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INHALT Zusammen leben, zusammen wachsen GEMEINSAMES WORT DER KIRCHEN Die Vielfaltsgesellschaft gestalten und verteidigen 4 Gemeinsames Wort der Kirchen zur Interkulturellen Woche 2021 – 9 Der Elefant im Raum | Wir alle haben Vorurteile, #offengeht was sie aber nicht besser macht – Selbsterkenntnis ist hier der erste Weg zur Besserung | Beate Küpper THEMEN UND PERSPEKTIVEN 13 Alles Einzelfälle? | Angesichts von Rassismusvorwürfen DER VIELFALTSGESELLSCHAFT und rechtsextremen Umtrieben schwindet das Ver trauen in die Polizei – Das Gegenmittel: Mehr Kontakte 6 #offengeht – für eine gerechte und solidarische Welt und Gespräche | Canan Topçu Dr. Beate Sträter und Friederike Ekol 16 »Der deutsche Kolonialismus wird kleingeredet« Jeff Kwasi Klein spricht über Anti-Schwarzen Rassismus und die Privilegien weißer Menschen | Jutta Weduwen 18 »Dieses Land ist zu schön, um es Menschen zu überlassen, die nur hetzen und hassen wollen« Karamba Diaby über das Demokratiefördergesetz, mehr Vielfalt in den Parteien und den Anschlag auf sein Wahlkreisbüro | Steffen Blatt 21 Ein Meilenstein auf dem Weg zur Einwanderungs republik | Die Ergebnisse des Kabinettsausschusses zur Bekämpfung von Rechtsextremismus und Rassismus – Eine Einschätzung | Johannes Brandstäter 9 Der Elefant im Raum 18 Karamba Diaby über das Demoktatiefördergesetz 22 Europa treibt den Ausstieg aus dem Flüchtlingsschutz voran Foto: shutterstock/asiandelight © Ute Langkafel MAIFOTO © IMAGO/Pixsell Interkulturelle Woche 2021
Inhalt 3 Menschenrechte für Geflüchtete?! ANREGUNGEN FÜR GOTTESDIENSTE 22 Europa treibt den Ausstieg aus dem Flüchtlingsschutz 38 Offene Augen, offene Herzen | Gedanken zum Motto voran | 70 Jahre Genfer Flüchtlingskonvention | und Symbol der Interkulturellen Woche | Christoph Stiba Günter Burkhardt 39 Vielstimmigkeit und Vielfalt sind keine Strafe … 26 Ein Schiff von uns, von euch, von allen … sondern Gottes Plan für seine Welt und seine United4Rescue: Wie wir gemeinsam ein Schiff ins Menschen – Predigtmeditation über Gen 11, 1 - 9 | Mittelmeer schickten | Ansgar Gilster Kathrin Oxen 29 Kommunale Aufnahmebereitschaft von 42 Liturgische Texte Geflüchteten | Deutscher Städtetag Ankommen und bleiben IKW VOR ORT 30 Mein Vater und der rote Traktor | Ab 1961 kamen 44 »Wir wollten die Pandemie als Chance begreifen« systematisch Gastarbeiter*innen aus der Türkei nach Im Hochtaunuskreis fand die Interkulturelle Woche 2020 Deutschland – ihre Geschichten und die ihrer Kinder weitgehend digital statt | Steffen Blatt kommen in der Deutschen Erinnerungskultur bisher kaum vor | Dr. Çiçek Bacık Good Practice 33 Neustart in Zeiten der Pandemie | Das große Engage- 46 Ein Festjahr will jüdisches Leben sichtbar machen ment der Ehrenamtlichen im Projekt »Neustart im Seit mindestens 1700 Jahren leben Jüdinnen und Juden Team« (NesT) schenkt Hoffnung in Zeiten von Corona | auf dem Gebiet des heutigen Deutschland | Katharina Mayr Sylvia Löhrmann 36 Menschenwürde mit Rabatt: Arbeiten im Versand 48 Good Practice | Weitere Ideen und Anregungen handel | Amazon & Co machen in der Corona-Krise für die Interkulturelle Woche gute Geschäfte – Den Beschäftigten kommt das jedoch nicht zugute | Daniel Weber ANHANG 51 Was, Wann, Wo – Termine 52 Impressum 30 Mein Vater und der rote Traktor 39 Vielstimmigkeit und Vielfalt sind keine Strafe 46 Ein Festjahr will jüdisches Leben sichtbar machen Foto: Imago Images/Klaus Rose © Morgenstern & Kaes, Ludwigsburg © 1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland e.V. Interkulturelle Woche 2021
GEMEINSAMES WORT DER KIRCHEN ZUR INTERKULTURELLEN WOCHE 2021 BEGEGNUNG – TEILHABE – INTEGRATION #OFFENGEHT D ie Corona-Pandemie bestimmt Flüchtlingsschutzes gehört das Verbot, Doch auch jenseits der Pandemie beste- weiterhin das Leben von Men- einen Flüchtling in ein Land zurückzu- hen in der Flüchtlingspolitik große Her- schen auf der ganzen Welt. weisen, in dem er Verfolgung fürchten ausforderungen. Die Außengrenzen der Auch in Deutschland sind die Aus muss. Die Konvention bildet das Funda- Europäischen Union sind heute viel- wirkungen deutlich spürbar. Der Ver- ment des internationalen Flüchtlings- fach Orte der Verzweiflung und Schutz- zicht auf Begegnungen und Nähe ist rechts, ergänzt um wichtige Regelungen losigkeit. Zwei abgebrannte Lager sind inzwischen zu einer großen Belastung auf nationaler und europäischer Ebene. zum traurigen Sinnbild für die Krise der geworden. Nicht wenige fürchten Der Grundsatz, Schutzsuchenden die europäischen Flüchtlingspolitik gewor- um ihre wirtschaftliche Existenz und Aufnahme an einem sicheren Ort zu ge- den: Moria auf der griechischen Insel blicken sorgenvoll in die Zukunft. Die währen, muss auch heute wirksam um- Lesbos und Lipa im Nordwesten Bosni- jenigen, die schon zuvor von Ausgren- gesetzt und angesichts aktueller Heraus- ens. Auf Lesbos – und auch auf anderen zung und Armut betroffen waren, leiden forderungen weiterentwickelt werden. ägäischen Inseln – harren nach wie vor unter der Situation in besonderer Weise. Tausende von Flüchtlingen unter men- Und wie so oft in Krisenzeiten gibt es Schutzsuchende Menschen trifft die schenunwürdigen Bedingungen aus. auch heute Strömungen, die Zweifel an Pandemie derzeit mit voller Härte. Und im bosnisch-kroatischen Grenz unserer offenen, demokratischen Ge Sichere Zugangswege und andere Mög- gebiet kampieren Schutzsuchende in sellschaft säen und menschenfeindliche lichkeiten, nach Europa zu gelangen, Bauruinen oder im Wald. Ebenso bleibt Ressentiments zu wecken versuchen. sind stark eingeschränkt – zugleich ist auch die Situation im Mittelmeer ein Doch unsere Gesellschaft zeichnet sich die Lage in den Erstaufnahmestaaten ungelöstes Problem. An einer effektiven durch ein hohes Maß an Solidarität und erheblich schwieriger geworden. Auch staatlichen Seenotrettung mangelt es; Hilfsbereitschaft aus. Das macht uns in Deutschland lebende Geflüchtete gleichzeitig werden die lebensrettenden dankbar und zuversichtlich. leiden unter den Auswirkungen der Einsätze ziviler Initiativen behindert. Pandemie. In Sammelunterkünften sind Boote mit Schutzsuchenden werden Das »Abkommen über die Rechtsstel- sie einem erhöhten Infektionsrisiko aus- durch die Küstenwache von EU-Staaten lung der Flüchtlinge« – besser bekannt gesetzt. Es ist für sie wesentlich schwieri- oder auch durch die europäische Grenz- als »Genfer Flüchtlingskonvention« – ger geworden, Deutsch zu lernen, auf schutzagentur abgewiesen. Wer