Union der Europäischen Föderalis-
                                        te, von einem Mitgliedstaat zum anderen         ropäischen Aktivisten» misstrauisch ge-
ten (UEF): Sie besteht aus 24 Sek­
                                        auseinander, und das schon seit langem.         genüberstand und sich vor allem der
tionen, ist Mitglied der EBI und
­bezweckt die Förderung eines fö-       Vorschläge liegen jedoch vor und stehen         Neutralität ­ verbunden fühlte, wollte zur
 deralen Europas: einer demokrati-      zur Diskussion: So veröffentlichte die Jun-     Verwirklichung des europäischen Projekts
 schen und effizienten ­Europäischen    cker-Kommission 2017 ein Weissbuch mit          nicht beitragen. So entfaltete sich die EU
 Union, welche die Vielfältigkeit der   fünf Zukunftsszenarien. Auch die Zivilge-       ohne die Schweiz.
 europäischen Staaten wahrt. Die        sellschaft und die Privatwirtschaft machen      Heute wie in der Vergangenheit liegt es da-
 Nebs ist die Schweizer Sektion.        sich regelmässig für Reformen stark.            her an der Zivilgesellschaft, den Schweizer­
 ­Raphaël Bez ist Mitglied des UEF-                                                     Innen zu ermöglichen, ihren Beitrag zu leis-
  Vorstands. Im Komitee der UEF ha-     Und was ist mit der Schweiz?                    ten. Bei der Nebs wollen wir zur Entwicklung
  ben insgesamt neun Schweizer De-      ­Betreffen diese Überlegungen zur               der EU beitragen, ohne den Beitritt unseres
  legierte Einsitz.
                                         Zukunft Europas auch unser                     Landes abzuwarten. Letztlich sind wir ge-
                                         Land? Sollen wir uns daran be­                 nauso EuropäerInnen wie ­unsere österrei-
                                         teiligen?                                      chischen, französischen, deutschen oder
                                                                                        italienischen NachbarInnen! Die Zukunft
                                        In der Zwischenkriegszeit und kurz nach         Europas ist auch die unsrige. Daher ist un-
                                        dem Zweiten Weltkrieg stand die Schweiz         ser Engagement im Rahmen der Euro­
                                        immerhin im Mittelpunkt der Entwicklung         päische Bewegung International und der
                                        des europäischen Projekts: Die erste Sek-       ­Union der Europäischen Föderalisten sinn-
                                        tion der Union der Europäischen Föderalis-       voller denn je. ★
                                        ten (UEF) wurde 1934 in Basel gegründet;
                                        Winston Churchill hielt seinen berühmten
                                        Appell zur Schaffung der «Vereinigten Staa-
                                        ten von Europa» 1946 an der Universität
                                        Zürich, während die Hertensteiner Konfe-
                                        renz der Europäischen Föderalisten am

10                                                                                                                 europa.ch 1/2019
AKTIVITÄTEN DER NEBS

        2019–2020: das Programm der Nebs
                                        Von Lukas Wegmüller, Co-Generalsekretär der Nebs

Mit den eidgenössischen Wahlen 2019 und der sogenannten «Begrenzungs­
initiative», die 2020 zur Abstimmung kommt und darauf abzielt, die Personenfrei­
zügigkeit mit der Europäischen Union zu beenden, hat die Nebs viel zu tun!

National- und Ständeratswahlen:                           welche Richtung sich die Beziehungen
Das Europrofil der Kandidieren-                           Schweiz-EU weiterentwickeln sollen. Über
den                                                       unsere Website werden unsere Mitglieder
Am 20. Oktober 2019 werden wir in der                     die Gelegenheit haben, die Fragen eben-
Schweiz das neue Parlament für die nächs-                 falls auszufüllen und ihre Antworten mit je-
ten vier Jahre wählen. Für die Nebs, für die              nen des Nebs-Vorstands zu vergleichen.
ProeuropäerInnen in diesem Land ist das
ein Risiko, aber auch eine grosse Chance.                 Die Europatour 2019
Jede Stimme im Parlament, welche den                      Unsere jährliche Europatour wird ebenfalls
öffnungsorientierten Kurs mitträgt, ist eine              ganz im Zeichen der Wahlen stehen. Auf

