Deutschland und Frankreich im Leben und Denken von Albert Schweitzer
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Deutschland und Frankreich im Leben und Denken von Albert Schweitzer Ein paar Einblicke Jean-Paul Sorg Wie schwierig ist es doch beides zu sein, deutsch und französisch. Dies zu verstehen und zu ak- zeptieren, damit kann man sich schwertun. Albert Schweitzer war von der festen Absicht und einem tiefgehenden Verlangen beseelt, den Zwiespalt zwischen den beiden Nationen und den beiden Kulturwelten zu überwinden und zu überbrücken. Sein humanitäres Engagement in Lambarene gilt es auch in dieser Perspektive zu sehen. Als deutscher Staatsbürger entschied er sich bewusst dafür, sein Lebenswerk in Gabun, einer französischen Kolonie, ins Werk zu set- zen. Der folgende Beitrag versucht einige Aspekte dieser besonderen Zweierbeziehung, dieser Doppelkultur nachzuzeichnen, die letztendlich Ausdruck einer zutiefst humanitär geprägten Herzens- und Weltoffenheit war. Albert Schweitzers einzigartige Position (in Zeit und Raum) – Deutscher Staatsbürger von seiner Geburt 1875 bis 1919: 44 Jahre. Französischer Staatsbürger von 1919 bis 1965: 46 Jahre. (Keine Änderung der Staatsangehö- rigkeit 1940 wie für die im Elsass gebliebenen oder die ins Elsass zurückkehrten Elsässer, da er sich in Gabun befand und Gabun eine französische Kolonie blieb, die Teil des freien Frankreichs geworden war.) Sein Leben besteht daher politisch aus zwei fast gleichen Teilen. Das sind keine Dinge, die man wählt. Das sind Dinge, die »passieren«. Zufällige Daten der Geschichte. Aber in sei- nem speziellen Fall nehmen sie einen sym- bolischen und sogar emblematischen Wert an. Er war ein Mann dieser beiden Kulturen – und anderer! Die Kulturen sind nicht auf ih- ren nationalen Umfang beschränkt. Wenn es Geburtshaus in Kaysersberg eine nationale Kultur gibt, wenn sie als solche (Archives Centrales Albert Schweitzer Gunsbach) Badische Heimat 4 / 2020 Deutschland und Frankreich im Leben und Denken von Albert Schweitzer 449 449_Sorg_Deutschland und Frankreich.indd 449 24.11.2020 18:21:00
fen, durchlässig und gemischt. Keine national reine (oder rein nationale!) Kultur. Der Hu- manismus, das humanistisches Bewusstsein, beginnt immer und setzt sich mit einer Ab- lehnung nationalistischer Versuchung, einer Ablehnung des Gefangenseins, fort. Die Beru- fung und natürliche Bewegung des Humanis- ten besteht darin, Grenzen zu überschreiten. Eine kritische Reflexion über das Phäno- men der Kultur steht im Mittelpunkt von Schweitzers philosophischem Denken, sie ist in der Tat der Anstoß, der erste Impuls. Er Die Familie Albert Schweitzers 1888 (Archives Centrales Albert Schweitzer Gunsbach) stellte seine wichtigsten philosophischen Er- zeugnisse unter die seltene Kategorie der Kul- turphilosophie. Wir müssen Kultur ins Fran- dargestellt und eingeführt wird, stellt sie in zösische als Zivilisation übersetzen. Es ist der langen Geschichte nur einen Augenblick daher eine »Philosophie der Zivilisation«. So dar, nur ein Segment einer Kultur, immer of- schwer dieser Name auch ist. Sie entspricht je- Albert Schweitzer als Direktor des protestantischen Seminars in Straßburg inmitten seiner Studenten. Darunter auch mützentragende Mitglieder der Wilhelmitana, einer christlichen nichtschlagenden Verbindung – um 1904 (Archives Centrales Albert Schweitzer Gunsbach) 450 Jean-Paul Sorg Badische Heimat 4 / 2020 449_Sorg_Deutschland und Frankreich.indd 450 24.11.2020 18:21:03
