Die Ampel-Koalition Der Weg zum Regierungsprojekt der neuen Übereinkunft 22. Februar 2022

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Die Ampel-Koalition Der Weg zum Regierungsprojekt der neuen Übereinkunft 22. Februar 2022
Essay

  Prof. Dr. Stephan Bröchler

  Die Ampel-Koalition
  Der Weg zum Regierungsprojekt der neuen Übereinkunft

22. Februar 2022
Redaktion/ Wissenschaftliche Koordination

Julia Rakers / Dr. Kristina Weissenbach
Tel. +49 (0) 203 / 379 – 1388

Sekretariat

Lina-Marie Zirwes
Tel. +49 (0) 203 / 379 - 2018
lina-marie.zirwes@uni-due.de

Herausgeber (V.i.S.d.P.)

Univ. Prof. Dr. Karl-Rudolf Korte

Redaktionsanschrift

Redaktion Regierungsforschung.de
NRW School of Governance
Institut für Politikwissenschaft
Lotharstraße 53
47057 Duisburg

julia.rakers@uni-due.de

Zitationshinweis

Bröchler, Stephan (2022): Die Ampel-Koalition, Der Weg zum Regierungsprojekt der neuen Übereinkunft, Essay,
Erschienen auf: regierungsforschung.de
Regierungsforschung.de

Die Ampel-Koalition
Der Weg zum Regierungsprojekt der neuen Übereinkunft

Von Stephan Bröchler1

Die seit dem 8. Dezember 2021 im Amt befindliche neue Bundesregierung stellt einen spannenden
Gegenstand für die moderne Regierungsforschung dar. Die Ampel ist ein Novum. Die Bundesrepub-
lik Deutschland wird erstmals von einem echten Dreierbündnis aus SPD, Bündnis 90/Die Grünen
und FDP regiert. Dabei sah es lange Zeit nicht danach aus, dass es am Ende auf eine Ampel-Koalition
hinauslaufen würde. Andere Bündnisse, besonders aus Union und Grünen oder eine Jamaica-Koali-
tion, schienen wahrscheinlicher.

Die Heuristik des Regierungszyklus erlaubt es, das Koalitionsgeschehen von der Anbahnung einer
Regierung bis zum Ende der Legislaturperiode in den Blick zu nehmen. Analytisch lassen sich ver-
einfacht drei Phasen unterscheiden (Bröchler 2022: 11): Regierungsbildung nach Wahlen, Regieren
als Gestaltung und Machterhalt sowie Regieren vor Wahlen. Wo steht die Ampel im Regierungszyk-
lus heute? Im Modell ist die erste Phase der Regierungsbildung mit der Unterzeichnung des Koali-
tionsvertrages durch SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP abgeschlossen. Damit befindet sich die
Ampel-Koalition am Beginn der zweiten Phase, in der es um die Umsetzung des Arbeitsprogramms
des Koalitionsvertrags und die Bewältigung neuer Aufgaben und Krisen geht.

Der Beitrag argumentiert, dass mit dem neuen Regierungsformat Ampel-Koalition das Experiment
einer neuartigen Modernisierungspolitik verbunden ist, die im Folgenden als Regierungsprojekt
der neuen Übereinkunft bezeichnet wird. Die Energie- und Klimapolitik soll in bisher nicht gekann-
tem Maße zum archimedischen Punkt der Regierungspolitik werden. In diesem Beitrag kann zwar
noch keine Bilanz der Regierung gezogen werden, denn die Bundesregierung hat ihre Arbeit erst
aufgenommen. Es geht aber darum, die Eigenart des Formats Ampel-Koalition politikwissenschaft-
lich einzuordnen. Dazu ist es wichtig, sich die Vorgeschichte zu verdeutlichen. Zunächst wird mit
groben Pinselstrichen ein Bild gezeichnet, wie sich im Verlauf des Bundestagswahlkampfes nach
und nach eine realistische Option für ein Bündnis aus SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP entwi-
ckelte. In einem zweiten Schritt wird der Markenkern des politischen Projekts der Ampel-Regie-
rung herausgearbeitet. Was charakterisiert das Regierungsprojekt der neuen Übereinkunft?