                                                                                                                                                © Michael Girsberger
Chance und ein Plus für uns – jede, die es                Podien und Veranstaltungen werden wir im
nicht tut, das exakte Gegenteil. Damit die                September und Oktober versuchen, Öf-
Nebs-Mitglieder wissen, welche Parlamen-                  fentlichkeit für einen konstruktiven Diskurs
tarierInnen ihnen europapolitisch am nächs-               über Europa und die EU und die dafür ste-
ten stehen, geben wir Kandidierenden die                  henden Kandidierenden zu schaffen.
                                                                                                          «Die Nebs leistet einen wichtigen
Möglichkeit, einen separaten Smartspider
                                                                                                          Beitrag zur Erklärung und Weiter-
zum Thema «Europa» auszufüllen. Der da-                   Eine europäische Vorkampagne                    entwicklung der Beziehungen zwi-
raus resultierende Eurospider zeigt dann                  Über all dem schwebt die SVP-Kündigungs-        schen der Schweiz und der EU.
auf, wie der oder die Kandidierende im                    initiative, welche voraussichtlich gegen        Sie wirkt der Anti-EU Polemik ent-
Spannungsfeld zwischen Abschottung und                    Ende des Jahres 2020 zur Abstimmung             gegen und hilft, die Beziehungen
Öffnung, zwischen politischer, gesellschaft-              kommt. Je besser wir darauf vorbereitet         der Schweiz zur EU zu sichern. Des-
licher und wirtschaftlicher Integration und               sind, je aktiver wir jetzt schon werden, des-   halb unterstütze ich die Kampag-
globaler und regionaler Zusammenarbeit                    to mehr Chancen haben wir, diese Abstim-        nen der Nebs. Helfen Sie mit, jeder
steht und was die Positionen zu verschie-                 mung zu gewinnen. Zurzeit erarbeiten wir        Beitrag zählt!»
denen europarelevanten Optionen sind.                     die möglichen Elemente einer Vorkampag-         Michael Girsberger,
Und selbstverständlich wird die Nebs dann                 ne, um im Moment der tatsächlichen Kam-         CEO Girsberger Holding und
veröffentlichen, wer uns am nächsten ist                  pagne bereit zu sein. Wir möchten so bald       Gönnerclub-Mitglied
und unsere Positionen am genausten wi-                    wie möglich ein proeuropäisches «Grund-
dergespiegelt. Natürlich mit dem Ziel, dass               rauschen» schaffen und damit den Boden
viele WählerInnen davon Gebrauch machen                   legen für die anschliessende Kampagne.
und möglichst viele ProeuropäerInnen ins                  Wir wollen aufzeigen, wie europäisch, wie
Parlament gewählt werden. Denn diese be-                  länderübergreifend vernetzt unser Leben
stimmen dann wieder für vier Jahre mit, in                doch bereits ist. Neben den kreativen Kam-
                                                          pagnenbausteinen, mit welchen wir Auf-
                                                          merksamkeit generieren möchten, wollen
 Wenn auch Sie die Nebs unterstützen möchten,             wir Falschaussagen klarstellen und inhalt-
 treten Sie ihr als Mitglied bei (Beitrag von 100 Fran-   lich über die Vorteile einer starken Bezie-
 ken pro Jahr für Einzelmitglieder, 150 Franken für       hung zu Europa sprechen. Ideen haben wir
 Paare und 40 Franken reduziert) oder als Gönne-          viele – der schwierigste Part ist die Frage,
 rIn (Jahresbeitrag als Mitglied des Gönnerclubs          worauf wir welchen Fokus legen, und wie
 von 500 Franken pro Jahr), schreiben Sie uns             wir das alles bezahlen können. Daneben
 oder besuchen Sie unsere Website!                        analysieren wir selbstverständlich auch
 www.europa.ch                                            die aktuellen Stärken und Schwächen der
 info@europa.ch
                                                          Nebs. Und sind bemüht, in allem was wir
 PK 30-9024-9
                                                          machen, besser zu werden. ★

europa.ch 1/2019                                                                                                                          11
SEKTIONEN

                                Europapolitik in einem
                                 schwierigen Umfeld
                        Von Jacques Ducry, Präsident der Sektion Tessin und Vizepräsident der Nebs