Der Vikar Albert Schweitzer an der Orgel seiner Buch: Deutsche und Französische Pfarrei St. Nikolai in Straßburg – 1909 Orgelbaukunst und Orgelkunst – 1906 (Archives Centrales Albert Schweitzer Gunsbach) (Archives Centrales Albert Schweitzer Gunsbach) doch einem intellektuellen Bedürfnis und der war er nicht überrascht. Was er befürchtete, Notwendigkeit, die man heute, in diesen Zei- was übrigens viele erwarteten, nachdem sie ten des völligen Umbruchs, für eine »Politik sich seit langem darauf vorbereitet und zum der Zivilisation« fühlt (nach Edgar Morin). Losschlagen angeschickt hatten, wurde plötz- Seit seinen ersten Jahren an der Universität, lich im Laufe unglücklicher Umstände ver- interessiert und fasziniert von der Philoso- wirklicht. Der Krieg, der sich sofort über die phie von Schopenhauer und Nietzsche, fragte Kolonien weltweit ausbreitete, erreichte ihn der Student Albert Schweitzer nach der in seinem Krankenhaus »zwischen Wasser Realität des Fortschritts und seiner Idee, sei- und Urwald« am Ufer des Ogowes, auf ei- ner Ideologie. Stattdessen beobachtete er Phä- ner Missionsstation. Die christliche Religion nomene des Rückschritts und des Verfalls. In bot keine Garantie für Neutralität. Die Mis- keiner Weise führte der materielle Fortschritt sionarsbrüder beugten sich ohne Murren den zu offensichtlichen geistigen, politischen und nationalen Militärbehörden. Sie wurden vom moralischen Fortschritten, die man für un- patriotischen Fieber erfasst und vergaßen den umkehrbar halten könnte. Die Kriegsdro- Geist der universellen Solidarität. Als Deut- hungen schwebten unaufhörlich über Europa, sche wurden Helene und Albert Schweitzer und als im August 1914 ein Konflikt ausbrach, als Feinde betrachtet, überwacht und unter Badische Heimat 4 / 2020 Deutschland und Frankreich im Leben und Denken von Albert Schweitzer 451 449_Sorg_Deutschland und Frankreich.indd 451 24.11.2020 18:21:03
geistige und jeder materielle Fortschritt Kulturbedeutung. Der Wille zur Kultur ist also universeller Fortschrittswille, der sich des Ethischen als des höchsten Wertes bewusst ist. Bei aller Bedeutung, die den Errungenschaften des Wissens und Kön- nens zukommt, ist jedoch offenbar, dass nur eine ethischen Zielen zustrebende Menschheit des Segens materieller Fort- schritte in vollem Maße teilhaftig und der mit ihnen gegebenen Gefahren Herr wer- Albert Schweitzer und Helene Schweitzer-Bresslau den könne«.1 im Zimmer A. Schweitzers im Stift – 1912 (Archives Centrales Albert Schweitzer Gunsbach) In ihrer abstrakten Allgemeinheit sind diese Worte, durchdrungen von einem elementaren Humanismus, immer noch relevant. Die öko- Hausarrest gestellt, ihre Tätigkeit im Kran- logische Krise, in die die ganze Menschheit zu kenhaus bis Dezember untersagt. den Klängen einer endgültigen Apokalypse Daran gehindert, Arzt zu sein, liest Schweit- gekommen ist, macht sie heute, zu Beginn des zer seine alten philosophischen Notizen und 21. Jahrhunderts, noch aktueller oder prophe- stellt sie unter das Licht der Katastrophe, die tischer als vor hundert Jahren bei der Entfes- sich ereignet hat. Er sieht deutlich den Zu- selung eines weltweiten Krieges. Das grund- sammenhang zwischen dem morbiden Zu- legende Problem besteht darin, die Kräfte stand der Zivilisation und den damals vor- der Technologie zu zähmen und zu mäßigen, herrschenden Vorstellungen von Welt und die beim Erzeugen zerstören und irreparable Leben, die todbringenden Verbindungen Schäden verursachen. zwischen einem blinden Fortschrittsglauben, Von einer diplomatischen Spannung zur dem verharmlosenden Kult des Machtwil- nächsten erschien das Gespenst des Krie- lens (imperial und national) und der Kultur ges mehrmals vor der fatalen Verkettung des Todestriebs. des Sommers 1914. Im Juli 1911 war dies die zweite Marokko-Krise. Deutschland