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Zurich Open Repository and Archive University of Zurich University Library Strickhofstrasse 39 CH-8057 Zurich www.zora.uzh.ch Year: 2022 Die curriculare Konstruktion nationaler Identität im Dienste der Weltrettung: eine Rekonstruktion der diskursiv konstruierten, schweizerischen Identität innerhalb der Bildung für Nachhaltige Entwicklung Jäggi-Jorns, Kirstin Abstract: Das krisenhafte Momentum des Klimawandels als globales Problem führte zu internationalen Bestrebungen der Pädagogisierung von Nachhaltigkeit. Dies, da der Bildung im Sinne eines weltge- sellschaftlichen Reparaturauftrages eine Schlüsselrolle zugeschrieben wurde. Im Rahmen der Bildung für Nachhaltige Entwicklung (BNE) fand das internationale Anliegen der Nachhaltigkeit infolgedessen Ein- gang in den schweizerischen Lehrplan 21. Nationale Curriculumdebatten – wie jene über BNE – sind ferner immer auch Debatten über die nationale Identität, sprich: darüber, wie die zukünftigen Staats- bürger*innen sein sollen. Denn letztlich ist dies eine der Stellschrauben zur Konfiguration der Zukunft. So verknüpfen sich hier Nation Building-Prozesse mit dem Curriculum. Zur Rekonstruktion der Vorstel- lungen der idealen schweizerischen Identität zukünftiger Citoyens im Rahmen von BNE fokussiert diese Arbeit auf das Curriculum sowie auf Lehrmittel, welche als Manifestierung gesamtgesellschaftlich und diskursiv ausgehandelter Ideen verstanden werden, welche auf Vorstellungen der „guten“ Gesellschaft fussen. Dabei zeigt die Arbeit mithin, dass der globalen Herausforderung der Klimaerwärmung im Rahmen von BNE mit zu internalisierender Globalität, Zukunftsorientierung, verstärktem Verantwor- tungsbewusstsein und proaktivem, reflektierten Handeln begegnet wird, welche über das blosse Wissen hinausweisen und die emotionale und ethische Dimension miteinbeziehen. Posted at the Zurich Open Repository and Archive, University of Zurich ZORA URL: https://doi.org/10.5167/uzh-219019 Scientific Publication in Electronic Form Published Version Originally published at: Jäggi-Jorns, Kirstin (2022). Die curriculare Konstruktion nationaler Identität im Dienste der Weltret- tung: eine Rekonstruktion der diskursiv konstruierten, schweizerischen Identität innerhalb der Bildung für Nachhaltige Entwicklung. Zürich: Institut für Erziehungswissenschaft.
Institut für Erziehungswissenschaft Die curriculare Konstruktion nationaler Identität im Dienste der Weltrettung Eine Rekonstruktion der diskursiv konstruierten, schweizerischen Identität innerhalb der Bildung für Nachhaltige Entwicklung Kirstin Jäggi-Jorns Schriftenreihe Historische Bildungsforschung und Bildungspolitikanalyse Lucien Criblez und Daniel Deplazes (Hrsg.) Nr. 8 Zürich, Juni 2022
Kirstin Jäggi-Jorns Die curriculare Konstruktion nationaler Identität im Dienste der Weltrettung Das krisenhafte Momentum des Klimawandels als globales Problem führte zu internationalen Bestrebungen der Pädagogisierung von Nachhaltigkeit. Dies, da der Bildung im Sinne eines weltgesellschaftlichen Reparaturauftrages eine Schlüsselrolle zugeschrieben wurde. Im Rahmen der Bildung für Nachhaltige Entwicklung (BNE) fand das internationale Anliegen der Nachhaltigkeit infolgedessen Eingang in den schweizerischen Lehrplan_21. Nationale Curriculumdebatten – wie jene über BNE – sind ferner immer auch Debatten über die nationale Identität, sprich: darüber, wie die zukünftigen Staatsbürger*innen sein sollen. Denn letztlich ist dies eine der Stellschrauben zur Konfiguration der Zukunft. So verknüpfen sich hier Nation Building-Prozesse mit dem Curriculum. Zur Rekonstruktion der Vorstellungen der idealen schweizerischen Identität zukünftiger Citoyens im Rahmen von BNE fokussiert diese Arbeit auf das Curriculum sowie auf Lehrmittel, welche als Manifestierung gesamtgesellschaftlich und diskursiv ausgehandelter Ideen verstanden werden, welche auf Vorstellungen der „guten“ Gesellschaft fussen. Dabei zeigt die Arbeit mithin, dass der globalen Herausforderung der Klimaerwärmung im Rahmen von BNE mit zu internalisierender Globalität, Zukunftsorientierung, verstärktem Verantwortungsbewusstsein und proaktivem, reflektierten Handeln begegnet wird, welche über das blosse Wissen hinausweisen und die emotionale und ethische Dimension miteinbeziehen. Schlagworte: Curriculum / nationale Identität / future citizens / Bildung für Nachhaltige Entwicklung Kirstin Jäggi-Jorns arbeitet als Assistentin am Lehrstuhl für Berufs- und Weiterbildung des Instituts für Erziehungswissenschaft der Universität Zürich. Die vorliegende Arbeit wurde im Frühjahrssemester 2021 als Masterarbeit angenommen. Die Schriftenreihe Historische Bildungsforschung und Bildungspolitikanalyse wird vom Lehrstuhl Historische Bildungsforschung und Steuerung des Bildungssystems des Instituts für Erziehungswissenschaft der Universität Zürich geführt (https://www.ife.uzh.ch/de/research/criblez.html). Sie dient der Veröffentlichung von Arbeiten wissenschaftlicher Mitarbeitenden des Lehrstuhls sowie von hervorragenden studentischen Abschlussarbeiten. Die darin vertretenen Positionen und geäusserten Meinungen liegen jedoch in der alleinigen Verantwortung der jeweiligen Autorenschaft und gelten nicht als offizielle Standpunkte des Lehrstuhls. Sämtliche Beiträge der Schriftenreihe HBS sind verfügbar unter: http://www.uzh.ch/blog/ife-hbs/category/publikationen/ ISSN: 2297-3095
Inhaltsverzeichnis Die curriculare Konstruktion nationaler Identität im Dienste der Weltrettung Inhaltsverzeichnis 1 Einleitung 4 1.1 Theoretisch-methodologische Perspektive und Erkenntnisinteresse 5 1.2 Diskussionen über Bildung für Nachhaltige Entwicklung 9 1.3 Fragestellung und Quellen 12 1.4 Methodischer Zugriff und Überblick über den Aufbau der Arbeit 17 2 Die ideal vorgestellte schweizerische Identität im Rahmen von BNE 19 2.1 Kategoriale Schubladen nationaler Identität 19 2.2 Die Merkmale der ideal vorgestellten schweizerischen Identität in kategorialen Schubladen 21 3 Ergänzt zur Nachhaltigkeit : Die ideale schweizerische Identität 52 4 Bibliographie 58 4.1 Quellen 58 4.2 Literatur 58 Seite 3 Universität Zürich, Schriftenreihe HBB, Nr. 8
