Die gesteuerte Zukunft - Die Macht der Algorithmen erreicht die nächste Stufe: Unternehmen, Behörden und Wissenschaftler versuchen mit Hilfe ...
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Titel Die gesteuerte Zukunft Die Macht der Algorithmen erreicht die nächste Stufe: Unternehmen, Behörden und Wissenschaftler versuchen mit Hilfe gigantischer Mengen persönlicher Daten, unser Leben zu lenken. Wollen wir das?
n lauen Frühlingsabenden bietet A der Blick von der Hamburger 56 Köhlbrandbrücke auf den Hafen eine Postkartenidylle: Die Elbe glitzert im Abendrot, Stapler, Kräne und Lastwagen bewegen sich wie in Zeitlupe, ab und an gleitet ein Containerschiff vorbei. Aus der Sicht von Sebastian Saxe ist das Areal aber auch dann vor allem eine Gleichung mit vielen Unbekannten. Der 57-Jährige ist Mathematiker und arbeitet seit vierein- halb Jahren bei der Hafengesellschaft an seiner bislang kniffligsten Rechenaufgabe. Das Hafengebiet ist 7200 Hektar groß. Etwa 200 Züge rollen täglich über die 300 Kilometer Schienennetz, um die angelan- deten Güter über 130 Brücken abzutrans- portieren. Saxe soll diesen logistischen Alp- traum optimieren. Es geht um viel bei die- ser Mission des Chief Information Officer der Hamburger Port Authority (HPA). PROZENT Die Fläche ist begrenzt, ein Ausbau kaum noch möglich. Dennoch hat der MEHR FESTNAHMEN Hamburger Senat das Ziel ausgerufen, GELANGEN DER POLIZEI VON den Containerumschlag in Hamburg bis SANTA CRUZ, KALIFORNIEN, DURCH 2025 fast zu verdreifachen. Das wird nur gehen, wenn es Saxe und seinem 60-köp- DEN EINSATZ VON KOMPLEXEN figen IT-Team gelingt, eine andere Res- DATENKOMBINATIONEN. source optimal auszuschöpfen: Daten. Und davon hat er jede Menge. Heute schon wimmelt es im Hafen von Sensoren: Lkw und Güterzüge funken ständig ihre Position, einlaufende Con- tainerschiffe ihren Standort und ihre Ge- schwindigkeit. Auch in der Köhlbrand- brücke sind Sensoren verbaut, die ständig den Verkehr überwachen. „Unser Ziel ist der total vernetzte, DAN COYRO / PICTURE ALLIANCE / DPA intelligente Hafen, der Smart Port“, sagt Saxe. Ein Hafen, in dem eine Eisenbahn- klappbrücke sich beispielsweise nicht mehr zu einer bestimmten Uhrzeit öffnet, sondern kurz bevor das Schiff sie tatsäch- lich erreicht – wodurch die unnötigen fol- genden Verspätungen bei der Bahn und US-Polizisten in Santa Cruz am Terminal vermieden werden. Sogar die Köhlbrandbrücke soll „intelligent“ werden, indem sie über die Sensoren ihren Die Fachwelt hat sich auf den Begriff aktuellen Zustand meldet und den nächs- „Big Data“ geeinigt, um den Trend zu ten Wartungstermin vorhersagt. Der Sa- beschreiben, der in den Vorstandsetagen, nierungstakt musste gerade verkürzt wer- auf Kongressen wie der Berliner re:publi- den, weil deutlich mehr Schwertransporte ca vorige Woche und in etlichen neuen darüber verkehren als bislang angenom- Büchern so heiß gehandelt wird. men. Das interessierte nicht nur Saxe und „Big Brother“ war gestern. Nun ver- die HPA, sondern auch Zoll und Polizei, heißt Big Data zwar auch totale Kontrolle, denn ein Teil der Transporte war illegal. verspricht dafür aber zudem eine sinn- So soll aus der komplexen Hafenlogis- volle Steuerung unserer Zukunft in allen tik letztlich eine Maschine werden, die Lebenslagen. Autoren wie der Oxford- sich selbst steuert. Saxes Zukunftsvorstel- Professor Victor Mayer-Schönberger spre- lung ist eine Art Hafenbörse, auf der Spe- chen von einer „Revolution“. Big Data, diteure auf die Minute genau vorausbe- so betitelt er sein aktuelles Buch zum The- ZUMA PRESS / ACTION PRESS rechnen können, wie schnell ihr Contai- ma, werde unsere Arbeitswelt und sogar ner vom Wasser auf die Straße kommt. unser Denken verändern. So geht es gerade vielen Unternehmen Entscheidend ist dabei nicht die schiere weltweit: Sie entdecken einen Rohstoff Datenmenge, auch wenn sie derzeit mit neu, den sie selbst, ihre Anlagen und Kun- einer Wucht anschwillt, die alles Bisheri- den im Überfluss produzieren: Daten. ge in den Schatten stellt: 2012 sollen welt- D E R S P I E G E L 2 0 / 2 0 1 3 65
Titel Hauptstadt Stockholm werden Algorith- ziemlich sicher vorhersagen lässt, wo wir men zum Verkehrsmanagement einge- uns morgen oder in einem Jahr zu einem 50 setzt – laut offiziellen Angaben haben bestimmten Zeitpunkt aufhalten werden. sich die Fahrzeiten durch die Innenstadt Weil dank Big Data unser Leben und seither halbiert, die Emissionen sind um Verhalten berechenbar zu werden scheint, zehn Prozent zurückgegangen. Und On- spricht der amerikanische Tech-Guru line-Händler nutzen die Analysen längst, Chris Anderson vom „Ende der Theorie“. um ihre Verkaufsstrategien zu optimieren. Zu ähnlichen Befunden kommt der öster- Das weitverbreitete „Kunden, die diesen reichische Medienmanager Rudi Klaus- Artikel