Die Besteuerung von Glück - Alexandria (UniSG)
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330 Die Besteuerung von Glück Peter Hongler Peter Hongler, Prof. Dr., dipl. Steuerexperte, Ordent licher Professor für Steuer recht an der Universität St.Gallen (HSG), Counsel bei Walder Wyss AG, Zürich Glück spielt eine entscheidende Rolle bei der Frage, wie La chance joue un rôle décisif dans la question de savoir viel Einkommen eine Person in einem Jahr bzw. in ih- quel revenu une personne réalise sur une année ou sur rem ganzen Leben realisiert. Dieser Beitrag untersucht, l’ensemble de sa vie. Cet article examine si le droit fiscal ob das Schweizer Steuerrecht dem Faktor Glück bei der suisse prend en compte le facteur chance dans la fisca Besteuerung Rechnung trägt und ob Personen, die in lité et si les personnes particulièrement chanceuses ihrem Leben besonders viel Glück haben, auch beson- dans la vie supportent également des charges parti ders hohe Lasten tragen. Bezug genommen wird hierzu culièrement élevées. A cette fin, il est fait référence auf die philosophische Diskussion zum Glück-Egalitaris- à la discussion philosophique sur l’égalitarisme des mus und auf finanzwissenschaftliche Untersuchungen chances et aux études financières sur l’égalité des zur Chancengleichheit. chances. IFF Forum für Steuerrecht 2021 © IFF-HSG
Peter Hongler, Die Besteuerung von Glück 331 Inhalt 1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 331 6 Kritik am Glück-Egalitarismus . . . . . . . . . . . . . . . 336 2 Was ist Glück? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 331 7 Neutralisierung von Glück verstanden als Ermöglichung von Chancengleichheit . . . . . . . . . 337 3 Das Leben und der Einfluss von Glück . . . . . . . . . . . 331 8 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 339 4 Die philosophische Debatte . . . . . . . . . . . . . . . . 332 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 339 5 Die steuerrechtliche Behandlung von Glück . . . . . . . . 333 Rechtsquellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 340 5.1 Grundlagen zur Steuergerechtigkeitsdiskussion . . . . . 333 Praxisanweisungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 340 5.2 Die Einkommenssteuer und die Steuerfreiheit von Kapitalgewinnen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 333 5.3 Erbschaftssteuer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 335 1 Einleitung1 zungen vom steuerbaren Einkommen abgezogen wer den.2 Viele Krankheiten, aber auch Unfälle, entstehen Vorweg ein Disclaimer: Ich bin nicht für oder gegen hö ohne bewusstes Zutun der steuerpflichtigen Person (z. B. here Steuern und lasse mich auch nicht so interpretieren. aufgrund genetischer Prädisposition) und insofern macht Es geht nachfolgend einzig um die Frage, ob Glück bei es durchaus Sinn, dass dieses Pech durch den Abzug zu der Verteilung der Steuerlast eine Rolle spielen soll. Bei mindest steuerlich sozialisiert wird. Noch offensichtli spielhaft kann das folgende Gedankenspiel angestellt cher ist dies bei der obligatorischen Krankenversiche werden: Angenommen, der Staat muss 100 an Steuern rung, die dieses ungleich verteilte Pech in der Gesell einnehmen; wie sollen diese 100 auf die Mitglieder einer schaft ebenfalls ausgleichen soll. Aber, wie erwähnt, be Gesellschaft verteilt werden und soll Glück hierfür eine schäftige ich mich nachfolgend ausschliesslich mit Rolle spielen? glücklichen Zufälligkeiten. Beginnen wir mit einer Analyse, was Glück überhaupt ist. Es geht entsprechend im Folgenden um Glück bei der Einkommenserzielung, d. h. um die Frage, inwieweit der Gesetzgeber die Tatsache belohnt oder bestraft, dass Person A ein Einkommen von CHF 100 erzielt, das auf 2 Was ist Glück? Glück basiert, und Person B über ein Einkommen von Die Abhandlung nimmt Bezug auf Glück im Sinne von CHF 100 verfügt, das auf harte Arbeit bzw. bewusste Ent «Glück haben» und nicht im Sinne von «glücklich sein». scheide von B zurückzuführen ist. Glück im Sinne von «Glück haben» ist ein Synonym für Zufälligkeiten, denen ich etwas Positives abgewinnen kann. Das heisst, im Zentrum steht die Frage, ob Glück im Sinne von positiven Zufälligkeiten eine Rolle für das 3 Das Leben und der Einfluss von Erzielen von Einkommen spielt. Glück Im Übrigen wäre es auch eine Untersuchung wert, wie In der Philosophie wird unterschieden zwischen rohem die Steuergesetze mit Pech im Leben, verstanden als Zu Glück und beeinflussbarem Glück. Rohes Glück kann de fälligkeiten, denen ich nur etwas Negatives abgewinnen finiert werden als subjektiv unvermeidbare Zufälle oder kann, umgehen. Nur als Beispiel: Krankheits- und Un Glück, das nicht bewusst beeinflussbar ist.3 Das heisst, fallkosten können bekanntlich unter gewissen Vorausset wenn ich mich bewusst einem Glücksentscheid aussetze, so ist das positive Resultat beeinflussbares Glück. Es braucht somit aus Sicht der steuerpflichtigen Person zu 1 Bei der vorliegenden Abhandlung handelt es sich um eine mindest das Bewusstsein, einen Einfluss auf etwas zu ha leicht angepasste Version der am 28.9.2021 gehaltenen An- ben. Wenn mir gar nicht bewusst ist, dass ich etwas be trittsvorlesung an der Universität St.Gallen. Der Autor dankt Frau Delia Lohmann, B.A. HSG in Law and Economics, für die tatkräftige Unterstützung bei der Erstellung der Fussnoten und der Verzeichnisse und Frau Ariane Menzer, M.A. HSG in 2 Art. 33 Abs. 1 lit. h DBG. Law and Economics, für das Zusammenstellen des Zahlen- 3 Vgl. hierzu im Detail V allentyne , Brute Luck, Option Luck, and materials in Abschn. 7. Equality of Initial Opportunities, 531 ff. © IFF-HSG IFF Forum für Steuerrecht 2021