1 Prof. Dr. Stephan Bröchler ist Professor für Politik- und Verwaltungswissenschaften an der Hochschule für Wirtschaft
und Recht Berlin. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in den Bereichen Regierung und Parlament, Ministerialbürokra-
tie, Vergleich politischer Systeme und Politikberatung.
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Bundestagswahlkampf 2021: Ritt über den Bodensee

Der Bundestagswahlkampf erweist sich aus heutiger Sicht als Hindernisparcours für alle Parteien,
die eine eigene Kanzlerkandidatin bzw. einen Kanzlerkandidaten aufstellten: CDU/CSU, SPD und
Bündnis 90/Die Grünen. Die FDP verzichtete, wie die übrigen im Deutschen Bundestag vertretenen
Parteien, darauf, einen eigenen Kandidaten für das Kanzleramt zu nominieren.

Als Angela Merkel nach den hohen Mandatsverlusten der CDU bei den hessischen Landtagswahlen
im Jahr 2018 ankündigte, weder für den CDU-Parteivorsitz noch für das Amt der Bundeskanzlerin
erneut zu kandidieren, brach sie mit einer ungeschriebenen Kanzlerregel. Seit Konrad Adenauer
sind alle amtierenden Bundeskanzler bei Bundestagswahlen zur Wahl um das Kanzleramt angetre-
ten. Die Führung der Bundes-CDU erwies sich nach den Rückzugsankündigungen Merkels in stra-
tegischer wie in personeller Hinsicht als traumatisiert. Die Folge war die Destabilisierung der Union
vor und während des Wahljahres (Alexander 2021). Es gelang weder eine sattelfeste Parteiführung
ins Amt zu bringen noch einen überzeugenden Findungsprozess für einen einvernehmlich getrage-
nen gemeinsamen Kanzlerkandidaten der Union für die Bundestagswahl zu organisieren.

Der Bundestagswahlkampf 2021 war durch eine widersprüchliche Wechselstimmung geprägt. Die
Wählerinnen und Wähler wünschten sich nach einer Analyse der Bertelsmann-Stiftung einerseits
einen „echten Politikwechsel“, so in den Politikfeldern Bildungs- Umwelt-, Klima-, Renten-, Woh-
nungs-, Migrations- und Flüchtlingspolitik (Vehrkamp 2021). Auf der anderen Seite wurde Stabili-
tät im Wandel mit Blick auf die Führung der künftigen Bundesregierung erwartet (Korte 2021).
Mehrheitlich wurde kein kompletter Machtwechsel wie 1998 gewünscht, als die Regierungspar-
teien CDU/CSU und FDP gänzlich aus der Regierung abgewählt wurden. Favorisiert dagegen wurde
wie schon so häufig bei Bundestagswahlen ein teilweiser Wechsel an der Macht. Die künftige Koa-
litionsregierung sollte von einem Kanzler entweder der Union oder der SPD geführt werden. Dabei
sah es allerdings lange Zeit danach aus, als sei die SPD aus dem Rennen und das Finish würde zwi-
schen den erstarkten Grünen und einer geschwächten CDU ausgetragen. In den Prognosen lagen
die SPD und Olaf Scholz noch im Frühjahr zwischen 14% und 15% (Forschungsgruppe Wahlen
26.03.2021 und 16.04.2021). Demgegenüber ermittelten Umfragen der Forschungsgruppe Wahlen
für die längste Zeit des Jahres eine Koalitionsmehrheit für CDU und Grüne. Die widersprüchliche
Wechselstimmung der Wähler hätte die SPD aus der Regierung herauskatapultiert. Die von den
Wählern gewünschte Stabilität im Wandel wäre mit der CDU umgesetzt worden. Die Grünen als
neue Regierungspartei hätten den Politikwechsel verkörpert.

