Quartierzentren im Wandel - ETH Zürich

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Quartierzentren im Wandel - ETH Zürich
Lena Wolfart

Quartierzentren im Wandel
Funktion und Bedeutung von Quartierzentren zwischen planerischem Anspruch und Realität

MAS in Raumplanung 2019/21
Autorin: Lena Wolfart, M.Sc. Urban Design
Referentin/Referent: Dr. Markus Nollert, Prof. em. Kees Christiaanse / Dr. Daniel Kiss
Datum: 27. August 2021

                                                                                                   1
Quartierzentren im Wandel - ETH Zürich
Dank
Ein herzliches Dankeschön gilt meinen beiden Referenten Markus Nollert
und Daniel Kiss für die anregenden Inputs, kritischen Fragen und Feed-
backs. Danken möchte ich auch meinen Interview-Partner:innen Simone
Gabi, Simon Keller, Sara Künzli, Carsten Hejndorf, Marco Fuhrer und Philip
Klaus für die spannenden Gespräche und Einblicke in ihre Arbeit sowie
Patrick Bonzanigo für die Unterstützung und Betreuung als Studiengangs-
leiter während den letzten zwei Jahren. Und ein grosses Merci gebührt
auch der Korrekturleserin dieser Arbeit, die mir viele wertvolle An-
regungen mitgegeben hat.
Quartierzentren im Wandel - ETH Zürich
Inhaltsverzeichnis
Inhaltsverzeichnis                                  3
Abbildungs- und Tabellenverzeichnis                 4
1         Einleitung                                9
    1.1   Ausgangslage                              9
    1.2   Forschungsbedarf                         10
    1.3   Forschungsfragen & Hypothesen            11
    1.4   Begriffsdefinitionen                     11
    1.5   Methodisches Vorgehen & Aufbau           13
2         Zentren & Erdgeschosse im Wandel         14
    2.1   Historische Betrachtung                  14
    2.2   Funktion & Bedeutungen                   18
    2.3   Trends & Entwicklungen                   24
    2.4   Herausforderungen & Chancen              29
3         Planerische Ansätze                      34
4         In der Praxis: Zürichs Quartierzentren   39
    4.1   Ausgangslage                             39
    4.2   Planungsgrundlagen                       43
    4.3   Quartierzentrum Albisrieden              47
    4.4   Stadtteilzentrum Altstetten              53
    4.5   Quartierzentrum Seebach                  57
    4.6   Vergleich                                63
5         Résumé                                   65
    5.1   Kommentar Praxisbeispiel Zürich          65
    5.2   Hinweise für die Planung                 66
    5.3   Weiterführende Fragen                    68
Anhang
          Abkürzungen                              70
          Quellen- & Literaturverzeichnis          70
          Interviews                               77
          Glossar                                  77
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MAS Raumplanung 2019/21 | Quartierzentren im Wandel

Abbildungsverzeichnis
Abb. 1:    Publikationen zu Erdgeschossnutzungen und Überblick über Beratungsmandate des
           Netzwerk Altstadt ............................................................................................................................................. 10
Abb. 2:    Typisierung von Erdgeschossnutzungen ........................................................................................................ 12
Abb. 3:    Illustration des Geschäftshaus Grieder an der Bahnhofstrasse 10 in Zürich um 1898 ................................... 15
Abb. 4:    Konsum Verein Zürich, Vorläufer des heutigen Coop, an der Winterthurerstrasse 516 .................................. 15
Abb. 5:    Bau des Shoppi Tivoli in Spreitenbach 1974 ...................................................................................................... 15
Abb. 6:    Eröffnung des Modehaus Charles Vögele 1979 in Zürich.................................................................................. 15
Abb. 7:    Fragmentierte Zentralitäten im Raum Zürich .................................................................................................. 15
Abb. 8:    Schematische Darstellung zur Entwicklung des Detailhandels und Verschiebung der Kaufkraft
           über die Jahrzehnte ......................................................................................................................................... 16
Abb. 9:    Belebung des öffentlichen Raums durch ein zum Boulevard hin geöffnetes Café in Paris in der
           2. Hälfte des 19. Jahrhunderts......................................................................................................................... 17
Abb. 10:    Ausschnitt aus dem Nolli-Plan von Rom........................................................................................................ 18
Abb. 11:   Nolli-Plan angewandt auf den Strip von Las Vegas aus «Learning from Las Vegas» ..................................... 18
Abb. 12:   Axonometrische Darstellung des Ateliers Bow Wow ..................................................................................... 18
Abb. 13:   Anzahl Arbeitsstätten des publikumsorientierten Gewerbes pro ha, Stand 2013............................................ 20
Abb. 14:   Anzahl Arbeitsstätten des produzierenden Gewerbes pro ha, Stand 2013....................................................... 20
Abb. 15:   Ergebnisse einer Umfrage von 2018 in der Stadt Zürich .................................................................................. 22
Abb. 16:   Ergebnisse der Bevölkerungsbefragung der Stadt Zürich von 2019 zur Zufriedenheit mit einzelnen
           Aspekten im Quartier (Anteile in %) .................................................................................................................. 22
Abb. 17:   Wachstum des Online-Handels in der Schweiz 2008-2020 in Mia. CHF .......................................................... 25
Abb. 18:   Umsatzentwicklung Detailhandel in der Schweiz in %, jährliche nominale Veränderung gegenüber
           im Vorjahr (indexiert) ........................................................................................................................................ 25
Abb. 19:   Schematische Darstellung der ökonomischen Ausrichtung von Immobilien früher (links)
           und heute (rechts) ............................................................................................................................................. 26
Abb. 20:   Lola Fred, Europaallee Zürich. .......................................................................................................................... 30
Abb. 21:   Posti Box, Helsinki, Finnland. ............................................................................................................................ 30
Abb. 22:   Avec Box, ETH Hönggerberg............................................................................................................................. 30
Abb. 23:   POT, BachserMärt, Triemli Zürich. .................................................................................................................. 30
Abb. 24:   Stash.ch, Zürich ................................................................................................................................................ 30
Abb. 25:   FREITAG Store, Grüngasse Zürich. ................................................................................................................... 30
Abb. 26:   Collect-Lounge, Welle 7, Bern........................................................................................................................... 31
Abb. 27:   Zuriga Kaffeemaschinen, Zollstrasse Zürich. .................................................................................................. 31
Abb. 28:   BrupbiMärt, Brupbacherplatz Zürich. .............................................................................................................. 31
Abb. 29:   ViCafe, Goldbrunnenplatz, Zürich ...................................................................................................................... 31
Abb. 30:   Ikea Pop-Up-Store, Bahnhofstrasse Zürich. ..................................................................................................... 31
Abb. 31:   Haus der Statistik, Berlin................................................................................................................................... 31
Abb. 32:   Schematische Darstellung von beteiligten Akteuren und Einflussfaktoren auf Zentren und ihre ......................
           Erdgeschossnutzungen ..................................................................................................................................... 35
Abb. 33:   Schematische Übersicht der Handlungsfelder und mögliche Massnahmen zur Steuerung von
           Erdgeschossnutzungen und Zentrumsfunktionen ............................................................................................ 36
Abb. 34:   Erste (1893) und zweite (1934) Stadterweiterung Zürich ............................................................................... 40
Abb. 35:   Zentrumsgebiete von kantonaler Bedeutung (rot) innerhalb des Siedlungsgebiets (orange)
           im kantonalen Richtplan .................................................................................................................................. 40
Abb. 36:   Zentrumsgebiete und Quartierzentren im regionalen Richtplan .................................................................. 40