                                                                                      staltung nahmen mehr als hundert Perso-
                                                                                      nen teil.
                                                                                      1979, als ich jung war, haben wir mit der
                                                                                      wertvollen Hilfe von Luzius Wasescha, ehe-
                                                                                      maliger Schweizer Botschafter, die drei Pro-
                                                                                      europäer-Sektionen Bellinzona, Locarno
                                                                                      und Lugano zu einer einzigen vereint. So
                                                                                      wirken wir seit vierzig Jahren, ohne jemals
                                                                                      in Engagement oder Prinzipien nachzulas-
                                                                                      sen. All dies wäre nicht möglich gewesen
                                                                                      ohne den Einsatz, die Leidenschaft und die
                                                                                      Beständigkeit vieler bekannter oder unbe-
                                                                                      kannter Menschen, die die Vorurteile, die
                                                                                      Engstirnigkeit und die populistischen Ten-
                                                                                      denzen vieler TessinerInnen in Frage stell-
                                                                                      ten.
                                                                                      2005 habe ich die Nachfolge von Fulvio Pel-
                                                                                      li als Präsident der Tessiner Nebs-Sektion
                                                                                      angetreten. Wir zählen heute etwa hundert
                                                                                      Mitglieder aus allen politischen Parteien
Jacques Ducry                                                                         (mit Ausnahme der extremen). An dieser
© Nomes-Nebs/SodaFilm                                                                 Stelle möchte ich mich bei allen Mitglie-
                                                                                      dern des Tessiner Vorstandes bedanken,
                                      1803 rief Konsul Napoleon Bonaparte den         welcher sich an der Generalversammlung
                                      Kanton Tessin ins Leben, eine Region mit        vom 14. Januar 2019, wo wir auch unsere
                                      ausschliesslich italienischer Sprache und       Statuten revidierten, neu gebildet hat.
                                      Kultur, welche damals von Norden her von        Was uns fehlt, ist das Mitwirken junger
                                      Deutschsprachigen und von Süden her von         Menschen. Immerhin ein neues junges
                                      Langobarden besetzt war. Umgeben von            Mitglied ist unserem Vorstand beigetreten.
                                      Bergen, Tälern und voralpinen Seen, spie-       Wir müssen jetzt alles daran setzen, dass
                                      gelt die Geografie des Tessins seine Zu-        sich die young european swiss | yes auch
                                      rückgezogenheit und Verschlossenheit –          im Tessin vermehrt etablieren.
                                      ausser wenn es um italienisches Geld            In unserem Kanton spielt die Lega dei Tici-
                                      geht!                                           nesi ihre bekannte Rolle, und ihr Einfluss
                                      Dementsprechend waren die BürgerInnen           erstreckt sich auch auf andere politische
                                      des Kantons schon immer entschieden ge-         Parteien. Jedoch missriet ihr Versuch, den
                                      gen jede Öffnung gegenüber Europa und           Gemeinden zu verbieten, am 9. Mai – dem
                                      den Vereinten Nationen. Also war ich über-      Europatag – die europäische Flagge zu his-
                                      rascht – und sehr glücklich –, als das Tessin   sen. Es ist mir nämlich nicht ohne Stolz ge-
                                      am 25. November 2018 die sogenannte             lungen, im Kantonsparlament eine Mehr-
                                      «Selbstbestimmungsinitiative» ablehnte;         heit gegen dieses Ansinnen zu finden.
                                      ein sehr positives Ergebnis, zu dem wahr-       Unsere Sektion arbeitet in einem schwieri-
                                      scheinlich auch das grosse Engagement           gen Umfeld. Aber wir widersetzen uns, wir
                                      unserer Nebs-Sektion im Abstimmungs-            glauben an Europa und wir setzen uns
                                      kampf beigetragen hat. In Massagno orga-        ein… immer und immer wieder! ★
                                      nisierten wir z. B. ein Streitgespräch zum
                                      SVP-Text und zeigten den Film «Der Staat
                                      gegen Fritz Bauer» (2015). An dieser Veran-

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YES

        «Stop Roaming»-Kampagne: für die
       ­Abschaffung der Roaminggebühren
                       Von Cécile Kessler, Vizepräsidentin der young european swiss | yes