schickte »Die Ideale der wahren Kultur waren ein Kanonenboot vor Agadir, um Frankreich kraft los geworden, weil die idealistische einzuschüchtern, das sein Protektorat auf Weltanschauung, in der sie wurzeln, uns ganz Marokko ausdehnen wollte. Die Riva- nach und nach abhanden gekommen war. lität zwischen den beiden antagonistischen Alle Geschehnisse, die sich in den Völkern Mächten, mit den Hintergedanken der Ra- und der Menschheit ereignen, gehen auf che auf der einen Seite, der Abschreckung auf geistige, in der Weltanschauung gegebene der anderen Seite, ein Teufelskreis, verlagerte Ursachen zurück. Was aber ist Kultur? Als sich auf den afrikanischen Boden des koloni- das Wesentliche der Kultur ist die ethische alen Besitzes. Aussicht auf Feilschen zwischen Vollendung der einzelnen wie der Gesell- Großen: Im Gegenzug für seine Eroberungs- schaft anzusehen. Zugleich aber hat jeder freiheit in Marokko würde Frankreich ein 452 Jean-Paul Sorg Badische Heimat 4 / 2020 449_Sorg_Deutschland und Frankreich.indd 452 24.11.2020 18:21:04
Stück Kongo an Deutschland abtreten, das in Die französischen Missionare werden Gabun an das deutsche Kamerun angrenzte. das Gebiet sofort räumen und einer deut- Zunächst schlug das Herz von Helene schen Gesellschaft überlassen müssen. Bresslau, Tochter des Dekans der Universi- Dann müssen die Kinder gleich deutsch tät Harry Bresslau, einem herausragenden ›Heil Dir im Siegerkranz‹ etc. lernen. Üb- Mediävisten, spontan für Berlin. Sie hatte ge- rigens würde Frankreich es genauso ma- rade ihre Pflegeausbildung im Frankfurter chen, wenn es eine deutsche Kolonie über- Bürgerspital absolviert und war bereit, mit ih- nähme. Es ist der wahnsinnige Nationa- rem Freund Albert nach Gabun auf eine Mis- lismus, der immer in erster Linie kommt. sionsstation nach Lambaréné zu gehen, um Dann ist für mich kein Platz, in so unsin- dort ein Krankenhaus zu eröffnen. Albert sei- nigen Übergangszeiten will ich mich nicht nerseits stand kurz vor dem Abschluss seines zerquälen.«2 Medizinstudiums. Doch nun macht die Pari- ser Evangelische Missionsgesellschaft, bei der Aber lassen Sie uns ihn nicht missverstehen. er sich bereits 1905 beworben hatte, Schwie- Er will seine Freundin über seine Gefühle be- rigkeiten, wirft theologische Einwände auf, ruhigen und seine Position für sie klären. Po- errichtet administrative Hindernisse (Aner- litische Fragen sollen sie nicht trennen. kennung der Diplome, nationale Identität …). Schweitzer lehnt die Lösung der »kleinen Ein- »Du weißt, dass ich Deutschland nicht bürgerung« strikt ab, also eine schnelle Ein- hasse, sondern verehre. Aber dieser Grö- bürgerung, den Elsass-Lothringern vorbehal- ßenwahn, dem Anstand, Ehrlichkeit, Mo- ten, die auf ihr Herzen hören und sich noch ralität etc. nicht mehr sind als leere Be- spät für Frankreich entscheiden. Doch die- griffe, ist dieses Volkes unwürdig … Sie ser Kampf gegen Schikanen und politischen wissen, für mich ist es ein großer Schmerz, Druck strapaziert seine Nerven. Er flüchtet dass Deutschland, das als geistige Macht sich kurz in das Verfassen einer Geschichte der der Welt so viel zu geben hätte … das paulinischen Forschung. In einem therapeuti- Deutschland, dem ich angehöre – dass schen Urlaub an der Ostseeküste korrigiert Deutschland alles, alles in äußerer Macht die Freundin Helene (Lene) die Manuskripte sucht und hört in demselben Maße aus, aus der Ferne und verfolgt die Marokko- geistige Kraft zu sein … Krise in den Zeitungen. Sie findet, dass es am Ich hatte größere Ideale für Deutschland Ende nicht schlecht wäre, wenn Gabun in die als du – darum bin ich härter gegen es … Hände Deutschlands fallen