kauften, interessierten sich auch nitzer, der sein aktuelles Buch zum The- für …“ ist dafür nur ein Beispiel. ma „Das Ende des Zufalls“ genannt hat. Google und Facebook sind Big Data in Warum sollten wir uns künftig auf die Reinkultur. Ihre Geschäftsmodelle basie- Intuition verlassen, wenn alles dank ren auf dem Sammeln, Auswerten und Datenanalyse vorhersagbar zu werden Vermarkten der Informationen ihrer Nut- scheint? Und wo bleiben in so einer Welt zer – durch möglichst passgenau zuge- die Überraschungen, die Fortschritt erst schnittene Werbung. Den Facebook-An- provozieren? legern war diese gigantische Datenbank Tatsächlich verlassen sich viele schon und die Ahnung, was man im Big-Data- jetzt ausgerechnet im intimsten Lebens- PROZENT Zeitalter mit mehr als einer Milliarde in- dividueller Profile anstellen kann, gut bereich auf die Prognosefähigkeit seelen- loser Algorithmen: Die ausführlichen Fra- DER POTENTIELL VERWERTBAREN hundert Milliarden Dollar wert. gebögen der Online-Dating-Agenturen DATEN STAMMTEN IM JAHR 2010 AUS Mittlerweile beflügelt die Aussicht, den sollen die Wahrscheinlichkeit erhöhen, eigenen Datenschatz zu Dollars zu ma- den passenden Partner zu finden. ÜBERWACHUNGS- chen, die Phantasie vieler Branchen, von Supermärkten über die Automobilindu- strie und Luftfahrt bis zu Banken und KAMERAS. 37 Versicherungen. 2012 lag der weltweite Umsatz für Big-Data-Anwendungen nach QUELLE: IDC Zahlen des Branchenverbands Bitkom bei 4,6 Milliarden Euro. Bis 2016 soll er auf knapp 16 Milliarden steigen. weit 2,8 Zettabyte an Datenvolumen ent- Auch in der Medizin und der Wissen- standen sein – das entspricht einer Zahl schaft generell wird mit zahllosen Big- mit 22 Stellen. Experten prognostizieren, Data-Ansätzen experimentiert. Selbst die dass es bis 2020 sogar 40 Zettabyte wer- öffentliche Hand und besonders Polizei den könnten. Allein im Internet werden und Sicherheitsbehörden, sonst in IT- tagtäglich so viele Daten herumgeschickt, Fragen nicht eben vorneweg, haben die dass rund 250 Millionen DVDs gebraucht Potentiale für die eigene Arbeit erkannt. würden, wollte man sie alle abspeichern. Und auch dieses Volumen verdoppelt sich Was viele elektrisiert, ist die Verhei- ßung, dank der blitzschnellen Massen-Da- PROZENT annähernd alle zwei Jahre. tenanalysen in die Zukunft schauen zu DER BEFRAGTEN DEUTSCHEN Wirklich neu ist, wie Unternehmen, können: Tatsächlich lassen Algorithmen UNTERNEHMEN ERWARTEN DURCH Behörden und Wissenschaftler ihre Daten- offenbar erstaunlich präzise Vorhersagen schätze nun auszuwerten und zu analy- über menschliches Verhalten zu – sei es OPTIMIERTE LOGISTIKPROZESSE sieren beginnen. Weil Speicherplatz fast nichts mehr kostet und die Rechner immer schneller werden, können sie inzwischen vor dem Supermarktregal oder im Stra- ßenverkehr bis hin zur Zahlungsmoral bei fälligen Kreditraten. GERINGERE KOSTEN. rund um die Uhr unterschiedlichste Da- Schon 2010 sagte Google nur aufgrund QUELLE: EXPERTON/BITKOM tenarten verknüpfen und korrelieren. Al- des Suchverhaltens seiner Nutzer eine gorithmen sind die Spürhunde in diesem Grippewelle voraus. Der amerikanische virtuellen Raum. Sie durchwühlen das Datenspezialist Nate Silver prognostizier- Chaos, entdecken ungeahnte Muster – und te das Ergebnis der jüngsten US-Präsi- enthüllen so zugleich neue Zusammenhän- dentschaftswahlen lange im Voraus und ge, Erkenntnisse und Geschäftsmodelle. präziser als alle Demoskopen. Und auch wenn die wenigsten Bundes- Sogar die Wahrscheinlichkeit von Ver- bürger bislang etwas mit Big Data anfan- brechen in bestimmten Stadtteilen wird gen können, erleben sie die neue Macht in einigen Städten vorausberechnet. „Pre- der Algorithmen schon allerorten: Kre- dictive Policing“ heißt das Verfahren, vor- ditkartenfirmen verwenden die Analysen, ausschauende Polizeiarbeit, die an eine um ungewöhnliche Nutzungsmuster Hollywood-Fiktion erinnert: In Steven schnell zu erkennen – und Karteninhaber Spielbergs „Minority Report“ wurden automatisch zu warnen, wenn mit ihrer einst Täter für Verbrechen verhaftet, die Kreditkarte plötzlich irgendwo große sie noch gar nicht begangen hatten. Rechnungen beglichen werden, obwohl Auch die mutmaßlichen Delinquenten sie bislang nie vor Ort waren. Energiefir- ausfindig zu machen ist offenbar kein men analysieren den idealen Standort für Problem: Wissenschaftler haben heraus- Windräder mit Wetterdatenanalysen bis gefunden, dass sich mit Hilfe unserer Datenexperte Saxe auf den Meter genau. In der schwedischen Handy-Ortungs- und Adressbuchdaten „Unser Ziel ist der intelligente Hafen“ 66 D E R S P I E G E L 2 0 / 2 0 1 3