Die widersprüchliche Wechselstimmung führte im weiteren Verlauf zu einem dynamischen, offe-
nen und wendungsreichen Prozess. Aus heutiger Sicht stellt sich die ungewöhnlich frühe Nominie-
rung von Bundesfinanzminister Olaf Scholz als SPD-Kanzlerkandidat im August 2020 als zugleich
riskante wie erfolgreiche Entscheidung heraus.2 Wie einst Angela Merkel wurde auch Scholz lange
unterschätzt. Tatsächlich trat der Kanzlerkandidat mit dem Handicap an, dass er die Wahl um den
SPD-Vorsitz erst wenige Monate zuvor klar verloren hatte. Scholz und sein Wahlkampfteam planten

2   Am 09. Mai 2021 bestätigte ein SPD-Parteitag die Nominierung von Olaf Scholz mit 96,2%.
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den SPD-Wahlkampf als Marathonlauf. Sie setzten alles auf die Karte, dass am Ende Olaf Scholz sich
als der beste Nachfolger des unprätentiösen, sachorientierten und moderierenden Politikstils An-
gela Merkels durchsetzt und die Wählerinnen und Wähler eine geschlossene SPD zur stärksten Par-
tei bestimmen würden. Tatsächlich ging die Strategie nach einer Zitterpartie am Ende auf. Als Kipp-
punkt, der die Sozialdemokraten ins Spiel um die Regierungsbeteiligung brachte, erwies sich der
Frühsommer 2021. Seit Ende Juli arbeitete sich die SPD Stück für Stück bis auf 25% in den Umfragen
hoch (Forschungsgruppe Wahlen 30.07.2021 und 17.09.2021). Es zeichnete sich ab, dass ein Zwei-
erbündnis aus Union und Grünen über keine Mehrheit im Parlament verfügen würde. Anfang Sep-
tember überholte die SPD die bis dato führende Union in den Umfragen (Forschungsgruppe Wahlen
03.09.2021).

Die Entwicklung der Grünen verlief im Vergleich zur SPD gegenläufig. Je näher der Wahltag kam,
desto schwächer wurden sie in den Umfragen. Erstmals stiegen Bündnis 90/Die Grünen mit einer
eigenen Kanzlerkandidatur in das Rennen um das Kanzleramt ein. Dabei setzte sich Annalena
Baerbock Mitte April 2021 in einem bilateralen Abstimmungsprozess zwischen ihr und dem Co-
Vorsitzenden Robert Habeck als erste grüne Kanzlerkandidatin durch.3 Kaum war Baerbock nomi-
niert, überholten die Grünen in den Wahlprognosen im Steigflug die Union und erreichten zu Be-
ginn des Mai ihr Allzeithoch im Wahlkampf von 26% (Forschungsgruppe Wahlen 07.05.2021).
Noch nie lag die Möglichkeit so nahe, dass Bündnis 90/Die Grünen in einer Koalitionsregierung die
Bundeskanzlerin stellen. Doch sträflich unvorbereitet zeigten sich Baerbock und das grüne Wahl-
kampfmanagement im Umgang mit öffentlichen Vorwürfen der unsorgfältigen Abfassung eines Bu-
ches der Kandidatin und dem Verdacht auf Untreue zum Nachteil der eigenen Partei. Seit Mitte Mai
2021 befanden sich die Grünen in den Wahlprognosen fast kontinuierlich im Sinkflug (Forschungs-
gruppe Wahlen 21.05.2021). Die Pole-Position und der Traum vom Kanzleramt erwiesen sich für
die Grünen als kurzes Intermezzo.

Der CDU gelang es hingegen nicht, die Traumata des Rückzugs von Angela Merkel vom Parteivorsitz
und des langen Abschieds von der Kanzlerschaft zu überwinden. Die zwischenzeitlich gewählte Par-
teivorsitzende Annegret Kramp-Karrenbauer kündigte in Rekordzeit ihren Rücktritt an. Doch ein
Neustart gelang auch ihrem Nachfolger Armin Laschet nicht. Im Gegenteil: Der Bundestagswahl-
kampf trug für den Kanzlerkandidaten zuweilen den Charakter des Spießrutenlaufs. Kaum hatte
sich Laschet im Januar 2021 mit Mühe gegen seine Mitbewerber Friederich Merz und Norbert Rött-
gen bei der Wahl des CDU-Parteivorsitzes durchgesetzt, als unerwartet Streit um die Nominierung
des gemeinsamen Kanzlerkandidaten innerhalb der Union entbrannte. Der Findungsprozess eska-
lierte im öffentlich ausgetragenen destruktiven Widerstreit zwischen dem frisch gewählten CDU-
Parteivorsitzenden und dem CSU-Chef Markus Söder. Am Ende ordnete sich Söder gegen seine
Überzeugung dem Beschluss des CDU-Bundesvorstandes unter, der Armin Laschet zum Kanzler-
kandidaten ausrief. Doch der vermeintliche Gewinner ging nicht gestärkt, sondern beschädigt in
den Wahlkampf. Armin Laschet haftete seitdem das Image des „Underperformers“ an: ein