Einleitung Die curriculare Konstruktion nationaler Identität im Dienste der Weltrettung 1 Einleitung Der Mensch ist für die Bewohnung und Geschäftsführung der Erde im Ganzen verantwortlich geworden, seit seine Anwesenheit auf ihr sich nicht länger im Modus der mehr oder weniger spurlosen Integration vollzieht. (Sloterdijk, 2015, S. 25) Seit dem 29. August 2016 leben wir nicht mehr länger im Holozän, welches vor 12 000 Jahren begann und den Anfang der menschlichen Zivilisation markiert. Folgte man dem Vorschlag der Anthropocene Working Group, welche die ökologische Krise als geochronologischen Epochenumbruch verstanden wissen will, so lebten wir nun im Anthropozän. Im Zeitalter, in welchem der Mensch ganz entscheidend die natürliche Umwelt verändert bzw. bereits verändert hat (Horn, 2017, S. 1 f.). Diese Perzeption wandle gleichzeitig die Vorstellung der menschlichen Wirkmächtigkeit und rücke den Menschen als prägende Spezies ins Zentrum, wie die deutsche Kulturwissenschaftlerin Eva Horn konstatiert (ebd.). Damit wird die Debatte um die Auslegung der vom deutschen Philosophen und Kulturwissenschaftler Peter Sloterdijk in seinem eingangs dieser Arbeit aufgeführten Zitat als «Geschäftsführung» umschriebene Verantwortung der Menschen eröffnet1. Dabei mag es eine zentrale Rolle spielen, ob im «Zeitalter der Menschen [...] die beste Chance» gesehen wird, «die Erde zu retten», wie dies etwa der Geobiologe Rein-hold Leinfelder in einem mit Wir Weltgärtner betitelten Interview in «Die Zeit» meint (Schnabel, 2013), oder ob im Menschen, wie dies der britische Geologe Jan Zalasiewicz im «Spiegel Online» proklamiert, «das dominierende Raubtier» auf Erden gesehen wird (Schwägerl, 2011). Damit verbindet sich sodann die Frage: «Ist Homo sapiens eine höhere Form des Lebens oder nur der örtliche Hooligan?» (Harari, 2017, S. 113). In diese derzeit virulente Debatte um den Menschen, die Natur und ihr Verhältnis mischen sich zudem klimaaktivistische Graswurzelbewegungen wie fridays for future, welche wohl den Neologismus Klimajugend verantworten. Mit ihren Anliegen haben sie die politische Schweiz erreicht, was mitunter in der Parteilandschaft zur «Grünen Welle» führte. Die Wirtschaft begegnet dem grünen Umschwung mit umgesetzten Massnahmen und Greenwashing gleichzeitig und gibt durch ein nunmehr unübersichtliches Etikettieren von Produkten das Lenkrad dem Bürger und der Bürgerin in die Hand. Der Kaufakt wird zum Statement und der grüne Ablasshandel hat Konjunktur. Vor dieser laut und unübersichtlich gewordenen Gemengelage zeigt sich die Verantwortlich- keitszuweisung Sloterdijks an den Menschen so tiefgreifend, dass sie auch, oder gerade für die Schule nicht irrelevant bleibt. Dies, da durch die Institution Schule im Speziellen und basierend auf der Vorstellung der «guten» Gesellschaft die idealen Citoyens geformt werden sollen. Noch 2004 meinte der Erziehungswissenschaftler Jürgen Oelkers, das Ergebnis sei ernüchternd, als er über Umwelterziehung referierte (2004, S. 2). Die Zeichen haben sich im Laufe der Jahre geändert. Nachhaltigkeit wurde, wie so viele andere gesellschaftliche Herausforderungen oder «Probleme», die sich seit Mitte des 18. Jahrhunderts stellen, pädagogisiert2, wie die sprachregionalen Lehrpläne unter der Kategorie «Bildung für Nachhaltige Entwicklung» (BNE) zeigen. Die Bewältigung der weltgesellschaftlichen Krise, bzw. die Gebresten der Zeit, wurden und werden nach wie vor im Sinne eines gesellschaftlichen Reparaturauftrags an die Schule delegiert. Nachhaltigkeitsbestrebungen im Rahmen der Organisation Schule können in diesem Sinne als Reaktion auf die Herausforderung der Zeit verstanden werden. Die Vorstellung jener idealen citizens verändert sich indes im Zeitverlauf, 1 «Damit lässt sich das Anthropozän als ein Prozess verstehen, in dem permanent materielle und energetische Flüsse miteinander in Wechselwirkung treten, und zwar auf eine Weise, die einerseits durch Wissen, andererseits durch Macht geprägt ist. Deshalb muss letztlich der Kernakteur des Anthropozäns, der Anthropos, in den Blick genommen werden» (Renn & Scherer, 2015, S. 14). 2 Mehr zur Thematik der Pädagogisierung vgl. Smeyers & Depaepe, 2008; Labaree, 2008; Tröhler, 2016 Seite 4 Universität Zürich, Schriftenreihe HBB, Nr. 8
Einleitung Die curriculare Konstruktion nationaler Identität im Dienste der Weltrettung bedingt durch äussere Faktoren. Und so ist es womöglich das Wissen um die ökologische Krise als Dimension der Globalisierung (Estel, 2002, S. 411), welche einen ebensolchen Faktor darstellt und damit die Vorstellung einer «guten» Gesellschaft und ihren ideologies3 sowie schliesslich die Vorstellung der idealen nationalen Identität der zukünftigen Citoyens wandelt, welche es wiederum durch die Institution Schule zu «fabrizieren» gilt. 1.1 Theoretisch-methodologische Perspektive und Erkenntnisinteresse Die Verschränkung der Schule mit Nation Building-Prozessen4 nahm im langen 19. Jahrhundert ihren Anfang. Im Zuge der Nationenbildung wurden Pädagogik und Schule verstärkt Vehikel der Nationalisierung, ja gar explizit zum Zwecke der Formung passender citizens und der Implementierung einer nationalspezifischen Identität errichtet5 und ausgebaut (Tröhler, Tosato-Rigo, Crousaz, & Hürlimann, 2017, S. 10). So galt es, über hier vermitteltes Wissen, Fähigkeiten und Fertigkeiten, der damaligen schweizerischen Vielgestaltigkeit von Herkunft, Kultur und Konfession (Criblez & Hofstetter, 1998, S. 57) Abhilfe zu verschaffen und eine kulturelle Erneuerung inklusive einer gemeinsamen nationalen ideology und Identität, sprich: eine «vorgestellte Gemeinschaft» (Anderson, 1983, S. 14 ff.)6 herbeizuführen. In diesem Zuge wurde das Ideal des frommen, ehrenhaften, nützlichen, unterwürfigen, dankbaren und ergebenen Bürgers mit der Institution des demokratischen Staates durch republikanische Tugenden wie Fortschritt, Freiheit und Solidarität abgelöst (Criblez & Hofstetter, 1998, S. 172, 182 f.), an welche überdies das nun zu fördernde säkularisierte, rationale Denken gekoppelt war (Boser, 2017, S. 4). Die ideale nationale Identität zukünftiger Citoyens wurde damals in der Schweiz indes mehrheitlich durch die Kantone und lokale Gemeinschaften definiert und die nationale Rolle kam eher einem Zusatz gleich, wie Brühwiler bezogen auf den Kanton Freiburg festhält (Brühwiler, 2017, S. 30). Dies überrascht dahingehend nicht, da die Schweiz zunächst einen Staatenbund darstellte, der 1848 in einen Bundesstaat umgebaut wurde (Coenen-Huther, 1997, S. 143). Die damit verbundene Orientierung an regional verankerten Werten beeinflusste infolgedessen auch die Auffassung darüber, wie die future citizens im Rahmen der Schule geprägt werden sollen 7 , wenngleich in schulischer Hinsicht die Schaffung nationalstaatlich formulierter und damit übergeordneter, vergleichbarer Bildungsziele beabsichtigt wurde (Horlacher, 2020, S. 84). Ein Jahrhundert später, nach dem zweiten Weltkrieg, zeigt sich eine Transformation der Vorstellung der schweizerischen Identität etwa daran, dass die zukünftigen Citoyens zunehmend mit wissenschaftlichem Wissen ausgestattet wurden, was einerseits dem Fortschritt und dieser letztlich der 3 Unter den mannigfaltigen Definitionen von ideologies im Zusammenhang mit Nationalismus stützt sich vorliegende Untersuchung auf die Arbeit des britischen Soziologen und Doyen der Nationalismusforschung, Anthony D. Smith. In seiner Monographie «National Identity» (1991) beschreibt er Nationalismus mithin als «an ideology, including a cultural doctrine of nations and the national will and prescriptions for the realization of national aspirations and the national will […] I shall define nationalism as an ideological movement for attaining and maintaining autonomy, unity and identity on behalf of a population […]» (S. 72 f.). 