Die beinahe Atom-Katastrophe im "inhärent sicheren" Reaktor in Jülich
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AT O M K R A F T Die beinahe Atom-Katastrophe im „inhärent sicheren“ Reaktor in Jülich ... bis heute von den Verantwortlichen vertuscht REINER PRIGGEN Die Region rund um Jülich – 30 km nordöstlich von Aachen – ist 1978 nur knapp einer Atom- katastrophe entgangen. Das bestätigt eine Stu- die von Reiner Moormann, der im Forschungs- zentrum Jülich (ehemals „Kernforschungsanla- ge“) über die Sicherheit des Forschungsreak- tors AVR in Jülich gearbeitet hat. Dieser Reak- tor ist zwar seit 1988 stillgelegt, steht aber immer noch auf dem Gelände des Forschungs- zentrums in Jülich. 1978 drangen 30.000 Liter Wasser unkontrolliert in den Reaktorkern. Nur dem Zufall ist es zu verdanken, dass es damals nicht zum „größten anzunehmenden Unfall – GAU“ kam. Vieles deutet darauf hin, dass der Reaktor jahrelang außerhalb zulässiger Sicher- heitsbestimmungen betrieben wurde – mit Wissen der Verantwortlichen. Es zeigt sich, der immer als „inhärent sicher“ propagierte sog. „Kugelhaufen- bzw. Hochtemperaturreaktor“ war alles andere als sicher. Seine Technik war und ist nicht beherrschbar. Abbildung 1: AVR in Jülich uf Basis eines in den 1950er Jahren von heute kein kommerzieller Reaktor dieses Typs in A Rudolf Schulten entwickelten Konzepts wurde im Jahr 1966 in der damaligen Kernforschungsanlage Jülich ein „Hochtempera- Betrieb gegangen. So erfolgte 1988 auch die Still- legung des AVR Jülich. turreaktor (HTR)“ oder „Kugelhaufenreaktor” mit einer elektrischen Leistung von 15 Megawatt Propaganda vom „inhärent (MW) unter der Bezeichnung „Arbeitsgemein- sicheren Reaktor“ schaft Versuchsreaktor Jülich (AVR)” in Betrieb genommen. Mit Hilfe dieses Versuchsreaktors soll- Für die Atomlobby war und ist der Kugelhaufen- te die Technologie zur Serienreife gebracht werden, reaktor bis heute der „inhärent sichere Reaktor”, was jedoch vollständig scheiterte, denn mit Aus- d. h. die Gefahr einer Kernschmelze soll angeblich nahme des THTR in Hamm-Uentrop (Leistung im Gegensatz zu den gängigen Reaktortypen 300 MW, Betrieb von 1983/84 bis 1988/89) ist bis systembedingt ausgeschlossen sein. Es gibt nicht 12 SOLARZEITALTER 4 2009
AT O M K R A F T und entnehmen. Damit sollte anders als bei herkömmlichen Atomkraftwerken eine kontinu- ierliche Stromerzeugung erreicht werden. Ein reaktionsträges Gas, z. B. Helium, zirkuliert durch die Kugelzwischenräume, nimmt dabei die Wärme auf, die durch radioaktive Spaltprozesse ent- steht, und gibt die Wärme an einen Wasser/Wasserdampf- Kreislauf ab, der die Turbine zur Stromerzeugung antreibt. Die Brennelemente enthalten je Typ etwa 10.000 – 40.000 einzel- ne Brennstoffpartikel mit einem Durchmesser von etwa 0,4 mm, die von mehreren Schutzschich- ten umhüllt sind. Diese Partikel werden mit Graphit vermischt zu Abbildung 2: Kernkraftwerk mit Kugelhaufenreaktor Kugeln gepresst, die ihrerseits nur eine Gemeinde von Atomwissenschaftlern, die von einer mindestens 0,5 cm dicken, brenn- das propagieren und von einer Renaissance des stofffreien Graphitzone umhüllt sind. Etwa Reaktortyps träumen, sondern von der NRW-Lan- 100.000 dieser Kugeln bildeten das Herz des Reak- desregierung wird die Wiederauferstehung des tors (AVR). Ihre lose Schüttung prägte seinen Kugelhaufenreaktors offen angestrebt. Dabei wird Namen: Kugelhaufenreaktor (engl. Pebble BedMo- zunehmend eine Art „Dolchstoß-Legende” verbrei- dular Reactor PBMR). Die Kugeln wandern wäh- tet, der AVR Jülich und der THTR Hamm-Uentrop rend mehrerer Monate von oben nach unten durch seien nicht wegen der offensichtlichen Funktions- den Reaktor. Abgebrannte Kugelelemente können untüchtigkeit, sondern aufgrund von politischen so ersetzt werden. Vorgaben