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Lena Wolfart

Abb. 37: Konzeptkarte Zentrumsgebiete und Quartierzentren im kommunalen Richtplan SLÖBA .......................... 40
Abb. 38: Übersichtsplan zu erstmaligen Festlegung von Gebieten mit Vorschriften zu Erdgeschoss-
         Nutzungen in der Stadt Zürich ......................................................................................................................... 40
Abb. 39: Beispiel eines Blatts aus dem Ergänzungsplan Erdgeschossnutzungen gemäss Art. 6a BZO................... 40
Abb. 40: Übersicht der Planungsgrundlagen für Zentren und Erdgeschossnutzungen in Zürich............................. 42
Abb. 41: Zentren-Typen in den kantonalen, regionalen und kommunalen Planungsgrundlagen ............................ 44
Abb. 42: Schema raumplanerisches Verständnis von Quartierzentren der Stadt Zürich........................................... 45
Abb. 43: Lage der Fallbeispiele im Überblick der im Richtplan SLÖBA (Stand 2020)
         eingetragenen Quartierzentren ...................................................................................................................... 46
Abb. 44: Eindrücke des Quartierzentrums Albisrieden ............................................................................................... 48
Abb. 45: Situation 1880 und heutiger Zentrumsbereich Albisrieden ........................................................................... 49
Abb. 46: Karte Quartierzentrum Albisrieden, ............................................................................................................... 51
Abb. 47: Eindrücke des Quartierzentrums Altstetten .................................................................................................. 52
Abb. 48: Karte Quartierzentrum Altstetten .................................................................................................................... 55
Abb. 49: Situation 1880 und heutiger Zentrumsbereich Altstetten.............................................................................. 56
Abb. 50: Eindrücke des Quartierzentrums Seebach / Schaffhauserstrasse ............................................................. 58
Abb. 51: Situation 1880 und heutiger Zentrumsbereich Seebach / Schaffhauserstrasse ......................................... 59
Abb. 52: Karte Quartierzentrum Seebach / Schaffhauserstrasse ............................................................................... 61
Abb. 53: Vergleich der Fallbeispiele nach Arten von Zentralitäten ............................................................................. 63

Tabellenverzeichnis
Tab. 1:      Steckbrief Quartierzentrum Albisrieden ........................................................................................................... 50
Tab. 2:      Steckbrief Quartierzentrum Altstetten.............................................................................................................. 54
Tab. 3:      Steckbrief Quartierzentrum Seebach / Schaffhauserstrasse........................................................................... 60

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Kurzfassung                                                den strategischen Zielbildern korreliert. Auf Grundlage
                                                           der Auslegeordnung zu gegenwärtigen Trends und
                                                           Entwicklungen sowie möglichen Handlungsfeldern wird
MAS-Programm in Raumplanung 2019/21                        eine Einschätzung zur Zukunftsfähigkeit dieser Quar-
Thesis                                                     tierzentren abgegeben. Im Résumé werden Gedanken
Titel: Quartierzentren im Wandel. Funktion und Bedeutung   und Hinweise für die Praxis zusammengetragen sowie
von Quartierzentren zwischen planerischem Anspruch und     weiterführende Fragestellungen formuliert, die sich für
Realität.                                                  eine vertiefte Untersuchung eignen würden.
Autorin: Lena Wolfart, M.Sc. Urban Design
Datum: 27. August 2021                                     Schlagworte
                                                           Quartierzentrum; Erdgeschosszone; Erdgeschoss;
                                                           Erdgeschossnutzung; Detailhandel; Einzelhandel;
Polyzentrale Stadtstrukturen mit lebendigen Quartier-      Gewerbe; publikumsorientiert; gewerblich;
zentren sind gängige Bestandteile gegenwärtiger            öffentlicher Raum; Stadt Zürich.
Richtpläne und Raumentwicklungskonzepte. Im Zuge
der Innenentwicklung und dem Leitbild der «Stadt der       Zitierungsvorschlag
kurzen Wege» wird ihnen eine zunehmende Bedeutung          Wolfart, Lena (2021): Quartierzentren im Wandel. Funktion
zugemessen, da sie einen zentralen Aspekt urbaner          und    Bedeutung       von    Quartierzentren   zwischen
Qualität darstellen. Quartierzentren kommt nicht nur       planerischem Anspruch und Realität. MAS Raumplanung
die Funktion der Nahversorgung zu, sondern im              2019/21, ETH Zürich, Zürich.
Zusammenspiel von belebten Erdgeschossen und
umliegenden öffentlichen Räumen auch diejenige eines       Hinweis
Interaktionsraums zwischen öffentlicher und privater       Das vorliegende Dokument ist eine Einzelarbeit im
Sphäre. Sie fördern als Begegnungsorte den sozialen        Rahmen der Weiterbildungsprogramme in Raum-
Austausch, stärken lokale Ökonomien und die Iden-          planung der ETH Zürich. Erkenntnisse und Schluss-
tifizierung der Bewohner:innen mit ihrem Quartier.         folgerungen müssen sich nicht zwingend mit der
                                                           Haltung der verantwortlichen Referentinnen und
Zentrumsgebiete und insbesondere deren gewerblich          Referenten sowie der ETH Zürich decken.
genutzte Erdgeschosse sind allerdings in einem starken
Wandel begriffen. Treiber dieses Transformations-
prozesses sind in erster Linie die Digitalisierung und
der wirtschaftliche Strukturwandel, ein sich verän-
derndes Mobilitäts- und Konsumverhalten sowie
Entwicklungen auf dem Immobilienmarkt. Insbe-
sondere die Quartierzentren befinden sich gegen-
wärtig in einem Spannungsfeld diverser, scheinbar
gegensätzlicher, Entwicklungen. Ziel der Arbeit ist es,
die Herausforderungen und Potenziale dieser Entwick-
lungen zu identifizieren und die Handlungsmög-
lichkeiten der Raumplanung sowie mögliche Mass-
nahmen herauszuschälen.

Anhand der Stadt Zürich und drei Fallbeispielen von
Quartierzentren (Albisrieden, Altstetten und Seebach)
wird aufgezeigt, mit welchen planerischen Instru-
mentarien heute zur Beeinflussung der Zentrenentwick-
lung gearbeitet wird, wie sich prototypische Zentren-
strukturen in der Realität präsentieren und wie dies mit

                                                                                                                 7
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    «Der Strukturwandel ist
      eine Herausforderung
       für unser Wunschbild
                 der Stadt.»
                                                      (BÜHLMANN/STRAUMANN 2016: 5)

