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INHALT
   Zusammen leben, zusammen wachsen

       GEMEINSAMES WORT DER KIRCHEN                                         Die Vielfaltsgesellschaft gestalten
                                                                            und verteidigen
   4 Gemeinsames Wort der Kirchen
     zur Interkulturellen Woche 2021 –                                   9 Der Elefant im Raum | Wir alle haben Vorurteile,
     #offengeht                                                             was sie aber nicht besser macht – Selbsterkenntnis
                                                                            ist hier der erste Weg zur Besserung | Beate Küpper

       THEMEN UND PERSPEKTIVEN                                           13 Alles Einzelfälle? | Angesichts von Rassismusvorwürfen
       DER VIELFALTSGESELLSCHAFT                                            und rechtsextremen Umtrieben schwindet das Ver­
                                                                            trauen in die Polizei – Das Gegenmittel: Mehr Kontakte
  6 #offengeht – für eine gerechte und solidarische Welt                    und Gespräche | Canan Topçu
       Dr. Beate Sträter und Friederike Ekol
                                                                         16 »Der deutsche Kolonialismus wird kleingeredet«
                                                                            Jeff Kwasi Klein spricht über Anti-Schwarzen
                                                                            Rassismus und die Privilegien weißer Menschen |
                                                                            Jutta Weduwen

                                                                         18 »Dieses Land ist zu schön, um es Menschen zu
                                                                            überlassen, die nur hetzen und hassen wollen«
                                                                            Karamba Diaby über das Demokratiefördergesetz,
                                                                            mehr Vielfalt in den Parteien und den Anschlag auf
                                                                            sein Wahlkreisbüro | Steffen Blatt

                                                                         21 Ein Meilenstein auf dem Weg zur Einwanderungs­
                                                                            republik | Die Ergebnisse des Kabinettsausschusses zur
                                                                            Bekämpfung von Rechtsextremismus und Rassismus –
                                                                            Eine Einschätzung | Johannes Brandstäter

9      Der Elefant im Raum
                                               18     Karamba Diaby über das
                                                       Demoktatiefördergesetz               22        Europa treibt den Ausstieg
                                                                                                      aus dem Flüchtlingsschutz
                                                                                                      voran

Foto: shutterstock/asiandelight                © Ute Langkafel MAIFOTO                       © IMAGO/Pixsell

Interkulturelle Woche 2021
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Inhalt            3

      Menschenrechte für Geflüchtete?!                                     ANREGUNGEN FÜR GOTTESDIENSTE

 22 Europa treibt den Ausstieg aus dem Flüchtlingsschutz              38 Offene Augen, offene Herzen | Gedanken zum Motto
    voran | 70 Jahre Genfer Flüchtlingskonvention |                        und Symbol der Interkulturellen Woche | Christoph Stiba
      Günter Burkhardt
                                                                      39 Vielstimmigkeit und Vielfalt sind keine Strafe …
 26 Ein Schiff von uns, von euch, von allen                                … sondern Gottes Plan für seine Welt und seine
      United4Rescue: Wie wir gemeinsam ein Schiff ins                      Menschen – Predigtmeditation über Gen 11, 1 - 9 |
      Mittelmeer schickten | Ansgar Gilster                                Kathrin Oxen

 29 Kommunale Aufnahmebereitschaft von                                42 Liturgische Texte
    Geflüchteten | Deutscher Städtetag

      Ankommen und bleiben                                                 IKW VOR ORT

 30 Mein Vater und der rote Traktor | Ab 1961 kamen                   44 »Wir wollten die Pandemie als Chance begreifen«
      systematisch Gastarbeiter*innen aus der Türkei nach                  Im Hochtaunuskreis fand die Interkulturelle Woche 2020
      Deutschland – ihre Geschichten und die ihrer Kinder                  weitgehend digital statt | Steffen Blatt
      kommen in der Deutschen Erinnerungskultur bisher
      kaum vor | Dr. Çiçek Bacık                                           Good Practice

 33 Neustart in Zeiten der Pandemie | Das große Engage­-              46 Ein Festjahr will jüdisches Leben sichtbar machen
      ment der Ehrenamtlichen im Projekt »Neustart im                      Seit mindestens 1700 Jahren leben Jüdinnen und Juden
      Team« (NesT) schenkt Hoffnung in Zeiten von Corona |                 auf dem Gebiet des heutigen Deutschland |
      Katharina Mayr                                                       Sylvia Löhrmann

 36 Menschenwürde mit Rabatt: Arbeiten im Versand­                    48 Good Practice | Weitere Ideen und Anregungen
    handel | Amazon & Co machen in der Corona-Krise                        für die Interkulturelle Woche
      gute Geschäfte – Den Beschäftigten kommt das jedoch
      nicht zugute | Daniel Weber
                                                                           ANHANG

                                                                       51 Was, Wann, Wo – Termine
                                                                       52 Impressum

30       Mein Vater und der
         rote Traktor                      39       Vielstimmigkeit und Vielfalt
                                                    sind keine Strafe                       46          Ein Festjahr will jüdisches
                                                                                                        Leben sichtbar machen

Foto: Imago Images/Klaus Rose              © Morgenstern & Kaes, Ludwigsburg                © 1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland e.V.

                                                                                                          Interkulturelle Woche 2021
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GEMEINSAMES WORT
DER KIRCHEN ZUR
INTERKULTURELLEN
WOCHE 2021
BEGEGNUNG – TEILHABE – INTEGRATION

#OFFENGEHT

D
         ie Corona-Pandemie bestimmt         Flüchtlingsschutzes gehört das Verbot,         Doch auch jenseits der Pandemie beste-
         weiterhin das Leben von Men-        einen Flüchtling in ein Land zurückzu-         hen in der Flüchtlingspolitik große Her-
         schen auf der ganzen Welt.          weisen, in dem er Verfolgung fürchten          ausforderungen. Die Außengrenzen der
Auch in Deutschland sind die Aus­            muss. Die Konvention bildet das Funda-         Europäischen Union sind heute viel-
wirkungen deutlich spürbar. Der Ver-         ment des internationalen Flüchtlings-          fach Orte der Verzweiflung und Schutz-
zicht auf Begegnungen und Nähe ist           rechts, ergänzt um wichtige Regelungen         losigkeit. Zwei abgebrannte Lager sind
inzwischen zu einer großen Belastung         auf nationaler und europäischer Ebene.         zum traurigen Sinnbild für die Krise der
ge­worden. Nicht wenige fürchten             Der Grundsatz, Schutzsuchenden die             europäischen Flüchtlingspolitik gewor-
um ihre wirtschaftliche Existenz und         Aufnahme an einem sicheren Ort zu ge-          den: Moria auf der griechischen Insel
blicken sorgenvoll in die Zukunft. Die­      währen, muss auch heute wirksam um-            Lesbos und Lipa im Nordwesten Bosni-
jenigen, die schon zuvor von Ausgren-        gesetzt und angesichts aktueller Heraus-       ens. Auf Lesbos – und auch auf anderen
zung und Armut betroffen waren, leiden       forderungen weiterentwickelt werden.           ägäischen Inseln – harren nach wie vor
unter der Situation in besonderer Weise.                                                    Tausende von Flüchtlingen unter men-
Und wie so oft in Krisenzeiten gibt es       Schutzsuchende Menschen trifft die             schenunwürdigen Bedingungen aus.
auch heute Strömungen, die Zweifel an        Pandemie derzeit mit voller Härte.             Und im bosnisch-kroatischen Grenz­
unserer offenen, demokratischen Ge­          Sichere Zugangswege und andere Mög-            gebiet kampieren Schutzsuchende in
sellschaft säen und menschenfeindliche       lichkeiten, nach Europa zu gelangen,           Bauruinen oder im Wald. Ebenso bleibt
Ressentiments zu wecken versuchen.           sind stark eingeschränkt – zugleich ist        auch die Situation im Mittelmeer ein
Doch unsere Gesellschaft zeichnet sich       die Lage in den Erstaufnahmestaaten            ungelöstes Problem. An einer effektiven
durch ein hohes Maß an Solidarität und       erheblich schwieriger geworden. Auch           staatlichen Seenotrettung mangelt es;
Hilfsbereitschaft aus. Das macht uns         in Deutschland lebende Geflüchtete             gleichzeitig werden die lebensrettenden
dankbar und zuversichtlich.                  leiden unter den Auswirkungen der              Einsätze ziviler Initiativen behindert.
                                             Pandemie. In Sammelunterkünften sind           Boote mit Schutzsuchenden werden
Das »Abkommen über die Rechtsstel-           sie einem erhöhten Infektionsrisiko aus-       durch die Küstenwache von EU-Staaten
lung der Flüchtlinge« – besser bekannt       gesetzt. Es ist für sie wesentlich schwieri-   oder auch durch die europäische Grenz-
als »Genfer Flüchtlingskonvention« –         ger geworden, Deutsch zu lernen, auf           schutzagentur abgewiesen. Wer aber
wird dieses Jahr 70 Jahre alt. War sie zu-   dem Arbeitsmarkt Fuß zu fassen und             Menschen nach Libyen zurückdrängt,
nächst darauf ausgerichtet, europäische      gesellschaftliche Teilhabe zu erlangen.        liefert sie schwersten Menschenrechts-
Flüchtlinge nach dem Zweiten Welt-           Die Bildungschancen geflüchteter Kin-          verletzungen aus und bricht das Völker-
krieg zu schützen, wurde der Wirkungs-       der sind massiv beeinträchtigt. Notwen-        recht.
bereich der Konvention 1967 zeitlich         dige Beratungsangebote können nicht
und geografisch erweitert. Seitdem gilt:     in gewohnter Weise stattfinden. Die            Als Christinnen und Christen sind wir
Jede Person, die wegen ihrer Herkunft,       Reisebeschränkungen haben zur Folge,           überzeugt: Alle Menschen sind nach
Religion, politischen Überzeugung            dass Familienzusammenführungen                 dem Ebenbild Gottes geschaffen und
oder Zugehörigkeit zu einer bestimm-         kaum noch durchgeführt werden.                 haben somit eine unauslöschliche Wür-
ten sozialen Gruppe verfolgt wird, hat                                                      de. Bei allem Leid, das Menschen ein-
Anspruch auf Schutz. Zum Kern des                                                           ander antun: Gottes Liebe hat das letzte