der damaligen NRW-Landesregierung stillgelegt worden. Nachzulesen sind solche Die Sicherheit eines Kugelhaufenreaktors wird vor Positionen z. B. in Reden der NRW-Wirtschaftmi- allem mit der Konstruktion der Brennelemente nisterin und Atom-Befürworterin Christa Thoben begründet. Die stecknadelkopfgroßen Brennstoff- (CDU). partikel haben eine mehrschichtige Einhüllung aus keramischem Material. Diese soll druckfest und dicht sein, besonders bei hohen Temperaturen und Das Prinzip des Kugelhaufen- nicht brennbar, da aus Siliziumcarbid. reaktors Die in anderen Kernkraftwerken üblichen Brenn- In einem Kugelhaufenreaktor befindet sich das stäbe seien wegen ihrer metallischen Umhüllung radioaktive Brennmaterial in Tennisball großen wesentlich empfindlicher gegenüber hohen Tem- Kugeln. Der Reaktorkern ist ein großer Raum, der peraturen als die Brennelementekugeln, die ja mit diesen Kugeln gefüllt ist. Die Kugeln lassen außerdem noch in druckfeste, robuste Kugeln aus sich während des Betriebs automatisch zugeben Graphit eingepresst seien. SOLARZEITALTER 4 2009 13
AT O M K R A F T Unkontrolliert hohe rauf deutet hin, dass das Kugelfließen im AVR und Te m p e r a t u r e n i m A V R im THTR ganz anders verlief als vorausberechnet. Man hatte angenommen, dass die Kugeln aus Gra- Ziel des Reaktorbetriebs waren hohe Dampftempe- phit, das ja auch als Schmiermittel benutzt wird, raturen („Hochtemperaturreaktor“). Doch die problemlos fließen. Aber Graphit ist nur in Gegen- „Kontrolle“ der Temperaturen erfolgte im AVR bis wart von etwas Feuchtigkeit so geschmeidig. In der 1986 nur durch Berechnungen. In einem Kugel- „trockenen“ und reaktionsarmen Umgebung von haufenreaktor lässt sich die tatsächliche Tempera- Helium, wie im Reaktorkern, verliert Graphit diese tur nicht messen, weil durch die Bewegung der Geschmeidigkeit, es gibt mehr Bruch und die Brennelementekugeln durch den Reaktorkern alle Kugeln gleiten nur noch schlecht aneinander vor- technischen Messinstrumente zerstört würden. Für bei. Gleichzeitig entsteht durch den gegenseitigen eine durchschnittliche Gasaustrittstemperatur von Abrieb viel Graphitstaub, der wieder als Fänger für 950 °C wurden für die Oberfläche der Brennele- die radioaktiven Metallteilchen wirkt. mente 1.070 °C angenommen. Tatsächlich müssen die Temperaturen der Kugeln um deutlich mehr als 200 °C höher gewesen sein, was in den Jahren D e r Wa s s e r e i n b r u c h v o n 1 9 7 8 – 1986 – 1988 durch Messkugeln nachgewiesen die Beinahe-Katastrophe wurde, die mit Schmelzdrähten versehen worden waren. Diese Messungen führte man erst 1986 Im Dampferzeuger des AVR wurde 1978 ein Rohr nach der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl undicht und Wasser entwich in den Reaktorbehäl- durch, obwohl der Verdacht zu hoher Temperaturen ter (Containment). Insgesamt 30.000 Liter Wasser schon lange bestand. sammelten sich so unterhalb des Reaktorkerns (Core). Der Reaktor schaltete sich zwar selbststän- Das Entstehen der hohen Temperaturen im inneren dig ab, wurde aber – da das Leck zunächst nicht Reaktorkern kann bis heute nicht wirklich erklärt erkannt wurde – bei niedriger Leistung weiterbe- werden. Wahrscheinlich sind die Kugelbewegun- trieben. Das hätte zur Katastrophe führen können: gen während des Betriebes und die Packungsdichte Wäre noch mehr Wasser in den Reaktorkern einge- der Kugeln völlig falsch eingeschätzt worden. Da- drungen, hätten sich durch die chemische Reaktion mit den heißen Graphitkugeln explosive Gase (Kohlenstoffmonoxid CO und Wasserstoff H2) bil- den und – bei einer Explosion – den Reaktorbehäl- ter stark beschädigen können – mit allen unabseh- baren Folgen. Aber noch schlimmer: 250 Liter Wasser im Reak- torkern zwischen den Graphitkugeln hätten gereicht, um die Kettenreaktion außer Kontrolle geraten zu lassen, d. h. es wäre zu einem plötz- lichen starken Anstieg der Reaktorleistung durch Bildung von Wasserdampf („positiver void Koeffi- zient der Reaktivität“) gekommen. Doch dass Was- ser in dieser Weise wirken könnte, wurde erst durch den Reaktorunfall von Tschernobyl im April 1986 erkannt. Neben den unerklärbar viel zu hohen Temperaturen war das wohl einer der Gründe, den Abbildung 3: Graphitkugel für Hochtemperaturreaktor Reaktor 1988 stillzulegen. 14 SOLARZEITALTER 4 2009