ROLAND MAGUNIA / DAPD Containerterminal im Hamburger Hafen: Eine komplexe Maschine, die sich im Idealfall selbst steuert In Firmen, Forschungslabors und man- Software von Blue Yonder ist so program- sich leicht ein Risikoprofil erstellen lässt, chen Behörden setzt eine Art Goldrausch miert, dass sie mit jeder eingehenden In- seiner Versicherung zur Verfügung stelle, ein. Vielerorts wird das Mantra von den formation dazulernt und eigenständig Zu- könnte künftig mit besonders günstigen Daten als dem neuen „Öl“ oder „Gold“ sammenhänge erkennt. Prämien gelockt werden, so Weiss. des 21. Jahrhunderts besungen. Und So haben Weiss und seine Kollegen ent- „Big Data krempelt gerade die kom- schon jetzt profitieren einige von der Auf- deckt, dass in einer Supermarktfiliale an plette Wirtschaft um, und wir stehen erst bruchstimmung: Statistiker, Physiker und manchen Tagen der Verkauf von Milch, am Anfang“, sagt der Blue-Yonder-Chef, sogenannte Data-Scientists oder Data-Mi- Schoko-Riegeln oder Granny-Smith-Äp- der das natürlich von Berufs wegen eher ner, die Unternehmen in Sachen Big Data feln in die Höhe schnellte – immer dann positiv sieht. Wichtige Big-Data-Kunden beraten. Ähnlich wie beim klassischen nämlich, wenn in der nahe gelegenen Ju- bestätigen aber erste messbare Erfolge. amerikanischen Goldrausch des 19. Jahr- gendherberge neue Schulklassen anka- IBM hat einige „Erfolgsgeschichten“ hunderts machen vor allem diejenigen men. Die Software errechnet nun unter seiner eigenen Kunden in einer Studie gute Geschäfte, die Ausrüstung, Werk- anderem anhand der Schulferien in den zusammengefasst und berichtet darin von zeug und Expertise verkaufen, Big-Data- umliegenden Bundesländern, wie hoch Effizienzsteigerungen um 20 Prozent. Spezialisten wie die 85-Mann-Firma Blue die Wahrscheinlichkeit ist, dass neue Bus- Beim Blue-Yonder-Kunden Otto heißt es, Yonder zum Beispiel. ladungen eintreffen. durch die Arbeit der Datenspezialisten Einen ähnlichen Aha-Effekt erlebten habe sich „die Qualität der Absatzpro- Wie Daten die Wirtschaft Blue-Yonder-Mitarbeiter bei einem Basis- gnose für einzelne Artikel um 20 bis 40 produkt: aufgeschnittenem Brot. „An Prozent“ erhöht. Die Versandhändler revolutionieren Brückentagen gehen Kinder nicht in die scheinen wirklich überzeugt zu sein, denn Der Mann sieht nicht aus, als läse er auf Schule, und schon wird weniger geschnit- sie setzen das Verfahren inzwischen auch Jahrmärkten aus Kristallkugeln, und doch tenes Brot gebraucht“, erklärt Weiss. Die bei Unternehmensmarken wie Sport- sagt er mehrfach diesen seltsamen Satz: Warenbestellsysteme passten sich voll- Scheck ein – und haben sich zu 50 Pro- „Unser Job sind Vorhersagen aller Art.“ automatisch an. „Eine vergleichsweise zent an Blue Yonder beteiligt. Uwe Weiss ist Geschäftsführer von Blue einfache Sache.“ Wie weit die Möglichkeiten reichen, Yonder, einer Firma, die erst fünf Jahre Durch den dauernden Dateneingang zeigt auch der amerikanische Anbieter alt ist. Weiss schaut nicht in Tarotkarten entsteht bei Blue Yonder so etwas wie Netflix, der als DVD-Verleih begann und oder die Eingeweide unbescholtener Nutz- eine Ad-hoc-Marktforschung über das seine 36 Millionen Kunden mittlerweile tiere, sondern auf die Zahlenkolonnen Kaufverhalten, die auch für andere Zwe- hautsächlich per Streaming mit Filmen von Supermarktkassen, Wetterdiensten, cke eingesetzt werden kann. Die Droge- versorgt. Mit der Serie „House of Cards“, Ferienterminen oder Verkehrsberichten. riekette dm lässt von der Weiss-Truppe einem Polit-Thriller mit Kevin Spacey in All das fließt in eine selbstentwickelte ausrechnen, wie viel Personal sie in wel- der Hauptrolle, feierte Netflix kürzlich Datenanalyse-Software, die Blue-Yonder- cher Filiale einsetzen muss, auch den Um- neue Einschaltrekorde. Das war wohl kein Kunden wie die Otto-Gruppe oder die satz pro Niederlassung prognostiziert Zufall, denn der Einkauf der Serie wurde Drogeriemarktkette dm dann laut Eigen- Blue Yonder. mittels Datenanalysen abgesichert. Net- werbung mit „präzisen Prognosen“ ver- Für Versicherungen sind die Datenana- flix als großes Streaming-Portal verfügt sorgt – etwa über den zu erwartenden Ab- lysen ähnlich interessant. So schildert dafür über ideale Voraussetzungen: Die satz eines bestimmten Artikels. Weiss als „Zukunftsszenario“ das mit Firma weiß tagesaktuell, welche Genres Für den Handel ist das extrem wichtig, mehr als 1000 Sensoren ausgestattete gut laufen, wann Zuschauer das Interesse denn so können Lieferschwierigkeiten Auto, das unser Fahrverhalten permanent verlieren oder welche Schauspieler sie be- oder Lagerkosten vermieden werden. Die überwacht. Wer diese Daten, aus denen sonders mögen. So entsprach „House of D E R S P I E G E L 2 0 / 2 0 1 3 67