würde, dass dann sehr hart … Aber was gehen uns die Völ- ein großes Hindernis vor ihnen ausgeräumt ker an? – Du und ich sind Menschen und würde … Die Berliner Missionsgesellschaft unsere Aufgaben liegen höher als all’ die- würde ihnen die Arme öffnen … ses unruhige Getue …«3 Der Elsässer Schweitzer weist sie sofort zu- recht: Im Laufe des Schreibens, in der Improvisation eines Briefes, gelangt Schweitzer dazu, seinen »Was unseren Congo betrifft, wenn er transnationalen, übernationalen, ja bereits deutsch wird, muss alsbald der deutsche postnationalen Humanismus, ganz klar zu Geist, der Eisen wachsen ließ, einziehen. definieren. Einen Humanismus, den er ver- Badische Heimat 4 / 2020 Deutschland und Frankreich im Leben und Denken von Albert Schweitzer 453 449_Sorg_Deutschland und Frankreich.indd 453 24.11.2020 18:21:04
körperte und in einer medizinischen Tätig- Welche moralische Stärke, welche Freiheit keit humanitärer Hilfe lebte, die als Pioniertat wird da erkennbar, in diesen Sätzen, die sich anerkannt werden sollte. »Lambarene« ist da- zu universellen Maximen erheben lassen! für der Name, das universelle Symbol, das von »Jede Nation hat ihren Wert nur in dem Maße, der Geschichte gegründet wurde. Nur wenige wie sie auf Erden daran arbeitet, das Reich des Jahre nach seinem Tod werden französische Endes zu verwirklichen …« Wer hört das? Wer Ärzte 1968 in Biafra, ohne sich explizit auf ihn hat die Autorität, dies zu sagen und dement- zu beziehen, in einer extremen Situation des sprechend zu handeln? Sich über die Natio- Völkermords durch Hungersnöte, das Huma- nen zu stellen? Sich der Logik der Politik zu nitäre in die Tat umsetzen. Diese Ärzte werden entziehen, ihren Interessenkalkülen und ih- sich selbst »ohne Grenzen« oder »der Welt« ren Eroberungsstrategien? Den Humanismus nennen. Schweitzer hatte bereits auf diese in diesem Geist zu denken und zu leben, mit Konzepte hingewiesen und den Weg geebnet. allen Risiken des Abenteuers? Sicher ist, wie die Geschichte zeigt, dass po- »Ich rede als Mensch über Nation … als litische Macht durch Waffen oder wirtschaft- einer der viel Schmerz hat, dass die, der liche Macht nicht ausreichen, eine Zivilisa- er geistig tief angehört, nicht das sein tion zu vereinen und zu erhalten. Kultur und will, was sie ihrer Vergangenheit und ihrer Ethik, dieses 1923 entstandene Werk, gereift Weltbestimmung nach sein sollte … Ich durch die Erfahrung des Krieges, sagt uns, rede nicht im Blick auf ›politische‹ Sym- dass es keine wahre Kultur ohne eine Ethik pathien. Ich bin Mensch und suche die Zu- der Ehrfurcht vor dem Leben jedes Menschen kunft der Welt und die Nation ist für mich und jedes Lebewesens und auf allen Ebenen das, was sie als Arbeiterin an dieser Zu- gibt. Was ist der Mensch? Ein denkendes We- kunft ist.«4 sen, das durch sein Denken auf die Tatsache seiner Existenz schließt? (Co- gito, ergo sum?) Nein, er muss sich zuerst und grundsätzlich als Lebewesen begreifen, das leben will, inmitten einer un- endlichen Anzahl von Lebe- wesen, die auch leben wollen. Diese elementare Auffassung verbietet jede Art von Anthro- pozentrismus. Dennoch öff- net sie sich für einen Huma- nismus, der sich als Aufmerk- samkeit für das Geheimnis des Phänomens des Lebens versteht, Ehrfurcht für jedes Lebewesen als Teil des großen Ankunft der Baumaterialien auf dem Flussweg Ganzen, auch wenn »man« (Archives Centrales Albert Schweitzer Gunsbach) (der Mensch) in der Notwen- 454 Jean-Paul Sorg Badische Heimat 4 / 2020 449_Sorg_Deutschland und Frankreich.indd 454 24.11.2020 18:21:04