332 Peter Hongler, Die Besteuerung von Glück einflussen kann, ist der positive Erfolg weiterhin rohes Allerdings haben Sie auch auf Ihrem späteren Lebensweg Glück. Dies klingt alles etwas abstrakt. Hierzu ein Bei verschiedentlich rohes Glück, das die Einkommenshöhe spiel: beeinflusst. Angenommen, Sie schlagen den Weg des Steuerberaters oder der Steuerberaterin ein, so hängt Ihr Gehen Sie davon aus, Sie haben zwei gleich lange Wege Lohn stark davon ab, wie der Staat den Steuerberatungs zum Bahnhof und Sie fällen heute bewusst den Ent markt reguliert. Angenommen, der Staat verlangt, dass scheid, den Weg A und nicht wie sonst den Weg B zu ge nur noch diplomierte Steuerexperten und Steuerexpertin hen. Wenn Sie nun CHF 100 auf der Strasse finden, ist nen beratend und/oder prozessierend tätig sein dürfen, so das erzielte Einkommen zwar auf einen bewussten Ent verknappt dies das Angebot und erhöht die Preise. Sie scheid zurückzuführen (die Wahl des Weges), aber Ihnen verdienen demnach mehr. Ganz viele weitere solche ro war gar nicht bewusst, dass dieser Entscheid einen Ein hen Zufälle spielen auch in Ihrem späteren Leben eine fluss auf Ihr Einkommen haben kann. Dies ist rohes Rolle. Wir dürfen also nicht dem Irrglauben verfallen, Glück. Wenn Sie aber bewusst heute Lotto spielen und dass das uns verfügbare Einkommen nur durch unser be gewinnen, ist dies nicht rohem Glück geschuldet, sondern wusstes Zutun und unsere harte Arbeit erzielt wird. Sie haben bewusst diesen Entscheid gefällt und auch mit einem Gewinn gerechnet bzw. besser auf einen Gewinn Zusammenfassend ergibt sich, dass Glück sowohl bei Ih gehofft. Es handelt sich um beeinflussbares Glück. ren Startchancen eine Rolle spielt als auch im künftigen Leben. Bei den Startchancen spielt das rohe Glück eine Betrachten wir den Lebensweg einer Person, so ist die grosse Rolle; je älter wir werden, desto eher wird jedoch Erzielung von Einkommen sowohl von rohem Glück als auch das beeinflussbare Glück relevant. Wie bereits er auch von beeinflussbarem Glück geprägt. Ich wurde in wähnt, geht es nachfolgend einzig um die Frage des Zu Berneck, einer Gemeinde im St.Galler Rheintal, geboren. sammenhangs zwischen Glück und erzieltem Einkom Meine Chance, eine Matura zu machen, lag gemäss heu men. tigen Zahlen bei 12,9 %. Wäre ich in Mörschwil geboren, läge die Chance bei 25 % und damit fast doppelt so hoch.4 Das ist rohes Glück, denn der Geburtsort steht nicht zur Disposition. Ich persönlich kann nichts dafür, dass ich in 4 Die philosophische Debatte Berneck und nicht in einer anderen Gemeinde geboren wurde. Welche moralischen Folgen hat nun diese erwähnte Un terscheidung zwischen rohem Glück und beeinfluss Selbstverständlich – und dies ist noch viel wichtiger – barem Glück? Der Glück-Egalitarismus, wie er von basiert auch die Familiensituation auf rohem Glück. Die Ronald Dworkin6 und anderen vertreten wird, versucht Zufälligkeit, in welche Familie Sie geboren werden, hat das rohe Glück in einer Gesellschaft zu neutralisieren. einen enormen Einfluss auf Ihr späteres Einkommen. Je Eine ungleiche Verteilung in einer Gesellschaft ist inso älter wir werden, desto bewusster fällen wir allerdings fern ungerecht, als sie nicht auf Entscheide und Verdiens auch Entscheide, die unseren Lebensweg prägen. Das te in einer Gesellschaft zurückzuführen ist.7 heisst, die Bedeutung des beeinflussbaren Glücks nimmt zu und die Bedeutung von rohem Glück nimmt mit stei Dieser Auffassung folgend ist nur das rohe Glück unge gendem Alter ab, zumindest hinsichtlich der Einkom recht.8 Das heisst, es geht darum, der persönlichen Ver menserzielung. antwortung in einer gesellschaftsbezogenen Gerechtig keitstheorie Rechnung zu tragen.9 Innerhalb einer Gesell Wiederum ein Beispiel: Nach der Matura habe ich mich schaft ist das rohe Glück ungerecht verteilt und darum entschieden, in Bern zu studieren; hätte ich die Universi sollten wir dieses ausgleichen. Im Übrigen ist dieses Ge tät St.Gallen gewählt, wäre mein Lohn heute vielleicht dankenexperiment auch politisch spannend, da es egali doppelt so hoch.5 Dies war ein mehr oder weniger be täre Tendenzen der linken Seite mit der Fokussierung auf wusster Entscheid und damit ist die Lohndifferenz auf Eigenverantwortung der bürgerlichen Seite kombiniert grund der Wahl der Universität nicht rohem Glück ge bzw. Überlappungen aufzeigt. Oder anders gesagt, ver schuldet, sondern hängt damit zusammen, dass ich mich langt der Glück-Egalitarismus eine Umverteilung in bewusst für den Studienort Bern entschieden habe. 6 Obwohl D workin selbst die Bezeichnung ablehnt (vgl. mwH L ippert -R asmussen , Justice and Bad Luck, Kapitel 2). 7 Vgl. hierzu auch C ohen , Rescuing Justice and Equality, 1 ff. 4 Die Zahlen basieren auf den Jahren 2014 – 2016 (vgl. mwH 8 D workin , What is Equality? Part 2: Equality of Resources, 292 ff. H oidn /S chultheis , Maturitätsquoten im Kanton St.Gallen – eine 9 Selbstverständlich gibt es ganz unterschiedliche Ansätze, den aktuelle Bestandsaufnahme, 51). Glück-Egalitarismus auszuformulieren (vgl. bspw. hierzu 5 Dies ist selbstverständlich keine empirische Aussage. A rneson , Luck Egalitarianism Interpreted and Defended, 7 ff.). IFF Forum für Steuerrecht 2021 © IFF-HSG