Titel Cards“ exakt dem prognostizierten Publi- Die Idee für das neuartige System ist kumsgeschmack – die Rechnung ging auf. hier in Potsdam-Babelsberg entstanden, 75 Aus ähnlichen Gründen ist das Musik- das bislang vor allem für seine Filmstu- Streaming-Portal Spotify beliebt. Die be- dios bekannt ist. Das Server-Gestell steht teiligten Plattenfirmen bekommen aktu- im Hauptsitz des Hasso-Plattner-Instituts elle Einblicke in Musikgeschmack und (HPI), und tatsächlich war der SAP-Mit- Nutzungsverhalten, Bands können ihre gründer, Sponsor und Namensgeber der nächste Tournee besser planen – indem Einrichtung selbst an der Entwicklung be- sie an Orten gastieren, wo ihre Titel be- teiligt. Die Idee wirkt simpel. Die Babels- sonders oft abgerufen werden. Big Data berger Rechenmaschine saugt alle Daten verspricht aber noch ganz andere Hilfen. direkt in ihren Arbeitsspeicher – und rech- net damit um den Faktor 1000 schneller Ein Elektronenhirn soll als herkömmliche Geräte, bisweilen sogar noch mehr. den Krebs besiegen Das Verfahren, das hier als Projekt von Die Hoffnung für Millionen Krebspatien- acht Bachelor-Studenten mit dem Arbeits- ten wartet im zweiten Stock eines For- titel „Sanssouci DB“ begann, ist interna- schungsinstituts. Es ist ein Gestell mit 25 tional unter dem Namen „In-Memory“ be- Einschüben, an denen Dioden blitzen; die kannt. Es hat Innovationspreise gewonnen Rechner haben nicht wie üblich einen, und es bis ins Portfolio von SAP geschafft. PROZENT sondern jeweils 40 Prozessoren. Der Die aktuelle Hana-Datenbank-Technolo- DER DEUTSCHEN HABEN VON Raum wird eigens heruntergekühlt, damit gie des Walldorfer Konzerns basiert dar- das 1,5 Millionen Euro teure Gehirn mit auf. Der Chef des HPI, der Mathematiker seinen 1000 Prozessorkernen sich nicht Christoph Meinel, sieht neben den kom- BIG DATA heißrechnet. merziellen Möglichkeiten auch Chancen für die Krebstherapie. „Wir stehen dank NOCH NIE GEHÖRT des In-Memory-Verfahrens an der Schwel- ODER KENNEN DIE BEDEUTUNG NICHT. le zur personalisierten Medizin.“ 40 Bislang daure es Monate, das Genom QUELLE: BITKOM, ARIS eines Menschen zu entschlüsseln, um zu einer individuell auf den Patienten ab- gestimmten Therapie zu kommen – kein entwicklung wird bereits experimentiert: Wunder, bei rund drei Milliarden Erbgut- Denn natürlich können Chips und Senso- bausteinen, die jeder Mensch in sich trägt. ren mit derlei Alarmfunktionen auch di- BIS Heute weiß man allerdings, dass jeder rekt in künstliche Hüftgelenke eingebaut Tumor verschieden ist und Therapien des- werden, um frühzeitig ein Warnsignal zu ZU halb unterschiedlich wirken. Mit Hilfe seines neuen „Superhirns“ geben. lasse sich eine individuelle Genom-Be- Der Algorithmenbastler stimmung auf wenige Sekunden redu- PROZENT BESSERE zieren, so Meinel. Zudem saugt der Ba- belsberger Computer über Nacht alle In- Eigentlich wollte Stefan Henß sich mit Sportwetten etwas zum Studium hinzu- VERKAUFSPROGNOSEN formationen aus öffentlich zugänglichen Genom-Datenbanken und sucht darin nach vergleichbaren Fällen, um so Thera- verdienen. Er schrieb ein Programm, das Fußballergebnisse präzise vorhersagen sollte, um die Buchmacher auszutricksen. ERREICHTE DIE OTTO-GRUPPE FÜR pien ausfindig zu machen, die anderswo Das klappte eher leidlich. EINZELNE PRODUKTE DURCH DIE eine hohe Überlebensrate bei höchstmög- Mit 10 hatte Henß seinen ersten Com- ARBEIT VON DATENSPEZIALISTEN. licher Lebensqualität sicherten. „Dieser puter bekommen, mit 13 angefangen zu Abgleich hätte bis vor kurzem noch Mo- programmieren. Nun, vor drei Jahren, nate gedauert“, so Meinel. mit Anfang 20 und als Student an der TU Forscher der Universität Manchester Darmstadt, stieß er auf „Kaggle“ – eine arbeiten derweil an einem anderen Big- Plattform, auf der Unternehmen Wettbe- Data-Projekt, einem „magischen Tep- werbe ausschreiben. Es geht auch hier pich“, der allein lebenden Senioren hel- um möglichst konkrete Vorhersagen und fen könnte. Auf dem Fußboden wie ein knifflige Aufgaben, für die sie keine ei- normaler Teppich ausgelegt, registrieren gene Lösung finden. die eingebauten Sensoren Schritte. So Henß blieb an der Aufgabe einer Auto- kann ein Rechner auswerten, ob die Per- handelsplattform hängen, die nach einem son aufgestanden ist, und die Uhrzeit mit Weg suchte, die Weiterverkaufsmöglich- sonst üblichen Bewegungsmustern abglei- keiten von Gebrauchtwagen zu prognos- chen. Wenn es Abweichungen vom übli- tizieren. Er baute einen Algorithmus, in chen Tagesrhythmus gibt, also ein medi- dem er zig Einzelinformationen über die zinischer Notfall vorliegen könnte, wird Autos „in einen sinnvollen Kontext“ setz- Alarm geschlagen. te, wie er es beschreibt, also Daten wie Die Teppich-Sensoren können kleinste Erstzulassung, Kilometerstand, Jahres- Gang-Auffälligkeiten registrieren und so laufleistung. bereits vor einem möglichen Sturz an- Der Hesse schickte seine Lösung ein Blue-Yonder-Chef Weiss zeigen, dass etwas bei dem Patienten nicht und belegte damit den sechsten Platz un- „Unser Job sind Vorhersagen aller Art“ stimmt. Auch mit einer logischen Weiter- ter 571 internationalen Teams, die um die 68 D E R S P I E G E L 2 0 / 2 0 1 3