3Am 12. Juni 2021 unterstrich ein Grünen-Parteitag mit einem Ergebnis von 98,55% die Nominierung von Annalena
Baerbock für das Kanzleramt.

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Kanzlerkandidat, der weder die eigene Parteibasis noch die Wählerinnen mehrheitlich von seiner
Kandidatur zu überzeugen vermochte (Lamby 2021: 369).

Auf den letzten Metern des Bundestagswahlkampfs wurde klar, dass die Bildung der Bundesregie-
rung ein Dreierbündnis erfordern würde: Eine von Olaf Scholz navigierte Koalition mit Bündnis
90/Die Grünen und der FDP (Ampel-Koalition) oder ein von Armin Laschet geführtes Unionsbünd-
nis mit Bündnis 90/Die Grünen und FDP (Jamaica-Koalition). Tatsächlich ging die SPD am 26. Sep-
tember 2021 als knapper Wahlsieger aus dem Rennen (25,7%), gefolgt von Union (24,1%), Bündnis
90/Die Grünen (14,8%) und FDP (11,5%).

Das Wahlkampfgeschehen im Blick auf die Kanzlerkandidatin und die -kandidaten vermittelt wich-
tige Anhaltspunkte, wie die Ampel im anschließenden Regierungsbildungsprozess Realität werden
konnte. Als wichtige Ursachen erweisen sich die Destabilisierung der CDU-Führung durch das Mer-
kel-Trauma, der offene Streit zwischen CDU und CSU um die Kanzlerkandidatur, Fehler der grünen
Kandidatin und ihres Teams, die erfolgreiche Marathon-Strategie von Olaf Scholz sowie der wen-
dungsreich verlaufende Endspurt um den Wahlsieg. Der Möglichkeitsraum für Sondierungsgesprä-
che und Koalitionsverhandlungen für eine Regierungsbildung aus SPD, Grünen und FDP wurde
durch diese Entwicklungen bereits vor dem Ende der Bundestagswahl geöffnet. Erstens zeichnete
sich im Wahlkampf schon früh ab, dass nur ein teilweiser und kein kompletter Machtwechsel wie
1998 bevorstand. Zweitens waren wenige Wochen vor der Wahl die Bildung einer Ampel- oder Ja-
maica-Koalition als realistische Regierungsformate erwartbar. Zu erkennen war drittens, dass
beide Koalitionsmodelle auf Bundesebene eine Herausforderung besonders für die Grünen und die
FDP darstellen würde. Denn bis dato hatte sich auf Bundesebene aufgrund erheblicher Differenzen
beider Parteien kein Bündnis zu einer Regierung zusammengefunden. Im Gegenteil: Nach der Bun-
destagswahl 2017 war der erste Anlauf zur Bildung einer Jamaica-Koalition unter der Führung der
Union auf den letzten Metern durch das Ausscheren der FDP sogar gescheitert.