Peter Hongler, Die Besteuerung von Glück 333 einem Staat, die der Eigenleistung der Bürger jedoch zwar plausibel, es kann aber nicht das Ende der Ge grosse Bedeutung beimisst. schichte sein.14 Der Glück-Egalitarismus ist selbstverständlich ein sehr Eine der grössten Schwächen des Leistungsfähigkeits weitgehender Ansatz und er wurde von verschiedenen prinzips ist, dass es auf der marktmässigen Einkommens Seiten auch kritisiert. Darauf ist noch einzugehen. Aller verteilung aufbaut.15 Gerecht ist eine Situation, wenn dings ist doch zu konstatieren, dass intuitiv die Position zwei Personen mit gleichem Einkommen gleich besteuert durchaus überzeugend ist, wonach diejenigen, die im Le werden. Wie aber bereits erwähnt, ist das Verdiente je ben mehr rohes Glück haben, auch mehr Lasten tragen doch nicht zwingend gleichermassen verdient. So kennen sollen. Wenn ich mich hinter dem Schleier des Nichtwis wir alle wohlhabende Personen, die es verdient hätten, sens10 über die wesentlichen Institutionen einigen müsste, arm zu sein, und arme Personen, die es verdient hätten, spräche einiges dafür, dass ich das erzielte rohe Glück wohlhabend zu sein.16 Kurzum, ein Steuergerechtigkeits zumindest anteilig ausgleichen sollte. Darauf ist im Fol ansatz, der einzig das erzielte Einkommen betrachtet, ist genden zurückzukommen. unzureichend, da ausgeblendet wird, wie das Einkommen generiert wurde.17 Schauen wir uns jetzt aber an, wie das Schweizer Steuer recht mit der Glückskomponente umgeht. Obwohl dieses Axiom des schweizerischen Steuerrechts, wonach gleich hohes Einkommen gleich besteuert wer den soll, als Kern der juristischen Steuergerechtigkeits debatte gilt, zeigt sich in der Praxis, dass es vielerlei Ab 5 Die steuerrechtliche Behandlung weichungen gibt. Im Folgenden ist zu prüfen, wie die von Glück verschiedenen Steuergesetze mit Glück umgehen und ob trotz dieser verfehlten Gerechtigkeitsüberlegungen auf 5.1 Grundlagen zur Steuergerechtigkeits- grund des Leistungsfähigkeitsprinzips die Steuergesetze diskussion u. U. den bestrafen, der rohes Glück im Leben hat. Kon Die Steuergerechtigkeitsdebatte in der Schweiz ist – wie kret behandle ich v. a. die Einkommens- und die Erb in allen Staaten – eine aufgeladene und emotionale De schaftssteuer. batte. Die Steuerrechtswissenschaft versucht dieser Emo tionalität etwas zu entgegnen. Das emotionale Beruhi 5.2 Die Einkommenssteuer und die Steuer- gungsmittel11 hierzu ist das Leistungsfähigkeitsprinzip, freiheit von Kapitalgewinnen das der Steuergerechtigkeitsdebatte eine Objektivität ver Die Schweiz folgt bekanntlich der Prämisse, dass das ge leihen soll. Dieses Leistungsfähigkeitsprinzip hat in der samte Nettoeinkommen mit einer einzigen Einkommens Schweiz denn auch Verfassungsrang.12 Für gewöhnlich steuer belastet werden soll,18 so dass der Steuersatz für wird argumentiert, das Leistungsfähigkeitsprinzip und Arbeitseinkommen und Einkommen aus beweglichem damit die Verfassung verlangten eine horizontale und Vermögen grundsätzlich der gleiche ist. Es spielt dem eine vertikale Gleichbehandlung.13 nach keine Rolle, ob jemand CHF 1000 als Zinsen oder Horizontale Gleichbehandlung bedeutet, dass Personen CHF 1000 als Einkommen aus unselbständiger Erwerbs mit gleicher Leistungsfähigkeit gleich viel Steuern be tätigkeit erzielt. Beide Einkunftsarten werden gleich be zahlen sollen, und vertikale Gleichbehandlung bedeutet, steuert.19 dass Personen mit höheren Einkünften auch höhere Steu Dies ist nicht selbstverständlich, gibt es doch in anderen erlasten tragen sollen. Als Vergleichsobjekt wird regel Ländern duale Systeme, die bspw. Einkünfte aus Kapital mässig auf das Nettoeinkommen Bezug genommen. Das heisst, zwei Personen mit je einem Nettoeinkommen von CHF 50 000 sollen gleich besteuert werden. Dies klingt 14 So auch N am , Taxing Option Luck, 1083. 15 Dazu bereits H ongler , Das Leistungsfähigkeitsprinzip – eine moralische Illusion, Rz 33 ff. 16 N am , Taxing Option Luck, 1083. 17 Interessanterweise gibt es ein Beispiel, bei dem die Einkom- mensgenerierung eine Rolle spielt, und zwar die Dividenden. 10 Angelehnt an R awls , A Theory of Justice, 118 ff., der jedoch In diesem Zusammenhang wurde traditionell argumentiert, keinen Glück-Egalitarismus vertrat. Allerdings steht auch Rawls dass eine Milderung der wirtschaftlichen Doppelbelastung der nachfolgend noch zu besprechenden Chancengleichheit sachgerecht sei, da die Dividenden ja schon einmal besteuert positiv gegenüber (vgl. insb. Gerechtigkeitsprinzip Nr. 2b – wurden. D. h., Dividenden dürfen anders behandelt werden, Rawls, A Theory of Justice, 53). da bei ihrer Entstehung bereits eine Steuer (die Gewinnsteu- 11 Kritisch hierzu bereits H ongler , Das Leistungsfähigkeitsprin- er) angefallen ist. Vgl. hierzu mwH, aber nicht explizit in die- zip – eine moralische Illusion, Rz 1 ff. sem Punkt BGE 136 I 49, 57 ff., E. 4. 12 Art. 127 Abs. 2 BV. 18 Vgl. insb. Art. 16 Abs. 1 DBG. 13 Vgl. bspw. BGE 133 I 206, 218, E. 7.2. 19 Art. 17 DBG bzw. Art. 20 DBG. © IFF-HSG IFF Forum für Steuerrecht 2021
334 Peter Hongler, Die Besteuerung von Glück vermögen anders besteuern als Lohneinkommen.20 Es überlegungen scheitert. Wie können wir denn genau mes scheint offensichtlich, dass im schweizerischen System sen, wer wie viel Glück hat und wie viel es zu neutralisie dem rohen Glück kaum Bedeutung zukommt. Anders ge ren gibt? Einen Ansatz gäbe es zumindest hinsichtlich sagt, spielt es dieser Grundprämisse folgend keine Rolle, des Kapitaleinkommens. Um die genaue Bedeutung von ob jemand eine Einkunft verdient hat oder nicht. Nicht Glück bei Kapitaleinkommen zu eruieren, ist bei den Ein überraschend wird dieses Thema auch durch die 99%-In künften aus beweglichem Vermögen vermutlich zwischen itiative aufgegriffen, über die Ende September 2021 ab einer risikolosen und einer risikobehafteten Komponente gestimmt wurde. In deren Argumentarium wird beispiels zu unterscheiden. weise festgehalten: Die risikolose Komponente ist nichts anderes als die Ent «Wenn wir eine gerechte Welt schaffen wollen, dürfen angebore- schädigung für das Warten bis zum Konsum. 