digkeit ist, vieles Lebende zu töten, entweder um sich zu verteidigen oder sich selbst zu ernähren. Denn so ist in der Interdependenz und dem Antagonismus auf der Erde die lebendige Welt organi- siert, mit einem nicht zu redu- zierenden Anteil an Scheitern und Abscheulichkeiten. Warum Lambaréné? Wa- rum die Wahl einer Missions- station, die von einer französi- schen Gesellschaft (aus Paris) auf französischem Kolonial- gebiet betrieben wird? Warum vor allem nach mehreren Ab- weisungen oder Ausweichma- növern des Ausschusses hart- Lambaréné: eine Straße am Krankenhaus, zwischen der Großen Apotheke (Poliklinik) und der »Bouka«, in der die frisch Operierten näckig an seiner Wahl festge- versorgt wurden (Archives Centrales Albert Schweitzer Gunsbach) halten zu haben, wo doch die Alternativen nicht fehlten? Für Elsässer besteht immer die Möglichkeit einer den 9. Juli 1905 erklärt, dass er eine franzö- dritten Schweizer Lösung! »Das Komitee des sische Missionsgesellschaft bevorzuge, dass Allgemeinen Verbandes Evangelischer Mis- er, wenn er nicht angenommen werde, wider sionen der Schweiz hätte mich gerne sofort Willen seine Dienste dann einer deutschen als Arzt und Pfarrer aufgenommen.« Später, Gesellschaft anbieten würde. Er versicherte im Oktober 1915, vor Ort in Lambarene, aber ihn über seine Gefühle und seine Kenntnis wegen des Krieges als Verdächtiger überwacht Frankreichs. »Ich bin halb Pariser, weil ich je- und in seiner medizinischen Tätigkeit einge- des Jahr ein oder zwei Monate dort bin.« Er schränkt, ruft er am Rande seiner philosophi- könnte seine Beziehung zu Charles Marie- schen Schriften aus: »Gelobt sei die Schweiz, Widor anführen, auf sein auf Französisch kein Nationalstaat!«5 Unter den französischen geschriebenes Buch, J.-S. Bach, le musicien- Missionaren, die der Patriotismus paranoid poète, hinweisen, über seine Rolle in der Pari- machte, ging das Gerücht um, Schweitzer ser Bach Gesellschaft, deren Mitbegründer er wäre ein Spion im Dienste Preußens, er hätte Anfang 1905 war, aber er bestehe nicht darauf versteckt im Boden seines Koffers eine Voll- und wolle bei ihm nicht Eindruck schinden! macht des Kaisers, die ihn zum Gouverneur Vielleicht ist der Direktor Boegner sehr gut in- der Kolonie machte, falls … formiert oder hat die Mittel dazu. Alfred Boegner, dem Direktor der Pari- Der entscheidende Grund für den Ent- ser Mission elsässischer Herkunft, hatte er in schluss, eine medizinische Tätigkeit in Fran- seinem Bewerbungsschreiben vom Sonntag, zösisch-Afrika auszuüben, liegt in der Lek- Badische Heimat 4 / 2020 Deutschland und Frankreich im Leben und Denken von Albert Schweitzer 455 449_Sorg_Deutschland und Frankreich.indd 455 24.11.2020 18:21:04
lium nicht predigen, sondern es anwenden, es leben. Plötzlich hatte er das Gefühl, das gefunden zu haben. Es werden nicht die ar- men Vororte der großen Städte, es wird in Afrika sein. Das Schicksal hatte ihm ein Zei- chen geschickt. Als Kind war er beeindruckt von den Berichten des Missionars und Eth- nographen Eugène Casalis (1812–1891), aus denen sein Vater während der Versammlun- gen las, die er in seiner Pfarrei zugunsten der Mission organisierte. Casalis vertrat in Frankreich die Minderheitsströmung eines liberalen und dennoch missionarischen Pro- testantismus. Pfarrer Louis Schweitzer aus Gunsbach, Alberts Vater, hatte Sympathien für diese Strömung und wollte die Verbin- dungen zu den französischen Missionen jen- seits der Vogesen aufrechterhalten. Der rela- tiv mächtige elsässische Protestantismus, der Albert Schweitzer im französischen Internierungs- durch das Konkordat geschützt wurde, sollte lager in Garaison in den Pyrenäen – 1917 den französischen Protestantismus weiter- (Archives Centrales Albert Schweitzer