Quartierzentren im Wandel - ETH Zürich
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Lena Wolfart Quartierzentren im Wandel Funktion und Bedeutung von Quartierzentren zwischen planerischem Anspruch und Realität MAS in Raumplanung 2019/21 Autorin: Lena Wolfart, M.Sc. Urban Design Referentin/Referent: Dr. Markus Nollert, Prof. em. Kees Christiaanse / Dr. Daniel Kiss Datum: 27. August 2021 1
Dank Ein herzliches Dankeschön gilt meinen beiden Referenten Markus Nollert und Daniel Kiss für die anregenden Inputs, kritischen Fragen und Feed- backs. Danken möchte ich auch meinen Interview-Partner:innen Simone Gabi, Simon Keller, Sara Künzli, Carsten Hejndorf, Marco Fuhrer und Philip Klaus für die spannenden Gespräche und Einblicke in ihre Arbeit sowie Patrick Bonzanigo für die Unterstützung und Betreuung als Studiengangs- leiter während den letzten zwei Jahren. Und ein grosses Merci gebührt auch der Korrekturleserin dieser Arbeit, die mir viele wertvolle An- regungen mitgegeben hat.
Inhaltsverzeichnis Inhaltsverzeichnis 3 Abbildungs- und Tabellenverzeichnis 4 1 Einleitung 9 1.1 Ausgangslage 9 1.2 Forschungsbedarf 10 1.3 Forschungsfragen & Hypothesen 11 1.4 Begriffsdefinitionen 11 1.5 Methodisches Vorgehen & Aufbau 13 2 Zentren & Erdgeschosse im Wandel 14 2.1 Historische Betrachtung 14 2.2 Funktion & Bedeutungen 18 2.3 Trends & Entwicklungen 24 2.4 Herausforderungen & Chancen 29 3 Planerische Ansätze 34 4 In der Praxis: Zürichs Quartierzentren 39 4.1 Ausgangslage 39 4.2 Planungsgrundlagen 43 4.3 Quartierzentrum Albisrieden 47 4.4 Stadtteilzentrum Altstetten 53 4.5 Quartierzentrum Seebach 57 4.6 Vergleich 63 5 Résumé 65 5.1 Kommentar Praxisbeispiel Zürich 65 5.2 Hinweise für die Planung 66 5.3 Weiterführende Fragen 68 Anhang Abkürzungen 70 Quellen- & Literaturverzeichnis 70 Interviews 77 Glossar 77
MAS Raumplanung 2019/21 | Quartierzentren im Wandel Abbildungsverzeichnis Abb. 1: Publikationen zu Erdgeschossnutzungen und Überblick über Beratungsmandate des Netzwerk Altstadt ............................................................................................................................................. 10 Abb. 2: Typisierung von Erdgeschossnutzungen ........................................................................................................ 12 Abb. 3: Illustration des Geschäftshaus Grieder an der Bahnhofstrasse 10 in Zürich um 1898 ................................... 15 Abb. 4: Konsum Verein Zürich, Vorläufer des heutigen Coop, an der Winterthurerstrasse 516 .................................. 15 Abb. 5: Bau des Shoppi Tivoli in Spreitenbach 1974 ...................................................................................................... 15 Abb. 6: Eröffnung des Modehaus Charles Vögele 1979 in Zürich.................................................................................. 15 Abb. 7: Fragmentierte Zentralitäten im Raum Zürich .................................................................................................. 15 Abb. 8: Schematische Darstellung zur Entwicklung des Detailhandels und Verschiebung der Kaufkraft über die Jahrzehnte ......................................................................................................................................... 16 Abb. 9: Belebung des öffentlichen Raums durch ein zum Boulevard hin geöffnetes Café in Paris in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts......................................................................................................................... 17 Abb. 10: Ausschnitt aus dem Nolli-Plan von Rom........................................................................................................ 18 Abb. 11: Nolli-Plan angewandt auf den Strip von Las Vegas aus «Learning from Las Vegas» ..................................... 18 Abb. 12: Axonometrische Darstellung des Ateliers Bow Wow ..................................................................................... 18 Abb. 13: Anzahl Arbeitsstätten des publikumsorientierten Gewerbes pro ha, Stand 2013............................................ 20 Abb. 14: Anzahl Arbeitsstätten des produzierenden Gewerbes pro ha, Stand 2013....................................................... 20 Abb. 15: Ergebnisse einer Umfrage von 2018 in der Stadt Zürich .................................................................................. 22 Abb. 16: Ergebnisse der Bevölkerungsbefragung der Stadt Zürich von 2019 zur Zufriedenheit mit einzelnen Aspekten im Quartier (Anteile in %) .................................................................................................................. 22 Abb. 17: Wachstum des Online-Handels in der Schweiz 2008-2020 in Mia. CHF .......................................................... 25 Abb. 18: Umsatzentwicklung Detailhandel in der Schweiz in %, jährliche nominale Veränderung gegenüber im Vorjahr (indexiert) ........................................................................................................................................ 25 Abb. 19: Schematische Darstellung der ökonomischen Ausrichtung von Immobilien früher (links) und heute (rechts) ............................................................................................................................................. 26 Abb. 20: Lola Fred, Europaallee Zürich. .......................................................................................................................... 30 Abb. 21: Posti Box, Helsinki, Finnland. ............................................................................................................................ 30 Abb. 22: Avec Box, ETH Hönggerberg............................................................................................................................. 30 Abb. 23: POT, BachserMärt, Triemli Zürich. .................................................................................................................. 30 Abb. 24: Stash.ch, Zürich ................................................................................................................................................ 30 Abb. 25: FREITAG Store, Grüngasse Zürich. ................................................................................................................... 30 Abb. 26: Collect-Lounge, Welle 7, Bern........................................................................................................................... 31 Abb. 27: Zuriga Kaffeemaschinen, Zollstrasse Zürich. .................................................................................................. 31 Abb. 28: BrupbiMärt, Brupbacherplatz Zürich. .............................................................................................................. 