aber wird dieses Jahr 70 Jahre alt. War sie zu- dem Arbeitsmarkt Fuß zu fassen und Menschen nach Libyen zurückdrängt, nächst darauf ausgerichtet, europäische gesellschaftliche Teilhabe zu erlangen. liefert sie schwersten Menschenrechts- Flüchtlinge nach dem Zweiten Welt- Die Bildungschancen geflüchteter Kin- verletzungen aus und bricht das Völker- krieg zu schützen, wurde der Wirkungs- der sind massiv beeinträchtigt. Notwen- recht. bereich der Konvention 1967 zeitlich dige Beratungsangebote können nicht und geografisch erweitert. Seitdem gilt: in gewohnter Weise stattfinden. Die Als Christinnen und Christen sind wir Jede Person, die wegen ihrer Herkunft, Reisebeschränkungen haben zur Folge, überzeugt: Alle Menschen sind nach Religion, politischen Überzeugung dass Familienzusammenführungen dem Ebenbild Gottes geschaffen und oder Zugehörigkeit zu einer bestimm- kaum noch durchgeführt werden. haben somit eine unauslöschliche Wür- ten sozialen Gruppe verfolgt wird, hat de. Bei allem Leid, das Menschen ein- Anspruch auf Schutz. Zum Kern des ander antun: Gottes Liebe hat das letzte Interkulturelle Woche 2021
Gemeinsames Wort der Kirchen zur Interkulturellen Woche 2021 5 Wort. Diese christliche Hoffnung drängt rischen, wohlhabenden, weltoffenen machen. Wer Ressentiments schürt und uns dazu, bereits hier und jetzt den Ent- und ideenreichen Land leben. Unsere die einen gegen die anderen ausspielt, rechteten zu ihrem Recht zu verhelfen Gesellschaft wird sich auch in Zukunft hat die christliche Botschaft nicht ver- und den Schutzsuchenden Schutz zu weiter verändern. Um den Zusammen- standen. Der Platz von Christinnen und gewähren. Europa wird getragen durch halt in einer vielfältigen Gesellschaft Christen ist an der Seite all jener Men- eine breite gesellschaftliche Akzeptanz zu sichern, braucht es Orte, an denen schen, die Opfer von Hass und Gewalt von Menschenwürde, Menschenrechten Begegnung stattfindet und Vertrauen werden. Die Kirchen in Deutschland und Rechtsstaatlichkeit. Die Geltung wachsen kann. treten deshalb jeder Form der gruppen- dieser Normen zeigt sich gerade im bezogenen Menschenfeindlichkeit mit Umgang mit Schutzbedürftigen. Es Der Interkulturellen Woche gelingt es Entschiedenheit entgegen. Wir setzen kommt darauf an, die Würde und die seit Jahrzehnten, genau solche Orte zu auf Solidarität und Nächstenliebe! Rechte von Geflüchteten an Europas schaffen – unter Pandemie-Bedingungen Außengrenzen zu schützen und zu ver- auch im virtuellen Raum. Gemeinsam Gerade im Jahr der Bundestagswahl teidigen. mit einer Vielzahl zivilgesellschaftlicher rufen wir alle Menschen in unserem Organisationen wirken die Kirchen dar- Land dazu auf, sich aktiv für ein fried Die Interkulturelle Woche findet in die- an mit, Verständigung zu ermöglichen, liches und vielfältiges Miteinander zu sem Jahr unter dem Motto #offengeht Vorurteile abzubauen und die offene engagieren. Dabei kann und darf es statt. Dabei meint Offenheit nicht Belie- Gesellschaft zu schützen. Gefordert ist auch zwischen Christinnen und Chris- bigkeit. Vielmehr geht es um ein klares die grundlegende Bereitschaft, den je- ten politischen Streit geben. Nicht ver- Plädoyer für eine offene Gesellschaft, weils anderen anzuerkennen, auch und handelbar sind jedoch die grundlegen- in der die universalen Menschenrechte gerade dann, wenn die Meinungen den Werte unseres Grundgesetzes: die geachtet werden. Und es geht um ein auseinandergehen. Dabei geht es nicht Wahrung der Würde eines jeden Men- breites zivilgesellschaftliches Engage- darum, Konflikten aus dem Weg zu ge- schen, das Recht auf freie Entfaltung ment für ein gutes Zusammenleben in hen, sondern sie auf respektvolle Weise der Persönlichkeit, auf körperliche Vielfalt. #offengeht – das steht auch auszutragen und zu lösen. Konfliktfähig- Unversehrtheit und auf soziale Teilhabe, für die Kreativität und Stärke unserer keit und Vertrauen gehören zusammen. die Gleichberechtigung von Mann und von Migration geprägten Gesellschaft. Frau, die Glaubens- und Gewissens Offenheit im Herzen wie im Geist – Als Christinnen und Christen verschie- freiheit, die Meinungsfreiheit, das Recht verbunden mit den entsprechenden dener Konfessionen bezeugen wir ge- auf Asyl und der Schutz von Familien – Rahmenbedingungen – hat dazu ge- meinsam: »Gott hat uns nicht einen auch von Flüchtlingsfamilien. führt, dass Deutschland zahlreichen Ein- Geist der Verzagtheit gegeben, sondern gewanderten und ihren Nachkommen den Geist der Kraft, der Liebe und der #offengeht: Die Interkulturelle Woche zur Heimat werden konnte. Sie haben Besonnenheit.« (2 Timotheus 1,7) Die- mit ihren zahlreichen Veranstaltungen Arbeit und Wohnung gefunden, erfolg- ser biblische Satz ermutigt uns, gesell- in über 500 Städten und Gemeinden reich Bildungsabschlüsse absolviert und schaftliche Entwicklungen mit einer ist ein lebendiges Zeichen dafür, dass gestalten die Gesellschaft ganz selbst Haltung der Zuversicht und Wertschät- wir auf einem guten Weg zu einer Ge- verständlich mit. zung zu gestalten. Nicht an Ausgren- sellschaft des stärkeren Miteinanders zung und Abschottung, Abwertung und sind. Wir danken allen, die sich vor Ort Deutschland ist ein Einwanderungsland. Arroganz soll man uns erkennen. Statt- für die Anliegen der Interkulturellen Migrantinnen und Migranten haben dessen sind Christinnen und Christen Woche einsetzen und wünschen ihnen dieses Land mit aufgebaut und geprägt. dazu berufen, sich gemeinsam mit vie- gute Erfahrungen und Gottes reichen Es ist auch ihrem Beitrag zu verdanken, len Menschen guten Willens »auf den Segen. dass wir alle zusammen in einem solida- Weg zu einem immer größeren Wir« zu Bischof Dr. Georg Bätzing Prof. Dr. Heinrich Bedford-Strohm Metropolit Dr. h.c. Augoustinos Vorsitzender der Deutschen Vorsitzender des Rates der Evangelischen von Deutschland Bischofskonferenz Kirche in Deutschland Vorsitzender der Orthodoxen Bischofs- konferenz in Deutschland 1 Interkulturelle Woche 2021