Gunsbach) hin unterstützen. Diese Verbindungen, dieses Erbe, das ver- pfl ichtet, und diese Bedingungen können türe der grünen Hefte des Journal des Mis- die Wahl einer Missionsgesellschaft mit Sitz sions Evangéliques, die er regelmäßig aus in Paris erklären und weniger überraschend Paris in seinem Büro als Direktor des Tho- machen, aber alle gelegentlichen Gründe oder masstift s erhielt. In der Juninummer 1904, Ursachen, die die Biographie angibt, werden die ein Fräulein Scherdin, die seine Inter- durch den ausdrücklichen Wunsch verstärkt, essen kannte, auf seinen Schreibtisch gelegt die durch nationale Leidenschaften geprägte hatte, wurde er von einem Artikel mit dem Vergangenheit zu überwinden durch die Titel »Was der Kongomission nottut« beein- Durchführung eines supranationalen und druckt. Das Fehlen von Männern, die sich überkonfessionellen Werks, durch die Schaf- engagieren und sich einer Sache weihen, vor fung eines kosmopolitischen Ortes, wo Men- allem auf medizinischer Ebene. Er suchte seit schen sich zusammenfinden, um anderen Monaten nach einer »Mission« und einem Menschen zu helfen, wo das Wort Christi er- »direkten menschlichen Dienen«.6 Lange füllt wird: Ihr seid alle Brüder. Ein christlicher Zeit hatte er nichts anderes als pädagogi- Humanismus, von also möglichst christlicher, sche und soziale Aktionen ins Auge gefasst, aber auch anderer Inspiration, von universel- die verwahrlosten Jugendlichen eine zweite ler Tragweite. Chance geben würden. Sein Vorbild war Pas- Da er die meisten seiner Bücher (nicht alle) tor Oberlin. Vor allem wollte er das Evange- und die meisten seiner Predigten, Vorträge 456 Jean-Paul Sorg Badische Heimat 4 / 2020 449_Sorg_Deutschland und Frankreich.indd 456 24.11.2020 18:21:04
und gelegentlichen Texte in deutscher Spra- che schrieb, vor 1919 und lange danach, haben die Deutschen die natürliche Tendenz, Albert Schweitzer als einen der Ihren anzusehen, als einen deutschen Schriftsteller, Denker und Humanisten. Das ist nicht falsch! Dies erklärt zum Teil, dass die Franzosen, die keine Un- klarheiten und nicht klassifizierbaren Dinge mögen, ihn nicht als einen der Ihren betrach- ten, einen ihrer »nationalen Ruhmesträger« (immerhin mit einem Friedensnobelpreis 1952), dass sie ihn verachten, ihm mit Miss- trauen begegnen oder ihn Ignorieren. Zu Un- recht! Wenn wir uns seinen Lebensweg genauer anschauen, sehen wir, dass er durch Ele- mente, die er von einem politischen und kul- turellen Erbe erhalten hat, und noch mehr durch die entscheidenden Entschlüsse, die er vor der Zäsur des Krieges von 1914 bis 1918 traf, französischer in Geist, Sprache und Kultur war als man allgemein glaubt, als es die Franzosen glauben und die Deutschen Buch von Albert Schweitzer über J. S. Bach – 1905 denken. (Archives Centrales Albert Schweitzer Gunsbach Man versteht es nicht gut, wenn man ver- gisst, dass die Generation seiner Eltern und Großeltern während des Zweiten Kaiserrei- ches in einem französischen Elsass lebte und in Paris niedergelassen hatten: die Onkel Au- so eine französische Schulausbildung erhalten guste und Charles, die Tanten Mathilde (geb. hat, dabei aber enge Bindungen an die deut- Hertle) und Louise (geborene Guillemin), sche Kultur behielt und die tägliche Verwen- Cousins und Cousinen, darunter Anne-Ma- dung des Dialekts (alemannisch oder frän- rie Sartre-Schweitzer, die Mutter von Jean- kisch) bewahrte. Glückliche Zeiten in dieser Paul. Notwendigkeit einer regelmäßigen Kor- Hinsicht! Die Generation von Albert Schweit- respondenz in Französisch von einem frühen zers Eltern und seiner Schul- und Musikleh- Alter an. rer (wie am Klavier und an der Orgel Eugen Münch, geboren 1857) war ruhig zweispra- »Französisch aber empfinde ich nicht als chig, sprach Deutsch und wusste sich leich- Muttersprache, obwohl ich mich von je- ter auf Französisch auszudrücken, als Albert her für meine an meine Eltern gerichteten Schweitzer es je können sollte … Briefe ausschließlich des Französischen Albert Schweitzers besonderes Glück war, bediente, weil dies so Brauch in der Fami- dass er Verwandte hatte, die sich (vor 1870) lie war.