AT O M K R A F T Probleme mit Reaktor werden Einer der am stärksten bis heute vertuscht v e r s t r a h l t e n R e a k t o r e n d e r We l t Erschreckend ist, dass bis heute versucht wird, die Ein Standardrückbau des AVR ist anders als bei tatsächlichen Probleme mit diesem Reaktortyp zu Leichtwasserreaktoren wegen der extrem hohen vertuschen. Eine ehrliche Auseinandersetzung mit radioaktiven Kontamination des Reaktorbehälters dem AVR-Desaster findet nicht statt. Im Gegen- vor allem mit Cäsium und Strontium nicht mög- teil: Die CDU/FDP-Landesregierung will den lich. Der Reaktorbehälter ist bezogen auf die Lei- Kugelhaufenreaktor sogar wieder reaktivieren. stung um mehr als den Faktor 100.000 stärker mit Da passen ein Beinahe-GAU und Zweifel an sei- radioaktivem Material kontaminiert als herkömm- ner Beherrschbarkeit offensichtlich nicht ins liche Leichtwasserreaktoren. Und in Bezug auf die Konzept. im Kern vorhandenen beta-Strahler ist der AVR wahrscheinlich die am stärksten strahlende aller In Südafrika wird mit Know-How aus Jülich, auch Nuklearanlagen weltweit – nur noch übertroffen unterstützt von der NRW-Landesregierung, seit von Harrisburg und Tschernobyl. Jahren an einem neuen Kugelhaufenreaktor gear- beitet. Am Kap will man einen kleinen Reaktortyp mit 160 bzw. jetzt 80 MW-Leistung entwickeln, Hochverstrahlte Altlast wird der vor allem in Entwicklungs- und Schwellenlän- unseren Kindern und Enkeln dern einen Markt finden soll. Doch obwohl die überlassen südafrikanische Regierung bereits Milliarden Euro in das Projekt investiert, kommt man nicht wirklich Deshalb ist der „Rückbau” des AVR in Jülich eine voran. Von der Inbetriebnahme eines Prototyps hochkomplizierte, riskante und teure Angelegen- scheint man immer noch meilenweit entfernt zu heit. Der Reaktorbehälter wurde zur Fixierung des sein. Immer wieder gibt es Nachrichten, das radioaktiven Materials und zur Stabilisierung des Kugelhaufenreaktorprojekt in Südafrika stehe vor Behälters vollständig mit Leichtbeton ausge- dem endgültigen Aus. schäumt – einem auch bei russischen Atom-U- Booten praktizierten Verfahren. Um an den unter- halb des Reaktors verseuchten Boden heranzukom- 10 Jahre später bemerkt: men, wird der Reaktorbehälter (über 2.000 Tonnen Kontamination von Erdreich und Gewicht) als Ganzes mit einem speziellen Hub- Grundwasser fahrzeug wenige hundert Meter auf dem Gelände des Forschungszentrums Jülich versetzt. Dort wird Während des Wassereinbruchstörfalls im Jahr er dann in einer eigens für diesen Zweck zu errich- 1978 gelangten auch größere Mengen radioaktiven tenden Betonhalle, die allerdings nicht gegen Flug- Materials in den Boden unter dem Reaktor. Mögli- zeugabstürze gesichert ist, für Jahrzehnte „zwi- cherweise wurde damals auch radioaktives Materi- schen“-gelagert. Eine Zerlegung und Endlagerung al über das Grundwasser weiträumig verteilt. Die des Reaktorbehälters ist erst möglich, wenn die Kontamination unter dem Reaktor wurde unver- Strahlung abgeklungen ist. Ob dies in 30, 60 oder ständlicherweise aber erst 1999 – 10 Jahre nach der 100 Jahren möglich sein wird, weiß heute niemand. Stilllegung – entdeckt, nachdem man eine hohe Das heißt: Auch wenn der AVR Jülich nun seit Radioaktivität in einem Abwasserkanal des For- 20 Jahren stillgelegt ist, wird die Region mit seinen schungszentrums gemessen hatte. Das verstrahlte Hinterlassenschaften noch für Jahrzehnte, wenn Erdreich kann in einem aufwendigen Verfahren nicht sogar für immer, leben müssen. Der immer erst, nachdem der Reaktor von dort vollständigen wieder propagierte Rückbau zur „Grünen Wiese“ entfernt worden ist, dekontaminiert werden. ist in Wahrheit ein Märchen der Atomlobby. Die SOLARZEITALTER 4 2009 15