31 Abb. 29: ViCafe, Goldbrunnenplatz, Zürich ...................................................................................................................... 31 Abb. 30: Ikea Pop-Up-Store, Bahnhofstrasse Zürich. ..................................................................................................... 31 Abb. 31: Haus der Statistik, Berlin................................................................................................................................... 31 Abb. 32: Schematische Darstellung von beteiligten Akteuren und Einflussfaktoren auf Zentren und ihre ...................... Erdgeschossnutzungen ..................................................................................................................................... 35 Abb. 33: Schematische Übersicht der Handlungsfelder und mögliche Massnahmen zur Steuerung von Erdgeschossnutzungen und Zentrumsfunktionen ............................................................................................ 36 Abb. 34: Erste (1893) und zweite (1934) Stadterweiterung Zürich ............................................................................... 40 Abb. 35: Zentrumsgebiete von kantonaler Bedeutung (rot) innerhalb des Siedlungsgebiets (orange) im kantonalen Richtplan .................................................................................................................................. 40 Abb. 36: Zentrumsgebiete und Quartierzentren im regionalen Richtplan .................................................................. 40 4
Lena Wolfart Abb. 37: Konzeptkarte Zentrumsgebiete und Quartierzentren im kommunalen Richtplan SLÖBA .......................... 40 Abb. 38: Übersichtsplan zu erstmaligen Festlegung von Gebieten mit Vorschriften zu Erdgeschoss- Nutzungen in der Stadt Zürich ......................................................................................................................... 40 Abb. 39: Beispiel eines Blatts aus dem Ergänzungsplan Erdgeschossnutzungen gemäss Art. 6a BZO................... 40 Abb. 40: Übersicht der Planungsgrundlagen für Zentren und Erdgeschossnutzungen in Zürich............................. 42 Abb. 41: Zentren-Typen in den kantonalen, regionalen und kommunalen Planungsgrundlagen ............................ 44 Abb. 42: Schema raumplanerisches Verständnis von Quartierzentren der Stadt Zürich........................................... 45 Abb. 43: Lage der Fallbeispiele im Überblick der im Richtplan SLÖBA (Stand 2020) eingetragenen Quartierzentren ...................................................................................................................... 46 Abb. 44: Eindrücke des Quartierzentrums Albisrieden ............................................................................................... 48 Abb. 45: Situation 1880 und heutiger Zentrumsbereich Albisrieden ........................................................................... 49 Abb. 46: Karte Quartierzentrum Albisrieden, ............................................................................................................... 51 Abb. 47: Eindrücke des Quartierzentrums Altstetten .................................................................................................. 52 Abb. 48: Karte Quartierzentrum Altstetten .................................................................................................................... 55 Abb. 49: Situation 1880 und heutiger Zentrumsbereich Altstetten.............................................................................. 56 Abb. 50: Eindrücke des Quartierzentrums Seebach / Schaffhauserstrasse ............................................................. 58 Abb. 51: Situation 1880 und heutiger Zentrumsbereich Seebach / Schaffhauserstrasse ......................................... 59 Abb. 52: Karte Quartierzentrum Seebach / Schaffhauserstrasse ............................................................................... 61 Abb. 53: Vergleich der Fallbeispiele nach Arten von Zentralitäten ............................................................................. 63 Tabellenverzeichnis Tab. 1: Steckbrief Quartierzentrum Albisrieden ........................................................................................................... 50 Tab. 2: Steckbrief Quartierzentrum Altstetten.............................................................................................................. 54 Tab. 3: Steckbrief Quartierzentrum Seebach / Schaffhauserstrasse........................................................................... 60 5
Lena Wolfart Kurzfassung den strategischen Zielbildern korreliert. Auf Grundlage der Auslegeordnung zu gegenwärtigen Trends und Entwicklungen sowie möglichen Handlungsfeldern wird MAS-Programm in Raumplanung 2019/21 eine Einschätzung zur Zukunftsfähigkeit dieser Quar- Thesis tierzentren abgegeben. Im Résumé werden Gedanken Titel: Quartierzentren im Wandel. Funktion und Bedeutung und Hinweise für die Praxis zusammengetragen sowie von Quartierzentren zwischen planerischem Anspruch und weiterführende Fragestellungen formuliert, die sich für Realität. eine vertiefte Untersuchung eignen würden. Autorin: Lena Wolfart, M.Sc. Urban Design Datum: 27. August 2021 Schlagworte Quartierzentrum; Erdgeschosszone; Erdgeschoss; Erdgeschossnutzung; Detailhandel; Einzelhandel; Polyzentrale Stadtstrukturen mit lebendigen Quartier- Gewerbe; publikumsorientiert; gewerblich; zentren sind gängige Bestandteile gegenwärtiger öffentlicher Raum; Stadt Zürich. Richtpläne und Raumentwicklungskonzepte. Im Zuge der Innenentwicklung und dem Leitbild der «Stadt der Zitierungsvorschlag kurzen Wege» wird ihnen eine zunehmende Bedeutung Wolfart, Lena (2021): Quartierzentren im Wandel. Funktion zugemessen, da sie einen zentralen Aspekt urbaner und Bedeutung von Quartierzentren zwischen Qualität darstellen. Quartierzentren kommt nicht nur planerischem Anspruch und Realität. MAS Raumplanung die Funktion der Nahversorgung zu, sondern im 2019/21, ETH Zürich, Zürich. Zusammenspiel von belebten Erdgeschossen und umliegenden öffentlichen Räumen auch diejenige eines Hinweis Interaktionsraums zwischen öffentlicher und privater Das vorliegende Dokument ist eine Einzelarbeit im Sphäre. Sie fördern als Begegnungsorte den sozialen Rahmen der Weiterbildungsprogramme in Raum- Austausch, stärken lokale Ökonomien und die Iden- planung der ETH Zürich. Erkenntnisse und Schluss- tifizierung der Bewohner:innen mit ihrem Quartier. folgerungen müssen sich nicht zwingend mit der Haltung der verantwortlichen Referentinnen und Zentrumsgebiete und insbesondere deren gewerblich Referenten sowie der ETH Zürich decken. genutzte Erdgeschosse sind allerdings in einem starken Wandel begriffen. Treiber dieses Transformations- prozesses sind in erster Linie die Digitalisierung und der wirtschaftliche Strukturwandel, ein sich verän- derndes Mobilitäts- und Konsumverhalten sowie Entwicklungen auf dem Immobilienmarkt. Insbe- sondere die Quartierzentren befinden sich gegen- wärtig in einem Spannungsfeld diverser, scheinbar gegensätzlicher, Entwicklungen. Ziel der Arbeit ist es, die Herausforderungen und Potenziale dieser Entwick- lungen zu identifizieren und die Handlungsmög- lichkeiten der Raumplanung sowie mögliche Mass- nahmen herauszuschälen. Anhand der Stadt Zürich und drei Fallbeispielen von Quartierzentren (Albisrieden, Altstetten und Seebach) wird aufgezeigt, mit welchen planerischen Instru- mentarien heute zur Beeinflussung der Zentrenentwick- lung gearbeitet wird, wie sich prototypische Zentren- strukturen in der Realität präsentieren und wie dies mit 7