22 Das heisst, ne Privilegien nicht mehr zählen als harte Arbeit.»21 wenn ich Vermögen besitze, kann ich durchaus einen ri Die 99%-Initiative hat in diesem Punkt etwas für sich, da sikolosen Ertrag realisieren, bspw. wenn ich eine Bun im Ansatz versucht wird, Argumente des Glück-Egalita desobligation kaufe – diese Komponente hängt nicht von rismus aufzugreifen. Bei näherem Betrachten zeigt sich Glück ab. Der Zins auf einer Bundesobligation ist somit jedoch, dass es gar nicht so klar ist, ob Kapitaleinkom die Entschädigung dafür, dass ich das Geld noch nicht di men (z. B. Zinsen, Dividenden, Kapitalgewinne) unver rekt nach Erhalt konsumiere. Im Falle einer Bundesobli dienter ist als Erwerbseinkommen. Beide können zu gation ist sowohl die Auszahlung des Ertrags als auch die grossen Teilen auf rohes Glück zurückzuführen sein und Rückzahlung der Investition sicher. Erwerbe ich jedoch beide können auf bewussten Entscheiden der steuer Aktien eines Pharma-Unternehmens, ist weder das eine pflichtigen Person beruhen und damit auf beeinflussba noch das andere sicher und die Auszahlung des Ertrags rem Glück. Hierzu ein Beispiel: und die Rückzahlung der Investition sind von Zufällen abhängig, die ich nicht steuern kann. Ich kann bspw. Nehmen wir eine Person, die von Geburt an grosse Unter nicht beeinflussen, ob ein Medikament trotz Zulassung stützung erhalten hat und in sehr gute Verhältnisse gebo nicht doch Nebenwirkungen entfaltet, was zu einem ren wurde. Diese Person arbeitet nach dem Studium nur Kurssturz führen wird. Gleichzeitig kann ich nicht beein zu 60 % und erzielt ein Einkommen von CHF 60 000. Die flussen, ob das Pharma-Unternehmen aufgrund einer restliche Zeit frönt sie ihren Hobbys. Andererseits neh neuen Pandemie zusätzliche Gewinne erzielt. Das heisst, men wir eine Person, die in sehr schwierigen Verhältnis wenn ich Glück besteuern möchte, müsste ich diese Divi sen geboren wurde, aber durch harte Arbeit einen jährli dendenerträge oder die Wertsteigerung auf den Aktien chen Lohn von CHF 60 000 erzielt. Diese beiden Perso besteuern. nen werden gleich besteuert. Aber sind die CHF 60 000 gleichermassen verdient? Daraus folgt, dass eine Besteuerung der Gewinne dazu dient, das unterschiedliche Glück von Investoren auszu Angenommen, die beiden Personen investieren die ersten gleichen – zumindest mehr als in einem steuerfreien Sys CHF 10 000 aus Erwerbseinkommen in Aktien, und zwar tem.23 in Aktien von zwei verschiedenen Gesellschaften. Beide machen eine saubere Marktanalyse und hören auf Ana Das Schweizer Einkommenssteuerrecht stellt bekanntlich lysten. Leider ist nur eines der beiden Investments ge Kapitalgewinne steuerfrei.24 Besonders befremdlich hin winnbringend. Beide verkaufen die Aktien wieder. Die sichtlich der Bedeutung von Glück ist die auf finanz freizeitliebende Person macht keinen Gewinn, aber auch mathematischen Überlegungen beruhende Steuerfreiheit keinen Verlust, d. h., sie verkauft zu CHF 10 000. Die des Kapitalgewinnanteils bei strukturierten Produkten.25 hart arbeitende Person macht einen Gewinn von Dort wird bspw. bei Entschädigungen unterschieden, CHF 10 000. Ist dieser Gewinn nun auf harte Arbeit oder welcher Anteil finanzmathematisch auf Kapitalgewinn Glück zurückzuführen? und welcher auf (risikolose) Zinserträge zurückzuführen ist. Nur Letztere (d. h. die risikolose Komponente) wer Diese Beispiele zeigen auf, dass der Versuch, Glück steu den jedoch besteuert. Ein Glück-Egalitarier müsste das erlich zu neutralisieren, vermutlich an Praktikabilitäts Gegenteil fordern! Demnach scheint das schweizerische Einkommenssteuerrecht zumindest in diesem Punkt nicht besonders sensitiv, was die Besteuerung von Glück anbe 20 In der Regel wird bei einer dualen Einkommenssteuer das Einkommen aus beweglichem Vermögen mit einer tiefen «flat rate tax» besteuert und das Arbeitseinkommen progressiv (hierzu bspw. S ørensen , Dual Income Taxation, 559 ff.). 22 N am , Taxing Option Luck, 1098 mwH. 21 JA zur 99%-Initiative, Informationen und Argumente zur Ini- 23 Man spricht hierbei auch von der «Neutralisierungsthese»; tiative «Löhne entlasten, Kapital gerecht besteuern», 14 (pu- N am , Taxing Option Luck, 1102. bliziert auf: https://99prozent.ch/media/downloads/Argumen- 24 Art. 16 Abs. 3 DBG. tarium_99_gelayoutet_DEU_v2.pdf). 25 Vgl. KS 15 Obligationen und derivative Finanzinstrumente. IFF Forum für Steuerrecht 2021 © IFF-HSG
Peter Hongler, Die Besteuerung von Glück 335 langt. Es scheint im Gegenteil sogar so zu sein, dass die Glück.33 Somit müsste bei bewussten Schenkungen und jenigen, die «Glück haben», im Einkommenssteuerrecht Erbschaften eine unterschiedliche Besteuerung zum Tra punktuell bevorteilt werden.26 gen kommen. Bei Erbschaften, die bewusst an jemanden ausgerichtet werden, müsste es nicht zu einem gesell Das bringt mich zum zweiten Anwendungsbeispiel, und schaftlichen Ausgleich kommen, da diese auf beeinfluss zwar der Erbschaftssteuer. barem Glück beruhen.34 5.3 Erbschaftssteuer Das bringt mich aber zur Frage, wie denn die Erbschafts steuern in der Schweiz ausgestaltet sind und ob diese dem Gemäss Brülhart wird in der Schweiz doppelt so viel Faktor Glück Rechnung tragen. Die allermeisten Kanto Geld über Erbschaften und Schenkungen umverteilt wie ne35 kennen eine Erbschaftssteuer (oder präziser Erb durch die AHV.27 Die Einnahmen aus der AHV sind be anfallsteuer) und nicht eine Nachlasssteuer.36 Das heisst, kanntlich einkommenssteuerpflichtig,28 die Erbschaft und die Steuer wird bei jedem einzelnen Erben und nicht auf Schenkung in direkter Linie jedoch in der Regel weder dem gesamten Nachlass erhoben. Die Nachlasssteuer einkommens-29 noch erbschaftssteuerpflichtig. Wiederum würde – vereinfacht gesagt – beim Erblasser bzw. bei der stellt sich die Frage, inwiefern Glück eine Rolle spielt. Erbengemeinschaft und nicht bei den einzelnen Erben Dworkin als Glück-Egalitarier hat sich für eine Erb e rhoben. Wird beispielsweise eine Erbschaft von schaftssteuer ausgesprochen.30 Die Erbschaftssteuer kann CHF 1 000 000 auf 5 Erben à je CHF 200 000 aufgeteilt, in diesem Sinne als Versicherung dienen, falls ich in eine wird dies unter einer reinen Nachlasssteuer gleich behan arme Gesellschaftsklasse geboren werde.31 Auf den ersten delt wie eine Erbschaft von CHF 1 000 000 an eine Per Blick scheint dies äusserst plausibel und auch verschie son.37 dene Ökonomen scheinen Erbschaftssteuern zu Umver Auf den ersten Blick scheint eine Erbschaftssteuer