ausgesetzten 10 000 Dollar Prämie kon- kurrierten. Sein Ehrgeiz war geweckt: „Es war unglaublich motivierend, sich mit anderen zu messen, da habe ich Lunte gerochen“, so Henß, der seither zu einem der erfolgreichsten Algorithmenbastler bei Kaggle avancierte. Er sucht sich die Aufgaben inzwischen strategisch aus – auch nach Höhe des Preisgelds. So kam er auch zu seinem bisher größ- ten Triumph. Es ging um ein Programm, das automatisiert und zuverlässig die Auf- sätze von Schülern bewerten sollte. Eine Benotungsmaschine sozusagen. Henß baute aus diversen Standardal- gorithmen ein Programm, das den Reich- tum der Sprache berücksichtigt, den An- teil der Rechtschreibfehler pro Wort eru- iert und auch Grammatikfehler erkennt. Es kann Rückschlüsse auf die Inhalte der Aufsätze ziehen. Sogar ob sie eher nüch- tern geschrieben wurden oder Emotionen im Spiel waren, soll sein Algorithmus er- kennen. Eineinhalb Monate lang habe er an nichts anderem gearbeitet, am Ende be- stand das Programm aus 12 000 Zeilen Code. Eine Woche vor Schluss des Wett- bewerbs tat er sich mit zwei anderen Be- werbern zusammen, um die Gewinnchan- cen zu erhöhen. Die neuen Partner, neben Henß ein Engländer und ein Amerikaner, kannten sich nur über die Plattform und warfen ihre Lösungen zusammen. Sie ge- wannen. Das Preisgeld in Höhe von 60 000 Dollar teilten sie kollegial. „Tests haben ergeben, dass sich unsere Bewertungen nicht signifikant von den Lehrerbewertungen unterschieden“, sagt Henß. Mittlerweile hat das Trio die ent- standene Software an das US-Unterneh- men Pacific Metrics verkauft, Henß schreibt an seiner Master-Arbeit und muss sich um seine berufliche Zukunft wohl nicht sorgen. Doch es gibt auch Men- schen, denen Big-Data-Anwendungen das Leben schwerer machen. Das Ende von Kommissar Zufall Dümmer hätte es für den Autodieb kaum laufen können. Als er sich in einer Tief- garage der kalifornischen Stadt Santa Cruz an einem Wagen zu schaffen mach- te, wurde er von einem Polizisten beob- achtet, der wenige Meter weiter in einem zivilen Einsatzfahrzeug gerade an seinem Mittagessen kaute. Noch bevor der Wa- gen aufgebrochen war, wurde der Dieb festgenommen. Der Streifenbeamte war nicht zufällig zur rechten Zeit am rechten Ort. Er ver- brachte seine Mittagspause an diesem Tag in der Tiefgarage, weil ein Computerpro- JOCHEN ZICK / KEYSTONE gramm es ihm empfohlen hatte. Seit rund zwei Jahren werden alle knapp hundert Polizisten der Stadt jeden Tag zu Dienstbeginn nicht nur von ihren Vorge- Otto-Verteilzentrum in Haldensleben setzten, sondern von einem Algorithmus 69
Titel 40000000000 auf ihre Schicht vorbereitet. Ständig neu gefüttert mit allen relevanten Daten, die TERABYTE AN DATEN WERDEN IM JAHR 2020 WELTWEIT PRODUZIERT. IM JAHR 2012 WAREN ES Die beiden Datenexperten Mohler und Brantingham haben mittlerweile eine der Polizeiapparat zu bieten hat, errechnet 2,8 MILLIARDEN TERABYTE. Firma gegründet und vermarkten Pre- das Programm, in welchen Gegenden der dictive Policing weltweit. Allein in den QUELLE: IDC Stadt zu welcher Uhrzeit die höchste Wahr- USA haben bereits mehr als ein Dutzend scheinlichkeit für eine Straftat besteht – Police Departments die Software einge- etwa Einbruch, Raub oder Autodiebstahl. führt, darunter Los Angeles, Boston und Tötungsdelikte sind bislang ausgeschlossen. Karten auf. In zwei Dritteln der Fälle gab Chicago. Jüngst war Clark in England, Die 15 gerade gefährlichsten Gebiete es bisher tatsächlich verdächtige Vor- um der Polizei von Kent bei der Einfüh- tauchen als Quadrate auf elektronischen kommnisse. „Ich wäre schon mit zehn rung zu helfen. Prozent glücklich gewesen“, sagt der stell- Und auch Militärs und Geheimdienste vertretende Polizeichef von Santa Cruz, nutzen die Macht der Datenanalyse (siehe Steve Clark. Seite 50). So spielte Big Data sogar bei 4,4 Die vorhersehende Kriminalitätsbe- der Jagd nach Osama Bin Laden eine kämpfung wurde maßgeblich von zwei wesentliche Rolle, wie der amerikanische Professoren entwickelt, dem Computer- Autor Mark Bowden in seinem Buch wissenschaftler George Mohler und dem („The Finish“) beschreibt. Danach waren auf Verbrechensszenarien spezialisierten es unter anderem Datenbankanalysen, Anthropologen Jeffrey Brantingham. Das die die Fahnder schließlich ins pakistani- Programm der beiden basiert auf Model- sche Abbottabad führten. len zur Vorhersage von Nachbeben nach Einer der Ausrüster des amerikani- Erdbeben. schen Verteidigungsministeriums ist die Steve Clark hatte Anfang 2011 zufällig 2004 gegründete Firma Palantir, hinter von der Idee der beiden Wissenschaftler der unter anderen der deutsch-amerika- gehört. Gemeinsam setzten sie ein