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Lena Wolfart

1 Einleitung                                                zone befindet. Der Online-Handel hat zum Leidwesen
                                                            des stationären Einzelhandels während der Pandemie
                                                            stark zugelegt und treibt den wirtschaftlichen Struktur-
1.1 Ausgangslage                                            wandel weiter voran. Aber auch Megatrends wie sich
                                                            verändernde Konsum- und Mobilitätsverhalten hin-
Erdgeschosse mit gewerblicher, sozialer oder                terlassen sichtbare Spuren in den Innenstädten,
kultureller Nutzung sind ein unerlässlicher Bestandteil     Einkaufsstrassen und Shopping-Center. An vielen Orten
vielfältiger Innenstädte und lebendiger Quartiere. Sie      verloren der Einzelhandel sowie das Klein- und produ-
wirken stimulierend auf umliegende öffentliche Räume        zierende Gewerbe in den letzten Jahren an Bedeutung.
- und umgekehrt. Als zentrales Element sind sie             Damit sank mancherorts auch die Attraktivität des
Übergangs- und Schwellenräume zwischen privat und           Erdgeschosses. Dort wo die ökonomische Tragfähigkeit
öffentlich und prägen den Charakter, die Identität und      des Parterres nicht mehr gegeben ist, drohen Leer-
die urbane Qualität eines Quartiers. In planerischen        stände und eine „Entfunktionalisierung der Erdge-
Leitbildern wie der Stadt der kurzen Wege (vgl. Glossar),   schosszone“ (BRETSCHNEIDER 2014: 11). Dies stellt
der durchmischten und vielfältigen Stadt (DIFU 2015)        nicht nur für die Immobilienbesitzer:innen und die
oder der polyzentralen Stadt(region) nehmen Zentren         Quartieranwohner:innen eine missliche Lage dar,
mit akti-ven Erdgeschossnutzungen daher eine wichtige       sondern steht oft im Widerspruch zur planerisch
Rolle ein. Sie können als sozial-räumliche Ressource        erwünschten Raumentwicklung.
(BRAUN-FELDWEG 2019) begriffen werden, an deren
Ausgestaltung und Nutzungsart ein erhebliches öf-           Gleichzeitig sehen viele Stadtentwicklungsexpert:innen
fentliches Interesse besteht. «Die Frage der Erdge-         in der Pandemie als Treiberin von Veränderungs-
schosse berührt […] ganz elementare Fragen der              prozessen auch eine Chance – insbesondere für Quart-
weiteren Entwicklung unserer Versorgung, unserer            ierzentren: «Stand bis anhin das dichte Stadtzentrum
Mobilität und Freizeitgestaltung», heisst es in einer       im Fokus und führten die peripheren Quartierplätze
Publikation des Planungsdachverbands Zürich und             eher ein Mauerblümchendasein, so könnte die Krise
Umgebung (RZU 2018: 6).                                     eine Chance für die «Stadt der kurzen Wege» sein und
                                                            den Quartierzentren neue Bedeutung verleihen.»
Im Zusammenhang mit der Innenentwicklung gelten             (CRIVELLI/STEINER 2021). Die (Wieder-)Entdeckung
lebendige Quartierzentren als wichtiger Aspekt der          des Quartiers als Lebens- und Aufenthaltsraum und
urbanen Lebensqualität. Ihnen wird nicht nur eine hohe      das wieder näher zusammenrücken von Leben, Wohnen
Bedeutung in Bezug auf die Nahversorgung beige-             und Arbeiten eröffnen neue Perspektiven für eine
messen, sondern auch als identitätsstiftende Orte und       dezentrale Stadtstruktur.
Räume sozialer Interaktion und Begegnung. In
aktuellen planerischen Leitbildern vieler Schweizer         Doch wird die Wiederentdeckung der Quartiere und
Städte wie z.B. Zürich (kommunaler Richtplan SLÖBA),        ihrer Zentren langfristig anhalten? Wie werden die
Bern (Stadtentwicklungskonzept 2016) oder Luzern            Quartierzentren und Erdgeschossnutzungen in Zukunft
(Raumentwicklungskonzept 2018) wird die Bedeutung           aussehen? Kann das häufig auf traditionellen Bildern
von attraktiven Innenstädten und belebten Quartier-         beruhende Ideal durchmischter, belebter Quartier-
zentren mit kleinteiliger Nutzungsdurchmischung             zentren angesichts gegenwärtiger Entwicklungen der
daher betont und als Zielsetzung aufgenommen.               Realität standhalten? Und wie können Planer:innen die
                                                            gemäss Leitbildern erwünschte und zukunftsfähige
Während der Coronakrise hat sich besonders deutlich         räumlichen Entwicklung von Quartierzentren fördern?
gezeigt, welchen Wert vom Wohnort fussläufig erreich-
bare attraktive öffentliche Räume, Begegnungsorte und       Diese Fragen bilden den Ausgangspunkt der vor-
Nahversorgungsmöglichkeiten haben. Die Pandemie             liegenden Arbeit.
hat allerdings auch aufgezeigt, in welcher Umstruk-
turierung sich die gewerblich genutzte Erdgeschoss-

                                                                                                                 9
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Abb. 1:   Publikationen zu Erdgeschossnutzungen und Überblick über Beratungsmandate des Netzwerk Altstadt

Quelle: RZU 2018, rzu.ch                           Quelle: Wüstenrot Stiftung 2014   Quelle: Espacesuisse 2019

                                                                           Untersuchungen von Erdgeschosszonen im verdichteten
1.2 Forschungsbedarf                                                       Wohnungsbau in Städten weltweit und legt den Fokus
                                                                           auf räumlich innovative Projekte mit einem über-
Die Rolle und Zukunft von Innenstädten wird im Kontext                     greifenden Qualitätskonzept.
des Strukturwandels im Detailhandel sowie neuer
Mobilitäts- und Konsummuster, und nicht zuletzt auch                       Ein breiter Diskurs wird gegenwärtig über die Zukunft
aufgrund der Auswirkungen der Corona-Pandemie, im                          von Innenstädten und die Rückzug des Einzelhandels
gegenwärtigen Fachdiskurs wieder intensiv diskutiert                       geführt. Noch wenig wissenschaftliche und praxis-
(vgl. beispielsweise BAUWELT 2020, BRAND EINS 2020,                        orientierte Auseinandersetzungen scheint es hingegen
DEUTSCHER STÄDTETAG 2021). Auch das Thema der                              in Bezug auf bestehende Quartierzentren zu geben, die
Erdgeschosse, insbesondere das Wechselspiel zwi-                           in den nächsten Jahren vor dem Hintergrund der
schen der Belebung öffentlicher Räume und publi-                           Innenentwicklung grössere städtebauliche Transfor-
kumsorientierter Erdgeschossnutzungen, hat in den                          mationsprozesse erfahren werden. In solchen Gebieten
letzten Jahren verstärkt Beachtung gefunden.                               gilt es, bestehende Qualitäten zu erkennen, zu erhalten
                                                                           und/oder die Chance von Veränderungsprozessen zu
In der Schweiz beschäftigt sich unter anderem das                          nutzen, um neue Qualitäten zu schaffen. In der vor-
Netzwerk Altstadt von Espacesuisse mit der Erdge-                          liegenden MAS-Arbeit wird der Fokus deshalb auf be-
schoss-Frage als Teil der Reaktivierungsstrategie von                      stehende Quartierzentren gelegt. Die Thematik der
Ortskernen. Das Netzwerk ist vorrangig in Dörfern und                      Zukunft der Innenstädte wird zuweilen angeschnitten
Kleinstädten aktiv (ESPACESUISSE 2021). Der Regional-                      und Überlegungen, die für City-Center gemacht werden
verband Zürich und Umgebung (RZU) widmete sich dem                         auf Quartierzentren übertragen. Sie stehen aber explizit
Thema der lebendigen Erdgeschosse mit Fokus auf                            nicht im Vordergrund. Als Resultat der Arbeit soll einer-
(Ersatz-)Neubauareale und publizierte 2018 dazu ein                        seits im Kontext gegenwärtiger Transformations-
Handbuch. Ausgehend von Best-Practice-Beispielen                           prozesse die Bedeutung und das Potenzial aufgezeigt
werden praktische Handlungsempfehlungen für ver-                           werden, das von Quartierzentren mit publikums-
schiedene Projektentwicklungsphasen abgegeben                              orientierten und gewerblichen Erdgeschossnutzungen
(RZU ET AL. 2018).                                                         ausgeht. Andererseits soll aufgezeigt werden, bis zu
                                                                           welchem Grad und mit welchen raumplanerischen
Die Wüstenrot Stiftung finanzierte vor einigen Jahren                      Hebeln Quartierzentren und ihre Erdgeschosszone
ein Forschungsprojekt zur Rolle des Erdgeschosses als                      sinnvoll beplant und entwickelt werden können.
Bindeglied zwischen städtischem Raum und privater
Wohnnutzung. 2014 publizierte sie die dazugehörige
Publikation Herausforderung Erdgeschoss (WÜSTENROT
STIFTUNG 2014). Sie enthält detaillierte typologische