AT O M K R A F T Verantwortlichen überlassen das Problem der Zer- führen nur zu weiteren Milliardengewinnen der legung des Reaktorkerns unseren Kindern und Energiekonzerne auf Kosten der Allgemeinheit Enkeln. und blockieren den Ausbau der Erneuerbaren Energien. Milliardenkosten für die Steuer- zahlerInnen Probleme und Risiken des Kugel- haufenreaktors lückenlos aufar- Nach Angaben der NRW-Landesregierung beliefen beiten sich die Kosten des sog „Sicheren Einschlusses” und des „vollständigen Rückbaus (Grüne Wiese)” Es ist davon auszugehen, dass das Phänomen der schon 2006 auf 400 Mio. €, Endlagerkosten nicht stark überhöhten Temperaturen den damals Verant- eingerecht. Am Ende wird es wahrscheinlich über wortlichen beim Betrieb des AVR bekannt war und eine Milliarde sein, die die Altlast AVR Jülich die dass demnach der gesamte AVR vor 1988 mit SteuerzahlerInnen kostet. Bund und Land NRW Wissen der Verantwortlichen weit außerhalb teilen sich die Kosten im Verhältnis 70:30. sicherheitstechnisch zulässiger Grenzen betrieben wurde – einschließlich aller damit verbundenen Ähnlich bei dem Folgeprojekt des AVR Jülich, dem Risiken. Darüber hinaus wurden die Ursachen und Hochtemperaturreaktor (THTR) Hamm-Uentrop, Folgen des schweren Störfalls bis heute nicht offen dessen Bau zwei Milliarden Euro verschlang, der und transparent aufgearbeitet. Das muss unbedingt aber nur gut 400 Tage auf Volllast lief. Wegen nachgeholt und alle notwendigen Konsequenzen andauernder Pannen wurde auch dieser Reaktor daraus gezogen werden. 1988 stillgelegt. Allein der „sichere Einschluss” des THTR hat bisher mehr als 400 Mio. € gekostet, Angesichts dessen dürfen frühere Erkenntnisse aus jedes Jahr kommen 5,6 Mio. € für den „Erhaltungs- der AVR-Forschung, die den „inhärent sicheren betrieb” hinzu. Rückbau und Endlagerung der Reaktor“ propagieren, keinesfalls als Grundlage hoch verstrahlten Anlagen können frühestens im für den Bau zukünftiger Kugelhaufenreaktoren Jahr 2027 (!) beginnen – dann ist die Strahlung (z. B. in Südafrika) herangezogen werden. Andern- etwas abgeklungen – und werden weitere Milliar- falls wären schwerste konstruktive Mängel mit den verschlingen. unverantwortbaren Sicherheitsrisiken die Folge. Die Geschichte des AVR Jülich belegt einmal Kosten der Atomkraft trägt die mehr, dass die Atomkraft eine nicht vertretbare Allgemeinheit Hochrisikotechnologie ist, deren Gefahren und Folgekosten auf die Allgemeinheit und zukünftige Nahezu die gesamten Kosten vom Bau bis zur End- Generationen verlagert werden, während die Ener- lagerung des AVR Jülich und des THTR Hamm- giekonzerne sich als Profiteure aus der Verantwor- Uentrop haben Bund und Land NRW in der Ver- tung ziehen. gangenheit getragen und werden das auch in Zukunft tun müssen. Die Energiekonzerne stehlen Reiner Priggen, MdL, ist stellvertretender Vor- sich erfolgreich aus der Verantwortung. Das zeigt: sitzender und energiepolitischer Sprecher der Atomkraftwerke können nur deshalb billigen GRÜNEN Landtagsfraktion in NRW sowie Strom produzieren, weil alle Risiken und Folgeko- Vorstandsmitglied der EUROSOLAR-Sektion sten auf die öffentliche Hand verlagert werden. Deutschland. Deshalb ist der Ausstieg aus dieser Technologie heute richtiger denn je. Laufzeitenverlängerungen 16 SOLARZEITALTER 4 2009
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