Die Ampel-Koalition: neues Regierungsformat und Modernisierungsbündnis

Trotz der starken Verluste der CDU von 8,9% schien Jamaica noch am Wahlabend das wahrschein-
lichere Regierungsbündnis, da sowohl Armin Laschet und Markus Söder seitens der Union als auch
Christian Lindner für die FDP vor den Fernsehkameras erkennbar für das unionsgeführte Koaliti-
onsmodell optierten. Eine vom Zweitplatzierten Laschet geführte Bundesregierung hätte auf Vor-
bilder in der Vergangenheit verweisen können. So haben Willy Brandt und Walter Scheel diesen
legalen Weg des Machtwechsels in einer parlamentarischen Demokratie zur Gründung der ersten
sozial-liberalen Koalition nach der Bundestagwahl 1969 beschritten. Auch die von Kanzler Helmut
Schmidt und Hans-Dietrich Genscher geführten SPD/FDP-Koalitionen der 1970er und frühen 80er
Jahre regierten nach den Bundestagswahlen mit dieser Konstruktion.

Die Realität der Ampel-Regierung verdankt sich eines Kairos-Moments, den Olaf Scholz und sein
Team ergriffen. Die Chance für eine Ampel-Regierung als das realistischere der beiden Koalitions-
modelle eröffnete sich, als die ohnehin destabilisierte Union nach dem desaströsen Wahlergebnis
nun auch noch das Vertrauen in die eigene Regierungsfähigkeit verlor und es Olaf Scholz gelang,
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dass die Liberalen trotz größerer Schnittmengen mit der Union eine Neubewertung der Chancen
einer SPD-geführten Koalition aus Grünen und FDP vornahmen. Die folgenden Sondierungsgesprä-
che und Koalitionsverhandlungen mündeten in die Wahl des vierten sozialdemokratischen Bundes-
kanzlers und die Bildung der neuen Bundesregierung.

Die Ampel-Koalition erweist sich als facettenreiches neues Koalitionsmodell auf bundespolitischer
Ebene. Doch was kennzeichnet die Neuartigkeit? Am augenscheinlichsten ist das neue Regierungs-
format, zu dem sich SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP zusammengefunden haben. Zwar arbei-
tet seit Mai 2016 die Landesregierung von Rheinland-Pfalz im Ampel-Format, auf Bundesebene hat
es diese Konstellation jedoch noch nicht gegeben. Nicht ohne Grund hat die Bundes-FDP nicht die
Ampel, sondern zunächst ein Jamaica-Bündnis favorisiert. Denn SPD und Grüne auf der einen Seite
und FDP auf der anderen Seite trennen besonders ordnungspolitische, finanzpolitische und, wie
sich in der Diskussion über die Bewältigung der Corona-Pandemie zeigte, auch bürgerrechtliche
Prägungen. Diese programmatischen Unterschiede wurden mit einer Mischung aus „we agree to
differ“ und der Orientierung auf das parteiübergreifende Ziel der umfassenden Modernisierung des
Modells Deutschland vorerst befriedet. In den ersten Regierungsmonaten überlagern jedoch Dis-
kussionen um den richtigen Umgang mit der Corona-Pandemie und die Abwendung eines Krieges
zwischen Russland und der Ukraine das Modernisierungsziel.

Die Ampel ist durch einen neuen Stil im Umgang der beteiligten Parteien geprägt. Von Beginn an
haben die beiden Juniorpartner der Regierungsbildung immer wieder den Stempel aufgedrückt. Die
Kellner haben sich vom Koch emanzipiert. So haben Grüne und FDP einen Verhandlungsabschnitt
in die Sondierungsgespräche eingeführt, den es vorher nicht gab. In Vorsondierungen haben beide
Parteien zunächst untereinander Konflikt- und Konsenszonen ausgelotet, um eine Vertrauensbasis
zu etablieren und daraufhin die Gesprächsstrategien mit SPD und Union abgestimmt. Das neue
Selbstbewusstsein der Juniorpartner zeigte sich auch darin, dass Grüne sowie FDP die Reihenfolge
der Sondierungsgespräche mit den mandatsstärkeren Parteien bestimmten. Durchgesetzt haben
sich beide Parteien auch bei wichtigen Ressortzuständigkeiten. Bündnis 90/Die Grünen und FDP
gelang es in den Koalitionsverhandlungen neue Ressortzuständigkeiten hinzuzugewinnen. Damit
konnten sie sowohl ihr Portfolio an Politikfeldern erweitern als auch ihre Bedeutung innerhalb des
Kabinetts erhöhen. Die Grünen stellen mit Vizekanzler Robert Habeck die Ministeriumsspitze im
klimapolitisch bedeutsamen neu zusammengeschnittenen Ressort Wirtschaft und Klimaschutz. Die
FDP setzte gegenüber den Grünen durch, dass Christian Lindner das steuerungsmächtige Bundes-
finanzministerium zugesprochen bekam und zudem als stellvertretender Vizekanzler gegenüber
den anderen Ressortchefs hervorgehoben ist. Auch mit Blick auf die Arbeitsweise der Ampel-Koa-
lition lassen sich Veränderungen im Kräfteparallelogramm der Regierung feststellen. Der gemein-
same Koalitionsausschuss wird als politisches Steuerungsgremium der Regierungsarbeit aufgewer-
tet. Im Koalitionsvertrag wurde festgeschrieben, dass das Gremium regelmäßig einmal im Monat
und nicht mehr wie zuvor anlassbezogen zusammenkommt (Koalitionsvertrag 2021: 174).