 10
Lena Wolfart

                                                            – Im gegenwärtigen Wandel liegt eine Chance, die
1.3 Forschungsfragen &                                        Funktion von Quartierzentren als wichtige Bausteine
                                                              einer nachhaltigen Stadtentwicklung sowie als
Hypothesen                                                    Begegnungsorte, die zur sozialen Stabilität und
                                                              Etablierung lokaler Ökonomien beitragen, zu
Die übergeordnete Fragestellung, die der vorliegenden         stärken. Grund dafür sind sinkende Mietpreise und
Arbeit zu Grunde liegt, lautet: Wie kann die Raum-            freiwerdende Flächen, ein sozialer und kultureller
planung dazu beitragen, dass Quartierzentren und ihre         Wertewandel sowie veränderte Bewegungsmuster
Erdgeschosszonen angesichts gegenwärtiger Trans-              der Menschen.
formationsprozesse künftig die Belebung, Aufent-
haltsqualität und Funktionen aufweisen, die gemäss
den planerischen Leitbildern erwünscht ist? Ferner
wurden folgende Forschungsfragen aufgestellt:             1.4 Begriffsdefinitionen
  – Welche Rolle, Bedeutung und Funktionen haben
     Quartierzentren heute inne?                          Zentralität ist eine Voraussetzung von Urbanität und
  – Welche Herausforderungen und Potenziale für die       eine wesentliche Eigenschaft städtischen Lebens. Es
     Quartierzentren liegen in aktuellen Trends und       geht dabei weniger um eine konkrete städtebauliche
     Transformationsprozessen?                            Form als vielmehr um Nutzungskonstellationen und
  – Mit welchen Konzepten, Ansätzen und Instrumen-        räumliche Bezüge. Zentralität bedeutet Zugang zu
     ten kann die räumliche Entwicklung von Quartier-     Nutzungen und Angeboten des alltäglichen Bedarfs.
     zentren und Erdgeschossnutzungen beeinflusst         Zentren sind somit Orte, die Menschen mit ver-
     und gelenkt werden?                                  schiedenen Handlungsmotiven zusammenbringen,
  – Wie wird am Fallbeispiel der Stadt Zürich in der      Interessen bündeln und damit Begegnungen und
     Planungspraxis mit Quartierzentren und ihren Erd-    Kontakte stimulieren und ermöglichen (KRETZ/KUENG
     geschossnutzungen umgegangen?                        2016: 44). Einfach ausgedrückt, gilt die Faustformel: «Je
                                                          mehr Menschen einen Ort in ihrem Alltag benötigen, und
Darauf aufbauend wurden folgende Hypothesen               besuchen, desto zentraler ist dieser Ort.» (EBD.) In
aufgestellt, welche die vorliegende Arbeit begleiten:     ihrem Handbuch Urbane Qualitäten unterscheiden
  – Die Funktion und Bedeutung von Zentren sind           Simon Kretz und Lukas Kueng ferner drei Aspekte von
     infolge des zunehmenden Rückzugs des sta-            Zentralitäten, nämlich die logistische, die funktionale
     tionären Einzelhandels sowie sich verändernde        und die symbolische Zentralität (EBD. 44ff., vgl.
    Alltagspraktiken im Wandel begriffen. Der             Glossar).
     Einzelhandel dominierte in den letzten Jahr-
     zehnten die Definition und auch das raum-            Unter einem Quartierzentrum wird in der Stadtplanung
     planerische Verständnis von Zentren. Planungs-       ein funktionaler Raum verstanden, in dem sich unter-
     instrumente, die sich auf ein solches Verständnis    schiedliche Nutzungen konzentrieren. Darunter fallen
     von Zentren abstützen, verlieren daher an            Mobilitätsangebote wie der Anschluss an öffentliche
    Wirkungskraft und verfehlen zusehends ihr Ziel.       Verkehrsmittel, Nahversorgungsmöglichkeiten oder
  – Es besteht eine Diskrepanz zwischen den gesell-       Dienstleistungsangebote. Aktive und publikumsorien-
     schaftlich und planerisch erwünschten Erdge-         tierte Erdgeschosse sowie attraktive öffentliche Räume
     schossnutzungen in Quartierzentren und dem, was      sind somit wichtige Bestandteile von funktionierenden
     gemäss gängiger immmobilienwirtschaftlicher          Quartierzentren. Aus sozialräumlicher Perspektive wird
     Modelle ökonomisch tragfähig ist. Ein Grund dafür    unter einem Quartierzentrum ein Treffpunkt, Veran-
     liegt in fehlenden Mechanismen, um Synergien         staltungs- und Begegnungsort beschrieben. In der Stadt
     zwischen verschiedenen Zentrumsnutzungen zu          Zürich wird der Begriff umgangssprachlich häufig auch
     fördern, die stark unterschiedliche Rentabilitäten   synonym für die städtischen Gemeinschaftszentren (GZ)
     aufweisen.                                           verwendet. Diese sind in der vorliegenden Arbeit aber
                                                          nicht gemeint, wenn von Quartierzentren die Rede ist.

                                                                                                               11
MAS Raumplanung 2019/21 | Quartierzentren im Wandel

In der Praxis überlagern sich die planerische und         Abb. 2:    Typisierung von Erdgeschossnutzungen
sozialräumliche Perspektive im Idealfall (NETZWERK
                                                                    Müllraum/                          Kita/             nichtkommerzielle
LEBENDIGE QUARTIERE 2018). Ein weiteres Merkmal                     Entsorgungsstelle   Grosshandel    Kindergarten      Gemeinschaftsfläche   Verkauf &
                                                                    Eingangsbereich                    Foyer & Rezeption Reparatur,            Detailhandel
                                                                                        Logistik
von Quartierzentren ist, dass sich ihre Nutzungen und               Wohnen              Bau            Fitnessstudio
                                                                                                                         Instandhaltung
                                                                                                                                               Kultur- &
                                                                                                                         Gewerbe &             Veranstaltungsort
Funktionen im Gegensatz zu Innenstädten oder anderen                Archiv & Lager      Produktion &
                                                                                        Industrie
                                                                                                       Büro & Atelier    Handwerk
                                                                                                                         Galerie &             Gastronomie
                                                                    Garage                             Praxis
Regional- bzw. Stadtzentren primär an die Bewoh-                                                                         Ausstellungsfläche
                                                          NICHT-                                                                                         AKTIV
ner:innen in der direkten Umgebung richten (KELLER        AKTIV

2021: 10’-11’).
                                                          Quelle: eigene Darstellung
Die Erdgeschosszone umfasst das auf dem Boden
liegende Geschoss (Parterre/Sockel) eines Gebäudes        um einen Reichtum an Sinnesreizen, der auf einer
und bezieht - im hier verwendeten Sinne des Begriffs -    gewissen Diversität an Menschen, Dingen, Angeboten,
die direkt umgebenden Freiräume und Erschliess-           Tätigkeiten und Interaktionen beruht, die einem Raum
ungsräume mit ein. Da sich die Erdgeschosszone auf        wahrgenommen werden können (RZU ET AL. 2018: 18).
Augenhöhe der Nutzer:innen von öffentlichen Räumen
und Strassen befindet, ist sie zentral dafür, wie ein     Unter dem Begriff Gewerbe werden in Anlehnung an die
Raum wahrgenommen wird. Sie ist «Aushängeschild»          Publikation Gewerbefreundliche Stadt Zürich (STEZ 2010)
und «Schaufenster zur Strasse» (ZOLLER 2014: 10). Mit     Kleinst- und kleine Unternehmen bezeichnet, die in den
dieser Definition soll der starken Interdependenz         Bereichen Produktion und Handwerk (Herstellung von
zwischen dem Erdgeschoss als Innenraum und des un-        Produkten), Reparatur und Instandhaltung (Dienst-
mittelbar angrenzende Aussenraum Rechnung getragen        leiter:innen wie Garagen oder Reinigungsunter-
werden. In der Publikation Lebendige Erdgeschosse         nehmen), Detailhandel (Verkauf von Waren an End-
(2018) der RZU wird die Gestaltung von Erdgeschoss-       kund:innen) oder Gastronomie tätig sind oder
zonen gar als eigenständige und interdisziplinäre         quartiersbezogene Dienstleistungen (Coiffeur, Wäsche-
Planungsaufgabe identifiziert. Die Komplexität dieser     rei, Optiker:in, Schumacher:in, usw.) anbieten. Je nach
Planungsaufgabe gründet nicht nur in der hohen            Unternehmen können sich die Tätigkeitsbereiche
Bedeutung des Erdgeschosses für Wahrnehmung von           überschneiden und überlagen. Unter Kleinst- und
Stadt und die jeweils angrenzenden Aussenräume,           kleineren Unternehmen fallen solche mit bis zu 49
sondern auch ihrer vermittelnden Rolle als viel-          Angestellten (Vollzeitäquivalente) (EBD. 4f.).
schichtige Übergangszone zwischen öffentlichen und
privaten Interessen (RZU ET AL. 2018: 23).                Ferner können diese Unternehmen differenziert werden
                                                          in publikumsorientiertes und produzierendes
Als aktive Erdgeschosse werden jene Erdgeschosse          Gewerbe. Unter die publikumsorientierten Betriebe
bezeichnet, deren Nutzungen sich an eine Öffentlichkeit   fallen quartiersbezogene Dienstleistungen, Gastro-
richten. Ein aktives Erdgeschoss beherbergt demnach       nomie und Detailhandel. Sie weisen einen starken
gewerbliche oder publikumsorientierte Funktionen wie      Quartiersbezug auf und die Dienstleistungen werden
Läden, gastronomische Einrichtung oder der Erholung       meistens vor Ort abgeholt bzw. bezogen. Unter die
dienende Funktionen. Sie können sich an ein all-          produzierenden Betriebe fallen solche aus den
gemeines oder ein lokales Publikum richten. Unter         Bereichen Produktion, Handwerk, Reparatur und
eher lokal ausgerichteten aktiven Erdgeschoss-            Instandhaltung. Gewisse dieser Tätigkeiten sind mit
nutzungen fallen beispielsweise institutionelle und       Emissionen verbunden. Unternehmen, welche ihre
gemeinschaftliche Funktionen wie ein Foyer, eine          Produkte und Dienstleistungen zu den Kund:innen
Kantine, eine Rezeption oder wohnungsnahe Einrich-        bringen, sind weniger auf eine gute Passant:innen-
tungen wie ein Gemeinschaftsraum für Veranstal-           frequenz angewiesen, so dass Zentralität und
tungen (SAABY 2014: 266). Aktive Erdgeschosse tragen      Publikumsorientierung eine untergeordnete Rolle
zu einer lebendigen Erdgeschosszone bei. Eine genaue      spielen (EBD. 7). Die Stadt Zürich führt in Bezugnahme
Definition dessen, was als «lebendig» empfunden wird,     auf die allgemeine Systematik der Wirtschaftszweige
gibt es allerdings nicht. Grob umrissen geht es dabei     (NOGA) eine Auflistung aller zum Gewerbe gehörenden