Interkulturelle Woche 2021
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Gemeinsames Wort der Kirchen zur Interkulturellen Woche 2021                  5

    Wort. Diese christliche Hoffnung drängt     rischen, wohlhabenden, weltoffenen           machen. Wer Ressentiments schürt und
    uns dazu, bereits hier und jetzt den Ent-   und ideenreichen Land leben. Unsere          die einen gegen die anderen ausspielt,
    rechteten zu ihrem Recht zu verhelfen       Gesellschaft wird sich auch in Zukunft       hat die christliche Botschaft nicht ver-
    und den Schutzsuchenden Schutz zu           weiter verändern. Um den Zusammen-           standen. Der Platz von Christinnen und
    gewähren. Europa wird getragen durch        halt in einer vielfältigen Gesellschaft      Christen ist an der Seite all jener Men-
    eine breite gesellschaftliche Akzeptanz     zu sichern, braucht es Orte, an denen        schen, die Opfer von Hass und Gewalt
    von Menschenwürde, Menschenrechten          Begegnung stattfindet und Vertrauen          werden. Die Kirchen in Deutschland
    und Rechtsstaatlichkeit. Die Geltung        wachsen kann.                                treten deshalb jeder Form der gruppen-
    dieser Normen zeigt sich gerade im                                                       bezogenen Menschenfeindlichkeit mit
    Umgang mit Schutzbedürftigen. Es            Der Interkulturellen Woche gelingt es        Entschiedenheit entgegen. Wir setzen
    kommt darauf an, die Würde und die          seit Jahrzehnten, genau solche Orte zu       auf Solidarität und Nächstenliebe!
    Rechte von Geflüchteten an Europas          schaffen – unter Pandemie-Bedingungen
    Außengrenzen zu schützen und zu ver-        auch im virtuellen Raum. Gemeinsam           Gerade im Jahr der Bundestagswahl
    teidigen.                                   mit einer Vielzahl zivilgesellschaftlicher   rufen wir alle Menschen in unserem
                                                Organisationen wirken die Kirchen dar-       Land dazu auf, sich aktiv für ein fried­
    Die Interkulturelle Woche findet in die-    an mit, Verständigung zu ermöglichen,        liches und vielfältiges Miteinander zu
    sem Jahr unter dem Motto #offengeht         Vorurteile abzubauen und die offene          engagieren. Dabei kann und darf es
    statt. Dabei meint Offenheit nicht Belie-   Gesellschaft zu schützen. Gefordert ist      auch zwischen Christinnen und Chris-
    bigkeit. Vielmehr geht es um ein klares     die grundlegende Bereitschaft, den je-       ten politischen Streit geben. Nicht ver-
    Plädoyer für eine offene Gesellschaft,      weils anderen anzuerkennen, auch und         handelbar sind jedoch die grundlegen-
    in der die universalen Menschenrechte       gerade dann, wenn die Meinungen              den Werte unseres Grundgesetzes: die
    geachtet werden. Und es geht um ein         auseinandergehen. Dabei geht es nicht        Wahrung der Würde eines jeden Men-
    breites zivilgesellschaftliches Engage-     darum, Konflikten aus dem Weg zu ge-         schen, das Recht auf freie Entfaltung
    ment für ein gutes Zusammenleben in         hen, sondern sie auf respektvolle Weise      der Persönlichkeit, auf körperliche
    Vielfalt. #offengeht – das steht auch       auszutragen und zu lösen. Konfliktfähig-     Unversehrtheit und auf soziale Teilhabe,
    für die Kreativität und Stärke unserer      keit und Vertrauen gehören zusammen.         die Gleichberechtigung von Mann und
    von Migration geprägten Gesellschaft.                                                    Frau, die Glaubens- und Gewissens­
    Offenheit im Herzen wie im Geist –          Als Christinnen und Christen verschie-       freiheit, die Meinungsfreiheit, das Recht
    verbunden mit den entsprechenden            dener Konfessionen bezeugen wir ge-          auf Asyl und der Schutz von Familien –
    Rahmenbedingungen – hat dazu ge-            meinsam: »Gott hat uns nicht einen           auch von Flüchtlingsfamilien.
    führt, dass Deutschland zahlreichen Ein-    Geist der Verzagtheit gegeben, sondern
    gewanderten und ihren Nachkommen            den Geist der Kraft, der Liebe und der       #offengeht: Die Interkulturelle Woche
    zur Heimat werden konnte. Sie haben         Besonnenheit.« (2 Timotheus 1,7) Die-        mit ihren zahlreichen Veranstaltungen
    Arbeit und Wohnung gefunden, erfolg-        ser biblische Satz ermutigt uns, gesell-     in über 500 Städten und Gemeinden
    reich Bildungsabschlüsse absolviert und     schaftliche Entwicklungen mit einer          ist ein lebendiges Zeichen dafür, dass
    gestalten die Gesellschaft ganz selbst­     Haltung der Zuversicht und Wertschät-        wir auf einem guten Weg zu einer Ge-
    verständlich mit.                           zung zu gestalten. Nicht an Ausgren-         sellschaft des stärkeren Miteinanders
                                                zung und Abschottung, Abwertung und          sind. Wir danken allen, die sich vor Ort
    Deutschland ist ein Einwanderungsland.      Arroganz soll man uns erkennen. Statt-       für die Anliegen der Interkulturellen
    Migrantinnen und Migranten haben            dessen sind Christinnen und Christen         Woche einsetzen und wünschen ihnen
    dieses Land mit aufgebaut und geprägt.      dazu berufen, sich gemeinsam mit vie-        gute Erfahrungen und Gottes reichen
    Es ist auch ihrem Beitrag zu verdanken,     len Menschen guten Willens »auf den          Segen.
    dass wir alle zusammen in einem solida-     Weg zu einem immer größeren Wir« zu

    Bischof Dr. Georg Bätzing                   Prof. Dr. Heinrich Bedford-Strohm            Metropolit Dr. h.c. Augoustinos
    Vorsitzender der Deutschen                  Vorsitzender des Rates der Evangelischen     von Deutschland
    Bischofskonferenz                           Kirche in Deutschland                        Vorsitzender der Orthodoxen Bischofs-
                                                                                             konferenz in Deutschland

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                                                                                                         Interkulturelle Woche 2021
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THEMEN UND
PERSPEKTIVEN DER
VIELFALTSGESELLSCHAFT

#OFFENGEHT –
FÜR EINE GERECHTE UND
SOLIDARISCHE WELT

Dr. Beate Sträter und Friederike Ekol     oder den Konzertsaal gehen können.         der Lebensgrundlage vieler Menschen
                                          Materielle Sicherheit, medizinische Ver-   löst weitere Konflikte aus und zwingt