MAS Raumplanung 2019/21 | Quartierzentren im Wandel «Der Strukturwandel ist eine Herausforderung für unser Wunschbild der Stadt.» (BÜHLMANN/STRAUMANN 2016: 5) 8
Lena Wolfart 1 Einleitung zone befindet. Der Online-Handel hat zum Leidwesen des stationären Einzelhandels während der Pandemie stark zugelegt und treibt den wirtschaftlichen Struktur- 1.1 Ausgangslage wandel weiter voran. Aber auch Megatrends wie sich verändernde Konsum- und Mobilitätsverhalten hin- Erdgeschosse mit gewerblicher, sozialer oder terlassen sichtbare Spuren in den Innenstädten, kultureller Nutzung sind ein unerlässlicher Bestandteil Einkaufsstrassen und Shopping-Center. An vielen Orten vielfältiger Innenstädte und lebendiger Quartiere. Sie verloren der Einzelhandel sowie das Klein- und produ- wirken stimulierend auf umliegende öffentliche Räume zierende Gewerbe in den letzten Jahren an Bedeutung. - und umgekehrt. Als zentrales Element sind sie Damit sank mancherorts auch die Attraktivität des Übergangs- und Schwellenräume zwischen privat und Erdgeschosses. Dort wo die ökonomische Tragfähigkeit öffentlich und prägen den Charakter, die Identität und des Parterres nicht mehr gegeben ist, drohen Leer- die urbane Qualität eines Quartiers. In planerischen stände und eine „Entfunktionalisierung der Erdge- Leitbildern wie der Stadt der kurzen Wege (vgl. Glossar), schosszone“ (BRETSCHNEIDER 2014: 11). Dies stellt der durchmischten und vielfältigen Stadt (DIFU 2015) nicht nur für die Immobilienbesitzer:innen und die oder der polyzentralen Stadt(region) nehmen Zentren Quartieranwohner:innen eine missliche Lage dar, mit akti-ven Erdgeschossnutzungen daher eine wichtige sondern steht oft im Widerspruch zur planerisch Rolle ein. Sie können als sozial-räumliche Ressource erwünschten Raumentwicklung. (BRAUN-FELDWEG 2019) begriffen werden, an deren Ausgestaltung und Nutzungsart ein erhebliches öf- Gleichzeitig sehen viele Stadtentwicklungsexpert:innen fentliches Interesse besteht. «Die Frage der Erdge- in der Pandemie als Treiberin von Veränderungs- schosse berührt […] ganz elementare Fragen der prozessen auch eine Chance – insbesondere für Quart- weiteren Entwicklung unserer Versorgung, unserer ierzentren: «Stand bis anhin das dichte Stadtzentrum Mobilität und Freizeitgestaltung», heisst es in einer im Fokus und führten die peripheren Quartierplätze Publikation des Planungsdachverbands Zürich und eher ein Mauerblümchendasein, so könnte die Krise Umgebung (RZU 2018: 6). eine Chance für die «Stadt der kurzen Wege» sein und den Quartierzentren neue Bedeutung verleihen.» Im Zusammenhang mit der Innenentwicklung gelten (CRIVELLI/STEINER 2021). Die (Wieder-)Entdeckung lebendige Quartierzentren als wichtiger Aspekt der des Quartiers als Lebens- und Aufenthaltsraum und urbanen Lebensqualität. Ihnen wird nicht nur eine hohe das wieder näher zusammenrücken von Leben, Wohnen Bedeutung in Bezug auf die Nahversorgung beige- und Arbeiten eröffnen neue Perspektiven für eine messen, sondern auch als identitätsstiftende Orte und dezentrale Stadtstruktur. Räume sozialer Interaktion und Begegnung. In aktuellen planerischen Leitbildern vieler Schweizer Doch wird die Wiederentdeckung der Quartiere und Städte wie z.B. Zürich (kommunaler Richtplan SLÖBA), ihrer Zentren langfristig anhalten? Wie werden die Bern (Stadtentwicklungskonzept 2016) oder Luzern Quartierzentren und Erdgeschossnutzungen in Zukunft (Raumentwicklungskonzept 2018) wird die Bedeutung aussehen? Kann das häufig auf traditionellen Bildern von attraktiven Innenstädten und belebten Quartier- beruhende Ideal durchmischter, belebter Quartier- zentren mit kleinteiliger Nutzungsdurchmischung zentren angesichts gegenwärtiger Entwicklungen der daher betont und als Zielsetzung aufgenommen. Realität standhalten? Und wie können Planer:innen die gemäss Leitbildern erwünschte und zukunftsfähige Während der Coronakrise hat sich besonders deutlich räumlichen Entwicklung von Quartierzentren fördern? gezeigt, welchen Wert vom Wohnort fussläufig erreich- bare attraktive öffentliche Räume, Begegnungsorte und Diese Fragen bilden den Ausgangspunkt der vor- Nahversorgungsmöglichkeiten haben. Die Pandemie liegenden Arbeit. hat allerdings auch aufgezeigt, in welcher Umstruk- turierung sich die gewerblich genutzte Erdgeschoss- 9
MAS Raumplanung 2019/21 | Quartierzentren im Wandel Abb. 1: Publikationen zu Erdgeschossnutzungen und Überblick über Beratungsmandate des Netzwerk Altstadt Quelle: RZU 2018, rzu.ch Quelle: Wüstenrot Stiftung 2014 Quelle: Espacesuisse 2019 Untersuchungen von Erdgeschosszonen im verdichteten 1.2 Forschungsbedarf Wohnungsbau in Städten weltweit und legt den Fokus auf räumlich innovative Projekte mit einem über- Die Rolle und Zukunft von Innenstädten wird im Kontext greifenden Qualitätskonzept. des Strukturwandels im Detailhandel sowie neuer Mobilitäts- und Konsummuster, und nicht zuletzt auch Ein breiter Diskurs wird gegenwärtig über die Zukunft aufgrund der Auswirkungen der Corona-Pandemie, im von Innenstädten und die Rückzug des Einzelhandels gegenwärtigen Fachdiskurs wieder intensiv diskutiert geführt. Noch wenig wissenschaftliche und praxis- (vgl. beispielsweise BAUWELT 2020, BRAND EINS 2020, orientierte Auseinandersetzungen scheint es hingegen DEUTSCHER STÄDTETAG 2021). Auch das Thema der in Bezug auf bestehende Quartierzentren zu geben, die Erdgeschosse, insbesondere das Wechselspiel zwi- in den nächsten Jahren vor dem Hintergrund der schen der Belebung öffentlicher Räume und publi- Innenentwicklung grössere städtebauliche Transfor- kumsorientierter Erdgeschossnutzungen, hat in den mationsprozesse erfahren werden. In solchen Gebieten letzten Jahren verstärkt Beachtung gefunden. gilt es, bestehende Qualitäten zu erkennen, zu erhalten und/oder die Chance von Veränderungsprozessen zu In der Schweiz beschäftigt sich unter anderem das nutzen, um neue Qualitäten zu schaffen. In