12
Lena Wolfart

Branchencodes mit Einteilung in produzierend bzw.         In einem dritten Schritt wurde die Stadt Zürich als
publikumsorientiert (vgl. Anhang von STEZ ZÜRICH          Praxisbeispiel für den planerischen Umgang mit Quar-
2013a). Da sich Geschäftsmodelle stetig wandeln und       tierzentren herangezogen und drei ihrer Quartier-
vermehrt hybride Nutzungsmodelle auftreten, ist in der    zentren als Prototypen genauer untersucht (vgl. Kap. 4).
Praxis dennoch nicht immer eindeutig, ob eine Nutzung     Ausgewählt wurde Altstetten als «grosses» Zentrum
unter die Definition Gewerbe fällt und ob es als          von stadtweiter Bedeutung, Albisrieden als «kleineres»
produzierend oder publikumsorientiert gilt (GABI 2021:    Quartierzentrum sowie die Schaffhauserstrasse/See-
36’, 38’-39’, KÜNZLI 2021: 28’-29’).                      bach als Zentrum entlang einer Stadtachse. Um an
                                                          Informationen zu diesen Quartierzentren und den
Im Detailhandel gilt es zwischen den drei Bereichen       planerischen Umgang der Stadt Zürich damit zu
Food, Near-Food und Non-Food zu unterscheiden.            gelangen, wurden Dokumentrecherchen betrieben,
Unter den Food-Sektor fällt der Handel mit Nahrungs-      statistische Daten analysiert, eine Begehung vor Ort
mitteln, also Frischprodukte, Getränke und lang-          gemacht sowie Leitfadeninterviews mit Verter:innen der
haltbare Lebensmittel. Near-Food bezeichnet einer-        Stadtverwaltung geführt.
seits Personal-Care-Produkte wie Hygiene- oder
Körperpflege-Artikel und andererseits Artikel des Tier-   Im letzten Kapitel (Kap. 5) werden die gewonnen
bedarfs. Sie zählen wie die Food-Artikel zu den Gegen-    Erkenntnisse zusammengefasst, Schlussfolgerungen
ständen des alltäglichen Bedarfs. Alle übrigen Artikel    für die Praxis gezogen sowie weiterer Forschungs-
werden dem Non-Food-Bereich zugeordnet. Er bein-          bedarf identifiziert.
haltet somit den Handel mit Elektronik, Textilien und
Bekleidung, Möbel, usw. (GFK 2017: 6).                    Im Zuge der Arbeit wurden Interviews mit folgenden
                                                          Personen geführt:
                                                            – Marco Fuhrer, Betriebsökonom, Mitinhaber Fuhrer
                                                              & Hotz, Beratungs- und Marktforschungsunter-
1.5 Methodisches                                              nehmen für reale und digitale Handelswelt
                                                            – Dr. Philip Klaus, Wirtschafts- und Sozialgeograph
Vorgehen & Aufbau                                             mit Fokus auf Stadtentwicklung, Mitgründer von
                                                              INURA (international network for urban research
Zur Untersuchung der Forschungsfragen und Hypo-               and action), Lehr- und Forschungstätigkeiten an
thesen wurde zunächst eine Literaturrecherche                 der ETH sowie den Universitäten Bern und Zürich
betrieben mit dem Ziel, zentrale Begrifflichkeiten zu       – Carsten Hejndorf, Geschäftsführer des Bachser-Märt
klären sowie einen Überblick über die historische             mit drei Filialen in der Stadt Zürich (Albisrieden,
Bedeutung, den fachlichen Diskurs sowie aktuelle              Kalkbreite, Seefeld) und zwei im Zürcher Unterland
Entwicklungen zu gewinnen (vgl. Kap. 2). Ergänzend            (Bachs, Eglisau)
dazu wurden qualitative Leitfadeninterviews mit             – Sara Künzli, Juristin, Hochbaudepartement, Stadt
Expert:innen aus unterschiedlichen Bereichen und              Zürich
Fachdisziplinen per Video-Telefonie durchgeführt. Sie       – Simone Gabi, Gesamtprojektleiterin kommunaler
dienten dazu, die laufenden Transformationsprozesse           Richtplan SLÖBA, Amt für Städtebau, Stadt Zürich
im Hinblick auf das Thema einzuordnen sowie die be-         – Simon Keller, Projektleiter mit Zuständigkeit
stehenden Herausforderungen und Chancen aus ver-              gesamtstädtische Strategien und Entwicklungs-
schiedenen Sichtweisen zu beleuchten.                         gebiet, Dienstabteilung Stadtentwicklung, Stadt
                                                              Zürich
Als zweiter Schritt wurden mit Blick ins In- und nahe
gelegene Ausland Handlungsbeispiele und verschie-
dene Planungsansätze recherchiert. Das Ergebnis ist
eine Übersicht zu verschiedenen Handlungsfeldern und
möglichen Massnahmen, die allerdings keinen An-
spruch auf Vollständigkeit hat (vgl. Kap. 3).