E
       in Virus kennt keine Grenzen,      sorgung, die Hoffnung auf Schutz vor       Menschen in die Flucht.
       lässt sich weder von Mauern,       der Infek­tion – wenn das schon bei uns
       noch Meeren, noch bewaffneten      nicht für alle gilt, so werden die Unge­   Die Fakten liegen auf dem Tisch. Doch
Grenzschützern beeindrucken. Auf          rechtig­keiten im Weltmaßstab um ein       die Politik bleibt gefangen in alten
drastische Weise lernen wir durch die     Viel­faches drastischer sichtbar. Men-     Denk- und Reaktionsmustern. Die Ein-
Corona-Pandemie, was viele bis heute      schen, die im Krieg, in Armut, ohne        sicht, dass ein tiefgreifender Wandel
nicht wahrhaben wollen: Alles hängt       Zukunftsperspektive leben müssen, sind     längst überfällig ist, sofort und um­
mit allem zusammen, wir sind die eine     auch der Pandemie schutzlos ausgelie-      fassend auf den Weg gebracht werden
Welt, die eine Menschheit. Wir lernen     fert. Doch es sind keine Naturgesetze,     muss, hat zu weltweiten Protestbewe-
jedoch auch: Wir sind in ganz unter-      die zu diesen Ungerechtigkeiten führen,    gungen geführt. Die junge Generation
schiedlicher Weise von den Folgen der     sondern das Unrecht ist von Menschen       steht auf, weil ihre Zukunft auf dem
Pandemie betroffen.                       gemacht und kann auch von Menschen         Spiel steht. Sie setzt damit ein Zeichen
                                          geändert werden.
In unseren reichen Ländern brechen
Gräben auf zwischen denen, die mate­      #OFFENGEHT –                               »Was bei uns ›nur‹
riell abgesichert und sozial eingebun-    FÜR EINE UMFASSENDE
den sind und denen, die vorher schon      TRANSFORMATION VON POLITIK                 eine Infragestellung
unter schwierigen materiellen und sozi-   UND WIRTSCHAFT
alen Verhältnissen lebten. Schreiende
                                                                                     ­unseres Lebensstils
Ungerechtigkeiten und Ausgrenzung         Die katastrophalen Folgen der globalen      bedeutet, ist für
werden nicht nur sichtbarer, sondern      Klimakrise sind mittlerweile auch bei
verschärfen sich noch. Viele Menschen,    uns nicht mehr zu verleugnen. Trotz-        Menschen in anderen
die in systemrelevanten, aber niedrig     dem leben viele so weiter, als würde es     Teilen der Welt be-
entlohnten Tätigkeiten die Versorgung     kein Morgen geben. Was bei uns »nur«
aufrechterhalten, sind dem Virus weit-    eine Infragestellung unseres Lebensstils    reits jetzt eine akute
gehend schutzlos ausgeliefert. Wer ein    bedeutet, ist für Menschen in anderen
geringes Einkommen hat und in beeng-      Teilen der Welt bereits jetzt eine akute
                                                                                      Über­lebensfrage.«
ten Wohnverhältnissen lebt, vielleicht    Überlebensfrage. Der Raubbau an der
sogar in Gemeinschaftsunterkünften        Natur und die Zerstörung von Öko­
Schutzsuchender, hat es viel schwerer     systemen macht weitere Pandemien im-
als diejenigen, die nicht ins Theater     mer wahrscheinlicher. Die Vernichtung

Interkulturelle Woche 2021
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#offengeht | Themen und Perspektiven der Vielfaltsgesellschaft             7

                                    der Hoffnung, doch sie allein wird es      genommen, befeuert von den Ereignis-        Seit langem ist Diversität eine Tatsache.
                                    nicht schaffen. Wir alle müssen unsere     sen in den USA und der Black-Lives-         Das Versprechen unserer Demokratie,
                                    Kraft dafür einsetzen, dass die Politik    Matter-Bewegung. Auch bei uns stehen        dass alle die gleichen Rechte haben und
                                    sich endlich bewegt. Nur wenn der          Menschen auf und melden sich zu Wort,       gleichberechtigt, sicher und ohne Angst
                                    Druck aus der Gesellschaft weiter er-      die bisher wenig Gehör fanden. Auch         leben können, muss nicht nur geschützt,
                                    höht wird, wenn in unseren Städten und     hier sind es viele junge Menschen, die      sondern noch eingelöst werden.
                                    Kommunen Fakten geschaffen werden,         sich dem Protest anschließen, sich prak-
                                    die sichtbare Veränderungen einleiten,     tisch und theoretisch mit Rassismus         #OFFENGEHT –
                                    wenn wir unsere Lebens- und Konsum-        auseinandersetzen. Der Blick wird ge-       FÜR MENSCHRECHTE IN DER
                                    gewohnheiten ändern, kann die Trans-       schärft für sozial ungerechte Strukturen,   FLÜCHTLINGSPOLITIK
                                    formation gelingen. Hier und anderswo      Diskriminierung und gruppenbezogene
                                    auf der Welt.                              Menschenfeindlichkeit.                      Erst vor wenigen Jahren hat die Euro-
                                                                                                                           päische Union den Friedensnobel-
                                    #OFFENGEHT –                               Doch wir erleben auch, wie nationalisti-    preis erhalten. Sie wurde damit für
                                    FÜR EINE GESELLSCHAFT                      sche, völkische, rassistische und auch      ihren Beitrag zur Förderung von Frie-
                                    DER VIELFALT                               antisemitische Einstellungen nicht nur      den und Versöhnung, Demokratie und
                                                                               in weiten Kreisen unsere Gesellschaft       Menschenrechten in Europa gewürdigt.
                                    Das Bewusstsein dafür, dass rassistische   salonfähig geworden sind, sondern           Heute aber umgibt sie sich mit neuen
                                    Diskriminierung eine Tatsache ist, die     auch durch demokratiefeindliche Par-        Mauern und Zäunen und richtet Lager
                                    uns begleitet, ist größer geworden. Die    teien in unseren Parlamenten Einzug         an ihren Außengrenzen ein. Mit jedem
                                    Diskussion um Alltagsrassismus und         gehalten haben.                             Menschen, der im Mittelmeer ertrinkt
                                    strukturellen Rassismus hat Fahrt auf­                                                 oder unter menschenunwürdigen Be-
© Morgenstern & Kaes, Ludwigsburg

                                                                                                                                      Interkulturelle Woche 2021
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8         #offengeht | Themen und Perspektiven der Vielfaltsgesellschaft