In der öffentlichen Debatte wird vor allem
aus nationalistischen und rechtspopulisti-
schen Kreisen immer wieder betont, die
EU sei überflüssig. Sie ignorieren dabei
gerne die Errungenschaften, von denen die
Einwohnerinnen und Einwohner Europas
dank der EU profitieren: Nebst Menschen-
rechtsschutz, Frieden und Sicherheit garan-
tiert die EU auch umfassende Rechte zum
Beispiel beim Konsumentenschutz, bei der
Gesundheitsversorgung, beim Datenschutz
oder bei den persönlichen Freiheiten.
Während die EinwohnerInnen der Schweiz
dank den Abkommen mit der EU viele die-
ser Rechte ebenfalls in Anspruch nehmen
können, sind sie in einem Bereich klar be-
nachteiligt: bei den Roaminggebühren. Am
1. Juli 2017 wurden in der EU und im Euro-
päischen Wirtschaftsraum (EWR) die Roa-
minggebühren für Endverbraucher abge-                                                           Mario Tipura, Cécile Kessler und
schafft. Seitdem können alle Mobiltelefon-                                                    Samuel Huber von der yes bei einer
kunden aus diesen Ländern ihr Gerät zu         Roaminggebühren zu unterzeichnen. Damit             Unterschriftensammelaktion
den gleichen Bedingungen und ohne Zu-          wollen wir einerseits auf die Vorteile einer                             in Bern.
                                                                                                                    © yes/Mario Tipura
satzkosten in der ganzen EU und im EWR         EU-Mitgliedschaft aufmerksam machen, an-
wie in ihrem Herkunftsland verwenden. Als      dererseits möchten wir die grenzüberschrei-
einziges Land in West- und Mitteleuropa er-    tende Vernetzung fördern. Der Grossteil
hebt die Schweiz zusätzliche Gebühren auf      unserer persönlichen Kommunikation läuft
Surfen, Telefongesprächen und Kurznach-        heute über mobile Geräte, viele unter uns
richten im Ausland. Zwar behaupten inlän-      haben Familie, Freunde und Bekannte in          Die Petition «Stop
dische Telekomanbieter immer wieder, sie       anderen europäischen Ländern. Insbeson-         Roaming» können
hätten die Gebühren in ihren All-Inclusive-    dere die «Generation Erasmus» verbringt         Sie auf www.
Spezialabonnementen abgeschafft. Dies          viel und längere Zeit im Ausland, wo sie        stop-roaming.ch
sind jedoch Mogelpackungen, wo die Roa-        mit ihrem sozialen Umfeld in der Schweiz        unterschreiben.
minggebühren im Abopreis integriert sind.      ohne zusätzlichen Aufwand kommunizieren         Für weitere Infos:
Ungefähr 600 Franken mehr im Jahr kostet       möchte. Kommunikation, reger Austausch          info@y-e-s.ch.
das «inOne mobile go»-Abo der Swisscom         und grenzüberschreitende Unternehmun-
im Vergleich zum gleichwertigen Abo ohne       gen fördern das Verständnis über länderspe-
freies Roaming (SRF «Espresso» vom 1. Fe-      zifische Unterschiede und ebnen den Weg
bruar 2019). 600 Franken müssen in der         für eine gemeinsame europäische Vision.
Schweiz Ansässige zusätzlich zahlen, wenn      Mit Verteilaktionen und Unterschriften-
sie die gleichen Dienstleistungen in An-       sammlungen an Bahnhöfen, Universitäten
spruch nehmen möchten wie Einwohner der        und auf der Strasse machen wir auf unsere
übrigen Länder West- und Mitteleuropas!        Kampagne aufmerksam. Die Petition wird
Diesen Misstand möchten die young euro-        zu Beginn der Sommerferien eingereicht –
pean swiss mit ihrer Kampagne «Stop Roa-       zum Zeitpunkt, an dem die Schweizerinnen       Werde Mitglied der yes!
ming» beheben. Wir verlangen mit unserer       und Schweizer wieder daran erinnert wer-       Alle Infos sind auf unserer
Petition vom Bundesrat, mit der EU ein bila-   den, welche Vorteile die EU-Bürgerinnen
                                                                                              Webseite: www.y-e-s.ch
terales Abkommen zur Abschaffung der           und Bürger zusätzlich geniessen. ★

europa.ch 1/2019                                                                                                                 13
EURO-MYTHEN AUFGESPIESST