der vor- Netzwerk Altstadt von Espacesuisse mit der Erdge- liegenden MAS-Arbeit wird der Fokus deshalb auf be- schoss-Frage als Teil der Reaktivierungsstrategie von stehende Quartierzentren gelegt. Die Thematik der Ortskernen. Das Netzwerk ist vorrangig in Dörfern und Zukunft der Innenstädte wird zuweilen angeschnitten Kleinstädten aktiv (ESPACESUISSE 2021). Der Regional- und Überlegungen, die für City-Center gemacht werden verband Zürich und Umgebung (RZU) widmete sich dem auf Quartierzentren übertragen. Sie stehen aber explizit Thema der lebendigen Erdgeschosse mit Fokus auf nicht im Vordergrund. Als Resultat der Arbeit soll einer- (Ersatz-)Neubauareale und publizierte 2018 dazu ein seits im Kontext gegenwärtiger Transformations- Handbuch. Ausgehend von Best-Practice-Beispielen prozesse die Bedeutung und das Potenzial aufgezeigt werden praktische Handlungsempfehlungen für ver- werden, das von Quartierzentren mit publikums- schiedene Projektentwicklungsphasen abgegeben orientierten und gewerblichen Erdgeschossnutzungen (RZU ET AL. 2018). ausgeht. Andererseits soll aufgezeigt werden, bis zu welchem Grad und mit welchen raumplanerischen Die Wüstenrot Stiftung finanzierte vor einigen Jahren Hebeln Quartierzentren und ihre Erdgeschosszone ein Forschungsprojekt zur Rolle des Erdgeschosses als sinnvoll beplant und entwickelt werden können. Bindeglied zwischen städtischem Raum und privater Wohnnutzung. 2014 publizierte sie die dazugehörige Publikation Herausforderung Erdgeschoss (WÜSTENROT STIFTUNG 2014). Sie enthält detaillierte typologische 10
Lena Wolfart – Im gegenwärtigen Wandel liegt eine Chance, die 1.3 Forschungsfragen & Funktion von Quartierzentren als wichtige Bausteine einer nachhaltigen Stadtentwicklung sowie als Hypothesen Begegnungsorte, die zur sozialen Stabilität und Etablierung lokaler Ökonomien beitragen, zu Die übergeordnete Fragestellung, die der vorliegenden stärken. Grund dafür sind sinkende Mietpreise und Arbeit zu Grunde liegt, lautet: Wie kann die Raum- freiwerdende Flächen, ein sozialer und kultureller planung dazu beitragen, dass Quartierzentren und ihre Wertewandel sowie veränderte Bewegungsmuster Erdgeschosszonen angesichts gegenwärtiger Trans- der Menschen. formationsprozesse künftig die Belebung, Aufent- haltsqualität und Funktionen aufweisen, die gemäss den planerischen Leitbildern erwünscht ist? Ferner wurden folgende Forschungsfragen aufgestellt: 1.4 Begriffsdefinitionen – Welche Rolle, Bedeutung und Funktionen haben Quartierzentren heute inne? Zentralität ist eine Voraussetzung von Urbanität und – Welche Herausforderungen und Potenziale für die eine wesentliche Eigenschaft städtischen Lebens. Es Quartierzentren liegen in aktuellen Trends und geht dabei weniger um eine konkrete städtebauliche Transformationsprozessen? Form als vielmehr um Nutzungskonstellationen und – Mit welchen Konzepten, Ansätzen und Instrumen- räumliche Bezüge. Zentralität bedeutet Zugang zu ten kann die räumliche Entwicklung von Quartier- Nutzungen und Angeboten des alltäglichen Bedarfs. zentren und Erdgeschossnutzungen beeinflusst Zentren sind somit Orte, die Menschen mit ver- und gelenkt werden? schiedenen Handlungsmotiven zusammenbringen, – Wie wird am Fallbeispiel der Stadt Zürich in der Interessen bündeln und damit Begegnungen und Planungspraxis mit Quartierzentren und ihren Erd- Kontakte stimulieren und ermöglichen (KRETZ/KUENG geschossnutzungen umgegangen? 2016: 44). Einfach ausgedrückt, gilt die Faustformel: «Je mehr Menschen einen Ort in ihrem Alltag benötigen, und Darauf aufbauend wurden folgende Hypothesen besuchen, desto zentraler ist dieser Ort.» (EBD.) In aufgestellt, welche die vorliegende Arbeit begleiten: ihrem Handbuch Urbane Qualitäten unterscheiden – Die Funktion und Bedeutung von Zentren sind Simon Kretz und Lukas Kueng ferner drei Aspekte von infolge des zunehmenden Rückzugs des sta- Zentralitäten, nämlich die logistische, die funktionale tionären Einzelhandels sowie sich verändernde und die symbolische Zentralität (EBD. 44ff., vgl. Alltagspraktiken im Wandel begriffen. Der Glossar). Einzelhandel dominierte in den letzten Jahr- zehnten die Definition und auch das raum- Unter einem Quartierzentrum wird in der Stadtplanung planerische Verständnis von Zentren. Planungs- ein funktionaler Raum verstanden, in dem sich unter- instrumente, die sich auf ein solches Verständnis schiedliche Nutzungen konzentrieren. Darunter fallen von Zentren abstützen, verlieren daher an Mobilitätsangebote wie der Anschluss an öffentliche Wirkungskraft und verfehlen zusehends ihr Ziel. Verkehrsmittel, Nahversorgungsmöglichkeiten oder – Es besteht eine Diskrepanz zwischen den gesell- Dienstleistungsangebote. Aktive und publikumsorien- schaftlich und planerisch erwünschten Erdge- tierte Erdgeschosse sowie attraktive öffentliche Räume schossnutzungen in Quartierzentren und dem, was sind somit wichtige Bestandteile von funktionierenden gemäss gängiger immmobilienwirtschaftlicher Quartierzentren. Aus sozialräumlicher Perspektive wird Modelle ökonomisch tragfähig ist. Ein Grund dafür unter einem Quartierzentrum ein Treffpunkt, Veran- liegt in fehlenden Mechanismen, um Synergien staltungs- und Begegnungsort beschrieben. In der Stadt zwischen verschiedenen Zentrumsnutzungen zu Zürich wird der Begriff umgangssprachlich häufig auch fördern, die stark unterschiedliche Rentabilitäten synonym für die städtischen Gemeinschaftszentren (GZ) aufweisen. verwendet. Diese sind in der vorliegenden Arbeit aber nicht gemeint, wenn von Quartierzentren die Rede ist. 11
MAS Raumplanung 2019/21 | Quartierzentren im Wandel In der Praxis überlagern sich die planerische und Abb. 2: Typisierung von Erdgeschossnutzungen sozialräumliche Perspektive im Idealfall (NETZWERK Müllraum/ Kita/ nichtkommerzielle LEBENDIGE QUARTIERE 2018). Ein weiteres Merkmal Entsorgungsstelle Grosshandel Kindergarten Gemeinschaftsfläche Verkauf & Eingangsbereich Foyer & Rezeption Reparatur, Detailhandel Logistik von Quartierzentren ist, dass sich ihre Nutzungen und Wohnen Bau Fitnessstudio Instandhaltung Kultur- & Gewerbe & Veranstaltungsort Funktionen im Gegensatz zu Innenstädten oder anderen Archiv & Lager Produktion & Industrie Büro & Atelier Handwerk Galerie & Gastronomie Garage Praxis Regional- bzw. Stadtzentren primär an die Bewoh- Ausstellungsfläche NICHT- AKTIV ner:innen in der direkten Umgebung richten (KELLER AKTIV 2021: 10’-11’). Quelle: eigene Darstellung Die Erdgeschosszone umfasst das auf dem Boden liegende Geschoss (Parterre/Sockel) eines Gebäudes um einen Reichtum an Sinnesreizen, der auf einer und bezieht - im hier verwendeten Sinne des Begriffs - gewissen Diversität an Menschen, Dingen, Angeboten, die direkt umgebenden Freiräume und Erschliess- Tätigkeiten und Interaktionen beruht, die