Essenziell für das Verständnis der Ampel-Koalition ist der neue Politikansatz, der im Folgenden als
Regierungsprojekt der neuen Übereinkunft bezeichnet wird. Die Übereinkunft beinhaltet im Kern,
dass es Aufgabe staatlicher Modernisierungspolitik ist, den Übergang der auf fossilen Brennstoffen
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beruhenden Ökonomie hin zu einer nachhaltigen klimaneutralen Gesellschaft zu beschleunigen und
abzuschließen. „Die Klimaschutzziele von Paris zu erreichen, hat für uns oberste Priorität“ (Koali-
tionsvertrag 2021, S. 5). Im weit gefächerten Policy-Portfolio politischer Reformen erweist sich fol-
gerichtig die Energie- und Klimapolitik als Dreh- und Angelpunkt des Regierungsprojekts aus SPD,
Bündnis 90/Die Grünen und FDP. Die Umsetzung des Transformationsprozesses soll mit einer
Energie- und Klimapolitik der Bundesregierung aus einem Guss realisiert werden. Beide Politikfel-
der sollen nicht mehr im Wege negativer Koordination in erster Linie als Fachressortaufgabe, son-
dern im Sinne positiver Koordination als übergreifende Gesamtaufgabe der Bundesregierung bear-
beitet werden, in der alle Ressorts in die Pflicht genommen sind, zur Transformation der fossilen in
die klimaneutrale Gesellschaft beizutragen. Eine besondere Bedeutung für die Zielerreichung
kommt besonders zwei von den Grünen geleiteten Ressorts zu. Schrittmacherfunktion des ökologi-
schen Umbaus der deutschen Wirtschaft soll das neue „Superministerium“ Wirtschaft und Klima-
schutz von Robert Habeck übernehmen, das aus den Ministerien für Wirtschaft und Energie sowie
aus dem Ressort für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit der letzten GroKo neu konfiguriert
wurde. Das Auswärtige Amt (AA) soll künftig zusätzlich zu seinen Aufgaben zum strategischen
Zentrum der „Klima-Außenpolitik“ der Bundesregierung auf europäischer und internationaler
Ebene werden. Ministerin Baerbock treibt momentan den Umbau ihres Ministeriums in strukturel-
ler und personeller Hinsicht entschieden voran. Im AA wurde eine neue Abteilung 4 für Klimaau-
ßenpolitik, Wirtschaft und Technologie geschaffen. Dafür wurde im früheren Ministerium für Um-
welt, Naturschutz und Reaktorsicherheit die Abteilung für Klimaschutz aufgelöst, in das Außenamt
integriert und dort ausgebaut. Alle 226 Auslandsvertretungen des AA sollen „Klimabotschafter“
werden. Der Berufung von Jennifer Morgan zunächst als Sonderbeauftragte, später im Range einer
Staatssekretärin, kommt eine wichtige Bedeutung zu. Die Personalentscheidung lässt erkennen,
dass die Rolle des Auswärtigen Amts als strategisches Zentrum der Klima-Außenpolitik in der Ab-
stimmung der Ressorts der Bundesregierung untereinander als auch mit anderen Staaten durch die
Ernennung der vernetzten Klimapolitikerin Morgan gestärkt werden soll.