dingungen in den Lagern in Griechen-
                                                 »Allein menschen­                             #OFFENGEHT –
land oder an den europäischen Außen-                                                           FÜR EINE STARKE ZIVILGESELL­
grenzen festgehalten wird, mit jedem             rechtliche Standards                          SCHAFT
und jeder Geflüchteten, die gezwungen
ist, von ihrer Familie getrennt zu sein,
                                                 können der Maß-                               Die Politik wird es nicht von alleine
stirbt ein Stück der Werte, auf die sich         stab des politischen                          richten: Das beständige Engagement
Europa gründet. Nicht länger dürfen                                                            der Zivilgesellschaft ist unabdingbar,
nationale Eigeninteressen und eine               Handels sein, um                              damit längst überfällige Änderungen
gesamteuropäische Abschottungspoli-
tik die europäische Flüchtlings- und
                                                 dem Sterben und                               der nationalen und europäischen Politik
                                                                                               erreicht werden. Wir begegnen diesem
Asylpolitik bestimmen. Allein men-               dem Elend ein Ende                            Engagement in unseren Kirchen, in
schenrechtliche Standards können der                                                           Verbänden, bei der Arbeit, in der Nach-
Maßstab des politischen Handels sein,
                                                 zu setzen.«                                   barschaft. Mehr als 140 Städte haben
um dem Sterben und dem Elend ein                                                               als »Sichere Häfen« ihre Bereitschaft
Ende zu setzen. Geht es so weiter wie                                                          zur Aufnahme von Flüchtlingen erklärt.
bisher, zerstören wir für uns alle die                                                         Damit zeigen sie sich solidarisch und
Grund­lagen eines demokratischen, an             Geflüchteten, die Schutz suchen, der          bieten Zuflucht. Dass sich unzählige
Menschrechten und Menschenwürde                  schnelle Zugang zu Arbeit verwehrt.           Menschen in unserem Land, mitunter
orientierten Zusammenlebens.                     Vielfach ist die Gesellschaft hier weiter     trotz Anfeindungen und Bedrohungen,
                                                 als die Politik, ist die Bereitschaft groß,   nicht beirren lassen, demokratische
#OFFENGEHT –                                     Menschen, die erfolgreich einen Weg           Werte zu verteidigen und sich genera­
FÜR EINE SICHERE ZUKUNFT                         in unsere Gesellschaft gefunden haben,        tionenübergreifend für Mitmenschlich-
IN WÜRDE                                         eine sichere Perspektive zu eröffnen.         keit einzusetzen – das zeigt, wie stark
                                                                                               unsere Gesellschaft ist.
Arbeit gehört untrennbar zu einem                Die Familie genießt besonderen Schutz
Leben in Würde dazu. Arbeit gibt es              – da sind sich Staat und Kirche einig.        Doch es geht hierbei nicht allein um
mehr als genug in unserem Land.                  Wer die Perspektive derjenigen auch           politische Ziele. Neue Formen des Zu-
Trotz wirtschaftlicher Notwendigkeit,            nur für einen Moment einnimmt, die            sammenlebens werden erprobt und
ent­gegen jeder Einsicht und unter Miss­         zum Teil über Monate und Jahre ge-            erlebt, eine Gesellschaft der Vielfalt
achtung humanitärer Maßstäbe wird                trennt von ihren Liebsten leben müssen,       wird gestaltet und damit Wirklichkeit.
                                                 dem erschließt sich das damit verbun-         Hier entsteht Hoffnung auf eine lebbare
                                                 dene Leiden. Die Hürde auf dem Weg            und lebenswerte gemeinsame Zukunft.
                                                 des Ankommens ist für viele Betroffe-         Die Interkulturelle Woche bietet den
Dr. Beate Sträter ist stellvertretende Vorsit­   ne immens hoch. Die Möglichkeit für           Raum, mit Menschen ins Gespräch zu
zende des Ökumenischen Vorbereitungsaus­         Familienangehörige, in den Herkunfts-         kommen, deren Stimme sonst nicht
schusses zur Interkulturellen Woche. Sie ist     ländern Anträge zu stellen, muss fak-         zu hören ist und auch, diese Menschen
               Vorsitzende der Fachgruppe        tisch gegeben sein – ein Staat, der sich      in Kontakt mit politisch Verantwortli-
               Christen-Muslime in der Evan­     der Verantwortung hier entzieht, produ-       chen zu bringen, um wichtige Themen
               gelischen Kirche im Rheinland     ziert völlig unnötiges Leid. Die gesell-      mit ihnen zu besprechen. Begegnung
               und Schulreferentin in Bonn.      schaftlichen Folgewirkungen von ver-          ermöglicht Empathie und gegenseitiges
               Foto: ÖVA/Nils Bornemann          weigerter Teilhabe und Integration sind       Verständnis. Die Interkulturelle Woche
                                                 eine schwere Belastung für eine ganze         wird in diesem Jahr offiziell am Tag der
Kontakt: b.straeter@schulreferatbonn.de          Generation von Geflüchteten und auch          Bundestagswahl eröffnet – nutzen Sie
                                                 für die Aufnahmegesellschaft.                 sie, um Ihre Themen vor Ort sichtbar,
Friederike Ekol ist Politologin und Geschäfts­                                                 hörbar und erlebbar zu machen!
führerin des Ökumenischen Vor­­bereitungs­
               ausschusses zur Interkulturel­                                                  #offengeht – für viele gute Ideen, die
               len Woche.                                                                      in der Interkulturellen Woche Gestalt
               Foto: ÖVA/Nils Bornemann                                                        finden! v

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Interkulturelle Woche 2021
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DIE VIELFALTSGESELLSCHAFT
                                                                                Zusammen GESTALTEN                | Integration 9 9
                                                                                                         UND VERTEIDIGEN
                                                                                         leben, zusammen wachsen.

                                  DER ELEFANT IM RAUM
                                  Die Tür der Synagoge in Halle
                                  mit Einschusslöchern.
                                  Hier versuchte der Attentäter
                                  Wir alle haben Vorurteile, was sie aber nicht besser macht –
                                  vergeblich, einzudringen.
                                  Selbsterkenntnis
                                  Foto: imago / Steffen Schellhorn ist hier der erste Weg zur Besserung

                                  Beate Küpper                               DER SPIEGEL den fast schon in Ver-
                                                                             gessenheit geratenen uralten Mythos
                                                                                                                         »Krisen eignen sich

                                  Z
                                         u Beginn der Corona-Pandemie        der »gelben Gefahr« wieder auf.             besonders dazu,
                                         traf es Menschen mit asiatischem
                                         Aussehen (»Das Virus aus dem        Alsbald wurden auch die üblichen            Verschwörungsmythen
                                  fernen Osten«). Menschen wechselten        Verdächtigen ausgemacht – Fremde,           und Vorurteile anzu­
                                  die Straßenseite, sie wurden beschimpft,   die das Virus einschleppen, migranti-
                                  mancherorts gar aus dem Bus geworfen.      sche Großfamilien, die kollektiv feiern,    feuern.«
                                  Mit dem Titel »Made in China« vor          Roma, die sich grundsätzlich nicht
                                  gelbem Hintergrund wärmte                  an die Regeln halten, und schließlich
                                                                                     die Juden, aus deren Laboren in
                                                                                              Israel das Virus stammt,
                                                                                                 um die Menschheit       So abstrus dies alles klingt, so bekannt
                                                                                                   auszurotten oder      und weit verbreitet sind diese Bilder
                                                                                                      zu unterwerfen.    und Gerüchte leider auch, welche die
                                                                                                                         Sozialpsychologie unter dem Begriff
                                                                                                                         der Vorurteile fasst. Krisen eignen sich
                                                                                                                         besonders dazu, Verschwörungsmythen
                                                                                                                         und Vorurteile anzufeuern, bringen sie
                                                                                                                         doch Unsicherheiten und Bedrohungen
                                                                                                                         mit sich, die nur allzu gern verkürzt
                                                                                                                         erklärt und einfachen Sünden­böcken
                                                                                                                         zugeschrieben werden – weil es sich
                                                                                                                         leichter in Personen als in komplexen
                                                                                                                         oder gar zufälligen Situationen denken
                                                                                                                         lässt.

                                                                                                                         Die Sozialpsychologie versteht Vorur-
                                                                                                                         teile als pauschalisierende Einstellungen
                                                                                                                         gegenüber sozialen Gruppen bzw. Per-
                                                                                                                         sonen, die diesen Gruppen zugewiesen
                                                                                                                         werden. Die Zuweisung zu einer sozia-
                                                                                                                         len Gruppe erfolgt über (zugeschrie­
                                                                                                                         bene) Merkmale, egal, ob eine Person
                                                                                                                         dieses Merkmal tatsächlich hat oder
                                                                                                                         sich mit einer Gruppe selbst identifiziert
                                                                                                                         (zum Beispiel als Muslim, Frau oder
                                                                                                                         Person mit einer Behinderung). Im
                                                                                                                         Prinzip funktioniert dies mit allen Grup-
                                                                                                                         penzuweisungen auf ähnliche Weise, er-
                                                                                                                         leichtern sie doch zunächst rein kognitiv
                                                                                                                         die Verarbeitung von Information.
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                                                                                                                                    Interkulturelle Woche 2021
10      #offengeht | Die Vielfaltsgesellschaft gestalten und verteidigen

                                            Behauptung großer Unterschiede, die
                                            unüberbrückbar erscheinen (»die haben
                                            ja ganz andere Werte als wir«).