4 Zur zentralen Rolle der Schule hinsichtlich der Implementierung nationaler Eigenheiten vgl. etwa auch Gellner, 1983; Bourdieu, 1994 5 1874 etablierte die schweizerische Bundesverfassung eine schweizweite obligatorische Volksschule, deren konkrete Umsetzung indes bis heute den Kantonen obliegt (Horlacher, 2020, S. 84). 6 Anderson charakterisiert Nationen, wie andere Gemeinschaften, die grösser als face-to-face-Gruppen sind, als imaginierte Gemeinschaften, welche sich «nicht durch ihre Authentizität» unterschieden, «sondern durch die Art und Weise, in der sie vorgestellt werden» (Anderson, 1983, S. 16). 7 Diese differiert infolgedessen etwa von der Deutsch- zur Westschweiz bis heute, was Horlacher mithin als Ausdruck eines unterschiedlichen Verständnisses der eigenen, schweizerischen Identität deutet (Horlacher, 2020, S. 94). So wird die Mehrdimensionalität der schweizerischen Identität mit unterschiedlichen Identifikationsrahmen als Stärke und für den Nationalismus ausgelegt, wie dies auch der Historiker Andreas Ernst tut: «Die immer wieder beschworene Einheit in der Vielfalt macht den Regionalismus nationalistisch und den Nationalismus regionalistisch» (Ernst, 1998, S. 234). Seite 5 Universität Zürich, Schriftenreihe HBB, Nr. 8
Einleitung Die curriculare Konstruktion nationaler Identität im Dienste der Weltrettung Nations-Sicherheit zugutekommen sollte (Boser, 2017, S. 5). So kann die Volksschule bis heute als Mittel, wie als Ausdruck des Nation Building verstanden werden (Horlacher, 2020, S. 84). Trotz benannten Unterschieden, sprich: dem Ausbleiben einer gemeinsamen Sprache, Religion oder Ethnie (Im Hof, 1991, S. 272) fungiert die Schweiz als sogenannte «Willensnation» (Renan, 1882, S. 19 f.), als sozial konstruiertes Deutungsmuster, mit dem die Welt unter dem Aspekt der Differenz von «Wir» und «Sie», also einer social distinction 8 gesehen wird (Wodak, de Cillia, Reisigl, Liebhart, Hofstätter, & Kargl, 2016, S. 24). Dieser bis heute anhaltende «Erfolg», so kann argumentiert werden, mag darin liegen, dass der Schweiz gerade aufgrund benannter Unterschiedlichkeiten seit Anbeginn daran gelegen war, das «tägliche Plebiszit» (Renan, 1882, S. 26) sprich: das gemeinsame Gefühl, eine Nation zu sein, zu unterhalten und zu bestärken (Horlacher, 2020, S. 84)9. Dies auch, oder gerade im Rahmen der Volksschule. Wird die Nation10 also im Sinne Renans und Andersons als sozial konstruiertes Deutungsmuster gedacht, so überträgt sich diese Auffassung ebenso auf das Curriculum. Damit stellt dasselbe ein besonders nachhaltiger Teil einer gesamtgesellschaftlichen Selektivität und einer «kulturellen Willkür» (Künzli, 2009, S. 137) dar. Dies, zumal die Volksschule bereits seit der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts gleichsam als Zwangsanstalt11 organisiert ist und durch entsprechende Selektionsprozesse zum Ort der Normsetzung, das Curriculum 12 selbst zum kulturellen Kanon (ebd.) und die Kanonisierung zur «Arbeit am kulturellen Gedächtnis» (Assmann, 1992, S. 137)13 wird. Diese kulturelle Perzeption umfasst damit alles in der Schule Gelernte, womit zu deren Erfassung ein entsprechend umfassender Forschungszugang nötig wird, den die angelsächsische curriculum history als cultural studies of education (Baker, 2009, S. x) bietet 14 . Jene liest das Curriculum als diskursive Praxis (Gonzalez Delgado & Woyshner, 2017, S. 1), als kulturellen Output, als «Kondensat der in einer bestimmten Zeit und an einem bestimmten Ort diskursmächtigen gesellschaftlichen Erwartung an Schule» (Horlacher & De Vincenti, 2016, S. 1). Damit fragt sie danach, was Gesellschaften als genügend wichtig erachten, um sie an jüngere Generationen durch die Schule weiterzugeben, sprich: was Schulen unterrichten sollen (Garrett, 1994, S. 1). Mit beschriebenem Bildungsziel der nationalen Bürger*innen wird überdies deutlich, dass Curriculumdebatten auch Debatten über die nationale Identität15 und damit darüber 8 In diesem Zusammenhang spricht der deutsche Ethnologe Georg Elwert von «Wir-Gruppen-Prozessen», welche er als «Umdeutungen zielgerichteter Vergesellschaftungen in persönliche (imaginierte) Gemeinschaftsbeziehungen» begreift (Elwert, 1989, S. 450). 9 So begreif Boser die Multilingualität etwa als identitätsstiftendes Moment der schweizerischen Identität (Boser, 2017, S. 2). 10 Eine eindeutige Definition oder Theorie der Nation existiert indes keine (Boser, 2017, S. 2). 11 Vgl. dazu Berner, 2001; Criblez 2008b; Horlacher, 2021. 12 Vgl. zur Unterscheidung von Lehrplan und Curriculum Horlacher & De Vincenti, 2014, S. 476; Horlacher & De Vincenti, 2016, S. 1. 13 In diesem Verständnis formuliert sich der Gegendiskurs dieser Arbeit in jenem, was hier nicht auftaucht bzw. nicht gesagt werden kann. 14 Vgl. dazu auch Tröhler, 2019; Künzli, 2009, S. 139; Pinar 2009, S. 159 f.; Horlacher & De Vincenti, 2016, S. 3. 15 Die nationale Identität wird damit als intersubjektiv geteilte Identifikationen von Individuen begriffen (Kleinert, 2000, S. 326). Damit bewegt sie sich auf der kollektiven, wie auf der personalen Ebene gleichermassen. Vorliegende Untersuchung adressiert überdies mit den Merkmalen der nationalen Identität die personale, mit den ideologies die kollektive Ebene (vgl. Fragestellung). Dass mit der nationalen Identität beide Ebenen angesprochen werden müssen – die kollektive, wie die personale - erklärt Assmann überdies plausibel: «Kollektive Identität ist eine Frage der Identifikation seitens der beteiligten Individuen. Es gibt sie nicht ‘an sich’, sondern immer nur in dem Masse, wie sich bestimmte Individuen zu ihr bekennen. Sie ist so stark oder so schwach, wie sie im Denken und Handeln der Gruppenmitglieder lebendig ist und deren Denken und Handeln zu motivieren vermag» (Assmann, 1992, S. 132). An dieser Stelle seien überdies exemplarisch Reinhard Kreckels Bedenken festgehalten: «Wann immer also einer Nation eine eigene ‘Identität’ beigemessen werden soll, haben wir es mit einem ideologisierenden Sprachgebrauch zu tun» (Kreckel, 1994, S. 13 ff.). Dass damit der Begriff der nationalen Identität umstritten, wenn nicht gar problematisch ist, liegt auf der Hand, wie auch Straub meint: «Jede umstandslose Übertragung des personalen Identitätsbegriffs auf Kollektive ist demnach zurückzuweisen, jede Rede über konkrete ‘kollektive Identitäten’ zunächst einmal unter ‘Ideologieverdacht’ zu stellen» (Straub, 1998, S. 99). Entsprechend grenzt sich vorliegende Arbeit zu eben genanntem normierendem Typus ab, indem sie sich der rekonstruktiven Ausprägung bedient, womit auf das obenstehende Zitat Assmanns und das entsprechende Verständnis nationaler Identität verwiesen sei, welcher sich vorliegende Seite 6 Universität Zürich, Schriftenreihe HBB, Nr. 8