THEMEN UND PERSPEKTIVEN DER VIELFALTSGESELLSCHAFT #OFFENGEHT – FÜR EINE GERECHTE UND SOLIDARISCHE WELT Dr. Beate Sträter und Friederike Ekol oder den Konzertsaal gehen können. der Lebensgrundlage vieler Menschen Materielle Sicherheit, medizinische Ver- löst weitere Konflikte aus und zwingt E in Virus kennt keine Grenzen, sorgung, die Hoffnung auf Schutz vor Menschen in die Flucht. lässt sich weder von Mauern, der Infektion – wenn das schon bei uns noch Meeren, noch bewaffneten nicht für alle gilt, so werden die Unge Die Fakten liegen auf dem Tisch. Doch Grenzschützern beeindrucken. Auf rechtigkeiten im Weltmaßstab um ein die Politik bleibt gefangen in alten drastische Weise lernen wir durch die Vielfaches drastischer sichtbar. Men- Denk- und Reaktionsmustern. Die Ein- Corona-Pandemie, was viele bis heute schen, die im Krieg, in Armut, ohne sicht, dass ein tiefgreifender Wandel nicht wahrhaben wollen: Alles hängt Zukunftsperspektive leben müssen, sind längst überfällig ist, sofort und um mit allem zusammen, wir sind die eine auch der Pandemie schutzlos ausgelie- fassend auf den Weg gebracht werden Welt, die eine Menschheit. Wir lernen fert. Doch es sind keine Naturgesetze, muss, hat zu weltweiten Protestbewe- jedoch auch: Wir sind in ganz unter- die zu diesen Ungerechtigkeiten führen, gungen geführt. Die junge Generation schiedlicher Weise von den Folgen der sondern das Unrecht ist von Menschen steht auf, weil ihre Zukunft auf dem Pandemie betroffen. gemacht und kann auch von Menschen Spiel steht. Sie setzt damit ein Zeichen geändert werden. In unseren reichen Ländern brechen Gräben auf zwischen denen, die mate #OFFENGEHT – »Was bei uns ›nur‹ riell abgesichert und sozial eingebun- FÜR EINE UMFASSENDE den sind und denen, die vorher schon TRANSFORMATION VON POLITIK eine Infragestellung unter schwierigen materiellen und sozi- UND WIRTSCHAFT alen Verhältnissen lebten. Schreiende unseres Lebensstils Ungerechtigkeiten und Ausgrenzung Die katastrophalen Folgen der globalen bedeutet, ist für werden nicht nur sichtbarer, sondern Klimakrise sind mittlerweile auch bei verschärfen sich noch. Viele Menschen, uns nicht mehr zu verleugnen. Trotz- Menschen in anderen die in systemrelevanten, aber niedrig dem leben viele so weiter, als würde es Teilen der Welt be- entlohnten Tätigkeiten die Versorgung kein Morgen geben. Was bei uns »nur« aufrechterhalten, sind dem Virus weit- eine Infragestellung unseres Lebensstils reits jetzt eine akute gehend schutzlos ausgeliefert. Wer ein bedeutet, ist für Menschen in anderen geringes Einkommen hat und in beeng- Teilen der Welt bereits jetzt eine akute Überlebensfrage.« ten Wohnverhältnissen lebt, vielleicht Überlebensfrage. Der Raubbau an der sogar in Gemeinschaftsunterkünften Natur und die Zerstörung von Öko Schutzsuchender, hat es viel schwerer systemen macht weitere Pandemien im- als diejenigen, die nicht ins Theater mer wahrscheinlicher. Die Vernichtung Interkulturelle Woche 2021
#offengeht | Themen und Perspektiven der Vielfaltsgesellschaft 7 der Hoffnung, doch sie allein wird es genommen, befeuert von den Ereignis- Seit langem ist Diversität eine Tatsache. nicht schaffen. Wir alle müssen unsere sen in den USA und der Black-Lives- Das Versprechen unserer Demokratie, Kraft dafür einsetzen, dass die Politik Matter-Bewegung. Auch bei uns stehen dass alle die gleichen Rechte haben und sich endlich bewegt. Nur wenn der Menschen auf und melden sich zu Wort, gleichberechtigt, sicher und ohne Angst Druck aus der Gesellschaft weiter er- die bisher wenig Gehör fanden. Auch leben können, muss nicht nur geschützt, höht wird, wenn in unseren Städten und hier sind es viele junge Menschen, die sondern noch eingelöst werden. Kommunen Fakten geschaffen werden, sich dem Protest anschließen, sich prak- die sichtbare Veränderungen einleiten, tisch und theoretisch mit Rassismus #OFFENGEHT – wenn wir unsere Lebens- und Konsum- auseinandersetzen. Der Blick wird ge- FÜR MENSCHRECHTE IN DER gewohnheiten ändern, kann die Trans- schärft für sozial ungerechte Strukturen, FLÜCHTLINGSPOLITIK formation gelingen. Hier und anderswo Diskriminierung und gruppenbezogene auf der Welt. Menschenfeindlichkeit. Erst vor wenigen Jahren hat die Euro- päische Union den Friedensnobel- #OFFENGEHT – Doch wir erleben auch, wie nationalisti- preis erhalten. Sie wurde damit für FÜR EINE GESELLSCHAFT sche, völkische, rassistische und auch ihren Beitrag zur Förderung von Frie- DER VIELFALT antisemitische Einstellungen nicht nur den und Versöhnung, Demokratie und in weiten Kreisen unsere Gesellschaft Menschenrechten in Europa gewürdigt. Das Bewusstsein dafür, dass rassistische salonfähig geworden sind, sondern Heute aber umgibt sie sich mit neuen Diskriminierung eine Tatsache ist, die auch durch demokratiefeindliche Par- Mauern und Zäunen und richtet Lager uns begleitet, ist größer geworden. Die teien in unseren Parlamenten Einzug an ihren Außengrenzen ein. Mit jedem Diskussion um Alltagsrassismus und gehalten haben. Menschen, der im Mittelmeer ertrinkt strukturellen Rassismus hat Fahrt auf oder unter menschenunwürdigen Be- © Morgenstern & Kaes, Ludwigsburg Interkulturelle Woche 2021
8 #offengeht | Themen und Perspektiven der Vielfaltsgesellschaft dingungen in den Lagern in Griechen- »Allein menschen #OFFENGEHT – land oder an den europäischen Außen- FÜR EINE STARKE ZIVILGESELL grenzen festgehalten wird, mit jedem rechtliche Standards SCHAFT und jeder Geflüchteten, die gezwungen ist, von ihrer Familie getrennt zu sein, können der Maß- Die Politik wird es nicht von alleine stirbt ein Stück der Werte, auf die sich stab des politischen richten: Das beständige Engagement Europa gründet. Nicht länger dürfen der Zivilgesellschaft ist unabdingbar, nationale Eigeninteressen und eine Handels sein, um damit längst überfällige Änderungen gesamteuropäische Abschottungspoli- tik die europäische Flüchtlings- und dem Sterben und der nationalen und europäischen Politik erreicht werden. Wir begegnen diesem Asylpolitik bestimmen. Allein men- dem Elend ein Ende Engagement in unseren Kirchen, in schenrechtliche Standards können der Verbänden, bei der Arbeit, in der Nach- Maßstab des politischen Handels sein, zu setzen.