Pilot- nische Investor Peter Thiel steckt. Unter projekt auf. Sie fütterten das Programm Geheimdienstlern und Militärs ebenfalls mit Verbrechensstatistiken aus acht Jah- heiß gehandelt wird die kalifornische Soft- MILLIONEN ren und zahllosen anderen Daten, die eine Rolle spielen können: das Wetter, ware-Schmiede Splunk, deren Zentrale in einer ehemaligen Wurstfabrik in San NEUE JOBS die Nähe zu Parks und Buslinien. Dazu muss jedes Verbrechen mit jedem ande- ren in Beziehung gesetzt werden. Francisco untergebracht ist. Vor wenigen Wochen wurde Splunk von Technologie- journalisten unter die fünf innovativsten IM IT-BEREICH DURCH BIG DATA, „Es gab anfangs viele Skeptiker, mich Unternehmen der Welt gewählt – Google WELTWEIT, BIS 2015 eingeschlossen“, sagt Clark. „Aber die rangierte nur auf Platz elf. QUELLE: GARTNER Zahlen sprechen eine klare Sprache: Es Ihre Anwendungen nutzen Regierun- funktioniert.“ Nach dem ersten Jahr mit gen, Behörden und Unternehmen aus über der neuen Verbrechensvorhersage sei in 90 Ländern. Auf dem amerikanischen Hei- Santa Cruz die Zahl der Einbrüche um matmarkt gehören zu den Splunk-Kunden elf Prozent und die der Autodiebstähle auch das Pentagon und die Heimatschutz- um acht Prozent zurückgegangen. Auch behörde. Die Software des neun Jahre al- die Zahl der Festnahmen hat sich in Santa ten Unternehmens analysiert und inter- Cruz deutlich erhöht – um 56 Prozent. pretiert Daten von Maschinen – egal wel- Inzwischen ist das ganze Polizeipräsi- cher Art: Mobilfunktürme, Klimaanlagen, dium technisch hochgerüstet. Alle Cops Web-Server oder Flugzeuge. NORBERT VON DER GROEBEN / DER SPIEGEL sind mit Smartphones und Tablets ausge- „Die Turbinen eines Airbus A380 pro- stattet, um von unterwegs auf das webba- duzieren während eines Flugs so viele sierte Vorhersageprogramm zugreifen zu Daten wie ein mittelgroßes Rechenzen- können. Sie sind angehalten, wann immer trum“, sagt Guido Schröder, der Produkt- es geht, Zeit in den markierten Gebieten chef von Splunk. zu verbringen. Clark hat reihenweise Ge- Schröder kommt ursprünglich aus Pa- schichten parat, wie Einbrecher und Die- derborn, war lange bei SAP, nun hat er be von seinen Leuten in flagranti in einer 160 Entwickler und Ingenieure unter sich, der vorhergesagten Zonen erwischt wur- deren Ziel es ist, die von Maschinen pro- Santa-Cruz-Cop Clark (r.), Kollege den. Er lacht, wenn er die Erfolgsgeschich- duzierte Datenflut für Behörden, aber „Die Zahlen sprechen eine klare Sprache“ ten des Kollegen Computer erzählt. auch für Unternehmen nutzbar zu machen. 70 D E R S P I E G E L 2 0 / 2 0 1 3
Titel Im Fall des A380 kann es darum gehen, lich nicht nur hohe Zinsen, sondern auch den Kerosinverbrauch zu minimieren oder den Erwerb eines „Bonitätszertifikats“, die Wartungsintervalle zu optimieren. das bis zu 49 Euro kosten konnte. „Sicherheit ist eines der größten Wachs- Den Zwangserwerb von Zertifikaten tumsgebiete für Big-Data-Anwendungen“, habe man inzwischen auch in den an- sagt Schröder. Splunk hat dabei nicht nur deren Märkten abgeschafft, so die Kredi- Kriminalität und Terrorismus im Blick, tech-Macher. Die von ihnen verlangten sondern auch die zunehmenden Attacken Zinsen rangierten je nach Darlehenshöhe, im und über das Internet. Score-Wert und Laufzeit zwischen 5 und So kann die Software beispielsweise Ha- 28 Prozent im Monat. ACHIM MULTHAUPT / DER SPIEGEL ckerangriffe erkennen oder andere Cyber- Es sind indes nicht die Mikrokreditan- Attacken. „Wir bringen uns in Stellung für fragen und Zinseinkünfte, von denen sich einen ausufernden Cyberwar.“ Aber der die Macher hohe Umsätze versprechen. neue Krieg der Datenjäger hat auch viel- Ihr eigentliches Ziel ist der Aufbau einer fältige zivile Seiten. internationalen, sich selbst aktualisieren- den Bonitätsdatenbank für andere Unter- Die Daten-Bank nehmen, Online-Händler beispielsweise. Kreditech-Gründer Graubner-Müller, Diemer Bisherige Scoring-Verfahren basierten auf Der Backsteinbau in Hamburg-Winter- „In Polen klappt das schon“ weniger Parametern, die zudem nur die hude sieht nicht aus wie eine Bankfiliale, Kreditvergangenheit abbildeten, so Die- und doch werden hier Kredite vermittelt. mer. In vielen Ländern gebe es nicht mal „Kreditech“ steht auf einem Plastikban- das – eine Schufa mit einer ähnlich gro- 71 ner, drinnen herrscht eine Atmosphären- ßen Marktdurchdringung wie in Deutsch- Mischung aus Garagenfirma und Wohn- land existiert nur in wenigen Märkten: gemeinschaft, überall hängen Zettel an „Für fast drei Viertel der Weltbevölkerung den Wänden: „Schuhe aus“. gibt es noch keine verlässlichen Bonitäts- Sebastian Diemer und Alexander auskünfte“, so Graubner-Müller. Graubner-Müller treten nicht wie typi- Neben Kreditech versuchen sich auch sche Vertreter deutscher Kreditinstitute Anbieter wie