dem teilungszwecken zu befürworten.32 Wenn ich etwas erbe, Faktor Glück eher Rechnung zu tragen als eine Nachlass hat dies in der Regel einzig damit zu tun, dass ich in eine steuer, da sie individuelle Entscheide des Erblassers bes Familie geboren worden bin, in der etwas vererbt wird. ser berücksichtigen kann. Spannender ist die Frage nach Die Erbschaft scheint auf einem Zufall und nicht auf den Steuersätzen. In den meisten Kantonen sind Schen einem bewussten Entscheid zu beruhen. Dies ist aller kungen und Erbschaften in direkter Linie erbschaftssteu dings eine zu einfache Schlussfolgerung, da die Sicht des erfrei.38 Daneben hat sich vielerorts eine Praxis entwi Erblassers ignoriert wird. Aus Sicht des Erblassers hat ckelt, wonach die Erbschafts- und Schenkungssteuersät das Zusprechen einer Erbschaft u. U. überhaupt nichts ze umso höher sind, je geringer der Verwandtschaftsgrad mit rohem Glück zu tun, sondern mit bewussten Ent ist. Wiederum ist zu klären, ob dieser Status quo glück scheiden. Das heisst, wechselt man die Perspektive vom sensitiv ist oder nicht. Erben (der u. U. rohes Glück hat) zum Erblasser, so wird offensichtlich, dass aus Sicht des Erblassers die Erbver Auf den ersten Blick müsste eine Erbschaftssteuer, die teilung über den Pflichtteil hinaus auf einem bewussten Glück ausgleichen soll, mit einem Einheitssatz versehen Entscheid beruht und insofern eine Erbschaft über den sein ohne besondere Berücksichtigung des Verwandt Pflichtteil hinaus idR nicht auf rohem Glück beruht. schaftsgrades.39 Argumentiert werden könnte sogar, dass Erbschaften an Nicht-Verwandte steuerlich ausgenom Über den Pflichtteil hinaus kann argumentiert werden, men und gleichzeitig die Erbschaften in direkter Linie dass dieser Anteil u. U. darauf zurückzuführen ist, dass besteuert werden sollten.40 Wie erwähnt, besteht zumin sich der Erbe bewusst gut gegenüber der Erblasserin ver dest im Umfang des Pflichtteils keine Wahl des Erblas halten hat. Daneben beruhen insbesondere Schenkungen sers und aus Sicht des Erben beruht dieser Erbteil aus auf bewussten Entscheiden und damit beeinflussbarem schliesslich auf rohem Glück, und zwar dem Glück, in 33 Zu diesem Thema vgl. H alliday , Inheritance of Wealth. Just ice, 26 Die Vermögenssteuer schafft hier teilweise einen Ausgleich Equality, and the Right to Bequeath, 79. (vgl. H ongler /V alta , Internationale Perspektiven der Vermö- 34 A lstott , Equal Opportunity and Inheritance Taxation, 507. gensbesteuerung, 6 ff., v. a. Ziff. III.2). 35 Der Bund kennt bekanntlich keine Erbschaftssteuer. 27 B rülhart , Wer hat, der erbt? 36 Vgl. hierzu O pel , § 5 N 4 ff. 28 Art. 22 Abs. 1 DBG. 37 Ein ähnliches Beispiel bringt A lstott , Equal Opportunity and 29 Art. 24 lit. a DBG. Inheritance Taxation, 503. Auch Nachlasssteuern können ähn- 30 D workin , Sovereign Virtue, 348. lich wie eine Erbschaftssteuer ausgestaltet sein. 31 Vgl. hierzu H alliday , Inheritance of Wealth. Justice, Equality, 38 Eine Übersicht findet sich in Credit Suisse, Übersicht kanto- and the Right to Bequeath, 96. nale Erbschafts- und Schenkungssteuer, 1.1.2021, publiziert 32 Vgl. E isenring , Ist die Ungleichheit in der Schweiz eine Wachs- auf: www.credit-suisse.com. tumsbremse? Und sollte man Kapital stärker belasten als Ar- 39 A lstott , Equal Opportunity and Inheritance Taxation, 507. beit? 142 Ökonomen nehmen Stellung. 40 A lstott , Equal Opportunity and Inheritance Taxation, 511. © IFF-HSG IFF Forum für Steuerrecht 2021
336 Peter Hongler, Die Besteuerung von Glück die richtige Familie geboren worden zu sein. Auch in die bspw. jemanden entschädigen, weil er oder sie (ohne be sem Punkt zeigt sich, dass es gar nicht so einfach ist, zwi wusstes Zutun) nicht gut aussieht und dies potenziell in schen rohem Glück und beeinflussbarem Glück im Leben einer Gesellschaft Nachteile hat. zu unterscheiden. Teilweise wird vorgebracht, dass nicht alle Zufälligkeiten Zusammenfassend scheint auch bei der Erbschaftssteuer (d. h. nicht alles rohe Glück) ausgeglichen werden müs dem Faktor Glück kaum Bedeutung zuzukommen. Im sen. Der Staat solle jedoch zumindest die Institutionen Gegenteil: Ähnlich wie bei der Frage nach der Besteue nicht so gestalten, dass diese Zufälligkeiten zu zusätzli rung von Kapitalgewinnen tendieren die gegenwärtigen chen sozialen Vor- und Nachteilen führen.44 D. h., die ge kantonalen Erbschaftssteuersysteme sogar dazu, diejeni sellschaftlichen Institutionen sollen nicht so organisiert gen, die «Glück haben», zu belohnen und diejenigen, die sein, dass Nachteile entstehen für Personen, die Glück Einkünfte erzielen, aufgrund von beeinflussbarem Glück bzw. Pech haben. Es geht also darum, zu prüfen, ob In zu bestrafen. Allerdings zeigt sich auch hier, dass aus stitutionen Personen, die rohes Glück haben, zusätzlich Praktikabilitätsüberlegungen eine Besteuerung von bevorteilen. Dies ist eine erste Eingrenzung, die nachfol Glück nie präzis sein wird. Es fehlen schlicht die Infor gend berücksichtigt werden sollte. mationen, wer Glück hat.41 Dennoch ist die jetzige Aus Eine zweite Eingrenzung stammt von Vallentyne, der gestaltung der Erbschaftssteuern in der Schweiz wenig festhält, dass Gerechtigkeit im Rahmen eines egalitaris überzeugend. Eine Erhöhung der Steuersätze mit ab tischen Ansatzes zumindest Chancengleichheit verlange nehmendem Verwandtschaftsgrad lässt sich kaum recht und dass eben nicht jegliches Glück ausgeglichen werden fertigen. müsse.45 Die Chancengleichheit ist denn auch ein verbrei tetes und anerkanntes Ziel in anderen Gerechtigkeitsthe orien und nicht nur im Egalitarismus.46 Ohne hier vertieft auf die philosophische Argumentation einzugehen, ist 6 Kritik am Glück-Egalitarismus nachfolgend zu überprüfen, was es für das Steuerrecht Ein erster Abriss zeigt, dass das Schweizer Steuerrecht in heissen würde, wenn nicht jegliches rohe Glück auszu einigen