Ausblick: Forschungsbedarfe für die moderne Regierungsforschung

Für die moderne Regierungsforschung ergeben sich mit Blick auf die Ampel-Koalition vielfältige
Forschungsbedarfe. Es gilt zunächst zu untersuchen, inwiefern es der neuen Bundesregierung ge-
lingt, Probleme zu erkennen, Ziele zu bestimmen, Strategien der Problembearbeitung zu entwi-
ckeln, Handlungsprogramme zu implementieren und die Regierungsarbeit wirksam zu kommuni-
zieren. Von besonderem Forschungsinteresse ist dabei die Klima- und Energiepolitik, da sie den
Markenkern der Ampel-Koalition begründet. Die Bundesregierung strebt mit ihrem Politikansatz
der Transformation von der fossilen zur carbonfreien nachhaltigen Gesellschaft einen großen
Sprung nach vorn an. Ob der neue Übergang gelingt, ist eine empirisch offene Frage. Der Erfolg oder
Misserfolg wird wesentlich davon abhängen, ob es gelingt, das Regierungshandeln in die vielgestal-
tigen und komplexen Wechselwirkungsprozesse aus staatlichen und zivilgesellschaftlichen Akteu-
ren der Multi-Level-Governance zu kontextualisieren.

Für drei Bereiche soll auf mögliche Probleme hingewiesen werden. 1) Veto-Spieler Bundesrat:
Kanzler Olaf Scholz ist im Bundesrat ein „König ohne Land“. Die Ampel-Koalition ist im Bundesrat,
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der über jedes Bundesgesetz mitentscheidet, weit von der erforderlichen Mehrheit von 35 Stimmen
entfernt, um ihre Gesetze durchzusetzen. Hier kann sie sich zunächst einmal lediglich auf die vier
Stimmen des Ampel-Bündnisses in Rheinland-Pfalz stützen und möglicherweise auf die drei Stim-
men des rot-grün regierten Hamburgs hoffen. 2) Konflikte innerhalb der Bundesregierung: Der
Ausbau des grün geführten Auswärtigen Amtes zum strategischen Zentrum der Klima-Außenpolitik
der Bundesregierung kann zum Machtkampf mit dem Bundeskanzleramt führen. Denn nach der
Geschäftsordnung der Bundesregierung bestimmt allein der Bundeskanzler die Richtlinien der in-
neren und äußeren Politik (§1 GOBReg). Ein potenzielles Konfliktfeld ist zudem der Politikansatz
aus einem Guss, wonach alle Ministerien in die Pflicht genommen werden sollen, ihren Beitrag zur
Erreichung der Klimaziele der Bundesregierung zu leisten. Das Ressortprinzip (Art. 65 GG) sichert
jedoch jedem Bundesminister zu, dass er seinen Geschäftsbereich politisch selbstständig leitet und
verwaltet. 3) Erwartungsmanagement „Superministerium“: Die Erfahrungen mit dem Superminis-
terium „Arbeit und Wirtschaft“ des damaligen Ministers Wolfgang Clement zeigen, dass sich die ho-
hen Erwartungen auf Effektivitäts- und Effizienzsteigerung durch die Zusammenlegung von Res-
sorts nicht erfüllt haben. Die Frage ist, ob das neue Superministerium „Wirtschaft und Klimaschutz“
nicht das gleiche Schicksal ereilt.

Literatur

Bröchler, Stephan. 2021. Geschichte der Regierungsforschung. In Handbuch Regierungsfor-
schung, Hrsg. Karl-Rudolf Korte und Martin Florack, 1-15. Wiesbaden: Springer VS.
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Vehrkamp,     Robert.     2021.    Die   Mehrheit    wünscht    sich   einen    echten   Politikwechsel.
https://www.bertelsmann-stiftung.de/de/unsere-projekte/monitoring-der-demokratie/projekt-
nachrichten/die-mehrheit-wuenscht-sich-einen-echten-politikwechsel. Gesehen 15.02.2022

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