Einleitung Die curriculare Konstruktion nationaler Identität im Dienste der Weltrettung sind, wer wir als Staatsbürger*innen und als Individuen sind (Pinar, 2009, S. 149, 158)16. Entsprechend ist die nationale Identität nicht etwa naturgegeben (Mattioli & Marchal, 1992, S. 12), sondern vielmehr ein mentales Design, sprich: ein vorgestelltes Konstrukt und damit das Ergebnis einer diskursiven Konstruktion eines bestimmten zeitlichen Kontextes (Wodak et al., 2016, S. 61), weshalb zugleich der/die citizen als floating signifier begriffen werden muss (Tröhler, 2020, S. 626)17. Die nationale Identität wird ferner ungleich der Staatsbürgerschaft, welche durch Geburt oder Einbürgerung erworben wird, durch Lernprozesse internalisiert (Boser, 2017, S. 2). Entsprechende Mechanismen nationaler Identitätsbildung erfolgen überdies laut dem britischen Sozialwissenschaftler Michael Billig unbewusst, subtil und gewaltfrei (daher «banal») und bleiben deshalb unbemerkt, weil sie in ihrer täglichen Repräsentation selbstverständlich erscheinen (1995, S. 8). Denn letztlich ist die nationale Identität nicht etwas, worüber, sondern vielmehr, womit gedacht wird (Özkirimli, 2017, S. 206). Mit besagter Perzeption der curriculum studies reiht sich vorliegende Arbeit in die Tradition der Kulturgeschichte, welche wiederum gemäss Horlacher ohne den linguistic turn «nicht denkbar» wäre (2009, S. 418). Mit seiner Annahme der linguistisch konstruierten Welt verweist der linguistic turn sowohl auf die Konstruiertheit der sozialen Realität, als auch auf die Bedeutung der Sprache und der Rhetorik für die Produktion von historischem Wissen und Verständnis (Lengwiler, 2011, S. 88). Mit dieser Analyseperspektive entstanden zahlreiche diskursanalytische Ansätze18, welchen, unabhängig vom Entstehungshintergrund, die konstruktivistische Grundperspektive und daraus folgende Absicht gemein war, «die Wissens-, Wirklichkeits- und Rationalitätsstrukturen» freizulegen (Landwehr, 2018, S. 162), wo vorliegende Arbeit sodann anknüpft und sich der diskursanalytische Rahmung des Mitbegründers der Cambridge School, John G.A. Pococks (*1924), bedient. Jener bezeichnete in Anlehnung an den Genfer Sprachphilosophen Ferdinand de Saussure (1857-1913) langue als ideologisches Repertoire, als «belief system» (Horlacher, 2018b), als «institutionalisierte Redeweise» (Pocock, 1987/2010, S. 128), aus dessen «kulturellem Depot» sich die parole19, der konkrete Sprechakt, Arbeit anschliesst. Letztlich existiert aber keine eindeutige Theorie darüber, was die nationale Identität ist (Blank, 2002; vgl. dazu auch Klein, 2014; McCrone & Bechhofer, 2015, Milne & Verdugo, 2016) 16 Hinsichtlich nationaler Eigenheit des Curriculums soll angebracht sein, dass Ziele für BNE zunächst auf globaler Ebene durch die UNESCO formuliert wurden, anschliessend jedoch einer nationalen Aushandlung und nationaler Spezifizierung unterlag, was die Annahme einer swiss edition der Bildung für Nachhaltige Entwicklung mit ihren nationalen Eigenheiten rechtfertigt (vgl. dazu Fussnote 34). In Bezug auf die Bedeutsamkeit einiger internationaler Organisationen wie die Europäische Union oder die Weltbank für die Curriculumkonfiguration vgl. Sivesind & Wahlström, 2016; Gaudelli, 2016. Hinsichtlich diesbezüglicher Vorstellungen und Erwartungen an nationale Gesellschaften vgl. Künzli, Fries, Hürlimann, & Rosenmund, 2013, S. 267. Mit Verweis auf die beiden erstgenannten Beiträge halten Gonzàlez-Delgado und Woyshner indes fest, dass die lokalen Akteure in jedem Land eigenständig in der Implementierung internationaler Programme und Konzepte agieren (2017, S. 4), womit dennoch die stehende neoinstitutionalistische Frage der Isomorphieprozesse im Bildungswesen aufgeworfen wird (Isomorphie: Strukturen und Taktiken der Nationalstaaten gleichen sich untereinander an. Diese steht in Abgrenzung zur Rationalität, welche einen analogen Mythos z.B. von Selbstbestimmtheit und Territorialbilder verfolgen sowie zur Entkopplung, wonach sich die Erwartungen der Weltkultur oft inkompatibel mit dem Nationalstaat sind (Rost, 2020, Teil I: Weltgesellschaft, S. 38)). 17 Infolgedessen stellt der/die citizen ein Konzept dar, das sich abhängig von unterschiedlichen nationalstaatlichen Kontexten unterschiedlich materialisiert (Tröhler, 2020, S. 626), wobei hier nebst dem Faktor Raum der Faktor Zeit anzufügen wäre, aufgrund wessen die citizens in unterschiedlicher Weise ideal vorgestellt werden. 18 Damit sei erwähnt, dass hier die Auffassung vertreten wird, dass Diskursanalyse ein Forschungsprogramm oder eine Forschungsperspektive (Methodologie) bezeichnet und keine spezifische Methode. In Ansätzen diesbezüglicher Ausführungen stützt sich die Untersuchung teilweise auf die Historischen Diskursanalyse (2018) von Achim Landwehr. Jener lehnt sich an die Diskurs-Idee des französischen Philosophen Michel Foucault an (etwa 1991), wobei erwähnt sei, dass sich vorliegende Arbeit explizit nicht als foucaultsche Diskursanalyse begreift. 19 Zu diesem Thema und mithin mit Fokus auf die Schweiz vgl. das SNF-Projekt «Educating the future citizens; Curriculum and the formation of multilingual societies in Luxembourg and Switzerland» (http://p3.snf.ch/project-141657), das unter der Leitung von Daniel Tröhler und Danièle Tosato-Rigo geleitet wurde. Die Zeitschrift für Geschichte traverse (1/2017) resp. die darin versammelten Beiträge thematisierte in erhellender Weise die «Schulwerkstatt» im Hinblick auf Bürgerschaft als wichtiges Konzept der politischen Geschichte. Der Enzyklopädieartikel «Nation, nationalism, curriculum, and the making of citizens» von Lukas Boser (2017) thematisiert in einer für diese Arbeit fruchtbare Weise die Rolle der Schule im Prozess des Nation Building vom Beginn des 19. 