«7 Badische Heimat 4 / 2020 Deutschland und Frankreich im Leben und Denken von Albert Schweitzer 457 449_Sorg_Deutschland und Frankreich.indd 457 24.11.2020 18:21:05
Rede anlässlich der Verleihung des Friedensnobelpreises 1954 in Oslo (Archives Centrales Albert Schweitzer Gunsbach) Ausgabe der Zeitschrift »Europe« 15.4.1932 (Archives Centrales Albert Schweitzer Gunsbach) Die »Eltern« sind nicht nur Mama und Papa, gramme zusammenstellte und redigierte. sondern die große Verwandtschaft, die Groß- Veröffentlichung seines ersten Buches über familie mit ihren vielen Onkeln, Tanten, Bach 1905, Jean-Sebastien le musicien-poète. Cousins, Großcousins. Erste Reise nach Pa- Im selben Jahr 1905 (das Schicksalsjahr), ris 1893, nach seinem Abitur. Dank der Kon- erste Kontakte mit der Pariser Evangelischen takte von Tante Mathilde, ein besonderes Or- Missionsgesellschaft. Manchmal schwierige gelvorspielen vor Charles-Marie Widor, des- Schritte, um zu überzeugen. Häufige Pflicht- sen bevorzugter Schüler und bald Mitarbeiter besuche und reichlich Korrespondenz. und Freund er schnell wurde. Seitdem, regel- Auf der Grundlage des Paradoxons könnte mäßige Reisen nach Paris, drei, vier Mal im man daher sagen, dass Schweitzer nie ak- Jahr. Wintersemester 1898/1899, für das Phi- tiver und kreativer auf Französisch war als losophiestudium. Mitglied der Pariser Johann- während seiner Zeit der deutschen Staats- Sebastian-Bach-Gesellschaft. Bis 1913 war er bürgerschaft und dass er, als er französischer eines der aktivsten Mitglieder, sein Haupt- Staatsbürger wurde, nicht wie durch eine ja- organist bei den beiden Jahreskonzerten kobinische Verzauberung, ein französischer und sein künstlerischer Berater, der die Pro- Schriftsteller und Intellektueller wurde, son- 458 Jean-Paul Sorg Badische Heimat 4 / 2020 449_Sorg_Deutschland und Frankreich.indd 458 24.11.2020 18:21:05
Haus von Albert Schweitzer in Gunsbach (1928 erbaut), heute Archiv und Museum und neuem Museumsanbau (eröffnet 2020). (Foto: Michel Spitz) dern dass er seine Aktivitäten international Pflicht, als Elsässer bereits im Jahre 1905 er- ausweitete und auf Deutsch die Hauptteile kannt hatte, und was er als Vorspiel zu sei- seines religiösen und philosophischen Den- nem Jean-Sébastien Bach, le musicien-poète, kens entwickelte – und veröffentlichte. ausführte: »Wenn das große Privileg des Die Umstände und die Konventionen ver- Elsass immer darin bestand, die französische anlassten ihn jedoch dazu, sich von Zeit zu Kunst und die französische Wissenschaft in Zeit in Französisch auszudrücken. Im Ap- Deutschland bekannt zu machen und gleich- ril 1932 hatte er in der von seinem Freund zeitig in Frankreich den Weg für die deut- Romain Rolland herausgegebenen Zeitschrift schen Denker und Künstler von europäischer Europe, anlässlich des 100. Todesjahres des Bedeutung zu ebnen, drängt sich diese Auf- Schriftstellers einen Artikel mit dem Namen gabe den Elsässern unserer Generation, die »Goethe, der Denker« auf Französisch ver- mit der französischen Kultur in Kontakt ge- öffentlicht. Am 8. Juli 1949 hielt er in Aspen blieben sind, nicht mehr auf als denen jeder (USA) anlässlich der Feierlichkeiten zum 200. anderen Epoche?