                                                                                                              13
MAS Raumplanung 2019/21 | Quartierzentren im Wandel

2 Zentren &                                               kerungszuwachs in Städten im Zuge der Industria-
                                                          lisierung stieg allerdings der Bedarf an neuen Versor-
                                                          gungsstrukturen. So entstanden erste Ladengeschäfte.
Erdgeschosse im                                           Zeitgleich litten viele kleinere Handwerksbetriebe unter
                                                          der Konkurrenz industriell hergestellter Produkte und

Wandel                                                    Waren, welche dank neuen Verkehrsmitteln wie der
                                                          Eisenbahn in schnellerer Zeit und grossen Mengen über
In diesem Kapitel erfolgt eine theoretische und           weite Strecken transportiert werden konnten. Statt auf
thematische Einordnung des Themas. Zunächst folgt         Märkten wurde in der sich nun entwickelnden Detail-
ein historischer Abriss zum Zusammenhang von              handelsstadt vermehrt in kleinen Ladengeschäften
Gewerbe und Handel, Stadtentwicklung und öffent-          eingekauft (BÜHLMANN/STRAUMANN 2016: 5ff.).
lichen Räumen. Daraufhin werden die städtebaulichen,
stadtökonomischen und sozialräumlichen Bedeu-             Eine neue Entwicklung im Detailhandel trat mit dem
tungen von Erdgeschossnutzungen beschrieben sowie         Aufkommen der Kaufhäuser auf, in denen verschieden-
ein Überblick über Entwicklungen gegeben, welche die      ste Handelswaren zu fixen Preisen unter einem Dach
Funktion von Zentren derzeit verändern. Schliesslich      angeboten wurden. Dies kann als Beginn des Über-
werden verschiedene Herausforderungen und Chancen         gangs hin zu einer Einkaufsstadt gelesen werden, die
identifiziert, die im gegenwärtigen Transformations-      sich im 20. Jahrhundert weiterentwickelte. Häuser-
prozess liegen.                                           fronten wurden zunehmend geöffnet und zu den
                                                          Straßen hin durch Glas und Durchgänge transparenter
                                                          gemacht. So entstanden Läden mit einladenden
                                                          grossen Fenstern sowie Strassen mit ganzen Schau-
2.1 Historische                                           fensterfronten, in denen Produkte ausgelegt wurden
                                                          mit dem Ziel, eine Sogwirkung auf die potenzielle Kund-
Betrachtung                                               schaft zu entfalten. Diese Entwicklung verstärkte sich
                                                          mit dem Bauboom und Wirtschaftswachstum ab den
Stadtzentren, öffentlicher Raum und Handel schon seit     1950er-Jahren (BÜHLMANN/STRAUMANN 2016: 5ff.).
jeher in enger Wechselwirkung zueinander. So stellte
der Marktplatz im Mittelalter nicht nur das wirt-         Bis weit ins 20. Jahrhundert hielt sich der Detailhandel
schaftliche, sondern meist auch das kulturelle, soziale   vorwiegend in den alten Zentren. Bahnhöfe und später
und politische Zentrum einer Stadt dar. Viele Strassen-   die Flughäfen mussten bewusst aufgesucht werden und
namen zeugen noch heute von der Prägung, welche das       standen häufig etwas abseits der Ortszentren. Mit der
Stadtbild einst durch die ansässigen Händler:innen und    steigenden Mobilität begannen sich jedoch um diese
Handwerker:innen hatten: Bäckerstrasse, Brauer-           Verkehrsinfrastrukturen geschäftige Bahnhofsquar-
strasse, Schmiede Wiedikon, Rindermarkt oder Neu-         tiere zu entwickeln, in denen sich ebenfalls sehr gut
markt, um nur ein paar Beispiele aus der Stadt Zürich     Handel betreiben liess. So begannen sich diese Viertel
zu nennen.                                                zu einer Konkurrenz für die Altstädte zu entwickeln
                                                          (EBD.). In der Stadt Zürich entstanden die ersten
Ab Mitte des 19. Jahrhunderts vollzog sich ein Wandel,    Kaufhäuser wie der J. Webers Bazar (später Globus)
der als Übergang von der Handwerker:innenstadt zur        oder Grands Magasins Jelmoli S.A. gegen Ende des 19.
Detailhandels- und schliesslich zur Einkaufsstadt be-     Jahrhunderts in der Nähe des Bahnhofs (STADT
schrieben wird. Im 18. Jahrhundert gab es noch keine      ZÜRICH 2018a).
Läden im heutigen Sinne. Stattdessen wurden viele
Erdgeschosse als Lagerflächen, Ställe oder Werk-          Eine weitere grosse Veränderung trat mit dem
stätten genutzt. Denn Wohnen und Arbeiten fand am         Aufkommen von Grossverteiler:innen wie Coop und
selben Ort statt: Im Parterre gearbeitet, in den oberen   Migros Mitte des 20. Jahrhunderts ein. War die Migros
Stockwerken wurde gewohnt. Eingekauft wurde hin-          in ihren Anfängen in den 1920-ern mit ihrem mobilen
gegen auf Märkten. Durch den rasanten Bevöl-              Verkaufswagen noch eine neue Form der Quartier- und

14
Lena Wolfart

Abb. 3:   Illustration des Geschäftshaus Grieder an der Bahnhofstrasse 10 in   Abb. 4:   Konsum Verein Zürich, Vorläufer des heutigen Coop, an der Winter-

Zürich um 1898                                                                 thurerstrasse 516

Quelle: STADT ZÜRICH 2018A                                                     Quelle: STADT ZÜRICH 2018A

Abb. 5:   Bau des Shoppi Tivoli in Spreitenbach 1974                           Abb. 6:   Eröffnung des Modehaus Charles Vögele 1979 in Zürich

Quelle: Hans Krebs, ETH Bildarchiv                                             Quelle: STADT ZÜRICH 2018A

Abb. 7:   Fragmentierte Zentralitäten im Raum Zürich

Quelle: RZU 2015: 7

                                                                                                                                                      15
MAS Raumplanung 2019/21 | Quartierzentren im Wandel

Abb. 8:   Schematische Darstellung zur Entwicklung des Detailhandels und Verschiebung der Kaufkraft über die Jahrzehnte

Quelle: VLP, in COLLAGE 2010: 9

Stadtversorgung, trug sie mit der Eröffnung von ersten                       flächiger Betriebstypen sind institutionalisierte
Supermärkten mit Selbstbedienung in den 1950er-                              Investoren zentrale, zugleich jedoch auch wenig
Jahren zu einem «Lädelisterben» in den Aussen-                               beachtete Akteure im Einzelhandelssektor, die die
quartieren bei (STADT ZÜRICH 2018A). Viele dezentrale                        Expansionsstrategien von Einzelhandelsunternehmen
Versorger:innen wie Bäckereien, Milchläden oder                              entweder direkt (durch die Finanzierung von Einzel-
Metzgereien fielen den Grossverteiler:innen zum Opfer.                       handelsobjekten) oder indirekt durch ein Investment in
In einigen Städten wurde mit Regulierungen reagiert,                         Aktien und Anleihen der entsprechenden Unternehmen
wie beispielsweise mit Verkaufsflächenbeschränkungen                         finanzieren», so die Feststellung der Autor:innen (EBD.
und anderen Bauvorschriften. Dies hinderte die Gross-                        32). Diese Entwicklung ging Hand in Hand mit der
verteiler:innen allerdings nicht daran, in den wach-                         zunehmenden Verdrängung von kleinteiligen Struk-
senden Bahnhofsquartieren Fuss zu fassen und den                             turen und traditionellen inhabergeführten Läden zu
Spezialgeschäften in den Ortszentren die Kundschaft zu                       Gunsten von filialisierten Geschäften internationaler
entlocken.                                                                   Unternehmen mit grossen Flächen, standardisiertem
                                                                             Angebot und personalarmen Vertriebsformen (EBD.).
Weitere Konkurrenz erhielten die Innenstädte wie auch
die Bahnhofsquartiere ab den 1960er-Jahren durch ein                         Während die Einkaufszentren an peripheren Lagen von
neues Verkaufsmodell: Das Shopping-Center am                                 einer stark auf das Auto ausgerichteten Stadtentwick-
Stadtrand (BÜHLMANN/STRAUMANN 2016: 7f). Demo-                               lung profitierten, büssten viele innerstädtische Straßen
grafische Entwicklungen, neue Konsumtrends und                               aufgrund des zunehmenden Verkehrs an Attraktivität
technische Innovationen im Betrieb von Immobilien und                        als öffentliche Räume ein (ZOLLER 2014: 170). An
in der Logistik ermöglichten und erforderten gleich-                         verkehrslastigen Lagen verödete das öffentliche Leben
zeitig immer grossflächigere Ladeneinheiten. In                              entlang der Strassen zusehends. Die Fussgän-
Kombination mit einer starken Ausrichtung auf eine                           ger:innenfreundlichkeit der Städte litt zusätzlich unter
Kundschaft, die über ein eigenes Auto verfügt, führte                        dem modernistischen Credo der Funktionstrennung,
dies zur Entstehung von Einkaufszentren und Fach-                            welches zu einer räumlich stärkeren Trennung von
marktclustern an vorwiegend nicht-integrierten, peri-                        Alltagsnutzungen wie Wohnen, Freizeit und Arbeiten
pheren Lagen.                                                                führte. Orte wie Warenhäuser oder Shopping-Malls
                                                                             wurden auf die Funktion des Konsums spezialisiert,
Neben den genannten Auslösern lag gemäss einem                               während an anderen Standorten die Anzahl zu Fuss
Artikel der Wissenschaftszeitschrift disP – The Planning                     gehender Passant:innen stetig abnahm und die
Review eine weitere zentrale Determinante dieses                             Sockelzonen an Standortqualität verloren (FIEDLER
tiefgreifenden Strukturwandels nicht etwa in verän-                          2014: 250ff.). Das Konzept der Fussgängerzone, das in
derten raumplanerischen Regulativen, sondern viel-                           Europa erstmals 1953 in Rotterdam umgesetzt wurde,
mehr in den Investitionspräferenzen von institu-                             fand als Reaktion auf die zunehmend abgewerteten
tionellen Anleger:innen, die zunehmend international                         Innenstädte in den darauf folgenden Jahrzehnten
im Immobilienmarkt zu agieren begannen (BAHN/POTZ                            europaweit Nachahmung (KWIATKOWSI 2018: 18). Die
2007:21). «Aufgrund der Kapitalintensität gross-                             Architektur und Gestaltung des öffentlichen Raums in