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Einleitung Die curriculare Konstruktion nationaler Identität im Dienste der Weltrettung speist (Tröhler & Horlacher, 2020, S. 38): «Damit etwas gesagt, geschrieben oder gedruckt werden kann, muss eine Sprache dafür vorhanden sein» (Pocock, 1987/2010, S. 128). Wird demnach die Schule in ihren kulturellen Kontext gestellt und das Schulcurriculum als parole verstanden, so eröffnet sich die Frage, welche Art von Menschen resp. welche idealen Bürger*innen, resp. Mensch-Bürger*innen mit welchen kulturellen Eigenheiten und Wertvorstellungen die Schulcurricula formen wollen und was aus kultureller Sicht mit dieser governing practice (Popkewitz, 2008, S. 77) bezweckt wird (Tröhler et al., 2017, S. 9), resp. welche ideologies damit verfolgt werden. Denn – soviel sollte klar geworden sein - Citoyens20 werden nicht geboren, sondern nach nationalstaatlichen Eigenheiten «gemacht» (ebd.). Vor dem Hintergrund der Virulenz des Anthropozäns und damit verbundener angenommener Neukonfiguration der Vorstellung der idealen schweizerischen Identität ersucht vorliegende Masterarbeit, schweizerische Nachhaltigkeitsbestrebungen am Beispiel der Schule zu untersuchen. Das Erkenntnisinteresse formuliert sich folglich darin, die diskursiv konstruierte und als ideal vorgestellte nationale Identität im Rahmen der Bildung für Nachhaltige Entwicklung (BNE) herauszuschälen. Dass damit das Curriculum ins Blickfeld rückt ist darauf zurückzuführen, dass die Vorstellung der idealen nationalen Identität auf jener der «guten» Gesellschaft fusst und sich infolgedessen mithin im Curriculum, als Kondensat gesellschaftlicher Erwartungen an Schule, manifestiert. Denn letztlich sind es diese zukünftigen Mensch-Bürger*innen, welche dereinst die Gesellschaft formen und in diesem Zuge die Nation und Kultur perpetuieren werden. Dabei klammert vorliegende Fallstudie indes aus, welche konkreten Lernerfahrungen die Schüler*innen in diesem Hinblick machen oder wessen Wissen in diesem Rahmen dominant auftritt. Eine in dieser Art angelegte Untersuchung, welche die diskursiv konstruierte und sich curricular konkretisierenden Vorstellung der idealen nationalen Identität zeit-, sowie kulturhistorisch und innerhalb von BNE fokussiert, liegt bis dato keine vor21. In diesem Sinne versteht sich die Arbeit als Beitrag zur Erschliessung des curricularen Nationalisierungsdiskurses im Speziellen und des gesamtgesellschaftlichen Nationalisierungsdiskurs im Allgemeinen. Der Forschungsraum beschränkt sich dabei auf die Deutschschweiz 22 , der Forschungszeitraum orientiert sich am Quellenkorpus und beginnt mit dem Jahr 2016, in welchem die Gesamtausgabe des Lehrplans_21, welcher vorliegender Untersuchung als Schlüsselquelle dient, von den Deutschschweizer Erziehungsdirektorinnen- und -direktoren freigegeben wurde und erstreckt sich ferner bis 2020, da zu diesem Zeitpunkt das mitunter der Analyse zugrunde liegende Lehrmittel Schauplatz Ethik zum Einsatz in der Praxis gelangte. Jahrhunderts bis in die 1960er-Jahre. Weitere Arbeiten im internationalen Horizont, welche sich derselben Thematik widmen, werden hier dem Umfang geschuldet nicht erwähnt. 20 Zur Unterscheidung von Bourgeois und Citoyen vgl. Charim, 2018, S. 16. 21 Zumal die nationale Identität im Vergleich zu seinen «muskulären Eltern» Nation und Nationalismus als unterentwickelter Nachwuchs gilt und in seiner Erforschung ein Schattendasein friste, wie die beiden Soziologen McCrone und Bechhofer meinen (2015, S. 9). 22 Da die Diskussionen um BNE von den sprachlichen und kulturellen Sensibilitäten geprägt geführt wurde, ist anzunehmen, dass auch die Definitionen resp. diesbezüglichen Curriculumkonfigurationen variieren. So seien es die historische Bedeutung von bestimmten fächerübergreifenden Bildungsbereichen wie die Umweltbildung und die politische Bildung, welche die kulturellen Unterschiede prägten (Bertschy, Gingins, Künzli David, Di Giulio, & Kaufmann-Hayoz, 2007, S. 30). Da die italienische/romanische und französische Sprachregion sich in dieser Hinsicht möglicherweise an die grösseren Nachbarländer anlehnen (ebd.) und zudem ein anderes Verständnis von nationaler Identität möglich scheint (Horlacher, 2020, S. 94), erscheint eine Beschränkung auf die deutschsprachige Schweiz als Untersuchungsraum sinnvoll. Seite 8 Universität Zürich, Schriftenreihe HBB, Nr. 8
Einleitung Die curriculare Konstruktion nationaler Identität im Dienste der Weltrettung 1.2 Diskussionen über Bildung für Nachhaltige Entwicklung Wie die Idee der Nachhaltigkeit 23 zu einem gesellschaftlichen Anliegen und anschliessend Thema internationaler und sodann nationaler politischer Debatten wurde, wie Nachhaltigkeit auf die schulpolitische Agenda gesetzt und folgend in den schweizerischen Lehrplan aufgenommen und damit zum schulischen Handlungsimperativ wurde, wird folgend erläutert. Überdies soll durch die Ausführungen deutlich gemacht werden, wie sich das Verständnis von Nachhaltigkeit und nachhaltiger Entwicklung, auf welches sich BNE bezieht, formuliert. Dies scheint einerseits der ubiquitären Verwendung dieser Schlagworte geschuldet nötig und andererseits deshalb, weil dieses Verständnis weit über Ökologie und Umwelt hinausreicht. Bevor das Leitbild der «Nachhaltigen Entwicklung» geboren wurde, entsprach das vorherrschende geopolitische Entwicklungsparadigma einem Gegenleitbild - einer «Nachholenden Entwicklung» (Oberle, 2020, S. 3 f.)24, welche den Fokus auf Wachstum und nicht auf Erhaltung legte. Dies nahm spätestens 1972 mit dem Bericht von D. und D. Meadows an den Club of Rome25 mit dem Titel Limits to growth ein Ende. Jener trat in dramatischer Form die Nachhaltigkeitsdebatte der Moderne los und läutete damit einen veritablen Paradigmenwechsel ein. Der Bericht erschien in einer Zeit, in welcher sich Umweltschäden erstmals nicht mehr als lokales, sondern als globales und überzeitliches Problem darstellten 26 und markiert den Startpunkt für die Entstehung des Leitbildes «Nachhaltige Entwicklung», welches nun als Verknüpfung von Umweltschutz mit Armutsbekämpfung auf die Agenda der Erdpolitik, nunmehr als Weltinnenpolitik verstanden, gesetzt wurde (Grober, 2010, S. 229, 235). Zahlreiche Konferenzen, Berichte und Erklärungen folgten, wie auch der 1987 erschienene und zukunftsweisende Brundtland-Bericht der WCED 27 mit dem Titel Our common future, auf dessen Grundlage die heutige Definition der Nachhaltigen Entwicklung fusst. Das Konzept jener wurde von der Kommission in ihrem Bericht auf zwei Arten definiert, wobei v.a. die erste und nachfolgend zitierte für die Bildung zentral ist (Hauff, 1987, S. 46): Dauerhafte Entwicklung ist eine Entwicklung, die die Bedürfnisse der Gegenwart befriedigt, ohne zu riskieren, dass künftige Generationen ihre eigenen Bedürfnisse nicht befriedigen können. Der Zustand der Nachhaltigkeit soll hiernach permanent und fortwährend durch eine Nachhaltige Entwicklung angestrebt, verfolgt und konsolidiert, der Weg zum Ziel somit immer wieder neu bestimmt werden (Bertschy et al., 2007, S. 15), weshalb Nachhaltigen Entwicklung letztlich als regulative Idee zu begreifen ist. Dies mag mithin der Grund sein, weshalb diese Definition «bemerkenswert vage» bleibt und keinerlei qualitative Aussagen macht (Horn, 2017, S. 12). Die so definierte Idee der Nachhaltigen Entwicklung wurde 1992 in Rio de Janeiro erstmalig durchgeführten UN Konferenz über Umwelt und Entwicklung zugrunde gelegt, auf welche alle fünf Jahre 23 Zum begriffsgeschichtlichen Ursprung von «Nachhaltigkeit» vgl. Grober, 2010. 24 In diesem Verständnis sollten unterentwickelten Länder durch Modernisierung auf das Niveau der entwickelten Länder gehoben werden (Oberle, 2020, S. 3). 