« barschaft. Mehr als 140 Städte haben um dem Sterben und dem Elend ein als »Sichere Häfen« ihre Bereitschaft Ende zu setzen. Geht es so weiter wie zur Aufnahme von Flüchtlingen erklärt. bisher, zerstören wir für uns alle die Damit zeigen sie sich solidarisch und Grundlagen eines demokratischen, an Geflüchteten, die Schutz suchen, der bieten Zuflucht. Dass sich unzählige Menschrechten und Menschenwürde schnelle Zugang zu Arbeit verwehrt. Menschen in unserem Land, mitunter orientierten Zusammenlebens. Vielfach ist die Gesellschaft hier weiter trotz Anfeindungen und Bedrohungen, als die Politik, ist die Bereitschaft groß, nicht beirren lassen, demokratische #OFFENGEHT – Menschen, die erfolgreich einen Weg Werte zu verteidigen und sich genera FÜR EINE SICHERE ZUKUNFT in unsere Gesellschaft gefunden haben, tionenübergreifend für Mitmenschlich- IN WÜRDE eine sichere Perspektive zu eröffnen. keit einzusetzen – das zeigt, wie stark unsere Gesellschaft ist. Arbeit gehört untrennbar zu einem Die Familie genießt besonderen Schutz Leben in Würde dazu. Arbeit gibt es – da sind sich Staat und Kirche einig. Doch es geht hierbei nicht allein um mehr als genug in unserem Land. Wer die Perspektive derjenigen auch politische Ziele. Neue Formen des Zu- Trotz wirtschaftlicher Notwendigkeit, nur für einen Moment einnimmt, die sammenlebens werden erprobt und entgegen jeder Einsicht und unter Miss zum Teil über Monate und Jahre ge- erlebt, eine Gesellschaft der Vielfalt achtung humanitärer Maßstäbe wird trennt von ihren Liebsten leben müssen, wird gestaltet und damit Wirklichkeit. dem erschließt sich das damit verbun- Hier entsteht Hoffnung auf eine lebbare dene Leiden. Die Hürde auf dem Weg und lebenswerte gemeinsame Zukunft. des Ankommens ist für viele Betroffe- Die Interkulturelle Woche bietet den Dr. Beate Sträter ist stellvertretende Vorsit ne immens hoch. Die Möglichkeit für Raum, mit Menschen ins Gespräch zu zende des Ökumenischen Vorbereitungsaus Familienangehörige, in den Herkunfts- kommen, deren Stimme sonst nicht schusses zur Interkulturellen Woche. Sie ist ländern Anträge zu stellen, muss fak- zu hören ist und auch, diese Menschen Vorsitzende der Fachgruppe tisch gegeben sein – ein Staat, der sich in Kontakt mit politisch Verantwortli- Christen-Muslime in der Evan der Verantwortung hier entzieht, produ- chen zu bringen, um wichtige Themen gelischen Kirche im Rheinland ziert völlig unnötiges Leid. Die gesell- mit ihnen zu besprechen. Begegnung und Schulreferentin in Bonn. schaftlichen Folgewirkungen von ver- ermöglicht Empathie und gegenseitiges Foto: ÖVA/Nils Bornemann weigerter Teilhabe und Integration sind Verständnis. Die Interkulturelle Woche eine schwere Belastung für eine ganze wird in diesem Jahr offiziell am Tag der Kontakt: b.straeter@schulreferatbonn.de Generation von Geflüchteten und auch Bundestagswahl eröffnet – nutzen Sie für die Aufnahmegesellschaft. sie, um Ihre Themen vor Ort sichtbar, Friederike Ekol ist Politologin und Geschäfts hörbar und erlebbar zu machen! führerin des Ökumenischen Vorbereitungs ausschusses zur Interkulturel #offengeht – für viele gute Ideen, die len Woche. in der Interkulturellen Woche Gestalt Foto: ÖVA/Nils Bornemann finden! v Kontakt: info@interkulturellewoche.de Interkulturelle Woche 2021
DIE VIELFALTSGESELLSCHAFT Zusammen GESTALTEN | Integration 9 9 UND VERTEIDIGEN leben, zusammen wachsen. DER ELEFANT IM RAUM Die Tür der Synagoge in Halle mit Einschusslöchern. Hier versuchte der Attentäter Wir alle haben Vorurteile, was sie aber nicht besser macht – vergeblich, einzudringen. Selbsterkenntnis Foto: imago / Steffen Schellhorn ist hier der erste Weg zur Besserung Beate Küpper DER SPIEGEL den fast schon in Ver- gessenheit geratenen uralten Mythos »Krisen eignen sich Z u Beginn der Corona-Pandemie der »gelben Gefahr« wieder auf. besonders dazu, traf es Menschen mit asiatischem Aussehen (»Das Virus aus dem Alsbald wurden auch die üblichen Verschwörungsmythen fernen Osten«). Menschen wechselten Verdächtigen ausgemacht – Fremde, und Vorurteile anzu die Straßenseite, sie wurden beschimpft, die das Virus einschleppen, migranti- mancherorts gar aus dem Bus geworfen. sche Großfamilien, die kollektiv feiern, feuern.« Mit dem Titel »Made in China« vor Roma, die sich grundsätzlich nicht gelbem Hintergrund wärmte an die Regeln halten, und schließlich die Juden, aus deren Laboren in Israel das Virus stammt, um die Menschheit So abstrus dies alles klingt, so bekannt auszurotten oder und weit verbreitet sind diese Bilder zu unterwerfen. und Gerüchte leider auch, welche die Sozialpsychologie unter dem Begriff der Vorurteile fasst. Krisen eignen sich besonders dazu, Verschwörungsmythen und Vorurteile anzufeuern, bringen sie doch Unsicherheiten und Bedrohungen mit sich, die nur allzu gern verkürzt erklärt und einfachen Sündenböcken zugeschrieben werden – weil es sich leichter in Personen als in komplexen oder gar zufälligen Situationen denken lässt. Die Sozialpsychologie versteht Vorur- teile als pauschalisierende Einstellungen gegenüber sozialen Gruppen bzw. Per- sonen, die diesen Gruppen zugewiesen werden. Die Zuweisung zu einer sozia- len Gruppe erfolgt über (zugeschrie bene) Merkmale, egal, ob eine Person dieses Merkmal tatsächlich hat oder sich mit einer Gruppe selbst identifiziert (zum Beispiel als Muslim, Frau oder Person mit einer Behinderung). Im Prinzip funktioniert dies mit allen Grup- penzuweisungen auf ähnliche Weise, er- leichtern sie doch zunächst rein kognitiv die Verarbeitung von Information. Foto: shutterstock/asiandelight Interkulturelle Woche 2021
10 #offengeht | Die Vielfaltsgesellschaft gestalten und verteidigen Behauptung großer Unterschiede, die unüberbrückbar erscheinen (»die haben ja ganz andere Werte als wir«). Vorurteile sind nicht einfach »nur« vorschnelle Urteile, bevor mehr Fakten EIN VORURTEIL KOMMT SELTEN zur Verfügung stehen. Im Gegenteil, sie ALLEIN sind weitgehend resistent gegen Fakten. »WIR« UND »DIE« Sie knüpfen an alte Ressentiments an, Ein Vorurteil kommt dabei selten die tief in einer Kultur über die jeweils allein. Studien belegen immer wieder Stets geht es um Kategorisierung in »anderen« verankert sind und in den die enge Verknüpfung der Abwertung »wir« und »die«, an die Zuweisung von Köpfen, Erzählungen schlummern – der einen sozialen Gruppe mit der Eigenschaften und schließlich um die man weiß halt einfach, wie »die so sind«. Abwertung anderer, von ethnischem Bewertung – üblicherweise sind dabei In leicht modernisierter Variante wer- Rassismus, Antisemitismus, Antiziganis- »wir« besser als die anderen. Sie dienen den sie weitertransportiert, und auch mus und Fremdenfeindlichkeit, die damit zugleich der Selbstbestätigung auf den ersten Blick scheinbar positive Hand in Hand gehen, oft verbunden und Selbstaufwertung. Vorurteile treffen Zuschreibungen gehören dazu (Süd auch mit Sexismus, Homophobie und all jene im Besonderen, die als irgend- länder sind ja so kinderlieb, Frauen so weiteren Abwertungsphänomenen, wie »fremd«, »anders«, »unnormal« und hilfsbereit und emotional, ältere weiße wie umgekehrt auch mit der Forderung »ungleich« gelten, jeweils aus der Sicht Männer führungsstark). Sie bieten eine nach Vorrechten für die Etablierten. derjenigen, die das Sagen haben. Über Rechtfertigung für die Ungleichbehand- Belegt ist auch der enge Zusammen- Zeiten und