einem Raum ungsräume mit ein. Da sich die Erdgeschosszone auf wahrgenommen werden können (RZU ET AL. 2018: 18). Augenhöhe der Nutzer:innen von öffentlichen Räumen und Strassen befindet, ist sie zentral dafür, wie ein Unter dem Begriff Gewerbe werden in Anlehnung an die Raum wahrgenommen wird. Sie ist «Aushängeschild» Publikation Gewerbefreundliche Stadt Zürich (STEZ 2010) und «Schaufenster zur Strasse» (ZOLLER 2014: 10). Mit Kleinst- und kleine Unternehmen bezeichnet, die in den dieser Definition soll der starken Interdependenz Bereichen Produktion und Handwerk (Herstellung von zwischen dem Erdgeschoss als Innenraum und des un- Produkten), Reparatur und Instandhaltung (Dienst- mittelbar angrenzende Aussenraum Rechnung getragen leiter:innen wie Garagen oder Reinigungsunter- werden. In der Publikation Lebendige Erdgeschosse nehmen), Detailhandel (Verkauf von Waren an End- (2018) der RZU wird die Gestaltung von Erdgeschoss- kund:innen) oder Gastronomie tätig sind oder zonen gar als eigenständige und interdisziplinäre quartiersbezogene Dienstleistungen (Coiffeur, Wäsche- Planungsaufgabe identifiziert. Die Komplexität dieser rei, Optiker:in, Schumacher:in, usw.) anbieten. Je nach Planungsaufgabe gründet nicht nur in der hohen Unternehmen können sich die Tätigkeitsbereiche Bedeutung des Erdgeschosses für Wahrnehmung von überschneiden und überlagen. Unter Kleinst- und Stadt und die jeweils angrenzenden Aussenräume, kleineren Unternehmen fallen solche mit bis zu 49 sondern auch ihrer vermittelnden Rolle als viel- Angestellten (Vollzeitäquivalente) (EBD. 4f.). schichtige Übergangszone zwischen öffentlichen und privaten Interessen (RZU ET AL. 2018: 23). Ferner können diese Unternehmen differenziert werden in publikumsorientiertes und produzierendes Als aktive Erdgeschosse werden jene Erdgeschosse Gewerbe. Unter die publikumsorientierten Betriebe bezeichnet, deren Nutzungen sich an eine Öffentlichkeit fallen quartiersbezogene Dienstleistungen, Gastro- richten. Ein aktives Erdgeschoss beherbergt demnach nomie und Detailhandel. Sie weisen einen starken gewerbliche oder publikumsorientierte Funktionen wie Quartiersbezug auf und die Dienstleistungen werden Läden, gastronomische Einrichtung oder der Erholung meistens vor Ort abgeholt bzw. bezogen. Unter die dienende Funktionen. Sie können sich an ein all- produzierenden Betriebe fallen solche aus den gemeines oder ein lokales Publikum richten. Unter Bereichen Produktion, Handwerk, Reparatur und eher lokal ausgerichteten aktiven Erdgeschoss- Instandhaltung. Gewisse dieser Tätigkeiten sind mit nutzungen fallen beispielsweise institutionelle und Emissionen verbunden. Unternehmen, welche ihre gemeinschaftliche Funktionen wie ein Foyer, eine Produkte und Dienstleistungen zu den Kund:innen Kantine, eine Rezeption oder wohnungsnahe Einrich- bringen, sind weniger auf eine gute Passant:innen- tungen wie ein Gemeinschaftsraum für Veranstal- frequenz angewiesen, so dass Zentralität und tungen (SAABY 2014: 266). Aktive Erdgeschosse tragen Publikumsorientierung eine untergeordnete Rolle zu einer lebendigen Erdgeschosszone bei. Eine genaue spielen (EBD. 7). Die Stadt Zürich führt in Bezugnahme Definition dessen, was als «lebendig» empfunden wird, auf die allgemeine Systematik der Wirtschaftszweige gibt es allerdings nicht. Grob umrissen geht es dabei (NOGA) eine Auflistung aller zum Gewerbe gehörenden 12
Lena Wolfart Branchencodes mit Einteilung in produzierend bzw. In einem dritten Schritt wurde die Stadt Zürich als publikumsorientiert (vgl. Anhang von STEZ ZÜRICH Praxisbeispiel für den planerischen Umgang mit Quar- 2013a). Da sich Geschäftsmodelle stetig wandeln und tierzentren herangezogen und drei ihrer Quartier- vermehrt hybride Nutzungsmodelle auftreten, ist in der zentren als Prototypen genauer untersucht (vgl. Kap. 4). Praxis dennoch nicht immer eindeutig, ob eine Nutzung Ausgewählt wurde Altstetten als «grosses» Zentrum unter die Definition Gewerbe fällt und ob es als von stadtweiter Bedeutung, Albisrieden als «kleineres» produzierend oder publikumsorientiert gilt (GABI 2021: Quartierzentrum sowie die Schaffhauserstrasse/See- 36’, 38’-39’, KÜNZLI 2021: 28’-29’). bach als Zentrum entlang einer Stadtachse. Um an Informationen zu diesen Quartierzentren und den Im Detailhandel gilt es zwischen den drei Bereichen planerischen Umgang der Stadt Zürich damit zu Food, Near-Food und Non-Food zu unterscheiden. gelangen, wurden Dokumentrecherchen betrieben, Unter den Food-Sektor fällt der Handel mit Nahrungs- statistische Daten analysiert, eine Begehung vor Ort mitteln, also Frischprodukte, Getränke und lang- gemacht sowie Leitfadeninterviews mit Verter:innen der haltbare Lebensmittel. Near-Food bezeichnet einer- Stadtverwaltung geführt. seits Personal-Care-Produkte wie Hygiene- oder Körperpflege-Artikel und andererseits Artikel des Tier- Im letzten Kapitel (Kap. 5) werden die gewonnen bedarfs. Sie zählen wie die Food-Artikel zu den Gegen- Erkenntnisse zusammengefasst, Schlussfolgerungen ständen des alltäglichen Bedarfs. Alle übrigen Artikel für die Praxis gezogen sowie weiterer Forschungs- werden dem Non-Food-Bereich zugeordnet. Er bein- bedarf identifiziert. haltet somit den Handel mit Elektronik, Textilien und Bekleidung, Möbel, usw. (GFK 2017: 6). Im Zuge der Arbeit wurden Interviews mit folgenden Personen geführt: – Marco Fuhrer, Betriebsökonom, Mitinhaber Fuhrer & Hotz, Beratungs- und Marktforschungsunter- 1.5 Methodisches nehmen für reale und digitale Handelswelt – Dr. Philip Klaus, Wirtschafts- und Sozialgeograph Vorgehen & Aufbau mit Fokus auf Stadtentwicklung, Mitgründer von INURA (international network for urban research Zur Untersuchung der Forschungsfragen und Hypo- and action), Lehr- und Forschungstätigkeiten an thesen wurde zunächst eine Literaturrecherche der ETH sowie den Universitäten Bern und Zürich betrieben mit dem Ziel, zentrale Begrifflichkeiten zu – Carsten Hejndorf, Geschäftsführer des Bachser-Märt klären sowie einen Überblick über die historische mit drei Filialen in der Stadt Zürich (Albisrieden, Bedeutung, den fachlichen Diskurs sowie aktuelle Kalkbreite, Seefeld) und zwei im Zürcher Unterland Entwicklungen zu gewinnen (vgl. Kap. 2). Ergänzend (Bachs, Eglisau) dazu wurden qualitative Leitfadeninterviews mit – Sara Künzli, Juristin, Hochbaudepartement, Stadt Expert:innen aus unterschiedlichen Bereichen und Zürich Fachdisziplinen per Video-Telefonie durchgeführt. Sie – Simone Gabi, Gesamtprojektleiterin kommunaler dienten dazu, die laufenden Transformationsprozesse Richtplan SLÖBA, Amt für Städtebau, Stadt Zürich im Hinblick auf das Thema einzuordnen sowie die be- – Simon Keller, Projektleiter mit Zuständigkeit stehenden Herausforderungen und Chancen aus ver- gesamtstädtische Strategien und Entwicklungs- schiedenen Sichtweisen zu beleuchten. gebiet, Dienstabteilung Stadtentwicklung, Stadt Zürich Als zweiter Schritt wurden mit Blick ins In- und nahe gelegene Ausland Handlungsbeispiele und verschie- dene Planungsansätze recherchiert. Das Ergebnis ist eine Übersicht zu verschiedenen Handlungsfeldern und möglichen Massnahmen, die allerdings keinen An- spruch auf Vollständigkeit hat (vgl. Kap. 3). 13