Punkten überraschenderweise diejenigen bevor gleichen wäre, sondern zumindest Chancengleichheit ge teilt, die Glück haben, verglichen mit denjenigen, die schaffen würde und so das unterschiedliche rohe Glück Einkommen durch bewusste Entscheide und harte Arbeit zumindest teilweise neutralisiert würde. realisieren. Folgten wir glück-egalitaristischen Ansätzen, Kurzum soll im Folgenden diskutiert werden, wie das wären diese gesetzgeberischen Entscheide zu überden Steuerrecht ausgestaltet werden soll, wenn (i) nicht dar ken. auf abgezielt wird, jegliches rohe Glück auszugleichen, Dieser Glück-Egalitarismus ist jedoch von philosophi sondern der Fokus auf der Chancengleichheit liegt und scher Seite unter Beschuss geraten. An dieser Stelle hat wenn (ii) insbesondere geprüft wird, welche institutio eine umfassende Behandlung der Gegenpositionen zu un nellen Strukturen die Chancengleichheit verbessern oder terbleiben, einzelne Argumente sollen dennoch darge verschlechtern. stellt werden.42 So wird beispielsweise argumentiert – und auf diese Praktikabilitätsüberlegungen wurde auch schon hingewiesen –, es sei gar nicht so klar, wann eine Person bewusst einen Entscheid fällt und wann nicht.43 Eines der überzeugendsten Argumente gegen eine steuer liche Berücksichtigung von Glück ist zudem, dass der zwingende Ausgleich von rohem Glück in einer Gesell schaft zu absurden Resultaten führen würde. Man müsste 41 Vgl. auch N am , Taxing Option Luck, 1095; F ried , Commentary. Compared to What? Taxing Brute Luck and Other Second-Best Problems, 380. 42 Vgl. bspw. T an , Luck, institutions, and global distributive jus- tice: A defence of global luck egalitarianism, 394 ff. Hierzu auch T an , Justice, Institutions, and Luck: The Site, Ground, and Scope of Equality, 1 ff. 44 Zum Ganzen vor allem T an , Luck, institutions, and global dis- 43 Vgl. S cheffler , Choice, Circumstance, and the Value of Equa- tributive justice: A defence of global luck egalitarianism, 397 ff. lity. Hierzu auch I noue , Can Luck Egalitarianism Serve as a 45 V allentyne , Brute Luck, Option Luck, and Equality of Initial Basis for Distributive Justice? A Critique of Kok-Chor Tan’s Opportunities, 529 ff. Institutional Luck Egalitarianism, 393 ff. 46 Vgl. bspw. S en , The Idea of Justice, 1 ff. IFF Forum für Steuerrecht 2021 © IFF-HSG
Peter Hongler, Die Besteuerung von Glück 337 7 Neutralisierung von Glück ver- ganz nach oben in der Einkommensverteilung zu kom standen als Ermöglichung von men.51 Chancengleichheit Somit lohnt es sich, zu analysieren, ob das Steuerrecht Was wird unter Chancengleichheit verstanden? Chancen und die Ausbildungschancen zusammenhängen, da die gleichheit bedeutet, dass der Entscheidungsbaum zu Be Ausbildung durchaus einen beträchtlichen Einfluss auf ginn des Lebens die gleichen Verästelungen ermöglichen die Einkommensmobilität hat, insb. für die Mobilität von sollte.47 ganz unten nach ganz oben. Auf den ersten Blick hat das Erste nichts mit dem Zweiten zu tun, d. h., meine Ausbil Wiederum bin ich als Steuerrechtler stark monetär getrie dungschancen bestehen auf den ersten Blick unabhängig ben, so dass ein ziemlich objektives Kriterium für Chan vom Steuersystem. Schliesslich geht es bei den Bildungs cengleichheit das künftig erzielbare Einkommen ist. chancen um die Ausgaben- und nicht um die Einnahmen Chancengleichheit bemisst sich in diesem Sinne daran, seite des Staates. Auf den zweiten Blick lohnt es sich je wie gross die Wahrscheinlichkeit ist, dass ich künftig doch, insbesondere das Verhältnis zwischen Steuerwett Einkommen X erzielen werde (je nach familiärer Her bewerb und Bildungschancen genauer anzuschauen. Ver kunft). Um die Chancengleichheit zu messen, untersu gleiche zwischen den Kantonen sind sehr schwierig, da chen Ökonomen die Einkommensmobilität, d. h. die sich die Maturitätsquoten und die Schulsysteme interkan Wahrscheinlichkeit, dass ich in der Einkommensvertei tonal zu stark unterscheiden. Vergleiche innerhalb eines lung auf- oder absteige, verglichen mit meinen Eltern (in Kantons können jedoch durchaus sinnvoll sein. In den relativen und absoluten Zahlen). Vereinfacht gesagt, je folgenden Grafiken werden die Maturitätsquoten in Ver höher diese Mobilität, desto eher ist die Chancengleich bindung zu den Gemeindesteuerfüssen gesetzt, und zwar heit gewährleistet. Wie die Arbeiten von Patrick Chuard für den Kanton Zürich und den Kanton St.Gallen.52 und Veronica Grassi zeigen, gibt es interkantonale Unter schiede, die mit der Wirtschaftskraft einer Region einher gehen.48 Das heisst, in den Kantonen Zug, Zürich oder auch Genf ist die absolute Einkommensmobilität grösser als in den Kantonen Uri, Glarus und Jura, da auch das wirtschaftliche Potenzial in diesen Kantonen grösser ist.49 Weiter ist von Bedeutung, dass die Mobilität nach oben hinsichtlich Bildung in der Schweiz tief ist, wogegen die Einkommensmobilität verglichen mit anderen Ländern immer noch relativ gross ist. Stamme ich aus einem Nichtakademiker-Haushalt, ist die Wahrscheinlichkeit, dass ich einen universitären Abschluss erzielen werde, verglichen mit anderen Ländern klein. Dass die Schweiz dennoch eine hohe Einkommensmobilität hat, liegt ver mutlich im dualen Bildungssystem begründet. Das heisst, trotz geringer Bildungsmobilität sind die Chancen in der Schweiz gut, dass ich verglichen zu meinen Eltern in der Einkommensverteilung aufsteige.50 Allerdings zeigen die 51 Konkret zeigen sie auf, wie hoch die Wahrscheinlichkeit ist, Zahlen von Chuard und Grassi auch, dass ein Universi vom untersten Fünftel (einkommensmässig) ins oberste Fünf- tätsabschluss bzw. eine Matura von grosser Hilfe ist, um tel aufzusteigen, und wie wichtig hierfür ein tertiärer (insb. ein universitärer) Abschluss ist (C huard /G rassi , Switzer-Land of Opportunity: Intergenerational Income Mobility in the Land of Vocational Education, 27 f.). 