Cool bleiben, Herr Geizhals: Sie müssen
  die € 22.57 ja gar nicht bezahlen…
                                          1.  Bis jetzt hatten sich in der Schweiz zum   halten. Ist das etwa zu viel, wie Somm
                                          Zwecke der primitiven EU-Verunglimpfung        suggeriert?
                                          nur Boulevardmedien und rechtsgewi­
                                          ckelte Blogschreiber bei der manisch EU-       3.   Der Abstecher zum – in der Tat privaten –
                                          feindlichen Londoner Presse bedient, die       Abholen eines Hündchens ist keine Staatsaffä-
                                          routinemässig jedes Mückenembryo zum
«EU-Chef Juncker                          Elefanten aufpumpt. Ab jetzt aber dürfen
                                                                                         re, sondern ein winziges Mosaiksteinchen in
                                                                                         Junckers mörderischem Terminplan vom 10. bis
verschwendet                              wir offenbar britischen Anti-EU-Schwach-       12. Januar: Donnerstag: Neujahrsempfang
                                          sinn auch unserer «seriösen» Presse ent-
Steuergeld!»                              nehmen.
                                                                                         beim belgischen König; Flug nach Bukarest zur
                                                                                         Eröffnung der rumänischen EU-Präsident-
                                                                                         schaft; offizielles Dîner. Freitag: Vieraugenge-
«[EU-Kommissionspräsident Jean-           2.  Mit Verlaub: Das Präsidium der Europä-     spräch mit Präsident Klaus Iohannis; Empfang
Claude Juncker] hat auf dem Heim-         ischen Kommission ist eines der anstren-       aller EU-Kommissare bei Iohannis; gemeinsa-
weg von einer Veranstaltung in            gendsten und verantwortungsvollsten öf-        me Pressekonferenz mit Iohannis; Treffen mit
Bayern, wo er mit einem Preis ge-         fentlichen Ämter der Welt. Der Präsident ist   den Präsidenten beider rumänischer Kammern;
ehrt worden war, einen dreistündi-
                                          Dienstherr über mehr als 40 000 Arbeitneh-     Treffen mit der Ministerpräsidentin; Arbeitses-
gen Umweg angeordnet, um ein
                                          mer, überwacht und koordiniert 28 Gene-        sen der EU-Kommissare mit den rumänischen
Hundeheim aufzusuchen. Hier hol-
te er mit seiner Frau einen [herren-      raldirektionen, hält ständigen Kontakt zu      Ministern; Abflug nach München; Transfer nach
losen Hund] ab. (…) Im Daily Tele­        den Regierungen von 28 Mitgliedländern,        Tegernsee zum Ludwig-Erhard-Gipfel; Juncker
graph (…) erschien ein rührendes          hat sich vor dem Europäischen Parlament        hält eine Rede und erhält den «Freiheitspreis
Bild (…): Alle drei (…) sind über-        und dem Europäischen Rat zu rechtfertigen      der Medien»; Teilnahme am Dîner; Transfer
glücklich. Weniger glücklich ist          und muss von Amtes wegen eine erdrü-           nach Vilseck; Übernachtung in einem Landgast-
die Tatsache, dass Juncker für            ckende Flut von Repräsentationsterminen        hof. Samstag: Abholen des Hündchens im Tier-
­diesen (…) Abstecher (…) einen           wahrnehmen. Das ist mit einer nie abrei-       heim; Rückreise nach Luxemburg. Selbstver-
 Dienstwagen in Anspruch nahm;            ssenden Kette von Reisen und einem sehr        ständlich erfolgten alle Landtransporte im
 vermutlich liess er sich gar von         spärlich bemessenen Privatleben verbun-        Dienstwagen; aus Sicherheitsgründen darf ein
 ­einem Chauffeur fahren. (…) Der
                                          den. Zum Vergleich: Ein Schweizer Bundes-      Amtsträger wie Juncker schon gar nicht selber
  Steuerzahler finanzierte diese Hun­
                                          rat bezieht im Jahr 450 000 Franken, plus      ans Steuer.
  derettung (…). Wenn man bedenkt,
  dass Juncker jeden Monat gut            30 000 Franken Spesenpauschale. Juncker
  30 000 Franken Lohn bezieht, wird       bezieht, wie Somm selber schreibt, monat-      4. Die «private» Fahrt von Tegernsee im Sü-
  verständlich, dass manche Leute         lich 30 000 Franken, macht 360 000 Fran-       den nach Vilseck im Norden der Stadt München
  (…) sich empören: «Gott sei Dank        ken; auch er wird eine Spesenpauschale er-     war ziemlich genau 250 km lang. Die Karten-
  kehren wir der EU bald den Rü-                                                         dienste im Internet geben an, was die durch-
  cken!», liess sich ein britischer                                                      schnittlichen Transportkosten einer Autofahrt
  Konservativer zitieren (…).»                                                           sind: € 22.57. Man fragt sich: Was geht das
Kolumnist Markus Somm, SonntagsZeitung,                                                  Herrn Somm überhaupt an? Er gehört mit Ga-
20. Januar 2019                                                                          rantie nicht zu den 500 Millionen «europäi-
                                                                                          schen Steuerzahlern», welche diese gewaltige
                                                                                            Summe unter sich aufteilen müssen. Der
                                                                                              von Somm zitierte «Konservative» übri-
                                                                                                gens, ein Tory-Hinterbänkler aus Leices-
                                                                                                  tershire, vertraute dem gleichermassen
                                                                                                   europhoben Daily Express noch an:
                                                                                                    «Dies beweist eine flagrante Gering-
                                                                                                    schätzung für das Geld der Steuer-
                                                                                                    zahler.» Vermutlich war so viel verlo-
                                                                                                    gene Pathetik sogar Herrn Somm ein
                                                                                                    bisschen zu peinlich, weshalb er sie
                                                                                                    uns verschwieg. (sp)★

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