                                            Vorurteile sind nicht einfach »nur«
                                            vorschnelle Urteile, bevor mehr Fakten         EIN VORURTEIL KOMMT SELTEN
                                            zur Verfügung stehen. Im Gegenteil, sie        ALLEIN
                                            sind weitgehend resistent gegen Fakten.
»WIR« UND »DIE«                             Sie knüpfen an alte Ressentiments an,          Ein Vorurteil kommt dabei selten
                                            die tief in einer Kultur über die jeweils      allein. Studien belegen immer wieder
Stets geht es um Kategorisierung in         »anderen« verankert sind und in den            die enge Verknüpfung der Abwertung
»wir« und »die«, an die Zuweisung von       Köpfen, Erzählungen schlummern –               der einen sozialen Gruppe mit der
Eigenschaften und schließlich um die        man weiß halt einfach, wie »die so sind«.      Abwertung anderer, von ethnischem
Bewertung – üblicherweise sind dabei        In leicht modernisierter Variante wer-         Rassismus, Antisemitismus, Antiziganis-
»wir« besser als die anderen. Sie dienen    den sie weitertransportiert, und auch          mus und Fremdenfeindlichkeit, die
damit zugleich der Selbstbestätigung        auf den ersten Blick scheinbar positive        Hand in Hand gehen, oft verbunden
und Selbstaufwertung. Vorurteile treffen    Zuschreibungen gehören dazu (Süd­              auch mit Sexismus, Homophobie und
all jene im Besonderen, die als irgend-     länder sind ja so kinderlieb, Frauen so        weiteren Abwertungsphänomenen,
wie »fremd«, »anders«, »unnormal« und       hilfsbereit und emotional, ältere weiße        wie umgekehrt auch mit der Forderung
»ungleich« gelten, jeweils aus der Sicht    Männer führungsstark). Sie bieten eine         nach Vorrechten für die Etablierten.
derjenigen, die das Sagen haben. Über       Rechtfertigung für die Ungleichbehand-         Belegt ist auch der enge Zusammen-
Zeiten und Kulturen hinweg waren            lung ganzer sozialer Gruppen oder von          hang mit Verschwörungs­mythen aller
das doch immer die gleichen oder zu-        Personen, die diesen Gruppen zugewie-          Art, teilen sie doch den Wunsch nach
mindest ähnliche Gruppen: von außen         sen werden – sowohl für Besserbehand-          vereinfachtem Verstehen, Bindung an
kommende Eingewanderte, ethnische,          lung als auch von Benachteiligung.             und Zugehörigkeit zur eigenen Gruppe,
kulturelle und religiöse Minderheiten,                                                     Kontrolle, Überlegenheit und Recht­
Frauen, sozial schwache, alte, kranke       Letztlich dienen sie dem Erhalt sozialer       fertigung (zum Beispiel dafür, keine
und behinderte Personen, oft auch           Hierarchien. Denn sie alle beinhalten          Rücksicht auf andere zu nehmen).
LSBTQ*-Personen.                            kleine Erzählungen, warum es schon
                                            ganz richtig ist, dass die einen weiter        In der sozialpsychologischen Konzep­
Vorurteile haben eine kognitive Dimen-      oben, die anderen weiter unten auf der         tion sind Vorurteile keine Lappalie,
sion, zum Beispiel sind das klassische      sozialen Leiter stehen und darüber             vielmehr bieten sie eine Grundlage für
Stereotype über ganze Gruppen im            verfügen dürfen, was als »normal und           Ungleichbehandlung bis hin zu Gewalt.
Sinne von »das ist typisch für …«, also     richtig« gilt, während die jeweils ande-       Gordon Allport beschreibt Vorurteile
Zuschreibungen von vermeintlichen           ren kämpfen müssen und letztlich nie           bereits 1954 in seinem Buch »Die Natur
Eigenschaften, die auf alle Personen        so ganz dazugehören.                           des Vorurteils« als Teil einer Eskalati-
dieser Gruppe übertragen werden. Sie                                                       onsspirale: Es beginnt bei scheinbar
werden begleitet von Emotionen wie                                                         harmlosen, vielleicht sogar spaßigen
Angst, Ärger, Wut, Neid oder auch                                                          Bemerkungen, geht über Beschimpfun-
Bewunderung und legen ein jeweiliges        »Vorurteile                                    gen über die soziale Distanz – dem Ab-
Verhalten nahe, etwa Abstand halten,                                                       rücken und Fernhalten von Personen
Ausgrenzung oder Angriff. Vorurteile
                                            sind weitgehend                                als Nachbarn, Freunde oder gar Partner
können bewusst oder unbewusst sein,         resistent gegen                                der eigenen Kinder –, Diskriminierung
und sie können offen geäußert werden                                                       bis hin zum Völkermord. Ergänzen
oder subtil. Offene Vorurteile äußern       Fakten.«                                       ließe sich vor dem ersten Schritt die
sich heiß und direkt, zum Beispiel in                                                      Ignoranz gegenüber sozialen Gruppen,
klar negativen Zuschreibungen, eine                                                        ihrer Bedarfe, Erfahrungen und Sicht-
Gruppe X ist dumm, dreckig, krimi-                                                         weisen.
nell, übergriffig, unzuverlässig oder
psychisch instabil (letztlich sind es im-
mer die gleichen negativen Zuschrei-
bungen). Subtil äußern sich Vorurteile
kalt und distanziert, zum Beispiel in der

Interkulturelle Woche 2021

                                                                      © 123rf/julkapulka
Foto: shutterstock/YAKOBCHUK VIACHESLAV          #offengeht | Die Vielfaltsgesellschaft gestalten und verteidigen      11

»Ich habe doch keine Vorurteile«,
»Rassismus – das gibt es bei uns nicht«,
                                             »In einer Atmo­sphäre,                Klima. Denn in einer Atmosphäre,
                                                                                   die Vorurteile gegen markierte Grup-
»Antisemitismus? Ja, die anderen, die        die Vorurteile gegen                  pen zulässt, kann jeder und jede schnell
sind ...«, »homophob? Bei uns gibt es                                              der oder die nächste sein. Zuvorderst
ja gar niemanden, der schwul oder
                                             markierte Gruppen                     be­lasten sie jene, die unmittelbar von
die lesbisch ist«, »wir behandeln alle       zulässt, kann jeder und               ihnen getroffen sind. Vorurteile wider-
gleich«. So gängig diese Überzeugun-                                               sprechen nicht nur den demokratischen
gen sind, so unwahrscheinlich sind sie.      jede schnell der oder                 Grundwerten, sie sind schlicht zutiefst
Vorurteile hat vermutlich jede:r, was
die Sache allerdings nicht besser macht.
                                             die nächste sein.«                    hässlich und gemein.

Sie vereinfachen die Informationsver­                                              FÜNF STUFEN DER ZIVILCOURAGE
arbeitung für diejenigen, die sie teilen –
man weiß einfach, wie »die« so sind –,                                             Befördert werden Vorurteile von den
erschweren aber das Leben jener unge-                                              sozialen Normen und all jenen, die
mein, die betroffen sind und dem Vor-                                              sie zulassen, die wegsehen, weghören
urteil nicht entrinnen können. Natürlich                                           oder sie für nicht so schlimm erachten.
gibt es immer einzelne Beispiele, die                                              Abgebaut werden sie umgekehrt durch
ein Vorurteil bestätigen, sie sind aber                                            soziale Normen, die Vorurteile ächten,
in all den anderen Einzelfällen schlicht                                           und durch all diejenigen, die sie als
un­gerecht, vernebeln den Blick und                                                Gefahr für das Miteinander ernst neh-
verzerren die Urteilsbildung, führen                                               men. Die »Fünf Stufen der Zivilcourage«
unter Umständen zu schlechten Ent-                                                 können helfen, Vorurteile zu durchbre-
scheidungen, behindern Kooperation,                                                chen; wie gut dies gelingt, hängt immer
unterminieren Vertrauen, vergiften das                                             vom Können und Wollen ab:

                                                                                             Interkulturelle Woche 2020
12      #offengeht | Die Vielfaltsgesellschaft gestalten und verteidigen