52 Selbstverständlich bedürfte es für konkrete Schlussfolgerun- gen einer genauen Analyse dieser Zahlen. Im Rahmen der vorliegenden Abhandlung haben wir uns einzig auf öffentlich zugängliche Daten gestützt und bspw. nicht analysiert, wel- 47 V allentyne , Brute Luck, Option Luck, and Equality of Initial chen Effekt interkantonale Maturitäten (d. h., Wohn- und Ma- Opportunities, 539. turitätskanton divergieren) haben. Die Daten zu den Maturi- 48 Vgl. aber bspw. C huard /G rassi , Switzer-Land of Opportunity: tätsquoten sind hier verfügbar: H oidn /S chultheis , Maturitäts- Intergenerational Income Mobility in the Land of Vocational quoten im Kanton St.Gallen – eine aktuelle Bestandsaufnah- Education, 1 ff. me, 51 (Maturitätsquoten 2014 – 2016 für den Kanton St.Gal- 49 C huard /G rassi , Switzer-Land of Opportunity: Intergenerational len) sowie https://www.zh.ch/de/bildung/bildungssystem/ Income Mobility in the Land of Vocational Education, 33. zahlen-fakten-in-bildung.html?keyword=bildungsdaten#/ 50 So auch die Interpretation von C huard /G rassi , Switzer-Land details/672@bildungsstatistik-kanton-zuerich (Maturitätsquo- of Opportunity: Intergenerational Income Mobility in the Land ten 2017 – 2020 für den Kanton Zürich). Die Steuerfüsse stam- of Vocational Education, 48. men aus den Jahren 2016 (St.Gallen) und 2020 (Zürich). © IFF-HSG IFF Forum für Steuerrecht 2021
338 Peter Hongler, Die Besteuerung von Glück Grafik 1: Steuerfuss und Maturitätsquote Kanton St.Gallen 30 25 20 Maturitätsquote 15 10 5 0 162 153 149 149 149 148 148 145 145 145 145 144 143 142 142 140 139 139 137 135 134 133 133 132 130 128 125 123 120 119 118 115 112 107 98 95 90 85 80 Steuerfuss Grafik 2: Steuerfuss und Maturitätsquote Kanton Zürich 50 45 40 35 Maturitätsquote 30 25 20 15 10 5 0 130 124 122 121 120 119 118 118 117 116 115 114 113 112 112 112 111 110 110 109 109 108 107 106 106 105 103 103 102 101 100 99 99 98 97 94 91 89 88 87 87 85 80 77 73 Steuerfuss Es zeigt sich ein Trend, v. a. im Kanton Zürich, wonach höheren Einkommen rechnen darf, nur schon darin be die Maturitätsquoten in steuergünstigen Gemeinden hö gründet, dass die Wahrscheinlichkeit eines Hochschul her sind. Und bevor Sie meine Ausführungen werten, ist abschlusses höher ist. vorweg noch einmal auf das Ziel von Antrittsvorlesungen Die Frage, die mich einzig interessiert, ist jedoch, wie hinzuweisen. Sicherlich soll auf das künftige Forschungs viel davon auf den institutionellen Rahmen und wie viel vorhaben des Fakultätsneulings hingewiesen werden, darauf zurückzuführen ist, in welche Familie ich geboren aber wohl auch generell auf Entwicklungen, die in den werde. Oder anders gesagt, wäre es sicherlich stossend, nächsten Jahren bzw. Jahrzehnten sowohl die Öffent wenn das rohe Glück, dass ich in eine bestimmte Ge lichkeit als auch die Wissenschaft beschäftigen werden. meinde und eine bestimmte Familie geboren werde, Was zeigt nun diese Übersicht? Selbstverständlich gibt es durch institutionelle Massnahmen des Staates (z. B. die auch in der Schweiz «high- und low-opportunity zones», Gestaltung des Steuerwettbewerbs) noch zu zusätzlichen d. h. Gemeinden, in denen ein Neugeborenes mit einem Vorteilen führen würde. IFF Forum für Steuerrecht 2021 © IFF-HSG
Peter Hongler, Die Besteuerung von Glück 339 Um hierzu eine empirische Aussage zu machen, fehlen 8 Zusammenfassung soweit ersichtlich in der Schweiz noch die Daten. Unter suchungen aus den USA zeigen jedoch, dass ein mög Ich erlaube mir folgende Schlussfolgerungen: lichst frühzeitiger Umzug in eine «high-opportunity 1. Ich bin überzeugt, dass wir die Beeinflussbarkeit von zone» die Chancen auf ein höheres Einkommen vergrös Einkünften und damit das Glück bei der steuerlichen sert (und zwar unabhängig von der Familienzugehörig Qualifikation berücksichtigen sollten. Das traditio keit). Jedes Jahr zählt. Das zeigt auch, dass eben das Um nelle Steuergerechtigkeitsaxiom, wonach ein gleich feld und nicht nur die eigene Familie die Chance auf ein hohes Einkommen unabhängig von der Verdientheit überdurchschnittliches Einkommen erhöht. Es braucht gleich besteuert werden soll, überzeugt nicht. bekanntlich ein ganzes Dorf, um ein Kind zu erziehen.53 2. Rohes Glück darf bei steuerpolitischen Grundent Konkret wird in diesen Untersuchungen betrachtet, wie scheidungen durchaus eine Rolle spielen. Eine höhe sich Kinder der gleichen Familie entwickeln, wenn die re Besteuerung von Kapitalgewinnen oder auch tie Familie umzieht und bspw. ein Kind zum Umzugszeit fere Erbschaftssteuersätze für Nicht-Verwandte sind punkt 9 Jahre und das andere 11 Jahre alt ist. Die Daten nur zwei Vorschläge, die es vor diesem Hintergrund von Chetty et al.54 zeigen zumindest für die USA, dass vertieft zu diskutieren gilt. ein früherer Umzug in eine «high-opportunity zone» die 3. Noch überzeugender ist, nicht zu verlangen, dass jeg Wahrscheinlichkeit, ein höheres Einkommen zu realisie liches Glück ausgeglichen wird, sondern zumindest, ren, vergrössert. dass gewährleistet wird, dass die staatlichen Institu Was will ich damit ausdrücken? Ich vermute, dass der tionen Unterschiede, die auf rohes Glück zurückzu Steuerwettbewerb in den kommenden Jahrzehnten unter führen sind, nicht noch verschärfen. Auf den ersten Druck kommen wird, und zwar nicht in einer traditionel Blick scheint dem Steuerrecht hierbei keine Bedeu len Weise, wonach die Reichen weniger Steuern bezah tung zuzukommen, da es vor allem um die Ausgaben len,55 sondern vielmehr in einer Art und Weise, bei der der seite des Staates geht. Die Relation von Steuerwett Steuerwettbewerb u. U. zu «high- und low-opportunity bewerb und Maturitätsquoten kann jedoch ein Anzei zones» führt, die in dieser Form irgendwann im Hinblick chen sein, dass der Steuerwettbewerb vermehrt zu auf die gesellschaftliche Kohäsion und die Chancen «high- und low-opportunity