MAS Raumplanung 2019/21 | Quartierzentren im Wandel 2 Zentren & kerungszuwachs in Städten im Zuge der Industria- lisierung stieg allerdings der Bedarf an neuen Versor- gungsstrukturen. So entstanden erste Ladengeschäfte. Erdgeschosse im Zeitgleich litten viele kleinere Handwerksbetriebe unter der Konkurrenz industriell hergestellter Produkte und Wandel Waren, welche dank neuen Verkehrsmitteln wie der Eisenbahn in schnellerer Zeit und grossen Mengen über In diesem Kapitel erfolgt eine theoretische und weite Strecken transportiert werden konnten. Statt auf thematische Einordnung des Themas. Zunächst folgt Märkten wurde in der sich nun entwickelnden Detail- ein historischer Abriss zum Zusammenhang von handelsstadt vermehrt in kleinen Ladengeschäften Gewerbe und Handel, Stadtentwicklung und öffent- eingekauft (BÜHLMANN/STRAUMANN 2016: 5ff.). lichen Räumen. Daraufhin werden die städtebaulichen, stadtökonomischen und sozialräumlichen Bedeu- Eine neue Entwicklung im Detailhandel trat mit dem tungen von Erdgeschossnutzungen beschrieben sowie Aufkommen der Kaufhäuser auf, in denen verschieden- ein Überblick über Entwicklungen gegeben, welche die ste Handelswaren zu fixen Preisen unter einem Dach Funktion von Zentren derzeit verändern. Schliesslich angeboten wurden. Dies kann als Beginn des Über- werden verschiedene Herausforderungen und Chancen gangs hin zu einer Einkaufsstadt gelesen werden, die identifiziert, die im gegenwärtigen Transformations- sich im 20. Jahrhundert weiterentwickelte. Häuser- prozess liegen. fronten wurden zunehmend geöffnet und zu den Straßen hin durch Glas und Durchgänge transparenter gemacht. So entstanden Läden mit einladenden grossen Fenstern sowie Strassen mit ganzen Schau- 2.1 Historische fensterfronten, in denen Produkte ausgelegt wurden mit dem Ziel, eine Sogwirkung auf die potenzielle Kund- Betrachtung schaft zu entfalten. Diese Entwicklung verstärkte sich mit dem Bauboom und Wirtschaftswachstum ab den Stadtzentren, öffentlicher Raum und Handel schon seit 1950er-Jahren (BÜHLMANN/STRAUMANN 2016: 5ff.). jeher in enger Wechselwirkung zueinander. So stellte der Marktplatz im Mittelalter nicht nur das wirt- Bis weit ins 20. Jahrhundert hielt sich der Detailhandel schaftliche, sondern meist auch das kulturelle, soziale vorwiegend in den alten Zentren. Bahnhöfe und später und politische Zentrum einer Stadt dar. Viele Strassen- die Flughäfen mussten bewusst aufgesucht werden und namen zeugen noch heute von der Prägung, welche das standen häufig etwas abseits der Ortszentren. Mit der Stadtbild einst durch die ansässigen Händler:innen und steigenden Mobilität begannen sich jedoch um diese Handwerker:innen hatten: Bäckerstrasse, Brauer- Verkehrsinfrastrukturen geschäftige Bahnhofsquar- strasse, Schmiede Wiedikon, Rindermarkt oder Neu- tiere zu entwickeln, in denen sich ebenfalls sehr gut markt, um nur ein paar Beispiele aus der Stadt Zürich Handel betreiben liess. So begannen sich diese Viertel zu nennen. zu einer Konkurrenz für die Altstädte zu entwickeln (EBD.). In der Stadt Zürich entstanden die ersten Ab Mitte des 19. Jahrhunderts vollzog sich ein Wandel, Kaufhäuser wie der J. Webers Bazar (später Globus) der als Übergang von der Handwerker:innenstadt zur oder Grands Magasins Jelmoli S.A. gegen Ende des 19. Detailhandels- und schliesslich zur Einkaufsstadt be- Jahrhunderts in der Nähe des Bahnhofs (STADT schrieben wird. Im 18. Jahrhundert gab es noch keine ZÜRICH 2018a). Läden im heutigen Sinne. Stattdessen wurden viele Erdgeschosse als Lagerflächen, Ställe oder Werk- Eine weitere grosse Veränderung trat mit dem stätten genutzt. Denn Wohnen und Arbeiten fand am Aufkommen von Grossverteiler:innen wie Coop und selben Ort statt: Im Parterre gearbeitet, in den oberen Migros Mitte des 20. Jahrhunderts ein. War die Migros Stockwerken wurde gewohnt. Eingekauft wurde hin- in ihren Anfängen in den 1920-ern mit ihrem mobilen gegen auf Märkten. Durch den rasanten Bevöl- Verkaufswagen noch eine neue Form der Quartier- und 14
Lena Wolfart Abb. 3: Illustration des Geschäftshaus Grieder an der Bahnhofstrasse 10 in Abb. 4: Konsum Verein Zürich, Vorläufer des heutigen Coop, an der Winter- Zürich um 1898 thurerstrasse 516 Quelle: STADT ZÜRICH 2018A Quelle: STADT ZÜRICH 2018A Abb. 5: Bau des Shoppi Tivoli in Spreitenbach 1974 Abb. 6: Eröffnung des Modehaus Charles Vögele 1979 in Zürich Quelle: Hans Krebs, ETH Bildarchiv Quelle: STADT ZÜRICH 2018A Abb. 7: Fragmentierte Zentralitäten im Raum Zürich Quelle: RZU 2015: 7 15
MAS Raumplanung 2019/21 | Quartierzentren im Wandel Abb. 8: Schematische Darstellung zur Entwicklung des Detailhandels und Verschiebung der Kaufkraft über die Jahrzehnte Quelle: VLP, in COLLAGE 2010: 9 Stadtversorgung, trug sie mit der Eröffnung von ersten flächiger Betriebstypen sind institutionalisierte Supermärkten mit Selbstbedienung in den 1950er- Investoren zentrale, zugleich jedoch auch wenig Jahren zu einem «Lädelisterben» in den Aussen- beachtete Akteure im Einzelhandelssektor, die die quartieren bei (STADT ZÜRICH 2018A). Viele dezentrale Expansionsstrategien von Einzelhandelsunternehmen Versorger:innen wie Bäckereien, Milchläden oder entweder direkt (durch die Finanzierung von Einzel- Metzgereien fielen den Grossverteiler:innen zum Opfer. handelsobjekten) oder indirekt durch ein Investment in In einigen Städten wurde mit Regulierungen reagiert, Aktien und Anleihen der entsprechenden Unternehmen wie beispielsweise mit Verkaufsflächenbeschränkungen finanzieren», so die Feststellung der Autor:innen (EBD. und anderen Bauvorschriften. Dies hinderte die Gross- 32). Diese Entwicklung ging Hand in Hand mit der verteiler:innen allerdings nicht daran, in den wach- zunehmenden Verdrängung von kleinteiligen Struk- senden Bahnhofsquartieren Fuss zu fassen und den turen und traditionellen inhabergeführten Läden zu Spezialgeschäften in den Ortszentren die Kundschaft zu Gunsten von filialisierten Geschäften internationaler entlocken. Unternehmen mit grossen Flächen, standardisiertem Angebot und personalarmen Vertriebsformen (EBD.). Weitere Konkurrenz erhielten die Innenstädte wie auch die Bahnhofsquartiere ab den 1960er-Jahren durch ein Während die Einkaufszentren an peripheren Lagen von neues Verkaufsmodell: Das Shopping-Center am einer stark auf das Auto ausgerichteten Stadtentwick- Stadtrand (BÜHLMANN/STRAUMANN 2016: 7f). Demo- lung