Auf der ersten Stufe steht die Wahrneh-
mung von Vorurteilen, sie sehen und
                                            »Sich selbst-
verstehen zu wollen. Dazu empfiehlt es      kritisch an
sich, zunächst einmal davon auszuge-
hen, dass wir alle Vorurteile haben –
                                            die eigene Nase
übrigens auch, wenn wir selbst von          fassen.«                                                                      © 123rf/julkapulka
ihnen betroffen sind. Wir können auch
davon ausgehen, dass Vorurteile unser
eigenes Handeln sowie das Handeln,          das Schimpfen über »die Ausländer«               Treffen mit Geflüchteten in einem Haus
die Gewohnheiten und Regularien in          im Kreis der Kolleg:innen. Es kann sich          der Gemeinde kann keine Begegnung
Einrichtungen und Institutionen beein-      zeigen im demonstrativen Wegdrehen               auf gleicher Augenhöhe sein.
flussen: Wem wird durch welche impli-       oder auch in klaren und deutlichen
ziten und expliziten Regelungen das         Worten, wenn es um »die Juden und                Die schwierigste Aufgabe ist es, sich
Le­ben erleichtert, wem erschwert und       Israel« geht. Bei jenen, die Vorurteile          ehrlich zu machen über den Elefanten,
wie wird dies durch Vorurteile legiti-      vielleicht wenig überlegt äußern, kön-           der im Raum steht und über den nicht
miert?                                      nen diese Worte abholend sein – bei              gesprochen wird: Die eigenen Vorteile
                                            jenen, die sie offen als Machtmittel             und Privilegien, das aus der Vergangen-
Auf der zweiten Stufe geht es darum,        nutzen, auch durchaus konfrontativ.              heit Mitgebrachte und gern Verdrängte,
Vorurteile als Problem ernst zu neh-        Wichtig sind klare Worte vor allem als           das aus der eigenen Weltanschauung
men, nicht einfach als ein »sagt man        Signal für jene, die als Mithörende da-          für wahr Gehaltene, das aus der eigenen
halt so, ist nicht so gemeint« abzutun.     beistehen. Noch wichtiger für jene, die          positiven Selbstsicht Unhinterfragte –
Auf der dritten Stufe gilt es, Verantwor-   eine solidarische Freundin oder einen            inklusive Holocaust und Kolonialismus,
tung zu übernehmen, als Person und          solidarischen Freund an ihrer Seite              der langen Historie von Frauenverach-
als Institution. Dazu gehört auch, die      gebrauchen können, der oder die sie              tung und Verfolgung sexueller Minder-
Schuld an den Vorurteilen nicht den         nicht entmündigt, sondern stützt.                heiten. Kurz: Zuallererst geht es darum,
von ihnen Betroffenen zuzuschreiben                                                          sich selbstkritisch an die eigene Nase
(» … ja, wenn die sich auch besser be-      BEGEGNUNG AUF AUGENHÖHE                          zu fassen und jene zu stärken, deren
nehmen würden … «), damit die Opfer                                                          Gleichwertigkeit eben nicht selbstver-
zu Tätern zu machen und sich selbst zu      Begegnung hilft, Vorurteile abzubau-             ständlich ist. v
entlasten. Auf der vierten Stufe geht es    en. Aber Vorsicht, Begegnung auf glei-
um die Kenntnis von Handlungsmög-           cher Augenhöhe. Dazu gehört, Räume
lichkeiten, auf der fünften darum, auch     zu schaffen, die allen gleichermaßen             Beate Küpper ist Sozialpsychologin und
tatsächlich zu handeln.                     vertraut sind, Settings herzustellen, in                       hat eine Professur für Soziale
                                            denen sich alle gleichermaßen wohl                             Arbeit in Gruppen und
Handeln gegen Vorurteile kann je            fühlen, und dies nicht für andere, son-                        Konfliktsituationen an der
nach individuellem Mut und je nach          dern miteinander zu gestalten. Dafür                           Hochschule Niederrhein.
Situa­tion beim einfachen Nicht-Mitma-      bietet die Interkulturelle Woche eine                          Foto: HS Niederrhein
chen beginnen, dem Nicht-Mitlachen          wichtige Plattform. Es gilt aber auch,
bei sexistischen oder homophoben            ehrlich mit einzubeziehen, wer jenseits          Kontakt: Beate.Kuepper@hs-niederrhein.de
Witzen, dem Nicht-Miteinsteigen in          der Begegnung der Stärkere ist. Ein

                                            Weitere Texte zum Thema »Die Vielfaltsgesellschaft gestalten und verteidigen«
                                            finden Sie auf unserer Homepage

                                            • Wie soll man auf Hate Speech reagieren? – Zwei Ansätze | Liriam Sponholz und Said Rezek
                                            • Wir müssen reden! – Interkulturelle Projekte des Polizeipräsidiums Südosthessen |
                                              Hüsamettin Eryilmaz
                                            • Die steinigen Wege der Migrant*innen­organi­sationen in Richtung
                                              Akzeptanz, Teilhabe und Wertschätzung | Anja Treichel
                                            • »Antiziganismus« – (K)ein Thema für die Interkulturelle Woche? |
                                              Francesco Arman

                                            www.interkulturellewoche.de/themen

Interkulturelle Woche 2021
#offengeht | Die Vielfaltsgesellschaft gestalten und verteidigen     13

ALLES EINZELFÄLLE?
Angesichts von Rassismusvorwürfen und
rechtsextremen Umtrieben schwindet
das Vertrauen in die Polizei –
Das Gegenmittel: Mehr Kontakte
und Gespräche

Canan Topçu

R
          echtsextreme Inhalte in Chat-
          gruppen, von Polizeicomputern

                                                                                                                                 Foto: adobestock/Björn Wylezich
          abgeschickte Drohmails, Racial
Profiling und illegitime Gewaltanwen-
dung: Die Polizei steht massiv in der
Kritik. Berichte über rassistische Vor­
fälle bei der Polizei, über das Fehlver-
halten Einzelner und über Rassismus
fördernde Strukturen in Sicherheits­
behörden häufen sich. Rund um den
Jahrestag des Hanauer Attentats äußer-
ten Angehörige der Ermordeten, Be-
troffene von polizeilichen Maßnahmen          Wie ver­
und Vertreter:innen unterschiedlicher         breitet ist
Minderheitengruppen Kritik an der             Rassismus tat-
Polizei. Menschen mit Migrations­             sächlich in der
geschichte und der Selbstbezeichnung          Polizei? Muss
People of Color (PoC) machen zuneh-           anhand der sich
mend ihre negativen Erfahrungen               häufenden Vorfälle
und ihren Vertrauensverlust öffentlich.       und nach dem Bekannt-
»Deutschland, wir glauben nicht mehr          werden von rechtsextremen
an dich. Ein Staat, der nicht schützt,        Haltungen und Handlungen von
eine Polizei, die nicht hilft, eine Gesell-   Polizeibeamten davon ausgegangen
schaft, die nichts ändert. Hanau hat in       werden, dass es keine Einzel­fälle sind,
vielen Menschen etwas zerstört – ihr          sondern dass ein strukturelles Problem
Vertrauen«: So titelte beispielsweise Zeit    besteht? Konkrete Daten zu Rassismus       auf
Online im Februar 2021 Erfahrungs­            bei der Polizei gibt es nicht. Jedoch      einzelne
berichte von jungen Menschen aus              legt eine jüngst veröffentlichte Unter­    Polizei­be­amt:in­nen
Minderheiten-Communities.                     suchung der Ruhr-Universität Bochum        zurückzuführen. Vielmehr müsse von
                                              die Vermutung nahe, dass es ein ernst-     einem strukturellen Problem ausgegan-
                                              zunehmendes Problem ist. Die Benach-       gen werden, so der Befund des Krimi-
                                              teiligung von People of Color und          nologen Tobias Singelnstein.
                                              Eingewanderten und ihren Nachkom-
                                              men ist laut der Studie nicht allein

                                                                                                   Interkulturelle Woche 2021
14      #offengeht | Die Vielfaltsgesellschaft gestalten und verteidigen