Kulturen hinweg waren lung ganzer sozialer Gruppen oder von hang mit Verschwörungsmythen aller das doch immer die gleichen oder zu- Personen, die diesen Gruppen zugewie- Art, teilen sie doch den Wunsch nach mindest ähnliche Gruppen: von außen sen werden – sowohl für Besserbehand- vereinfachtem Verstehen, Bindung an kommende Eingewanderte, ethnische, lung als auch von Benachteiligung. und Zugehörigkeit zur eigenen Gruppe, kulturelle und religiöse Minderheiten, Kontrolle, Überlegenheit und Recht Frauen, sozial schwache, alte, kranke Letztlich dienen sie dem Erhalt sozialer fertigung (zum Beispiel dafür, keine und behinderte Personen, oft auch Hierarchien. Denn sie alle beinhalten Rücksicht auf andere zu nehmen). LSBTQ*-Personen. kleine Erzählungen, warum es schon ganz richtig ist, dass die einen weiter In der sozialpsychologischen Konzep Vorurteile haben eine kognitive Dimen- oben, die anderen weiter unten auf der tion sind Vorurteile keine Lappalie, sion, zum Beispiel sind das klassische sozialen Leiter stehen und darüber vielmehr bieten sie eine Grundlage für Stereotype über ganze Gruppen im verfügen dürfen, was als »normal und Ungleichbehandlung bis hin zu Gewalt. Sinne von »das ist typisch für …«, also richtig« gilt, während die jeweils ande- Gordon Allport beschreibt Vorurteile Zuschreibungen von vermeintlichen ren kämpfen müssen und letztlich nie bereits 1954 in seinem Buch »Die Natur Eigenschaften, die auf alle Personen so ganz dazugehören. des Vorurteils« als Teil einer Eskalati- dieser Gruppe übertragen werden. Sie onsspirale: Es beginnt bei scheinbar werden begleitet von Emotionen wie harmlosen, vielleicht sogar spaßigen Angst, Ärger, Wut, Neid oder auch Bemerkungen, geht über Beschimpfun- Bewunderung und legen ein jeweiliges »Vorurteile gen über die soziale Distanz – dem Ab- Verhalten nahe, etwa Abstand halten, rücken und Fernhalten von Personen Ausgrenzung oder Angriff. Vorurteile sind weitgehend als Nachbarn, Freunde oder gar Partner können bewusst oder unbewusst sein, resistent gegen der eigenen Kinder –, Diskriminierung und sie können offen geäußert werden bis hin zum Völkermord. Ergänzen oder subtil. Offene Vorurteile äußern Fakten.« ließe sich vor dem ersten Schritt die sich heiß und direkt, zum Beispiel in Ignoranz gegenüber sozialen Gruppen, klar negativen Zuschreibungen, eine ihrer Bedarfe, Erfahrungen und Sicht- Gruppe X ist dumm, dreckig, krimi- weisen. nell, übergriffig, unzuverlässig oder psychisch instabil (letztlich sind es im- mer die gleichen negativen Zuschrei- bungen). Subtil äußern sich Vorurteile kalt und distanziert, zum Beispiel in der Interkulturelle Woche 2021 © 123rf/julkapulka
Foto: shutterstock/YAKOBCHUK VIACHESLAV #offengeht | Die Vielfaltsgesellschaft gestalten und verteidigen 11 »Ich habe doch keine Vorurteile«, »Rassismus – das gibt es bei uns nicht«, »In einer Atmosphäre, Klima. Denn in einer Atmosphäre, die Vorurteile gegen markierte Grup- »Antisemitismus? Ja, die anderen, die die Vorurteile gegen pen zulässt, kann jeder und jede schnell sind ...«, »homophob? Bei uns gibt es der oder die nächste sein. Zuvorderst ja gar niemanden, der schwul oder markierte Gruppen belasten sie jene, die unmittelbar von die lesbisch ist«, »wir behandeln alle zulässt, kann jeder und ihnen getroffen sind. Vorurteile wider- gleich«. So gängig diese Überzeugun- sprechen nicht nur den demokratischen gen sind, so unwahrscheinlich sind sie. jede schnell der oder Grundwerten, sie sind schlicht zutiefst Vorurteile hat vermutlich jede:r, was die Sache allerdings nicht besser macht. die nächste sein.« hässlich und gemein. Sie vereinfachen die Informationsver FÜNF STUFEN DER ZIVILCOURAGE arbeitung für diejenigen, die sie teilen – man weiß einfach, wie »die« so sind –, Befördert werden Vorurteile von den erschweren aber das Leben jener unge- sozialen Normen und all jenen, die mein, die betroffen sind und dem Vor- sie zulassen, die wegsehen, weghören urteil nicht entrinnen können. Natürlich oder sie für nicht so schlimm erachten. gibt es immer einzelne Beispiele, die Abgebaut werden sie umgekehrt durch ein Vorurteil bestätigen, sie sind aber soziale Normen, die Vorurteile ächten, in all den anderen Einzelfällen schlicht und durch all diejenigen, die sie als ungerecht, vernebeln den Blick und Gefahr für das Miteinander ernst neh- verzerren die Urteilsbildung, führen men. Die »Fünf Stufen der Zivilcourage« unter Umständen zu schlechten Ent- können helfen, Vorurteile zu durchbre- scheidungen, behindern Kooperation, chen; wie gut dies gelingt, hängt immer unterminieren Vertrauen, vergiften das vom Können und Wollen ab: Interkulturelle Woche 2020
12 #offengeht | Die Vielfaltsgesellschaft gestalten und verteidigen Auf der ersten Stufe steht die Wahrneh- mung von Vorurteilen, sie sehen und »Sich selbst- verstehen zu wollen. Dazu empfiehlt es kritisch an sich, zunächst einmal davon auszuge- hen, dass wir alle Vorurteile haben – die eigene Nase übrigens auch, wenn wir selbst von fassen.« © 123rf/julkapulka ihnen betroffen sind. Wir können auch davon ausgehen, dass Vorurteile unser eigenes Handeln sowie das Handeln, das Schimpfen über »die Ausländer« Treffen mit Geflüchteten in einem Haus die Gewohnheiten und Regularien in im Kreis der Kolleg:innen. Es kann sich der Gemeinde kann keine Begegnung Einrichtungen und Institutionen beein- zeigen im demonstrativen Wegdrehen auf gleicher Augenhöhe sein. flussen: Wem wird durch welche impli- oder auch in klaren und deutlichen ziten und expliziten Regelungen das Worten, wenn es um »die Juden und Die schwierigste Aufgabe ist es, sich Leben erleichtert, wem erschwert und Israel« geht. Bei jenen, die Vorurteile ehrlich zu machen über den Elefanten, wie wird dies durch Vorurteile legiti- vielleicht wenig überlegt äußern, kön- der im Raum steht und über den nicht miert? nen diese Worte abholend sein – bei gesprochen wird: Die eigenen Vorteile jenen, die sie offen als Machtmittel und Privilegien, das aus der Vergangen- Auf der zweiten Stufe geht es darum, nutzen, auch durchaus konfrontativ. heit Mitgebrachte und gern Verdrängte, Vorurteile als Problem ernst zu neh- Wichtig sind klare Worte vor allem als das aus der eigenen Weltanschauung men, nicht einfach als ein »sagt man Signal für jene, die als Mithörende da- für wahr Gehaltene, das aus der eigenen halt so, ist nicht so gemeint« abzutun. beistehen. Noch wichtiger für jene, die positiven Selbstsicht Unhinterfragte – Auf der dritten Stufe gilt es, Verantwor- eine solidarische Freundin oder