 16
Lena Wolfart

diesen Zonen ist, ähnlich wie in Shopping-Malls, gezielt    als Tätgikeit und Geschäfte in Erdgeschossen aber nach
auf den Konsum und das Einkaufen als Freizeitbe-            wie vor stadtprägende Funktionen. Neue Ver-
schäftigung ausgelegt. Die verkehrsbefreiten Strassen       kaufsflächen entstanden in den letzten Jahren vor allem
förderten die Konsumanreize, indem sie mit einer neu-       dort, wo die Menschen tagtäglich unterwegs sind und
en Aufenthaltsqualität zum Schlendern, stehen Bleiben       sich temporär aufhalten, sprich an Bahnhöfen, Flug-
und Betrachten der Schaufenster einladen (EBD.).            häfen, Autobahnausfahrten oder Tankstellen (RZU ET
                                                            AL. 2018: 9). Der Städtebauhistoriker Angelus Eisigner
Inzwischen hat sich allerdings in vielen Städten die        spricht angesichts der Tatsache, dass sich die einst in
Erkenntnis durchgesetzt, dass die Monofunktionalität        Orts-, Stadt- und Quartierzentren räumlich konzen-
von rein auf Konsum ausgerichteten Räume in vielerlei       trierten Funktionen inzwischen breit im Raum verteilen,
Hinsicht problematisch ist. Einerseits grenzt sie           von zunehmend «fragmentierten Zentralitäten» (RZU
einkommensschwache Personen aus, andererseits               2015: 7).
wirken solche Räume nach Ladenschluss oft wie
ausgestorbenen. Die Corona-Pandemie hat deutlich            Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass sich
aufgezeigt, wie rasch Einkaufsstrassen von einem auf        die Bedeutung und Funktion von urbanen Zentren und
den anderen Tag veröden können. Hinzu kommt, dass           ihren Erdgeschosszonen mit der funktionalen Dif-
insbesondere der Non-Food-Detailhandel in Innen-            ferenzierung von Siedlungsstrukturen, mit tech-
städten neben der Konkurrenz durch Einkaufszentren          nologischen Entwicklungen im Bereich der Mobilität
und dem Shopping-Angebot in Bahnhöfen auch                  und der Kommunikation sowie den Veränderungen des
zunehmend unter dem Online-Handel leidet. Im                Wirtschaftssystems über die Jahrzehnte hinweg stetig
gegenwärtigen Fachdiskurs wird deshalb intensiv über        gewandelt hat. Die ökonomische Expansionsphase in
die Zukunft von Innenstädten debattiert. So setzte sich     der Nachkriegszeit und insbesondere die starke
die Stadt Zürich im Rahmen des Projekts Handel im           Suburbanisierung ab den 1960er-Jahren, hat Städte von
Wandel (STEZ 2017) mit der Zukunft des stationären          monozentrischen Beziehungsgefügen zwischen Kern-
Handels in Zentren auseinander, in Bern wurde das           stadt und Umland zu polyzentralen Stadtlandschaften
Projekt Perspektive Detailhandel Innenstadt (STADT          transformiert (LÄPPLE 2004: 2). «So führte die Entwick-
BERN 2021) ins Leben gerufen, in der Stadt Luzern 2015      lung neuer Verkehrs-, Kommunikations- und Versor-
das Forum Attraktive Innenstadt (STADT LUZERN 2016)         gungsnetzwerke dazu, dass die besonderen Vorteile der
lanciert und in St. Gallen 2017 das Leitbild Zukunft St.    zentralen Stadt zunehmend unterminierten [sic]
Galler Innenstadt (STATD ST. GALLEN 2017)                   wurden.» (EBD. 7) Mit der Globalisierung und Digit-
verabschiedet, um nur einige Projekte aus den               alisierung schreitet diese Entwicklung weiter voran, die
grösseren Deutschschweizer Städten zu nennen. Par-
allel dazu wird in Wohnquartieren – insbesondere           Abb. 9:        Belebung des öffentlichen Raums durch ein zum Boulevard hin
Neubaugebieten – inzwischen häufig versucht, eine          geöffnetes Café in Paris in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts
stärkere Durchmischung zu schaffen, indem unter
anderem Vorschriften zu Gewerbenutzungen im Erd-
geschoss gemacht werden. Nicht selten verfehlen diese
allerdings ihren Bestimmungszweck, nämlich dann,
wenn Angebot und Nachfrage sowie Renditeerwartung
und gewünschte Nutzung nicht übereinstimmen (RZU
2018: 20).

Stadt- und Quartierzentren sind heute also nur noch
eine Option unter vielen, um einkaufen zu gehen und
nur mehr eine von vielen Bühnen des sozialen,
kulturellen und politischen Lebens in einer plura-
listischen Gesellschaft (ANDERS ET AL. 2017). Trotz des
rasanten Wandels im Detailhandel sind das Einkaufen        Quelle: Carl Ludwig Jessen, in RUSSO 2016: 149
                                                           Abb. 8: Carl Ludwig Jessen, Pariser Cafe (1868/1889).
                                                           Die frühe Darstellung eines Cafes, das zum Boulevard hin
                                                           geöffnet ist und so den öffentlichen Raum nutzt.