Im Rahmen des Projekts mit dem Titel
»Körperverletzung im Amt durch Poli-
                                             »Rassismus ist                              Der Wissenschaftler hat einen Vorschlag
                                                                                         dafür, wie Polizisten auf ihren künftigen
zistInnen« befragten Singelnstein und        kein individuelles                          Beruf vorbereitet werden könnten:
sein Forscherteam mehr als 3000 Perso-                                                   Anstatt Polizeianwärter:innen durch
nen, die körperliche Gewalt durch die
                                             Problem einzelner                           eine Dienststelle nach der anderen »zu
Polizei erfahren haben und diese als         Beamt:innen.«                               schleusen«, sollten in die Ausbildung
rechtswidrig einstufen. Die Erfahrungen                                                  »mehrmonatige Betriebspraktika in
von People of Color und Menschen                                                         polizeifremden (sozialen) Einrichtun-
mit Migrationsgeschichte unterscheiden       Praktiken »in die Kultur der Polizei        gen« integriert werden. Auf diese Weise
sich deutlich von denen weißer Perso-        und in das Selbstbild von Polizisten und    erhielten angehende Polizisten Ein­
nen. So gaben zwei Drittel der befrag-       Polizistinnen eingebaut« sind und wel-      blicke in Arbeitsbereiche, »die eben-
ten PoC an, sich in den mutmaßlichen         che Rolle Diskriminierung in diesem         falls ein hohes Einfühlungsvermögen
Gewaltsituationen von der Polizei dis-       Denken spielt. Behrs Analyse: Zum Ab-       er­fordern«, aber nicht mit der Mög­
kriminiert gefühlt zu haben. Aus den         bau von diskriminierendem Verhalten         lichkeit zur machtvollen Intervention
Ergebnissen folgert Singelnstein, dass       tragen Polizeiausbildung und die Poli-      ausgestattet seien. Solange die Berufs­an­
Rassismus kein individuelles Problem         zeistrukturen nicht ausreichend bei; die    fänger:in­nen ausschließlich in ein beruf­
einzelner Beamt:innen ist: »Es hat eben      Polizeikultur gehe von »der Fiktion der     liches Klima hineinwüchsen, in dem die
auch mit den Strukturen der Polizei zu       vorurteilsfreien und diskriminierungs-      Auffassung dominiere, »dass die Mehr-
tun: Mit den Aufgaben der Polizei, der       freien Praxis, mithin von einer sauberen    heit der Kundschaft Probleme macht,
Art und Weise, wie sie diese erledigt,       Polizeiarbeit« aus.                         und nicht Probleme hat«, solange werde
was für eine Binnenkultur es gibt und                                                    sich an den bestehenden Diskriminie-
wie mit Fehlern und Missständen umge-        MEHR SELBSTREFLEXION IN                     rungsdispositionen nichts verändern.
gangen wird.«                                DER AUSBILDUNG
                                                                                         In den Aussagen von Behr erkennt
UNABHÄNGIGE VERTRAUENS­                      Diskriminierendes Verhalten führen          Gökalp T. sich und auch seine Kol­leg:in­
PERSONEN BEI DER POLIZEI                     Behr und andere Forscher auch darauf        nen wieder. Er ist seit knapp 20 Jahren
                                             zurück, dass in der Ausbildung Selbst­      Polizeibeamter und heißt eigentlich an-
Ernst genommen werden sollte der             reflexion und die Beschäftigung mit         ders. Über seine Erfahrungen aus der
Wunsch von direkt und indirekt Betrof-       gesellschaftlicher Vielfalt zu wenig vor-   Zeit als Polizist in Frankfurt möchte er
fenen nach unabhängigen Vertrauens-          kommen. Die meisten Polizeibeamten          aber nur anonym sprechen. Gökalp T.
personen innerhalb der Polizeistruktur.      hätten außerhalb ihres Berufs gar nicht     ist Sohn türkischer Arbeitsmigranten
Nach der Studie zum Thema Polizeige-         oder nur wenig Kontakt zu »Menschen         und hat sich ganz bewusst für diesen
walt ist das als Forderung an das Innen-     mit bestimmter Zugehörigkeit«, somit        Beruf entschieden. Der 45-Jährige ist
ministerium herangetragen worden.            kein Korrektiv zu den immer nur als         gern Polizist und ärgert sich darüber,
Denn die Beamt:innen, die Zeug:innen         delinquent erlebten Menschen aus die-       dass sein ganzer Berufsstand unter Be-
von Missständen werden, brauchen             ser Gruppe.                                 schuss geraten ist. »Es vergeht ja kaum
Rückhalt, um sich vom Corpsgeist frei-                                                   ein Tag, an dem wir nicht gebasht wer-
machen und gegebenenfalls Anzeige            In einer diverser werdenden Gesell-         den«, sagt er.
erstatten zu können.                         schaft sei aber für Polizeibeamte eine
                                             rassismuskritische und diskriminie-
Mit den Ursachen von diskriminieren-         rungsbewusste Selbstreflexion unab-
den Praktiken bei Polizisten hat sich        dingbar, wobei Diskriminierung nicht        Canan Topçu ist freie Journalistin, Autorin
auch Rafael Behr befasst. Er ist Profes-     allein im Kontext ethnischer und kultu-     und Referentin. Außerdem ist sie Dozentin
sor an der Akademie der Polizei Ham-         reller Herkunft, sondern auch auf der       an der Hochschule für Polizei und Verwaltung
burg, lehrt Kriminologie und Soziologie      Ebene sozialer Ungleichheit beachtet        in Mühlheim am Main. Sie publiziert vor
und forscht unter anderem zu Organi­         werden müsse. »Obwohl gerade die                          allem zu den Themen Integra­
sationstheorie und -kultur der Polizei       jüngeren Führungskräfte wissen, wie                       tion, Migration und Islam und
sowie zu den Themen Migration und            wichtig hier soziale Handlungskompe-                      ist Mitglied im Ökumenischen
Inte­gration im polizeilichen Kontext.       tenz der Polizistinnen und Polizisten                     Vorbereitungsausschuss zur
In dem Aufsatz »Zur Legitimation poli-       ist, fehlt es nach wie vor an schlüssigen                 Interkulturellen Woche.
zeilicher Kontrolle – ›Racial-‹‚ ›Social-‹   Konzepten einer evidenzbasierten und                      Foto: privat
und ›Criminal-Profiling‹ im Diskurs«         sozialraumbezogenen Aus- und Fort­
beschreibt Behr, wie diskriminierende        bildung der Polizei«, so Behr.              Kontakt: c.topcu@schreibenundsprechen.de

Interkulturelle Woche 2021
#offengeht | Die Vielfaltsgesellschaft gestalten und verteidigen         15
Foto: IMAGO / Becker&Brede

                                                                                                                       mehrere Täter an den Morden beteiligt
                             Wenn man es immer nur mit Krimi­              VERUNSICHERUNG UND                          gewesen seien, die Polizei das aber ver-
                             nellen zu tun habe, die bestimmten            MISSTRAUEN                                  heimliche, um diese Täter zu schützen.
                             Ethnien angehörten, so wie etwa im
                             Frankfurter Bahnhofsviertel, dann ver-        Die Vorsitzende des Kommunalen Aus-         »Es muss mehr direkte Kontakte zur
                             stärkten diese Erfahrungen nun mal            länderbeirats in Hanau, Selma Yilmaz-       Polizei geben, mehr Gespräche mit
                             die Vor­urteile. T. ist der Ansicht, dass     Ilkhan, beobachtet, dass die vielen nega­   Beamten und Aufklärung über die Poli-
                             Polizeibeamte viel mehr als bisher die        tiven Medienberichte über die Polizei       zeiarbeit«, so Yilmaz-Ilkhan. Gerade
                             Möglichkeit bekommen sollten, ihre            zu einer starken Verunsicherung gegen-      dafür kann die Interkulturelle Woche
                             Ein­stellungen zu reflektieren und über       über dem ganzen Berufsstand führen.         den Rahmen bilden. Sie kann zum Ver-
                             den Tellerrand zu schauen. »Perspektiv-       Sie stellt aber auch fest, dass gerade      ständnis zwischen Polizei und Zivilge-
                             wechsel ist wichtig und nötig, aber nicht     bei Muslimen durchaus Vertrauen in          sellschaft beitragen – etwa durch den
                             entlang ethnischer und/oder kultureller       Sicherheitsbehörden existiere und sie       direkten Austausch mit Beamt:innen,
                             Differenz, sondern entlang der vielfäl­       sich etwa stärkere Polizeipräsenz vor       die zu Veranstaltungen eingeladen
                             tigen Formen sozialer Ungleichheit und        Moscheen wünschten. Das Misstrauen          werden. Die Veranstaltenden der IKW
                             ihrer Unter- und Überlegenheitsinsze-         unter Migranten- und Minderheiten-          können sich direkt an die Polizeidienst-
                             nierungen«, davon ist Polizeiforscher         Communities führt Yilmaz-Ilkhan auch        stellen vor Ort wenden oder an die
                             Behr überzeugt.                               auf Unkenntnis zurück – der Strukturen      Kontaktbeamten beziehungsweise an
                                                                           in Sicherheitsbehörden, der Polizei­        die Migrationsbeauftragten, wie es sie
                             Nicht zuletzt ist es die öffentliche Kritik   arbeit im Allgemeinen und der Auf­          beispielsweise in Hessen gibt. v
                             an der Polizei, die dazu führt, dass Aus-     gaben von Polizisten in bestimmten
                             bildungsinhalte weiterentwickelt und          Funktionen. Je weniger die Menschen
                             Weiterbildungsangebote erweitert wer-         wüssten, desto mehr seien sie anfällig
                             den. Wie aber kann jenseits davon Poli-       für Verschwörungserzählungen. So
                             zistinnen und Polizisten der Blick über       seien etwa im Zusammenhang mit dem
                             den Tellerrand ermöglicht und Vertrau-        Attentat in Hanau etliche Geschichten
                             en in diese Berufsgruppe wiederherge-         über den Tathergang im Umlauf ge­
                             stellt beziehungsweise gestärkt werden?       wesen – wie etwa die, dass eigentlich

                                                                                                                                  Interkulturelle Woche 2021
16      #offengeht | Die Vielfaltsgesellschaft gestalten und verteidigen

»DER DEUTSCHE KOLONIALISMUS
WIRD KLEINGEREDET«
Jeff Kwasi Klein setzt sich als Projektleiter bei Each One Teach One
für die Anliegen von Schwarzen Menschen in Deutschland ein.
Im Interview spricht er über Anti-Schwarzen Rassismus
und die Privilegien weißer Menschen.