« Geburtstag einen seiner Vorträge in französi- Als er in den 1950er-Jahren an seinen phi- scher Sprache, »Goethe, Mensch und Werk«. losophischen Manuskripten arbeitete, hatte er Am 4. November 1954 hielt er seine Frie- am Rand auf Deutsch notiert: »Ich selber, der densnobelpreisrede »Das Problem des Frie- ich in der deutschen und französischen Spra- dens in der heutigen Welt« auf Französisch. che lebe, versuche immer, einen philosophi- Gegen Ende seines Lebens, als man ihn schen Gedanken ins Französische zu überset- drängte, sich als Franzose oder Deutscher zu zen – um zu sehen was an ihm von der Sprache definieren, hatte er sich als »Mann von Güns- unabhängig ist. Dass die deutsche Philosophie bach und Weltbürger« bezeichnet. So blieb nicht immer in Avant-Garde marschiert. John er dem treu, was er als seine Berufung, seine Locke! Und Bergson. Ohne Bergson wäre die Badische Heimat 4 / 2020 Deutschland und Frankreich im Leben und Denken von Albert Schweitzer 459 449_Sorg_Deutschland und Frankreich.indd 459 24.11.2020 18:21:05
neuere deutsche Philosophie unmöglich. Auch Anmerkungen die spekulative Philosophie war nur durch die Sprache möglich … Dies ist ein Vorteil und 1 Aus meinem Leben und Denken, Gesammelte Werke, Band 1, S. 161. ein Nachteil. Dass Bergson mit starrer Sprache 2 Brief von Albert Schweitzer an Helene Bresslau, kämpfen muss, dies hat einen moderierenden 28. August 1911 (in Albert Schweitzer – Helene Einfluss auf seine Philosophie …«8 Bresslau, Briefe 1902–1912). Seine philosophische Stärke und Origina- 3 Ibid. Fortsetzung des Briefes vom 28. August und Auszüge aus dem Schreiben vom 1. September lität könnten von daher kommen, von seiner 1911. spontanen und täglichen Zweisprachigkeit, 4 Ibid. die ihn aufmerksam macht auf die Willkür 5 Cf. Wir Epigonen, Werke aus dem Nachlass, C. H. der Zeichen, auf die ständige Kluft zwischen Beck, München, 2005, S. 77. Anmerkung zu Rand der Bedeutung, die der Geist sucht, und den 82, der vom 17. Oktober 1915 datiert werden kann, an Bord des Dampfers L’Anita Rose, auf dem Rück- Wörtern, die ihm zur Verfügung stehen. Und weg von Cap Lopez nach Lambarene. wie bei der Orgel erkundet er verschiedene 6 Aus meinem Leben und Denken, Kapitel IX, »Der Möglichkeiten des Ziehens verschiedener Re- Entschluss, Urwaldarzt zu werden«. Der Ent- gister und lernt deren Wirkung von Atmo- schluss, »mich einem unmittelbaren menschlichen Dienen zu weihen«. sphäre und Bedeutung. 7 Aus meinem Leben und Denken, Gesammelte »Vom Französischen her gewohnt, auf die Werke, Bd. 1, S. 79. rhythmische Gestaltung des Satzes bedacht 8 Cf. Die Weltanschauung der Ehrfurcht vor dem Le- zu sein und Einfachheit des Ausdrucks zu er- ben, Kulturphilosophie III, 1 u. 2, Werke aus dem Nachlass, C. H. Beck, 1999. Anhänge, S. 459. streben, ist mir dies auch im Deutschen zum 9 Aus meinem Leben und Denken, Gesammelte Bedürfnis geworden.«9 In der Praxis der bei- Werke Bd. 1, S. 88. den Sprachen und den Lücken zwischen den beiden hat er einen eigenen Stil entwickelt, der seinem Wesen und seiner Lage entspricht. Zu- mindest verspürte er es und hat es theoretisch untermauert. Übersetzung aus dem Französischen: Dr. Roland Wolf, Deutscher Hilfsverein für das Albert-Schweitzer-Spital in Lamba- Anschrift des Autors: rene – Wolfsgangstraße 109, 60322 Frank- Prof. Jean-Paul Sorg furt a.M. 13, rue de la carrière info@albert-schweitzer-zentrum.de F. 68530 Buhl (Oberelsass) email: jpgrosorg@wanadoo.fr www.albert-schweitzer-heute.de 460 Jean-Paul Sorg Badische Heimat 4 / 2020 449_Sorg_Deutschland und Frankreich.indd 460 24.11.2020 18:21:06
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