profitierten, büssten viele innerstädtische Straßen grafische Entwicklungen, neue Konsumtrends und aufgrund des zunehmenden Verkehrs an Attraktivität technische Innovationen im Betrieb von Immobilien und als öffentliche Räume ein (ZOLLER 2014: 170). An in der Logistik ermöglichten und erforderten gleich- verkehrslastigen Lagen verödete das öffentliche Leben zeitig immer grossflächigere Ladeneinheiten. In entlang der Strassen zusehends. Die Fussgän- Kombination mit einer starken Ausrichtung auf eine ger:innenfreundlichkeit der Städte litt zusätzlich unter Kundschaft, die über ein eigenes Auto verfügt, führte dem modernistischen Credo der Funktionstrennung, dies zur Entstehung von Einkaufszentren und Fach- welches zu einer räumlich stärkeren Trennung von marktclustern an vorwiegend nicht-integrierten, peri- Alltagsnutzungen wie Wohnen, Freizeit und Arbeiten pheren Lagen. führte. Orte wie Warenhäuser oder Shopping-Malls wurden auf die Funktion des Konsums spezialisiert, Neben den genannten Auslösern lag gemäss einem während an anderen Standorten die Anzahl zu Fuss Artikel der Wissenschaftszeitschrift disP – The Planning gehender Passant:innen stetig abnahm und die Review eine weitere zentrale Determinante dieses Sockelzonen an Standortqualität verloren (FIEDLER tiefgreifenden Strukturwandels nicht etwa in verän- 2014: 250ff.). Das Konzept der Fussgängerzone, das in derten raumplanerischen Regulativen, sondern viel- Europa erstmals 1953 in Rotterdam umgesetzt wurde, mehr in den Investitionspräferenzen von institu- fand als Reaktion auf die zunehmend abgewerteten tionellen Anleger:innen, die zunehmend international Innenstädte in den darauf folgenden Jahrzehnten im Immobilienmarkt zu agieren begannen (BAHN/POTZ europaweit Nachahmung (KWIATKOWSI 2018: 18). Die 2007:21). «Aufgrund der Kapitalintensität gross- Architektur und Gestaltung des öffentlichen Raums in 16
Lena Wolfart diesen Zonen ist, ähnlich wie in Shopping-Malls, gezielt als Tätgikeit und Geschäfte in Erdgeschossen aber nach auf den Konsum und das Einkaufen als Freizeitbe- wie vor stadtprägende Funktionen. Neue Ver- schäftigung ausgelegt. Die verkehrsbefreiten Strassen kaufsflächen entstanden in den letzten Jahren vor allem förderten die Konsumanreize, indem sie mit einer neu- dort, wo die Menschen tagtäglich unterwegs sind und en Aufenthaltsqualität zum Schlendern, stehen Bleiben sich temporär aufhalten, sprich an Bahnhöfen, Flug- und Betrachten der Schaufenster einladen (EBD.). häfen, Autobahnausfahrten oder Tankstellen (RZU ET AL. 2018: 9). Der Städtebauhistoriker Angelus Eisigner Inzwischen hat sich allerdings in vielen Städten die spricht angesichts der Tatsache, dass sich die einst in Erkenntnis durchgesetzt, dass die Monofunktionalität Orts-, Stadt- und Quartierzentren räumlich konzen- von rein auf Konsum ausgerichteten Räume in vielerlei trierten Funktionen inzwischen breit im Raum verteilen, Hinsicht problematisch ist. Einerseits grenzt sie von zunehmend «fragmentierten Zentralitäten» (RZU einkommensschwache Personen aus, andererseits 2015: 7). wirken solche Räume nach Ladenschluss oft wie ausgestorbenen. Die Corona-Pandemie hat deutlich Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass sich aufgezeigt, wie rasch Einkaufsstrassen von einem auf die Bedeutung und Funktion von urbanen Zentren und den anderen Tag veröden können. Hinzu kommt, dass ihren Erdgeschosszonen mit der funktionalen Dif- insbesondere der Non-Food-Detailhandel in Innen- ferenzierung von Siedlungsstrukturen, mit tech- städten neben der Konkurrenz durch Einkaufszentren nologischen Entwicklungen im Bereich der Mobilität und dem Shopping-Angebot in Bahnhöfen auch und der Kommunikation sowie den Veränderungen des zunehmend unter dem Online-Handel leidet. Im Wirtschaftssystems über die Jahrzehnte hinweg stetig gegenwärtigen Fachdiskurs wird deshalb intensiv über gewandelt hat. Die ökonomische Expansionsphase in die Zukunft von Innenstädten debattiert. So setzte sich der Nachkriegszeit und insbesondere die starke die Stadt Zürich im Rahmen des Projekts Handel im Suburbanisierung ab den 1960er-Jahren, hat Städte von Wandel (STEZ 2017) mit der Zukunft des stationären monozentrischen Beziehungsgefügen zwischen Kern- Handels in Zentren auseinander, in Bern wurde das stadt und Umland zu polyzentralen Stadtlandschaften Projekt Perspektive Detailhandel Innenstadt (STADT transformiert (LÄPPLE 2004: 2). «So führte die Entwick- BERN 2021) ins Leben gerufen, in der Stadt Luzern 2015 lung neuer Verkehrs-, Kommunikations- und Versor- das Forum Attraktive Innenstadt (STADT LUZERN 2016) gungsnetzwerke dazu, dass die besonderen Vorteile der lanciert und in St. Gallen 2017 das Leitbild Zukunft St. zentralen Stadt zunehmend unterminierten [sic] Galler Innenstadt (STATD ST. GALLEN 2017) wurden.» (EBD. 7) Mit der Globalisierung und Digit- verabschiedet, um nur einige Projekte aus den alisierung schreitet diese Entwicklung weiter voran, die grösseren Deutschschweizer Städten zu nennen. Par- allel dazu wird in Wohnquartieren – insbesondere Abb. 9: Belebung des öffentlichen Raums durch ein zum Boulevard hin Neubaugebieten – inzwischen häufig versucht, eine geöffnetes Café in Paris in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts stärkere Durchmischung zu schaffen, indem unter anderem Vorschriften zu Gewerbenutzungen im Erd- geschoss gemacht werden. Nicht selten verfehlen diese allerdings ihren Bestimmungszweck, nämlich dann, wenn Angebot und Nachfrage sowie Renditeerwartung und gewünschte Nutzung nicht übereinstimmen (RZU 2018: 20). Stadt- und Quartierzentren sind heute also nur noch eine Option unter vielen, um einkaufen zu gehen und nur mehr eine von vielen Bühnen des sozialen, kulturellen und politischen Lebens in einer plura- listischen Gesellschaft (ANDERS ET AL. 2017). Trotz des rasanten Wandels im Detailhandel sind das Einkaufen Quelle: Carl Ludwig Jessen, in RUSSO 2016: 149 Abb. 8: Carl Ludwig Jessen, Pariser Cafe (1868/1889). Die frühe Darstellung eines Cafes, das zum Boulevard hin geöffnet ist und so den öffentlichen Raum nutzt. 17