Jutta Weduwen

Warum ist es wichtig, Anti-Schwarzen
Rassismus als besonderes Phänomen
zu betrachten?
Verschiedene Rassismen haben sich
in der Geschichte unterschiedlich ent­
wickelt. Im Versklavtenhandel ging es
darum, einen Schwarzen Körper zu
besitzen. Kolonisator*innen haben den
Blick auf den Schwarzen Körper ge­
richtet. Auch heute ist Anti-Schwarzer
Rassismus sehr stark auf Körperlich­
keiten bezogen. Es gibt diese »positi-
ven« Vorurteile gegenüber Schwarzen
Menschen, dass sie sportlich sind, gut
tanzen können. Und häufig wird ihnen
vor­geworfen, dass sie besonders aggres-
siv seien oder irgendwie schnell sehr
»körperlich« würden und deswegen
eine Gefahr darstellten. Schwarze sind
oft besonderen Behandlungen durch
Sicherheitskräfte und Polizei ausgesetzt.    Land, in dem ich geboren und aufge-         Wie erleben Sie die derzeitige Aus­
Es findet Racial Profiling statt, Schwarze   wachsen bin, zu dem geworden ist,           einandersetzung mit dem deutschen
werden immer wieder besonders raus-          was es jetzt ist. Und im weiteren Verlauf   Kolonialismus?
gepickt, härter kontrolliert, brutaler       meiner Politisierung ging es immer          Der deutsche Kolonialismus wird klein-
angegangen.                                  mehr um Kolonialismus und den Ver-          geredet. Selbst wenn Deutschland spä-
                                             sklavtenhandel, mit dem Blick darauf,       ter eingestiegen ist als England oder
Sie haben 2019 den US-amerikanischen         den deutschen Nationalsozialismus nur       Frankreich, war es trotzdem so, dass
Politiker Jesse Jackson auf einer Reise      verstehen zu können, wenn man auch          Deutschland an einem Punkt die dritt-
nach Auschwitz begleitet. Welche             den deutschen Kolonialismus versteht.       größte Kolonialmacht der Welt war und
Rolle spielte die Beschäftigung mit der      Ich habe mich mit der Verfolgung            dementsprechend auch unglaublich
NS-Geschichte für Ihre politische            Schwarzer Menschen im Nationalsozia-        brutal und unglaublich menschenver-
Sozialisation?                               lismus beschäftigt und auch mit Über­       achtend in den Kolonien gehandelt hat.
In meiner eigenen Politisierung ist das      lebenden. Einer der letzten Schwarzen       Man kann den Nationalsozialismus
ein großes Thema gewesen. Ich wollte         Zeitzeugen, Theodor Wonja Michael,          nicht verstehen, wenn man nicht auch
verstehen, wie die Gesellschaft Hitler       ist 2019 gestorben.                         den Kolonialismus mit einbezieht in die
unterstützt und getragen hat. Es war                                                     Analyse. Es gab eine Glorifizierung der
für mich wichtig zu verstehen, wie das                                                   deutschen Kolonialgeschichte und den

Interkulturelle Woche 2021
#offengeht | Die Vielfaltsgesellschaft gestalten und verteidigen                  17

Wunsch, wieder zu alter Stärke zu er­              Meine Meinung hat sich gewandelt.            Was ist also zu tun?
wachen. Die ersten Konzentrationslager             Ich habe gute juristische Argu­mente da-     Wenn es dann darum geht, Privilegien
entstanden auf dem Gebiet der Koloni-              für gehört, dass der Begriff im Grund­       abzugeben, geht es im ersten Schritt
en. Eine angemessene Auseinanderset-               gesetz verbleibt im Sinne des Diskrimi-      darum, das Privileg abzubauen, dass
zung mit dem Genozid an den Herero                 nierungsschutzes. In Deutschland gibt        man sich nicht mit Rassismus auseinan-
und Nama hat aber bis heute nicht statt-           es, wie gesagt, ein noch anfängliches        dersetzen muss. Dass man zum Beispiel
gefunden. Es fehlen eine angemessene               Verständnis davon, was Rassismus             in seinem direkten Umfeld nicht weg-
Entschuldigung und Entschädigung.                  überhaupt ist. Und natürlich gibt es in      hört, wenn rassistische Witze erzählt
                                                   Deutschland auch aufgrund der Ge-            werden, sondern die Leute konfrontiert,
Es gibt im Moment eine kontroverse                 schichte einen Reflex, alles, was in         dass man sich informiert auch über
Diskussion darüber, ob der Begriff                 Richtung Rasse und Rassismus geht,           die eigene Positionierung als weißer
Rasse aus dem Grundgesetz gestrichen               von sich abzustoßen. Aber diese Posi­        Mensch in einem rassistischen System.
werden soll. Wie ist Ihre Meinung dazu?            tion verkennt, dass Rassismus nicht nur      Rassistische Systeme wurden errichtet,
                                                   bei Nazis stattfindet, sondern eine Struk­   um weiße Menschen zu bevorteilen,
                                                   tur hat. Es findet in der Gesellschaft       und es müssen auch weiße Menschen
                                                   eine Rassifizierung statt – Menschen         sein, die diese Systeme mit abbauen. v
             Black Lives Matter-                   werden in Rassen eingeteilt, auch wenn
             Demonstration im Juni                 die meisten sagen würden, dass biolo­        Dieser Text erschien zuerst im Magazin
             2020 in Berlin.                       gische Rassen nicht existieren. Ich hätte    »zeichen«, Ausgabe 3/2020,
                                                                                                www.asf-ev.de/infothek/themen/
             Foto: shutterstock/Hernan J. Martin   mir gewünscht, dass es dazu einen Dis-
                                                   kurs gibt in Deutschland. Ja, es gibt        Die Langversion des Interviews lesen Sie auf
                                                   keine biologischen Rassen, aber wir          www.interkulturellewoche.de/themen
                                                   müssen verstehen, dass Menschen rassi-
                                                   fiziert werden und deswegen auch die
                                                   Kategorie Rasse anders verstanden und        Jeff Kwasi Klein ist Leiter des Antidiskriminie­
                                                   interpretiert werden muss.                   rungsprojekts EACH ONE von Each One Teach
                                                                                                One e. V. (EOTO). Bei EOTO ko­ordiniert er Pro­
                                                   Rassismus funktioniert in Gesell­            jekte, die die menschenrechtliche Situation
                                                   schaften auch als Ordnungsprinzip,           von Schwarzen, afro-diasporischen und
                                                   das Menschen mehr oder weniger               Menschen afrikanischer Herkunft sichtbar
                                                   Privilegien gibt. Menschen verzichten        machen. Derzeit ist er Vorstandsmitglied des
                                                   ungern auf Privilegien, auch wenn            Migrationsrats Berlin, wo er die Interessen
                                                   sie nicht rassistisch sein wollen.                          einer Vielzahl (post-)migran­
                                                   Ich glaube, wenn Menschen hören,                            tischer Selbst­orga­ni­sationen
                                                   dass sie Privilegien haben, fühlen sie                      gegenüber den politischen
                                                   sich schnell falsch verstanden. »Jetzt                      Insti­tutionen Berlins vertritt.
                                                   wird mir abgesprochen, dass es mir
»Rassistische Systeme                              ja auch nicht immer gut geht.« Darum
                                                                                                               Foto: privat

wurden errichtet,                                  geht es nicht bei dem Wort White             Kontakt: info@eoto-archiv.de
                                                   Pri­vilege (weißes Privileg). Es geht
um weiße Menschen                                  darum, Privilegien innerhalb eines           Jutta Weduwen ist Soziologin und seit 2012
zu bevorteilen, und                                rassistischen Systems zu verstehen.          Geschäftsführerin von Aktionszeichen
                                                   Als weiße Person hat man zum Beispiel        Friedensdienste e. V. Sie ist unter anderem
es müssen auch weiße                               das Pri­vileg, dass man sich zum einen       Mitglied im Ökumenischen Vorbereitungs­
                                                   nicht mit Rassismus auseinandersetzen        ausschuss zur Interkulturellen Woche, im
Menschen sein, die                                 muss, wenn man nicht möchte. Zum             Sprecher*innenrat der Bundesarbeitsge­
diese Systeme mit ab-                              anderen hat man nicht automatisch                           meinschaft Kirche & Rechts­
                                                   Nachteile auf dem Arbeitsmarkt, bei                         extremismus (BAG K+R) und im
bauen.«                                            der Wohnungssuche, in der Schule.                           Vorstand der Aktionsgemein­
                                                   Wir Schwarzen Menschen sind gezwun-                         schaft Dienst für den Frieden.
                                                   gen, uns mit Rassismus aus­einander­                        Foto: privat
                                                   zusetzen, weil er allgegenwärtig in unse-
                                                   rem Leben ist.                               Kontakt: weduwen@asf-ev.de

                                                                                                             Interkulturelle Woche 2021
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