zones» führt. Somit kann gleichheit nicht mehr tragbar erscheinen. Das sind natür durchaus ein Zusammenhang bestehen zwischen lich blosse Vermutungen und Blicke in die Kristallkugel, steuerpolitischen Entscheiden und der Chancen aber im Rahmen einer Antrittsvorlesung sollen diese er gleichheit. laubt sein. Oder um den Bogen zum Thema der heutigen 4. Diese Schlussfolgerungen wiederum bestätigen eine Vorlesung zu ziehen: Das rohe Glück, in welcher Ge von mir schon verschiedentlich vertretene Meinung, meinde ich geboren werde, wird unter Umständen durch wonach die Steuergerechtigkeitsdiskussion schlicht den institutionellen Rahmen (d. h. durch den Steuerwett nicht unabhängig von der Ausgabenseite beurteilt bewerb) noch verschärft und hat aufgrund des unter werden kann.56 Gleiches Einkommen muss eben für schiedlichen Zugangs zu Bildung auch einen Einfluss auf eine gerechte Gesellschaft nicht gleich besteuert das künftig zu erzielende Einkommen. werden. Was wäre eine Antwort darauf, falls meine Vermutung zutrifft? Vermutlich nicht zwingend, den Steuerwett Literaturverzeichnis bewerb anzupassen bzw. diesen zu limitieren, da dieser grosse Effizienzgewinne und sachgerechte Fiskalverant Alstott Anne L., Equal Opportunity and Inheritance wortung mit sich bringt. Vielmehr braucht es eine stetige Taxation, Harvard Law Review 2007, 469 Diskussion über Bildungschancen in der Schweiz, und Arneson Richard J., Luck Egalitarianism Interpreted zwar gemeindebezogen. and Defended, Philosophical Topics 2004, 1 Brülhart Marius, Wer hat, der erbt?, Das Forum für Schweizer Wirtschaftspolitik, 12.2.2020, publiziert 53 Die Redewendung wird auch in verschiedenen Vorträgen von auf: https://www.batz.ch/2020/02/wer-hat-der-erbt/ Raj Chetty verwendet. 54 C hetty /H endren , The Impacts of Neighborhoods on Intergene- rational Mobility I: Childhood Exposure Effects, 1143. 55 Unter Umständen hat der Steuerwettbewerb ja bereits zu einem de facto degressiven Steuersystem geführt (vgl. R oller / S chmidheiny , Effective Tax Rates and Effective Progressivity in a Fiscally Decentralized Country, 18; zur Verfassungskonfor mität dieser De-facto-Degressivität vgl. bereits H ongler , Das 56 H ongler , Das Leistungsfähigkeitsprinzip – eine moralische Leistungsf ähigkeitsprinzip im Vielsteuersystem, 14 f.). I llusion, Rz 44 ff. © IFF-HSG IFF Forum für Steuerrecht 2021
340 Peter Hongler, Die Besteuerung von Glück Chetty Raj/Hendren Nathaniel, The Impacts of Opel Andrea, in: Kommentar zum Schweizerischen Neighborhoods on Intergenerational Mobility I: Steuerrecht, Erbschafts- und Schenkungssteuerrecht, Childhood Exposure Effects, The Quarterly Journal Basel 2020 of Economics 2018, 1107 Rawls John, A Theory of Justice. Revised Edition, Chuard Patrick/Grassi Veronica, Switzer-Land of Cambridge 1999 Opportunity: Intergenerational Income Mobility in Roller Marcus/Schmidheiny Kurt, Effective Tax the Land of Vocational Education, Discussion Paper Rates and Effective Progressivity in a Fiscally De no. 2020 -11, St.Gallen 2020 centralized Country, CESifo Working Paper No. 5824, Cohen Gerald A., Rescuing Justice and Equality, Cam München 2016 bridge, Mass. 2008 Scheffler Samuel, Choice, Circumstance, and the Dworkin Ronald, What is Equality? Part 2: Equality Value of Equality, in: Equality and Tradition. Ques of Resources, Philosophy and Public Affairs 1981, tions of Value in Moral and Political Theory, Oxford 283 2010, 208 – Sovereign Virtue. The Theory and Practice of Equa Sen Amartya, The Idea of Justice, Cambridge, Mass. lity, Cambridge, Mass. 2002 2011 Eisenring Christoph, Ist die Ungleichheit in der Sørensen Peter Birch, Dual Income Taxation: Why Schweiz eine Wachstumsbremse? Und sollte man and How?, FinanzArchiv 2005, 559 Kapital stärker belasten als Arbeit? 142 Ökonomen nehmen Stellung, Neue Zürcher Zeitung, 9.9.2021 Tan Kok-Chor, Luck, institutions, and global distribu tive justice: A defence of global luck egalitarianism, Fried Barbara H., Commentary. Compared to What? European Journal of Political Theory 2011, 394 Taxing Brute Luck and Other Second-Best Problems, – Justice, Institutions, and Luck: The Site, Ground, and Tax Law Review 1999/2000, 377 Scope of Equality, Oxford University Press 2021 Halliday Daniel, Inheritance of Wealth. Justice, Equa Vallentyne Peter, Brute Luck, Option Luck, and lity, and the Right to Bequeath, Oxford 2018 Equality of Initial Opportunities, Ethics 2002, 529 Hoidn Sabine/Schultheis Franz, Maturitätsquoten im Kanton St.Gallen – eine aktuelle Bestandsaufnahme, Soziologisches Institut, St.Gallen 2017 Rechtsquellen Hongler Peter, Das Leistungsfähigkeitsprinzip – eine BV, Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenos moralische Illusion, Jusletter, 4.11.2019, publiziert senschaft (vom 18.4.1999), SR 101 auf: http://jusletter.weblaw.ch DBG, BG über die direkte Bundessteuer (vom 14.12.1990), – Das Leistungsfähigkeitsprinzip im Vielsteuersystem, SR 642.11 IFF-HSG Working Paper No 2021-3 Hongler Peter/Valta Matthias, Internationale Per spektiven der Vermögensbesteuerung, Steuer und Praxisanweisungen Wirtschaft 2021, 6 KS 15 Obligationen und derivative Finanzinstrumente, Inoue Akira, Can Luck Egalitarianism Serve as a Basis Kreisschreiben Nr. 15 der ESTV betr. Obligationen for Distributive Justice? A Critique of Kok-Chor und derivative Finanzinstrumente als Gegenstand der Tan’s Institutional Luck Egalitarianism, Law and direkten Bundessteuer, der Verrechnungssteuer sowie Philosophy 2016, 391 der Stempelabgaben (vom 3.10.2017) Lippert-Rasmussen Kasper, Justice and Bad Luck, The Stanford Encyclopedia of Philosophy, 28.3.2018, publiziert auf: https://plato.stanford.edu/archives/ sum2018/entries/justice-bad-luck Nam Jeesoo, Taxing Option Luck, UC Irvine Law Re view 2021, 1067 IFF Forum für Steuerrecht 2021 © IFF-HSG
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