MAS Raumplanung 2019/21 | Quartierzentren im Wandel Faktoren Standort und Entfernung verlieren in mancher lebendigen Erdgeschossen zukommt. Dabei wird ein Hinsicht weiter an ökonomischer Bedeutung. Gleich- besonderes Augenmerk auf die Typologie der Quartier- zeitig entstehen im postindustriellen Zeitalter aber zentren gelegt. Als Orte der dezentralen Quartier- neue Formen der Rückbettung und Aufwertung urbaner versorgung und der Begegnung schienen sie in den Arbeits- und Lebenszusammenhänge. Der Stadtsozio- letzten Jahrzehnten, in denen sich die grossen Entwick- loge Dieter Läpple argumentiert, dass in der Wissens- lungen im Detailhandel vor allem in Stadtzentren, und Kulturökonomie starke Wettbewerbsvorteile in der Bahnhöfen und Shopping-Malls abspielten, an Bedeu- Konzentration von hochspezialisierten Fähigkeiten und tung verloren zu haben. Mittlerweile wird ihnen im Kenntnissnen, von Institutionen und Konkurrent:innen politischen und im fachlichen Diskurs aber wieder eine entstehen. Der städtische Kontext ist für die Produk- zunehmende Bedeutung zugemessen. tivität und Innovationsfähigkeit von wissensbasierten Unternehmen von grosser Bedeutung. Der Wandel von Ob das Raumentwicklungskonzept der STADT LUZERN der Industrie- zur Wissensgesellschaft steht daher in 2018), das Stadtentwicklungskonzept der STADT BERN engem Zusammenhang mit der Renaissance der Städte 2016) oder der kommunale Richtplan der STADT in den Nulllerjahren (EBD. 8ff.). «In diesem Sinne wird ZÜRICH (2019A): In den planerischen Leitbildern der es auch weiterhin spezifische Formen städtischer allermeisten Schweizer Städte stellt die Stärkung von Zentralität geben, allerdings wird diese Zentralität nicht Quartierzentren mit vielfältigen Erdgeschossnutzungen notwendigerweise mit den tradierten Stadtzentren gegenwärtig ein zentrales strategisches Ziel dar. Sie („central business districts“) zusammenfallen, sondern beruhen auf dem Ideal einer polyzentralen Stadt- es können sich auch neue Zentralitätsformen heraus- struktur und nehmen Bezug auf Konzepte wie das der bilden.» (EBD. 19) Stadt der kurzen Wege oder der 15-Minuten-Stadt (vgl. Glossar). Städtebaulich-räumliche Bedeutung 2.2 Funktionen & Kompakte Stadtstrukturen, Nutzungsvielfalt und Bedeutungen Zentren als ökonomische, soziale, kulturelle und politische Knotenpunkte sind Wesensmerkmale der Nachfolgend wird genauer betrachtet, welche städte- europäischen Stadt. Die bürgerliche Gesellschaft, auf baulichen, wirtschaftlichen und sozialräumlichen der die europäische Stadt beruht und die sie geformt Funktionen und Bedeutungen Zentrumsgebiete mit hat, tendiert zu einer Polarisierung des gesell- Abb. 10: Ausschnitt aus dem Nolli-Plan von Rom Abb. 11: Nolli-Plan angewandt auf den Strip von Abb. 12: Axonometrische Darstellung des Las Vegas aus «Learning from Las Vegas» Ateliers Bow Wow Quelle: nolli-app.ch Quelle: VENTURI ET AL. 1972 Quelle: a + t architecture publishers 18
Lena Wolfart schaftlichen Lebens in eine öffentliche und eine private werden. Veränderungen in der Bedeutung der vier Sphäre. Dieses Konzept von Privatheit und Öffen- Dimensionen von öffentlichem und privatem Raum, tlichkeit hat sich zur dominanten räumlichen Struktur materialisieren sich immer auch in der Erdgeschoss- der europäischen Stadt ausgeformt (SIEBEL 2012: zone. 201ff.). «Je stärker Polarität und Wechselbeziehungen zwischen öffentlicher und privater Sphäre, desto Die Funktion und die Gestaltung des Erdgeschosses als städtischer ist […] das Leben einer Ansiedlung.», so der Schwelle zum Aussenraum – beispielsweise in Form deutsche Soziologe Hans-Paul BAHRDT (1998: 83f.). von Arkaden, Eingangsbereichen, Treppen oder riesigen Das Idealbild des öffentlichen Raums entspricht dabei Schaufensterfronten – prägt die Nutzungen und Quali- der Agora, die als Markt- und Versammlungsplatz der täten des öffentlichen Raums entscheidend mit. Die griechischen Polis der Ort des öffentlichen Lebens und Vitalität von Aussenräumen und (halb-)öffentlichen der Raum für gesellschaftliche Aushandlungsprozesse Erdgeschossnutzungen stehen somit in einem engen darstellte (WILDNER/BERGER 2018). Wechselverhältnis. Die Grenzen und Übergänge zwischen Innen- und Aussenräumen können in der Die Stadtsoziologen Walter Siebel und Jan Wehrheim Wahrnehmung und Praktiken der Nutzer:innen sehr beschrieben die idealtypische Differenz zwischen öf- fliessend sein. Es gab und gibt in der Architektur und fentlichen und privaten Räumen anhand von vier Stadtplanung verschiedene Ansätze zur Auseinander- Dimensionen folgendermaßen: setzung mit dieser Schwellenfunktion und Versuche, – Juristisch: Je nach Raum gilt privates oder öf- dieser Wechselbeziehung auf den Grund zu gehen, sie fentliches Recht, welches darüber bestimmt, zu analysieren und darzustellen. Die wohl bekannteste welche Räume von wem und wozu genutzt Referenz dürfte der Nolli-Plan des italienischen Archi- werden können. tekten Giovianni Battista Nolli sein. Er zeigt darin die – Funktional: Politik und Markt sind die ideal- Grenzen zwischen öffentlichen und privaten Spähern in typischen Funktionen des öffentlichen Raums, der Stadt Rom im Jahr 1748. In seinem Plan zeichnete Produktion und Reproduktion diejenigen des er sämtliche öffentlich zugänglichen Räume, egal ob privaten Raums. Strassen, Plätze oder der Allgemeinheit zugängliche – Sozial: Öffentlicher Raum ist der Ort des Räume wie Kirchen, weiss ein, die privaten Bereiche stilisierten Verhaltens und der Anonymität, hingegen dunkel schraffiert. Der öffentliche Raum, so privater Raum derjenige der Intimität und wird dem Betrachtenden deutlich, hält das Gewebe der Emotionalität. Stadt zusammen, die einzelnen Gebäude sind darin – Materiell-symbolisch: Städtebauliche und eingebettet (BATES 2014: 178). Aufgegriffen und neu architektonische Elemente, Gestaltung und interpretiert wurde der Nolli-Plan in den 1970er- Symbole signalisieren Zugänglichkeit sowie Jahren in der urbanistischen Untersuchung Learning Exklusivität von Räumen und verdeutlichen die from Las Vegas (VENTURI ET AL. 1972). Darin unter- Ausprägungen der drei anderen Dimensionen. suchten Denise Scott Brown, Robert Venturi und Steven (SIEBEL/WEHRHEIM 4f.) Izenour nach dem Prinzip Nollis die Grenzen von öf- In den vergangenen Jahren hat sich das Verhältnis und fentlicher und privater Nutzung entlang des Strips von die Ausprägung dieser Dimensionen stark verändert, Las Vegas. Zeitgenössische Darstellungsversuche der beispielsweise durch eine zunehmende Privatisierung Beziehung öffentlicher und privater Sphären in Städten, und Schaffung von Konsumwelten, die als öffentliche stammen etwa vom japanischen Architekturbüro Bow- Räume inszeniert werden (etwa in Shopping-Malls), Wow. Mit ihren axometrischen, wimmelbildartigen oder durch die zunehmende Verlagerung des polit- Visualisierungen werfen sie einen ethnographischen ischen Geschehens in Verbände, Parteiorganisationen Blick auf die Beziehung zwischen Architektur und und (soziale) Medien (WILDNER/BERGER 2018). Dem Gesellschaft (WÜSTENROT STIFTUNG 2014: 6). Erdgeschoss kommt in diesem Gefüge eine besondere Rolle zu. Indem es den Übergang vom Gebäude zur In Gebieten mit Zentrumsfunktionen kommt die Stadt bildet, kann es als eine Art Verhandlungsraum Bedeutung der öffentlichen Sphäre stärker zum Tragen zwischen privaten und öffentlichen Sphären verstanden als etwa in reinen Gewerbe- oder Wohngegenden. Die 19
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