einen inklusive Holocaust und Kolonialismus, tung zu übernehmen, als Person und solidarischen Freund an ihrer Seite der langen Historie von Frauenverach- als Institution. Dazu gehört auch, die gebrauchen können, der oder die sie tung und Verfolgung sexueller Minder- Schuld an den Vorurteilen nicht den nicht entmündigt, sondern stützt. heiten. Kurz: Zuallererst geht es darum, von ihnen Betroffenen zuzuschreiben sich selbstkritisch an die eigene Nase (» … ja, wenn die sich auch besser be- BEGEGNUNG AUF AUGENHÖHE zu fassen und jene zu stärken, deren nehmen würden … «), damit die Opfer Gleichwertigkeit eben nicht selbstver- zu Tätern zu machen und sich selbst zu Begegnung hilft, Vorurteile abzubau- ständlich ist. v entlasten. Auf der vierten Stufe geht es en. Aber Vorsicht, Begegnung auf glei- um die Kenntnis von Handlungsmög- cher Augenhöhe. Dazu gehört, Räume lichkeiten, auf der fünften darum, auch zu schaffen, die allen gleichermaßen Beate Küpper ist Sozialpsychologin und tatsächlich zu handeln. vertraut sind, Settings herzustellen, in hat eine Professur für Soziale denen sich alle gleichermaßen wohl Arbeit in Gruppen und Handeln gegen Vorurteile kann je fühlen, und dies nicht für andere, son- Konfliktsituationen an der nach individuellem Mut und je nach dern miteinander zu gestalten. Dafür Hochschule Niederrhein. Situation beim einfachen Nicht-Mitma- bietet die Interkulturelle Woche eine Foto: HS Niederrhein chen beginnen, dem Nicht-Mitlachen wichtige Plattform. Es gilt aber auch, bei sexistischen oder homophoben ehrlich mit einzubeziehen, wer jenseits Kontakt: Beate.Kuepper@hs-niederrhein.de Witzen, dem Nicht-Miteinsteigen in der Begegnung der Stärkere ist. Ein Weitere Texte zum Thema »Die Vielfaltsgesellschaft gestalten und verteidigen« finden Sie auf unserer Homepage • Wie soll man auf Hate Speech reagieren? – Zwei Ansätze | Liriam Sponholz und Said Rezek • Wir müssen reden! – Interkulturelle Projekte des Polizeipräsidiums Südosthessen | Hüsamettin Eryilmaz • Die steinigen Wege der Migrant*innenorganisationen in Richtung Akzeptanz, Teilhabe und Wertschätzung | Anja Treichel • »Antiziganismus« – (K)ein Thema für die Interkulturelle Woche? | Francesco Arman www.interkulturellewoche.de/themen Interkulturelle Woche 2021
#offengeht | Die Vielfaltsgesellschaft gestalten und verteidigen 13 ALLES EINZELFÄLLE? Angesichts von Rassismusvorwürfen und rechtsextremen Umtrieben schwindet das Vertrauen in die Polizei – Das Gegenmittel: Mehr Kontakte und Gespräche Canan Topçu R echtsextreme Inhalte in Chat- gruppen, von Polizeicomputern Foto: adobestock/Björn Wylezich abgeschickte Drohmails, Racial Profiling und illegitime Gewaltanwen- dung: Die Polizei steht massiv in der Kritik. Berichte über rassistische Vor fälle bei der Polizei, über das Fehlver- halten Einzelner und über Rassismus fördernde Strukturen in Sicherheits behörden häufen sich. Rund um den Jahrestag des Hanauer Attentats äußer- ten Angehörige der Ermordeten, Be- troffene von polizeilichen Maßnahmen Wie ver und Vertreter:innen unterschiedlicher breitet ist Minderheitengruppen Kritik an der Rassismus tat- Polizei. Menschen mit Migrations sächlich in der geschichte und der Selbstbezeichnung Polizei? Muss People of Color (PoC) machen zuneh- anhand der sich mend ihre negativen Erfahrungen häufenden Vorfälle und ihren Vertrauensverlust öffentlich. und nach dem Bekannt- »Deutschland, wir glauben nicht mehr werden von rechtsextremen an dich. Ein Staat, der nicht schützt, Haltungen und Handlungen von eine Polizei, die nicht hilft, eine Gesell- Polizeibeamten davon ausgegangen schaft, die nichts ändert. Hanau hat in werden, dass es keine Einzelfälle sind, vielen Menschen etwas zerstört – ihr sondern dass ein strukturelles Problem Vertrauen«: So titelte beispielsweise Zeit besteht? Konkrete Daten zu Rassismus auf Online im Februar 2021 Erfahrungs bei der Polizei gibt es nicht. Jedoch einzelne berichte von jungen Menschen aus legt eine jüngst veröffentlichte Unter Polizeibeamt:innen Minderheiten-Communities. suchung der Ruhr-Universität Bochum zurückzuführen. Vielmehr müsse von die Vermutung nahe, dass es ein ernst- einem strukturellen Problem ausgegan- zunehmendes Problem ist. Die Benach- gen werden, so der Befund des Krimi- teiligung von People of Color und nologen Tobias Singelnstein. Eingewanderten und ihren Nachkom- men ist laut der Studie nicht allein Interkulturelle Woche 2021
14 #offengeht | Die Vielfaltsgesellschaft gestalten und verteidigen Im Rahmen des Projekts mit dem Titel »Körperverletzung im Amt durch Poli- »Rassismus ist Der Wissenschaftler hat einen Vorschlag dafür, wie Polizisten auf ihren künftigen zistInnen« befragten Singelnstein und kein individuelles Beruf vorbereitet werden könnten: sein Forscherteam mehr als 3000 Perso- Anstatt Polizeianwärter:innen durch nen, die körperliche Gewalt durch die Problem einzelner eine Dienststelle nach der anderen »zu Polizei erfahren haben und diese als Beamt:innen.« schleusen«, sollten in die Ausbildung rechtswidrig einstufen. Die Erfahrungen »mehrmonatige Betriebspraktika in von People of Color und Menschen polizeifremden (sozialen) Einrichtun- mit Migrationsgeschichte unterscheiden Praktiken »in die Kultur der Polizei gen« integriert werden. Auf diese Weise sich deutlich von denen weißer Perso- und in das Selbstbild von Polizisten und erhielten angehende Polizisten Ein nen. So gaben zwei Drittel der befrag- Polizistinnen eingebaut« sind und wel- blicke in Arbeitsbereiche, »die eben- ten PoC an, sich in den mutmaßlichen che Rolle Diskriminierung in diesem falls ein hohes Einfühlungsvermögen Gewaltsituationen von der Polizei dis- Denken spielt. Behrs Analyse: Zum Ab- erfordern«, aber nicht mit der Mög kriminiert gefühlt zu haben. Aus den bau von diskriminierendem Verhalten lichkeit zur machtvollen Intervention Ergebnissen folgert Singelnstein, dass tragen Polizeiausbildung und die Poli- ausgestattet seien. Solange die Berufsan Rassismus kein individuelles Problem zeistrukturen nicht ausreichend bei; die fänger:innen ausschließlich in ein beruf einzelner Beamt:innen ist: »Es hat eben Polizeikultur gehe von »der Fiktion der liches Klima hineinwüchsen, in dem die auch mit den Strukturen der Polizei zu vorurteilsfreien und diskriminierungs- Auffassung dominiere, »dass die Mehr- tun: Mit den Aufgaben der Polizei, der freien Praxis, mithin von einer sauberen heit der Kundschaft Probleme macht, Art und Weise, wie sie diese erledigt, Polizeiarbeit« aus. und nicht Probleme hat«, solange werde was für eine Binnenkultur es gibt und sich an den bestehenden Diskriminie- wie mit Fehlern und Missständen umge- MEHR SELBSTREFLEXION IN rungsdispositionen nichts verändern. gangen wird.