                                                                                                                                   17
MAS Raumplanung 2019/21 | Quartierzentren im Wandel

Faktoren Standort und Entfernung verlieren in mancher                      lebendigen Erdgeschossen zukommt. Dabei wird ein
Hinsicht weiter an ökonomischer Bedeutung. Gleich-                         besonderes Augenmerk auf die Typologie der Quartier-
zeitig entstehen im postindustriellen Zeitalter aber                       zentren gelegt. Als Orte der dezentralen Quartier-
neue Formen der Rückbettung und Aufwertung urbaner                         versorgung und der Begegnung schienen sie in den
Arbeits- und Lebenszusammenhänge. Der Stadtsozio-                          letzten Jahrzehnten, in denen sich die grossen Entwick-
loge Dieter Läpple argumentiert, dass in der Wissens-                      lungen im Detailhandel vor allem in Stadtzentren,
und Kulturökonomie starke Wettbewerbsvorteile in der                       Bahnhöfen und Shopping-Malls abspielten, an Bedeu-
Konzentration von hochspezialisierten Fähigkeiten und                      tung verloren zu haben. Mittlerweile wird ihnen im
Kenntnissnen, von Institutionen und Konkurrent:innen                       politischen und im fachlichen Diskurs aber wieder eine
entstehen. Der städtische Kontext ist für die Produk-                      zunehmende Bedeutung zugemessen.
tivität und Innovationsfähigkeit von wissensbasierten
Unternehmen von grosser Bedeutung. Der Wandel von                          Ob das Raumentwicklungskonzept der STADT LUZERN
der Industrie- zur Wissensgesellschaft steht daher in                      2018), das Stadtentwicklungskonzept der STADT BERN
engem Zusammenhang mit der Renaissance der Städte                          2016) oder der kommunale Richtplan der STADT
in den Nulllerjahren (EBD. 8ff.). «In diesem Sinne wird                    ZÜRICH (2019A): In den planerischen Leitbildern der
es auch weiterhin spezifische Formen städtischer                           allermeisten Schweizer Städte stellt die Stärkung von
Zentralität geben, allerdings wird diese Zentralität nicht                 Quartierzentren mit vielfältigen Erdgeschossnutzungen
notwendigerweise mit den tradierten Stadtzentren                           gegenwärtig ein zentrales strategisches Ziel dar. Sie
(„central business districts“) zusammenfallen, sondern                     beruhen auf dem Ideal einer polyzentralen Stadt-
es können sich auch neue Zentralitätsformen heraus-                        struktur und nehmen Bezug auf Konzepte wie das der
bilden.» (EBD. 19)                                                         Stadt der kurzen Wege oder der 15-Minuten-Stadt (vgl.
                                                                           Glossar).

                                                                           Städtebaulich-räumliche Bedeutung
2.2 Funktionen &
                                                                           Kompakte Stadtstrukturen, Nutzungsvielfalt und
Bedeutungen                                                                Zentren als ökonomische, soziale, kulturelle und
                                                                           politische Knotenpunkte sind Wesensmerkmale der
Nachfolgend wird genauer betrachtet, welche städte-                        europäischen Stadt. Die bürgerliche Gesellschaft, auf
baulichen, wirtschaftlichen und sozialräumlichen                           der die europäische Stadt beruht und die sie geformt
Funktionen und Bedeutungen Zentrumsgebiete mit                             hat, tendiert zu einer Polarisierung des gesell-

Abb. 10: Ausschnitt aus dem Nolli-Plan von Rom   Abb. 11: Nolli-Plan angewandt auf den Strip von   Abb. 12: Axonometrische Darstellung des
                                                 Las Vegas aus «Learning from Las Vegas»           Ateliers Bow Wow

Quelle: nolli-app.ch                             Quelle: VENTURI ET AL. 1972                       Quelle: a + t architecture publishers

 18
Lena Wolfart

schaftlichen Lebens in eine öffentliche und eine private   werden. Veränderungen in der Bedeutung der vier
Sphäre. Dieses Konzept von Privatheit und Öffen-           Dimensionen von öffentlichem und privatem Raum,
tlichkeit hat sich zur dominanten räumlichen Struktur      materialisieren sich immer auch in der Erdgeschoss-
der europäischen Stadt ausgeformt (SIEBEL 2012:            zone.
201ff.). «Je stärker Polarität und Wechselbeziehungen
zwischen öffentlicher und privater Sphäre, desto           Die Funktion und die Gestaltung des Erdgeschosses als
städtischer ist […] das Leben einer Ansiedlung.», so der   Schwelle zum Aussenraum – beispielsweise in Form
deutsche Soziologe Hans-Paul BAHRDT (1998: 83f.).          von Arkaden, Eingangsbereichen, Treppen oder riesigen
Das Idealbild des öffentlichen Raums entspricht dabei      Schaufensterfronten – prägt die Nutzungen und Quali-
der Agora, die als Markt- und Versammlungsplatz der        täten des öffentlichen Raums entscheidend mit. Die
griechischen Polis der Ort des öffentlichen Lebens und     Vitalität von Aussenräumen und (halb-)öffentlichen
der Raum für gesellschaftliche Aushandlungsprozesse        Erdgeschossnutzungen stehen somit in einem engen
darstellte (WILDNER/BERGER 2018).                          Wechselverhältnis. Die Grenzen und Übergänge
                                                           zwischen Innen- und Aussenräumen können in der
Die Stadtsoziologen Walter Siebel und Jan Wehrheim         Wahrnehmung und Praktiken der Nutzer:innen sehr
beschrieben die idealtypische Differenz zwischen öf-       fliessend sein. Es gab und gibt in der Architektur und
fentlichen und privaten Räumen anhand von vier             Stadtplanung verschiedene Ansätze zur Auseinander-
Dimensionen folgendermaßen:                                setzung mit dieser Schwellenfunktion und Versuche,
  – Juristisch: Je nach Raum gilt privates oder öf-        dieser Wechselbeziehung auf den Grund zu gehen, sie
      fentliches Recht, welches darüber bestimmt,          zu analysieren und darzustellen. Die wohl bekannteste
      welche Räume von wem und wozu genutzt                Referenz dürfte der Nolli-Plan des italienischen Archi-
      werden können.                                       tekten Giovianni Battista Nolli sein. Er zeigt darin die
  – Funktional: Politik und Markt sind die ideal-          Grenzen zwischen öffentlichen und privaten Spähern in
      typischen Funktionen des öffentlichen Raums,         der Stadt Rom im Jahr 1748. In seinem Plan zeichnete
      Produktion und Reproduktion diejenigen des           er sämtliche öffentlich zugänglichen Räume, egal ob
      privaten Raums.                                      Strassen, Plätze oder der Allgemeinheit zugängliche
  – Sozial: Öffentlicher Raum ist der Ort des              Räume wie Kirchen, weiss ein, die privaten Bereiche
      stilisierten Verhaltens und der Anonymität,          hingegen dunkel schraffiert. Der öffentliche Raum, so
      privater Raum derjenige der Intimität und            wird dem Betrachtenden deutlich, hält das Gewebe der
      Emotionalität.                                       Stadt zusammen, die einzelnen Gebäude sind darin
  – Materiell-symbolisch: Städtebauliche und               eingebettet (BATES 2014: 178). Aufgegriffen und neu
      architektonische Elemente, Gestaltung und            interpretiert wurde der Nolli-Plan in den 1970er-
      Symbole signalisieren Zugänglichkeit sowie           Jahren in der urbanistischen Untersuchung Learning
      Exklusivität von Räumen und verdeutlichen die        from Las Vegas (VENTURI ET AL. 1972). Darin unter-
     Ausprägungen der drei anderen Dimensionen.            suchten Denise Scott Brown, Robert Venturi und Steven
      (SIEBEL/WEHRHEIM 4f.)                                Izenour nach dem Prinzip Nollis die Grenzen von öf-
In den vergangenen Jahren hat sich das Verhältnis und      fentlicher und privater Nutzung entlang des Strips von
die Ausprägung dieser Dimensionen stark verändert,         Las Vegas. Zeitgenössische Darstellungsversuche der
beispielsweise durch eine zunehmende Privatisierung        Beziehung öffentlicher und privater Sphären in Städten,
und Schaffung von Konsumwelten, die als öffentliche        stammen etwa vom japanischen Architekturbüro Bow-
Räume inszeniert werden (etwa in Shopping-Malls),          Wow. Mit ihren axometrischen, wimmelbildartigen
oder durch die zunehmende Verlagerung des polit-           Visualisierungen werfen sie einen ethnographischen
ischen Geschehens in Verbände, Parteiorganisationen        Blick auf die Beziehung zwischen Architektur und
und (soziale) Medien (WILDNER/BERGER 2018). Dem            Gesellschaft (WÜSTENROT STIFTUNG 2014: 6).
Erdgeschoss kommt in diesem Gefüge eine besondere
Rolle zu. Indem es den Übergang vom Gebäude zur            In Gebieten mit Zentrumsfunktionen kommt die
Stadt bildet, kann es als eine Art Verhandlungsraum        Bedeutung der öffentlichen Sphäre stärker zum Tragen
zwischen privaten und öffentlichen Sphären verstanden      als etwa in reinen Gewerbe- oder Wohngegenden. Die

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