Zestfinance und das briti- auf, deren Geschäftsmodell sie ohnehin sche Wonga mit ähnlichen Zielen in dem für gestrig halten. „Zumindest das klassi- prekären Markt, der neben rechtlichen sche Filialbankmodell ist ein Auslaufmo- Fragen auch moralische aufwirft. In Groß- dell“, sagt der jung-dynamische Diemer, britannien machte Wonga Negativschlag- der den klassischen Start-up-Look trägt: zeilen, als es versuchte, Studenten aus Jeans und Kapuzenpulli. staatlichen Studentenkrediten in eigene, Die selbstbewussten Firmengründer ungleich teurere Darlehen zu locken. verleihen Geld übers Internet, kurzfris- Die Kreditech-Gründer, die sich schon tige Minikredite bis maximal 500 Euro, seit ihren Jugendtagen in Wiesbaden ken- wobei der Durchschnittskunde 109 Euro erhält. Sie verlangen dafür keine Schufa- Auskunft, sondern ermitteln die Ausfall- MILLIARDEN nen, beteuern, man habe sich weder in Sachen Datenschutz noch bei der Zins- höhe etwas vorzuwerfen. „Die Schufa wahrscheinlichkeit selbst – ihr Social-Sco- ring-Verfahren besteht aus superschnellen KREDITKARTEN- speichert Daten auf Vorrat, wir nur bei einer konkreten Anfrage.“ Im Übrigen Datenanalysen. „Im Idealfall ist das Geld innerhalb von 15 Minuten nach Bewilli- TRANSAKTIONEN würden die Daten abgelehnter Antrag- steller nach 90 Tagen fast sämtlich ge- gung auf dem Konto, in Polen klappt das WURDEN 2012 GETÄTIGT. löscht – nur was notwendig sei, um einen schon regelmäßig“, so Diemer. Kreditech einmal abgelehnten Bewerber wiederzu- will dafür von seinen Nutzern so viele QUELLE: NILSON REPORT erkennen, werde länger vorgehalten. Daten wie irgend möglich – je mehr das Investoren halten Social Scoring offen- Unternehmen bekommt, desto präziser bar dennoch für außerordentlich attrak- wird die Prognose, desto höher der mög- die sie zum Ausfüllen des Fragebogens tiv: Kreditech sicherte sich im Dezember liche Kreditrahmen für die Kunden. brauchen. Ebenso werden die Fehler- vier Millionen Dollar, erst im April stie- Die Bewertungsprofile von Ebay-Kon- häufigkeit und der Einsatz der Löschtaste gen zudem die Samwer-Brüder mit ei- ten sind ohnehin öffentlich einsehbar. Zu- nüchtern registriert. nem Fonds in ähnlicher Höhe ein. Wonga dem verlangt Kreditech Zugang zu Face- Bis zu 8000 verschiedene Einzelinfor- sammelte bereits 141 Millionen Dollar book-Profilen, um zu prüfen, ob Foto und mationen verarbeite der Kreditech-Algo- von Geldgebern ein. Ort mit anderen Informationen etwa bei rithmus auf diese Weise pro Anfrage, sa- Xing oder LinkedIn übereinstimmen – und gen die Macher, die ihre Firma im März Eine Tyrannei der Daten? ob es unter den Freunden viele mit ähnli- 2012 gründeten und schnell expandieren. chen Bildungsabschlüssen gibt oder viele In Polen, Spanien, Tschechien ist Kredi- Geschäftsmodelle wie das von Kreditech Kollegen, die in derselben Firma arbeiten. tech schon online, in Russland wollen die zeigen exemplarisch die Brisanz der Das alles erhöhe die Wahrscheinlich- Hamburger in diesen Tagen starten. Fragen, die all die neuen Big-Data-An- keit, es mit einer realen Person zu tun zu In Deutschland lief der Geldverleih nur wendungen aufwerfen. Natürlich geben haben, erklärt Diemer. Selbst die Frage, drei Wochen – dann stellte Kreditech den Nutzer ihre Daten Schritt für Schritt „frei- ob die Kreditbitte von einem teuren iPad Service wieder ein. „Präventiv“, wie Die- willig“ preis – so wie wir bei Facebook aus gestellt wurde oder von einem billi- mer sagt. Tatsächlich hatte sich da bereits freiwillig und teils freizügig Privatfotos gen Aldi-Computer, geht mit in die Wer- die Finanzaufsicht BaFin gemeldet und posten oder über Twitter unsere poli- tung ein. Auch das Verhalten der Antrag- eine Prüfung des Geschäftsmodells ange- tischen Ansichten verbreiten. Jeder ist steller spielt eine Rolle – etwa die Zeit, kündigt. Die Hamburger verlangten näm- letztlich ein Lieferant des großen, neuen 72 D E R S P I E G E L 2 0 / 2 0 1 3
Titel Datenrohstoffs, auch in der analogen sen. Fast 90 Prozent sprachen sich dage- Welt, wo wir Payback-Karten benutzen, gen aus, dass Firmen ihre Surf-Bewegun- 4,6 Meilen sammeln, Autos mieten. gen im Internet „tracken“, also überwa- Vielleicht tun das auch deshalb viele chen. so unbefangen, weil meist intransparent Dieser Konflikt erklärt die Schärfe, mit bleibt, was mit unseren Daten passiert. der gerade um die neue europäische An wen und wie oft werden sie weiter- Datenschutzverordnung gestritten wird. verkauft? Gelten dort auch Lösch- oder Werden die Pläne der EU-Kommission Anonymisierungsregeln? Und was pas- Realität, die auch ein „Recht auf Verges- siert beispielsweise mit den Bonitätspro- senwerden“ im Netz beinhalten, sehen filen von Kreditech, sollte die kleine Fir- viele Anbieter ihre Big-Data-Wachstums- ma mal von einer größeren übernommen