« DER AUSBILDUNG In den Aussagen von Behr erkennt UNABHÄNGIGE VERTRAUENS Diskriminierendes Verhalten führen Gökalp T. sich und auch seine Kolleg:in PERSONEN BEI DER POLIZEI Behr und andere Forscher auch darauf nen wieder. Er ist seit knapp 20 Jahren zurück, dass in der Ausbildung Selbst Polizeibeamter und heißt eigentlich an- Ernst genommen werden sollte der reflexion und die Beschäftigung mit ders. Über seine Erfahrungen aus der Wunsch von direkt und indirekt Betrof- gesellschaftlicher Vielfalt zu wenig vor- Zeit als Polizist in Frankfurt möchte er fenen nach unabhängigen Vertrauens- kommen. Die meisten Polizeibeamten aber nur anonym sprechen. Gökalp T. personen innerhalb der Polizeistruktur. hätten außerhalb ihres Berufs gar nicht ist Sohn türkischer Arbeitsmigranten Nach der Studie zum Thema Polizeige- oder nur wenig Kontakt zu »Menschen und hat sich ganz bewusst für diesen walt ist das als Forderung an das Innen- mit bestimmter Zugehörigkeit«, somit Beruf entschieden. Der 45-Jährige ist ministerium herangetragen worden. kein Korrektiv zu den immer nur als gern Polizist und ärgert sich darüber, Denn die Beamt:innen, die Zeug:innen delinquent erlebten Menschen aus die- dass sein ganzer Berufsstand unter Be- von Missständen werden, brauchen ser Gruppe. schuss geraten ist. »Es vergeht ja kaum Rückhalt, um sich vom Corpsgeist frei- ein Tag, an dem wir nicht gebasht wer- machen und gegebenenfalls Anzeige In einer diverser werdenden Gesell- den«, sagt er. erstatten zu können. schaft sei aber für Polizeibeamte eine rassismuskritische und diskriminie- Mit den Ursachen von diskriminieren- rungsbewusste Selbstreflexion unab- den Praktiken bei Polizisten hat sich dingbar, wobei Diskriminierung nicht Canan Topçu ist freie Journalistin, Autorin auch Rafael Behr befasst. Er ist Profes- allein im Kontext ethnischer und kultu- und Referentin. Außerdem ist sie Dozentin sor an der Akademie der Polizei Ham- reller Herkunft, sondern auch auf der an der Hochschule für Polizei und Verwaltung burg, lehrt Kriminologie und Soziologie Ebene sozialer Ungleichheit beachtet in Mühlheim am Main. Sie publiziert vor und forscht unter anderem zu Organi werden müsse. »Obwohl gerade die allem zu den Themen Integra sationstheorie und -kultur der Polizei jüngeren Führungskräfte wissen, wie tion, Migration und Islam und sowie zu den Themen Migration und wichtig hier soziale Handlungskompe- ist Mitglied im Ökumenischen Integration im polizeilichen Kontext. tenz der Polizistinnen und Polizisten Vorbereitungsausschuss zur In dem Aufsatz »Zur Legitimation poli- ist, fehlt es nach wie vor an schlüssigen Interkulturellen Woche. zeilicher Kontrolle – ›Racial-‹‚ ›Social-‹ Konzepten einer evidenzbasierten und Foto: privat und ›Criminal-Profiling‹ im Diskurs« sozialraumbezogenen Aus- und Fort beschreibt Behr, wie diskriminierende bildung der Polizei«, so Behr. Kontakt: c.topcu@schreibenundsprechen.de Interkulturelle Woche 2021
#offengeht | Die Vielfaltsgesellschaft gestalten und verteidigen 15 Foto: IMAGO / Becker&Brede mehrere Täter an den Morden beteiligt Wenn man es immer nur mit Krimi VERUNSICHERUNG UND gewesen seien, die Polizei das aber ver- nellen zu tun habe, die bestimmten MISSTRAUEN heimliche, um diese Täter zu schützen. Ethnien angehörten, so wie etwa im Frankfurter Bahnhofsviertel, dann ver- Die Vorsitzende des Kommunalen Aus- »Es muss mehr direkte Kontakte zur stärkten diese Erfahrungen nun mal länderbeirats in Hanau, Selma Yilmaz- Polizei geben, mehr Gespräche mit die Vorurteile. T. ist der Ansicht, dass Ilkhan, beobachtet, dass die vielen nega Beamten und Aufklärung über die Poli- Polizeibeamte viel mehr als bisher die tiven Medienberichte über die Polizei zeiarbeit«, so Yilmaz-Ilkhan. Gerade Möglichkeit bekommen sollten, ihre zu einer starken Verunsicherung gegen- dafür kann die Interkulturelle Woche Einstellungen zu reflektieren und über über dem ganzen Berufsstand führen. den Rahmen bilden. Sie kann zum Ver- den Tellerrand zu schauen. »Perspektiv- Sie stellt aber auch fest, dass gerade ständnis zwischen Polizei und Zivilge- wechsel ist wichtig und nötig, aber nicht bei Muslimen durchaus Vertrauen in sellschaft beitragen – etwa durch den entlang ethnischer und/oder kultureller Sicherheitsbehörden existiere und sie direkten Austausch mit Beamt:innen, Differenz, sondern entlang der vielfäl sich etwa stärkere Polizeipräsenz vor die zu Veranstaltungen eingeladen tigen Formen sozialer Ungleichheit und Moscheen wünschten. Das Misstrauen werden. Die Veranstaltenden der IKW ihrer Unter- und Überlegenheitsinsze- unter Migranten- und Minderheiten- können sich direkt an die Polizeidienst- nierungen«, davon ist Polizeiforscher Communities führt Yilmaz-Ilkhan auch stellen vor Ort wenden oder an die Behr überzeugt. auf Unkenntnis zurück – der Strukturen Kontaktbeamten beziehungsweise an in Sicherheitsbehörden, der Polizei die Migrationsbeauftragten, wie es sie Nicht zuletzt ist es die öffentliche Kritik arbeit im Allgemeinen und der Auf beispielsweise in Hessen gibt. v an der Polizei, die dazu führt, dass Aus- gaben von Polizisten in bestimmten bildungsinhalte weiterentwickelt und Funktionen. Je weniger die Menschen Weiterbildungsangebote erweitert wer- wüssten, desto mehr seien sie anfällig den. Wie aber kann jenseits davon Poli- für Verschwörungserzählungen. So zistinnen und Polizisten der Blick über seien etwa im Zusammenhang mit dem den Tellerrand ermöglicht und Vertrau- Attentat in Hanau etliche Geschichten en in diese Berufsgruppe wiederherge- über den Tathergang im Umlauf ge stellt beziehungsweise gestärkt werden? wesen – wie etwa die, dass eigentlich Interkulturelle Woche 2021