25 Der Club of Rome ist im Sinne einer Denkfabrik ein Zusammenschluss von Expert*innen unterschiedlicher Disziplinen und Nationalitäten, die sich seit Gründung 1968 für eine nachhaltige Zukunft der Menschheit einsetzt (https://www.clubofrome.org, letztmals abgerufen am 2. März 2021). 26 Man entdeckte Rückstände des Pflanzenschutzmittels DDT in den Fettpolstern von Pinguinen in der Antarktis, immer mehr Ölteppiche verschmutzen Meere und Strände und ein Bodenkundler an der Universität Uppsala stellte fest, dass saurer Regen, welcher von grenzüberschreitender schwefeldioxidbelasteter Luft aus den Industrieregionen Englands und Deutschlands stammte die Böden, Wälder und Gewässer Schwedens schädigte. Die Initiative zur Resolution 2398, welche Anfang Dezember 1968 auf der UN-Vollversammlung in New York verabschiedet wurde, kam aus diesen Gründen aus Schweden. Man stellte fest, dass «die Beziehung zwischen Mensch und seiner Umwelt sich infolge der modernen wissenschaftlichen und technologischen Entwicklung tiefgreifend verändert» (Grober, 2010, S. 229 f.). Damit wurde man sich allmählich der globalen Dimension des Problems bewusst. 27 World Commission on Environment and Development Seite 9 Universität Zürich, Schriftenreihe HBB, Nr. 8
Einleitung Die curriculare Konstruktion nationaler Identität im Dienste der Weltrettung Nachfolgekonferenzen folgen sollten. Bis dahin waren Schlagworte wie Umwelt und Ökologie leitend, welche nun mit der weltweiten Entwicklungsdimension und dem Zukunftsbezug zusammengedacht und unter «Nachhaltige Entwicklung» gefasst wurden - also eine Synthese von Umwelt und Entwicklung, von Gegenwart und Zukunft (Grober, 2010, S. 237; Oberle, 2020, S. 6). An jener Konferenz wurde die Agenda 21 28 verabschiedet, in welcher Bildung für Nachhaltige Entwicklung erstmals Erwähnung fand (Kapitel 36) und den Impetus für die Pädagogisierung von Nachhaltigkeit darstellt (Bertschy et al., 2007, S. 14 f.). Der Bildung wurde in diesem Rahmen die Funktion eines Katalysators für die Sicherung einer besseren und nachhaltigeren Zukunft für alle zugeschrieben und zielte dabei auf einen individuellen und gesellschaftlichen Bewusstseins- und Verhaltenswandel, wie im Dokument der UNESCO29 von 1997 zu lesen ist (UNESCO, 2014, S. 3) . Als erstes Land der Welt (Grober, 2010, S. 204) verankerte die Schweiz 1999 das Prinzip der Nachhaltigen Entwicklung als Handlungsrahmen für Gesellschaft, Umwelt und Wirtschaft in der Bundesverfassung30, womit eine diesbezüglich beabsichtigte ideology-Implementation und damit ein beabsichtigter Wandel auf Bundesebene konstatiert werden kann. Im Hinblick auf den UN-Weltgipfel für Nachhaltige Entwicklung in Johannesburg erschien Bildung 2002 als Handlungsfeld in der Strategie Nachhaltige Entwicklung31 des Bundesrats (Bertschy et al., 2007, S. 5, 11). Mit der Massnahme 5 «Sensibilisierung der Bevölkerung über das Bildungswesen» strebte der Bundesrat in seiner Strategie eine hohe Sensibilisierung zu Gunsten der Nachhaltigen Entwicklung über das gesamte Bildungssystem an (EDK, 2007, S. 5 f.). Fussend auf die international breit akzeptierte Leitidee der Nachhaltigen Entwicklung für gesellschaftliche Entwicklung schlossen sich in der Schweiz im November 2003 sechs Bundesämter32 und die Schweizerische Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektor*innen (EDK33) als Trägerin zu einer Plattform BNE zusammen (D-EDK, 2015, S. 4). Diese verfolgte das Ziel, die Prinzipien und Werte einer Nachhaltigen Entwicklung systematisch in Bildung und Erziehung zu integrieren und BNE in den Curricula der verschiedenen Bildungsstufen zu verankern. Die Plattform BNE beschloss im April 2007 den Massnahmenplan 2007-2014 «Bildung für Nachhaltige Entwicklung», der sich als Beitrag zur UNO-Dekade Bildung für Nachhaltige Entwicklung verstand34. BNE wurde daraufhin auf Grundlage des von der EDK in Auftrag gegebene Expertenmandats als Teilprojekt des Gesamtprojekts 28 182 Staaten, unter ihnen die Schweiz, unterzeichneten das Aktionsprogramm für das 21. Jahrhundert, die Agenda 21. Damit verpflichteten sie sich völkerrechtlich, jedoch nicht verbindlich, eine Nachhaltige Entwicklung anzustreben (Bertschy et al., 2007, S. 15). Die Agenda21 wurde in der Zwischenzeit weiterentwickelt, die Agenda 2030 mit entsprechenden SDGs (Sustainable Development Goals) formuliert und eine Bildungsagenda 2030 für die Umsetzung von Sustainable Development Goal 4 entwickelt (https://www.unesco.ch/wp-content/uploads/2017/01/Bildungsagenda-2030.pdf , letztmals abgerufen am 30.3.2021) 29 Die UNESCO (United Nations Educational, Scientific and Cultural Organization), ist eine internationale Organisation und gleichzeitig eine der 17 rechtlich selbständigen Sonderorganisationen der Vereinten Nationen mit Sitz in Paris. Derzeit sind 195 Mitgliedstaaten in der UNESCO vertreten. 30 Artikel 2, Absatz 2 («Zweck») erklärt die Nachhaltige Entwicklung zu einem Staatsziel. Artikel 73 («Nachhaltigkeit») bestimmt, dass Bund und Kantone «ein auf Dauer ausgewogenes Verhältnis zwischen der Natur und ihrer Erneuerungsfähigkeit einerseits und ihrer Beanspruch durch den Menschen andererseits» anstreben. 31 Der Aktionsplan der SNE (Strategie Nachhaltige Entwicklung) würde ferner mit der Legislaturplanung im Vierjahresrhythmus aktualisiert (vgl. https://www.are.admin.ch/sne letztmals abgerufen am 7.9.2020). 32 ARE, BAG, BBT, BAFU, DEZA, SBF 33 Die EDK, die Schweizerische Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektionen, ist der Zusammenschluss der 26 kantonalen Regierungsmitglieder, die für Erziehung, Bildung, Kultur und Sport verantwortlich sind. Sie folgt dem Grundsatz der Subsidiarität und erfüllt Aufgaben, die nicht von den Regionen oder Kantonen wahrgenommen werden können und arbeitet mit dem Bund in Bildungsfragen zusammen (https://www.sbbk.ch/die-edk, letzmals abgerufen am 20.5.2021, vgl. dazu auch Criblez, 2008a). 34 Die Plattform BNE distanzierte sich in ihrem Vorgehenspapier indes von gewissen Forderungen der UNO. So erscheine ihr die Reorganisation der Bildung als Ganzes in Anbetracht der Komplexität des schweizerischen Bildungssystems und der Vielfalt von Anforderungen, die an das Bildungswesen heute gestellt würden, realitätsfremd. Ein solcher Schritt würde zu mehr Verwirrung führen als zur Klärung beitragen. In aktuellen Bildungsprojekten, -reformen und -gesetzen solle BNE aber jeweils mitgedacht werden (EDK, 2007, S. 13). Seite 10 Universität Zürich, Schriftenreihe HBB, Nr. 8