16 #offengeht | Die Vielfaltsgesellschaft gestalten und verteidigen »DER DEUTSCHE KOLONIALISMUS WIRD KLEINGEREDET« Jeff Kwasi Klein setzt sich als Projektleiter bei Each One Teach One für die Anliegen von Schwarzen Menschen in Deutschland ein. Im Interview spricht er über Anti-Schwarzen Rassismus und die Privilegien weißer Menschen. Jutta Weduwen Warum ist es wichtig, Anti-Schwarzen Rassismus als besonderes Phänomen zu betrachten? Verschiedene Rassismen haben sich in der Geschichte unterschiedlich ent wickelt. Im Versklavtenhandel ging es darum, einen Schwarzen Körper zu besitzen. Kolonisator*innen haben den Blick auf den Schwarzen Körper ge richtet. Auch heute ist Anti-Schwarzer Rassismus sehr stark auf Körperlich keiten bezogen. Es gibt diese »positi- ven« Vorurteile gegenüber Schwarzen Menschen, dass sie sportlich sind, gut tanzen können. Und häufig wird ihnen vorgeworfen, dass sie besonders aggres- siv seien oder irgendwie schnell sehr »körperlich« würden und deswegen eine Gefahr darstellten. Schwarze sind oft besonderen Behandlungen durch Sicherheitskräfte und Polizei ausgesetzt. Land, in dem ich geboren und aufge- Wie erleben Sie die derzeitige Aus Es findet Racial Profiling statt, Schwarze wachsen bin, zu dem geworden ist, einandersetzung mit dem deutschen werden immer wieder besonders raus- was es jetzt ist. Und im weiteren Verlauf Kolonialismus? gepickt, härter kontrolliert, brutaler meiner Politisierung ging es immer Der deutsche Kolonialismus wird klein- angegangen. mehr um Kolonialismus und den Ver- geredet. Selbst wenn Deutschland spä- sklavtenhandel, mit dem Blick darauf, ter eingestiegen ist als England oder Sie haben 2019 den US-amerikanischen den deutschen Nationalsozialismus nur Frankreich, war es trotzdem so, dass Politiker Jesse Jackson auf einer Reise verstehen zu können, wenn man auch Deutschland an einem Punkt die dritt- nach Auschwitz begleitet. Welche den deutschen Kolonialismus versteht. größte Kolonialmacht der Welt war und Rolle spielte die Beschäftigung mit der Ich habe mich mit der Verfolgung dementsprechend auch unglaublich NS-Geschichte für Ihre politische Schwarzer Menschen im Nationalsozia- brutal und unglaublich menschenver- Sozialisation? lismus beschäftigt und auch mit Über achtend in den Kolonien gehandelt hat. In meiner eigenen Politisierung ist das lebenden. Einer der letzten Schwarzen Man kann den Nationalsozialismus ein großes Thema gewesen. Ich wollte Zeitzeugen, Theodor Wonja Michael, nicht verstehen, wenn man nicht auch verstehen, wie die Gesellschaft Hitler ist 2019 gestorben. den Kolonialismus mit einbezieht in die unterstützt und getragen hat. Es war Analyse. Es gab eine Glorifizierung der für mich wichtig zu verstehen, wie das deutschen Kolonialgeschichte und den Interkulturelle Woche 2021
#offengeht | Die Vielfaltsgesellschaft gestalten und verteidigen 17 Wunsch, wieder zu alter Stärke zu er Meine Meinung hat sich gewandelt. Was ist also zu tun? wachen. Die ersten Konzentrationslager Ich habe gute juristische Argumente da- Wenn es dann darum geht, Privilegien entstanden auf dem Gebiet der Koloni- für gehört, dass der Begriff im Grund abzugeben, geht es im ersten Schritt en. Eine angemessene Auseinanderset- gesetz verbleibt im Sinne des Diskrimi- darum, das Privileg abzubauen, dass zung mit dem Genozid an den Herero nierungsschutzes. In Deutschland gibt man sich nicht mit Rassismus auseinan- und Nama hat aber bis heute nicht statt- es, wie gesagt, ein noch anfängliches dersetzen muss. Dass man zum Beispiel gefunden. Es fehlen eine angemessene Verständnis davon, was Rassismus in seinem direkten Umfeld nicht weg- Entschuldigung und Entschädigung. überhaupt ist. Und natürlich gibt es in hört, wenn rassistische Witze erzählt Deutschland auch aufgrund der Ge- werden, sondern die Leute konfrontiert, Es gibt im Moment eine kontroverse schichte einen Reflex, alles, was in dass man sich informiert auch über Diskussion darüber, ob der Begriff Richtung Rasse und Rassismus geht, die eigene Positionierung als weißer Rasse aus dem Grundgesetz gestrichen von sich abzustoßen. Aber diese Posi Mensch in einem rassistischen System. werden soll. Wie ist Ihre Meinung dazu? tion verkennt, dass Rassismus nicht nur Rassistische Systeme wurden errichtet, bei Nazis stattfindet, sondern eine Struk um weiße Menschen zu bevorteilen, tur hat. Es findet in der Gesellschaft und es müssen auch weiße Menschen eine Rassifizierung statt – Menschen sein, die diese Systeme mit abbauen. v Black Lives Matter- werden in Rassen eingeteilt, auch wenn Demonstration im Juni die meisten sagen würden, dass biolo Dieser Text erschien zuerst im Magazin 2020 in Berlin. gische Rassen nicht existieren. Ich hätte »zeichen«, Ausgabe 3/2020, www.asf-ev.de/infothek/themen/ Foto: shutterstock/Hernan J. Martin mir gewünscht, dass es dazu einen Dis- kurs gibt in Deutschland. Ja, es gibt Die Langversion des Interviews lesen Sie auf keine biologischen Rassen, aber wir www.interkulturellewoche.de/themen müssen verstehen, dass Menschen rassi- fiziert werden und deswegen auch die Kategorie Rasse anders verstanden und Jeff Kwasi Klein ist Leiter des Antidiskriminie interpretiert werden muss. rungsprojekts EACH ONE von Each One Teach One e. V. (EOTO). Bei EOTO koordiniert er Pro Rassismus funktioniert in Gesell jekte, die die menschenrechtliche Situation schaften auch als Ordnungsprinzip, von Schwarzen, afro-diasporischen und das Menschen mehr oder weniger Menschen afrikanischer Herkunft sichtbar Privilegien gibt. Menschen verzichten machen. Derzeit ist er Vorstandsmitglied des ungern auf Privilegien, auch wenn Migrationsrats Berlin, wo er die Interessen sie nicht rassistisch sein wollen. einer Vielzahl (post-)migran Ich glaube, wenn Menschen hören, tischer Selbstorganisationen dass sie Privilegien haben, fühlen sie gegenüber den politischen sich schnell falsch verstanden. »Jetzt Institutionen Berlins vertritt. wird mir abgesprochen, dass es mir »Rassistische Systeme ja auch nicht immer gut geht.« Darum Foto: privat wurden errichtet, geht es nicht bei dem Wort White Kontakt: info@eoto-archiv.de Privilege (weißes Privileg). Es geht um weiße Menschen darum, Privilegien innerhalb eines Jutta Weduwen ist Soziologin und seit 2012 zu bevorteilen, und rassistischen Systems zu verstehen. Geschäftsführerin von Aktionszeichen Als weiße Person hat man zum Beispiel Friedensdienste e. V. Sie ist unter anderem es müssen auch weiße das Privileg, dass man sich zum einen Mitglied im Ökumenischen Vorbereitungs nicht mit Rassismus auseinandersetzen ausschuss zur Interkulturellen Woche, im Menschen sein, die muss, wenn man nicht möchte. Zum Sprecher*innenrat der Bundesarbeitsge diese Systeme mit ab- anderen hat man nicht automatisch meinschaft Kirche & Rechts Nachteile auf dem Arbeitsmarkt, bei extremismus (BAG K+R) und im bauen.« der Wohnungssuche, in der Schule. Vorstand der Aktionsgemein Wir Schwarzen Menschen sind gezwun- schaft Dienst für den Frieden. gen, uns mit Rassismus auseinander Foto: privat zusetzen, weil er allgegenwärtig in unse- rem Leben ist. Kontakt: weduwen@asf-ev.de Interkulturelle Woche 2021
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