Einleitung Die curriculare Konstruktion nationaler Identität im Dienste der Weltrettung Lehrplan_2135 konzipiert und in die Gesamtstruktur des Lehrplanes als Leitidee eingebunden (D-EDK, 2015, S. 27). Insofern ist der internationale und darauffolgende nationale Anstoss zu einer BNE mitten in der Konzeptionsphase des Lehrplans_21 zu verorten. 2015 genehmigte die Plenarversammlung der D-EDK die Bildung für Nachhaltige Entwicklung (D-EDK, 2015, S. 32) 36 . Im Vorgehenspapier der Plattform BNE wird ferner darauf hingewiesen, dass praktisch alle Schulgesetze der Kantone bereits Elemente der BNE, zumeist im gesellschaftlichen Bereich, enthalten würden. Hierbei wird bereits deutlich umrissen, wie die zukünftigen Citoyens gedacht werden (EDK, 2007, S. 7)37: Im Zentrum steht die Entwicklung der Schüler*innen zu selbstständigen, verantwortungsvollen und toleranten Menschen mit Achtung vor den Mitmenschen und Gemeinschaftsfähigkeit nach den Grundsätzen der sozialen Gerechtigkeit, Demokratie, Freiheit und Solidarität. Das Projekt BNE+ - wie es nun genannt wurde - sollte an den Schlussbericht besagten Expertenmandats anschliessen und war ferner als Teilprojekt des Lehrplans_21 (damals noch Deutschschweizer Lehrplan) konzipiert (D-EDK, 2015, S. 4). BNE – so wie sie in den Lehrplan_21 eingebunden wurde - liegt das Balance-Modell der drei Zieldimensionen Wirtschaft, Gesellschaft und Umwelt in Ergänzung der beiden Achsen Zeit (Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft) und Raum (lokal, global) zugrunde (D-EDK, 2016, S. 35) 38 . Damit komme zum Ausdruck, so der Lehrplan_21, dass einerseits politische, ökonomische, ökologische, soziale und kulturelle Prozesse vernetzt seien, andererseits das heutige Handeln Auswirkungen auf die Zukunft habe und nicht zuletzt Wechselwirkungen zwischen lokalem und globalem Handeln bestehen würden (ebd.). Emotionale, ethische und handlungsorientierte Komponente spielten überdies in BNE eine zentrale Rolle (EDK, 2007, S. 14) 39 . Dies nicht zuletzt deshalb, weil die Schüler*inne an der Ausarbeitung und Konkretisierung des herbeizuführenden zukunftsfähigen Wandels explizit mitwirken und entsprechend dazu befähigt werden sollen. So wurden die dieser Leitidee zugrunde liegenden Aspekte in die Fachbereichslehrpläne eingearbeitet, insbesondere in den Fachbereich Natur, Mensch, Gesellschaft (NMG). Dies mit dem Ziel, Wissen und Können aufzubauen, welches die Menschen befähige «Zusammenhänge zu verstehen, sich als eigenständige Personen in der Welt zurechtzufinden, Verantwortung zu übernehmen und sich aktiv an gesellschaftlichen Aushandlungs- und Gestaltungsprozessen für eine ökologisch, sozial und wirtschaftlich Nachhaltige Entwicklung zu beteiligen» (ebd.). BNE gilt es ferner als politisches Projekt zu verstehen (Bertschy et al., 2007, S. 15). Jenes beabsichtigt, die Rahmenbedingungen durch demokratische Prozesse zu verändern um eine Nachhaltige Entwicklung zu einer neuen Normalität zu führen. In diesem Sinne kann festgehalten 35 Die 21 referiert nicht auf das 21. Jahrhundert, sondern auf die 21 am Lehrplanprojekt beteiligten deutschsprachigen Kantone. 36 Indem man in diesem Zuge überdies eine nationale Anlaufstelle – namentlich éducation21 – schuf, wurde in diesem Punkt den Vorgaben der UNESCO Folge geleistet (UNESCO, 2014, S. 27). 37 Der schweizerische Bildungsföderalismus zeigt sich hier anhand unterschiedlicher kantonaler Schulgesetzgebungen bezüglich BNE: «In elf Kantonen wird die Förderung des Verständnisses für die Umwelt sowie die Vermittlung eines verantwortungsvollen Umgangs mit der Umwelt erwähnt. Die Förderung der Fähigkeit, an eine nachhaltige Wirtschaft beizutragen, ist in keinem der Gesetze erhalten. Vereinzelt wird die Befähigung zu wirtschaftlicher Leistung betont, welche aber nicht in den Kontext der Nachhaltigen Entwicklung gestellt wird. In einigen Kantonen wird die Partizipation, im Sinn der Förderung der Fähigkeit, das gesellschaftliche und kulturelle Leben mitzugestalten, erwähnt. Einzelne Schulgesetze sehen entsprechend eine altersgemässe Mitsprache der Schülerinnen und Schüler im Schulalltag vor. Vereinzelt findet sich die Förderung der Kreativität in den kantonalen Schulgesetzen. Nur der Kanton Genf hat die Leitidee der Nachhaltigen Entwicklung in die Schulgesetzgebung aufgenommen und wird so der Vernetzung der einzelnen Bereiche gerecht, welche die BNE als ganzheitliches Konzept ausmacht» (EDK, 2007, S. 7). 38 Die Themenfelder sollen indes nicht nebeneinander zur Darstellung gelangen, als vielmehr zum Ausdruck kommen, dass sie funktional zusammenhängen (Bertschy, Di Giulio, & Künzli David, 2010, S. 220). 39 BNE stütz sich im Grundverständnis auf das Nachhaltigkeitsverständnis der UNO, in deren Auffassung Nachhaltige Entwicklung eine normative Idee darstellt, welche auf einer anthropozentrischen Position beruht. Nicht-menschliche Lebewesen bzw. die Natur insgesamt haben nur insofern einen Wert, als sie von Nutzen für den Menschen sind. Diese ethische Ausrichtung würde, so Bertschy et al. (2007, S. 15) in der wissenschaftlichen Diskussion äusserst kontrovers diskutiert. Seite 11 Universität Zürich, Schriftenreihe HBB, Nr. 8
Einleitung Die curriculare Konstruktion nationaler Identität im Dienste der Weltrettung werden, wie Hadorn (2011, S. 505) auch für die in BNE eingelassene civic education konstatiert40, dass mit der von BNE beabsichtigten Gestaltungskompetenz eine Verschiebung vom blossen Wissen zum reflektierten Tun stattfindet. BNE – so die Konklusion – ist die internationale Pädagogisierung eines Nachhaltigkeitsanliegens, verstanden als Synthese von Umwelt und Entwicklung, von Gegenwart und Zukunft, deren schulischer Handlungsimperativ zunächst auf internationaler Ebene formuliert wurde. Jener fasste daraufhin auch in der Eidgenossenschaft bildungspolitisch Fuss und wurde als Leitidee in den Lehrplan_21 eingearbeitet. Im Rahmen von BNE sollen die zukünftigen Citoyens, soviel wird bis anhin deutlich, Selbständigkeit, Eigenständigkeit, Verantwortungsbewusstsein, Toleranz, Gemeinschaftsfähigkeit sowie emotionale, ethische und handlungsorientierte Kompetenzen internalisieren, wie auch die Eigenschaft, zeitliche und räumliche Zusammenhänge zu verstehen und sich in aktiver Teilnahme und Teilhabe an gesellschaftlichen Aushandlungs- und Gestaltungsprozessen im Sinne einer nachhaltigen Entwicklung zu beteiligen. Dies alles indes immer in selbstreflektierter Manier. Die Globalisierung und deren Auswirkungen wie etwa die Klimaveränderung lassen die Frage nach den idealen zukünftigen Citoyens und der nationalen Identität also neu stellen – so die Hypothese vorliegender Arbeit. Dies nicht zuletzt deshalb, da ein diesbezüglicher Wandel gar international gefordert wird. Damit wird zugleich deutlich, dass die Thematik der Prägung von nationaler Identität im Rahmen des educating of the future citizens so althergebracht wie hochaktuell ist. So lässt sich auf Grundlage dieses Forschungsunterfangens mithin erörtern, ob die schweizerische Volksschule «einem nationalstaatlich orientierten Narrativ» folgt, oder in einen «neoinstitutionellen Kontext einer Weltkultur» einzuordnen ist (Horlacher, 2017, S. 52). Vorliegende Arbeit, so lässt sich zusammenfassend festhalten, versteht also einerseits das Curriculum, als auch die Nation und die nationale Identität als diskursiv konstruiert und legt ihr damit eine konstruktivistische Perspektive zugrunde. Die Prägung, resp. Internalisierung der nationalen Identität erfolgt als eines der Hauptanliegen täglich und unbewusst mithin im Rahmen der Institution Schule, womit dieselbe mit dieser Rolle in den kulturellen Kontext gestellt wird. Dies macht einen kulturhistorischen Forschungszugriff nötig, welchen sodann die curriculum history bietet. Indem mit dieser theoretisch-methodologischen Rahmung auf den aktuellen Gegenstand der Bildung für Nachhaltige Entwicklung geblickt wird, richtet sich die Arbeit infolgedessen kultur- sowie zeithistorisch aus. BNE als fächerübergreifende Leitidee des Lehrplans_21 vermittelt also, so die grundsätzliche Annahme, eine Idee vom lernenden Kind, der moralischen Ordnung des Staates (Boser, 2017, S. 4) und damit von der ideal vorgestellten schweizerischen Identität zukünftiger Citoyens, die die vorliegende Arbeit zu analysieren ersucht. 1.3 Fragestellung und Quellen So werden in zu schreibender Master-Arbeit curriculare Mittel daraufhin untersucht, welches normative Bild idealer zukünftiger Citoyens sie zeichnen, sprich: welche nationale Identität innerhalb von BNE entsprechend der imagined community (Anderson, 1983) mit dem Ziel ihrer Perpetuierung als ideal vorgestellt werden, womit einerseits die personale, im Rückschluss aber auch die kollektive Ebene (ideologies) in den Blick genommen und im Kern gefragt wird: Wie formulieren sich die ideal vorgestellte nationale Identität zukünftiger schweizerischer Citoyens im Rahmen von BNE und welches Selbstverständnis und welche Absichten, resp. welche ideologies werden damit deutlich? 40 Vgl. dazu auch Horlacher, 2020, S. 94 f. Seite 12 Universität Zürich, Schriftenreihe HBB, Nr. 8
Einleitung Die curriculare Konstruktion nationaler Identität im Dienste der Weltrettung Folgende Teilfragen sind zur Beantwortung der Hauptfragen leitend: 1. Welche Kategorien können hinsichtlich nationaler Identität herausgeschält werden? 2. Welche durch die Schüler*innen zu internalisierenden Merkmale, sprich: emotionale Einstellungen und Haltungen, wie auch Verhaltensdispositionen, lassen sich feststellen?41 Innerhalb des umfassenden Forschungsverständnisses der curriculum history fokussiert die vorliegende Untersuchung auf den konzipierten Unterricht an sich. Infolgedessen konstituiert sich das Korpus aus den normativen Quellen Lehrplan, Handreichungen resp. didaktischen Konzeptionen und Schulbüchern. Im Folgenden werden einerseits dieselben auf ihren Aussagewert im Hinblick auf das Forschungsunterfangen hin begründet sowie die jeweiligen Entstehungshintergründe beleuchtet. Als Schlüsselquelle rückt der Lehrplan_21 in den Fokus. Jener eignet sich deshalb insbesondere zur Beantwortung oben präsentierter Forschungsfragen, da er als derzeitiges «Mittel» verstanden wird, mit welchem die Inhalte definiert werden, die Mentalitäten konstituieren (Criblez & Hofstetter, 1998, S. 148). In diesem Sinne materialisiert er die gesellschaftlich dominante Vorstellung einer guten Gesellschaft und entsprechender idealer Staatsbürger*innen (Horlacher, 2018a, S. 9 f.)42. Der heutige Lehrplan gilt als für Lehrpersonen verbindlich (D-EDK, 2016, S. 12 ff.) und stellt den Primat der inhaltlichen Steuerung dar (ebd.), weshalb er überdies in vorliegender Arbeit als Schlüsselquelle fungiert. Darüber hinaus könnten sich aber auch Eltern, Schüler*innen sowie die interessierte Öffentlichkeit mithilfe des Lehrplans_21 über den Bildungsauftrag der Schule informieren, wie die D- EDK konstatiert (ebd., S. 9). Mit besagter Absicht der systematischen Integration von Prinzipien und Werten einer Nachhaltigen Entwicklung in Bildung und Erziehung (D-EDK, 2015, S. 4) stellte die Geschäftsstelle der deutschsprachigen EDK-Regionalkonferenz im Juni 2003 einen Antrag an die Plattform BNE für ein Projekt (BNE+) zur Unterstützung der Integration von BNE in den Deutschschweizer Lehrplan 43 . Derselbe wurde aufgrund der 2006 durch das Volk angenommene Bildungsartikel in der Bundesverfassung von 21 deutsch- und mehrsprachigen Kantonen entwickelt, was ein Novum darstellte und infolgedessen einer präzedenzlosen und einheitlichen «Nationalisierung der Inhalte» gleichkommt (Criblez & Hofstetter, 1998, S. 167)44. BNE+ stellte in dieser Neukonzeption ein überfachliches Gebiet dar, weshalb ein Expert*innenteam (Team BNE+)45 ins Leben 41 Hinsichtlich der Teilfragestellung 2 soll an dieser Stelle festgehalten sein, dass jene gross angelegt ist, indessen durch die Teilfragestellung 1 strukturiert wird. 42 Dies wird vor dem Hintergrund verständlich, als dass im Laufe des 18. Und 19. Jahrhunderts und im Zuge der Entstehung des Nationalstaates – wie bereits erwähnt - das Erziehungswesen als Mittel zur Verwirklichung des Ziels des Nationalstaates dienen sollte. In diesem Sinne wurde Lehrpläne für die öffentliche Schule erlassen, womit überdies ihre Dimension des Politischen deutlich wird (Künzli et al., 2013, S. 261, 263, 268). Entsprechend sieht auch der Lehrplan_21 selber die kulturelle Dimension von Wissen und fachlicher Bildung im Zentrum (D-EDK, 2016, S. 24) und begreift sich als Klärungsinstrument des Auftrages der Gesellschaft an die öffentliche Volksschule. 43 Der Antrag wurde angenommen und daraufhin die Interfakultäre Koordinationsstelle für Allgemeine Ökologie der Universität Bern (IKAÖ43) und die Pädagogische Hochschule des Kantons Waadt (HEPVD43) im Dezember 2004 mit dem Mandat betraut, einen Bericht zu verfassen, der gestützt auf die aktuelle Forschungslage zu BNE offen Fragen klärt und Vorschläge für die Integration von BNE in die obligatorische Schule der Schweiz unterbreitet (D-EDK, 2015, S. 4). 2007 erschien der durch eine Begleitgruppe unterstützte Bericht: Bertschy, F., Gingins, F., Künzli, Ch, Di Giulio, A., & Kaufmann-Hayoz, R. (2007). 44 Der Lehrplan_21 versteht sich überdies als unpolitisch oder gar depolitisiert in seiner Moral, indem er durch die Kompetenzen keine spezifischen Ziele vorgebe, sondern vielmehr die für die Zukunft notwendigen Fähigkeiten vermitteln will und dabei unkonkret bleibt, welche diese genau seien, so der Lehrplan_21 (Grundlagen, S. 2). Da ebendiese Kompetenzen der Testbarkeit wegen indes vielmehr spezifisch als allgemein formuliert seien, so Horlacher, würden sie eine detaillierte Beschreibung eines normativ aufgeladenen Ideals des future citizens abgeben (2016, S. 9). 45 Die sich durch Lehrerfahrung auszeichnenden Mitglieder des Teams wurden in Rücksprache mit den sechs Bundesämtern ausgewählt, die in der Plattform BNE des Bundes zusammenarbeiteten. Seite 13 Universität Zürich, Schriftenreihe HBB, Nr. 8
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