phantasien in Gefahr. werden oder pleitegehen? Auch deshalb erlebt Brüssel gerade Wie sensibel die Öffentlichkeit inzwi- eine Lobbyschlacht von Amazon, Google, schen auf derlei Fragen reagiert, zeigte Facebook und Co. der Versuch der etablierten Bonitätsprü- Noch drängender allerdings muss eine fer der Schufa, gemeinsam mit dem Has- moderne Gesellschaft sich fragen, ob sie so-Plattner-Institut ein Pilotprojekt zum alles akzeptieren soll und will, was in der Social Scoring zu starten. datengetriebenen Wirtschaft möglich Es ging wie bei Kreditech darum, Da- ten aus Facebook, Twitter und anderen MILLIARDEN wird. Wollen wir in einer Welt leben, in der Algorithmen vorhersagen, wie gut sozialen Netzwerken auszuwerten und deren Aussagekraft hinsichtlich der Kre- ditwürdigkeit zu erforschen. Schon die EURO UMSATZ ein Kind in der Schule sein wird, wie ge- eignet für einen bestimmten Job – oder wie gefährdet es ist, straffällig zu werden WURDE WELTWEIT IM JAHR Ankündigung des Projekts löste gewaltige oder an Krebs zu erkranken? Proteste aus. Das Vorhaben wurde schleu- 2012 MIT BIG-DATA- Ist es wirklich erstrebenswert, dass Kul- nigst beerdigt. ANWENDUNGEN GEMACHT. turgüter wie TV-Serien oder Musikalben Noch größer war der Sturm der Ent- BIS 2016 SOLL ER AUF KNAPP mittels datengetriebener Analysen nach rüstung, als vielen Autofahrern klarwur- unseren prognostizierten Wünschen maß- de, dass ihr Navigationsgerät nicht nur den schnellsten Weg zum Ziel kennt, son- 16 MILLIARDEN geschneidert werden? Wo bleibt in dieser total vermessenen und berechneten Welt dern auch gegen sie eingesetzt werden die Kreativität, die Intuition, das Über- kann. Der niederländische Navi-Herstel- ler TomTom hatte seine Daten an die nie- ANSTEIGEN. raschungsmoment? Der Netz-Philosoph Jewgenij Moro- derländische Regierung verkauft. Die gab QUELLE: BITKOM sow warnt vor einer drohenden „Tyran- das Material an die Polizei weiter, die es nei der Algorithmen“ und kritisiert ganz nutzte, um ihre Radarfallen möglichst grundsätzlich die Ideologie, die hinter gewinnbringend aufzustellen – an Orten, zu zerstreuen, die Daten nur „anonymi- vielen aktuellen Big-Data-Anwendungen an denen besonders viele TomTom-Nut- siert“ zu erheben, zu speichern und zu steht. zer zu schnell unterwegs gewesen waren. analysieren – was allerdings die Macht Weil zunehmend auch Formeln im Fi- Der TomTom-Chef entschuldigte sich der Datenanalysen offenbar gehörig un- nanzbereich und wie bei Predictive Poli- öffentlich. Man habe geglaubt, der Regie- terschätzt. cing in der Polizeiarbeit eingesetzt wür- rung sei an mehr Verkehrssicherheit und Die Vorstellung von anonymisierten den, müssten sie von unabhängigen, qua- Stauvermeidung gelegen gewesen. Die Bewegungsprofilen zum Beispiel sind lifizierten Auditoren regelmäßig geprüft Radarfallen-Anwendung habe TomTom wohl ein Mythos: Nach einer aktuellen werden – schon um Diskriminierung und „nicht vorhergesehen“. Untersuchung des „Scientific Reports“ Machtmissbrauch zu verhindern. Die nächsten derartigen Kollisionen sind unsere Mobilitätsmuster so verschie- Wie überfällig eine breite gesellschaft- sind programmiert, zumal der Entwick- den, dass sie recht einfach und mit einer liche und politische Debatte darüber ist, lung ein zentraler Konflikt innewohnt. Trefferquote von 95 Prozent Individuen ließ einer der dominierenden Big-Data- Besonders wertvoll sind Big-Data-Anwen- zuzuordnen sind. Je mehr Daten kursie- Giganten einmal eher beiläufig durch- dungen, wenn sie personalisiert sind – ren und analysiert werden können, desto blicken. wie die Bonitätsprüfung oder die indivi- wahrscheinlicher wird, dass Anonymität Man habe mit dem Gedanken gespielt, duelle Medizin. „algorithmisch unmöglich“ wird, glaubt mittels der einlaufenden Suchanfragen Personalisierte Profile, die eine Fülle der Princeton-Wissenschaftler Arvind Börsenkurse vorherzusagen, erzählte von Informationen zusammenfassen, von Narayanan. der heutige Verwaltungsratsvorsitzende der Meinungsäußerung bei Facebook bis In seinem Blog beschreibt er, dass von Google, Eric Schmidt, schon im zum Bewegungsprofil, eröffnen Firmen schon 33 Bits an Information ausreichen, Jahr 2010. Die Idee habe man allerdings verlockende Möglichkeiten. Wer bei Face- um eine Person zu identifizieren. wieder verworfen, weil man intern zu book eine Jeans „geliked“ hat, dem könn- Aus Sicht von Firmen ist die leicht schi- der Auffassung kam, dass das wohl ille- te der Ladeninhaber beispielsweise beim zophrene Haltung von Verbrauchern die gal sei. Eintreten einen Rabattcoupon für genau eigentliche Crux: Einerseits sind sie on- Schmidt sagte, dass man es eben lasse. dieses Modell aufs Handy schicken. line – und öffentlich einsehbar – unheim- Er sagte nicht, dass es unmöglich sei. Aus Sicht von Händlern und manchen lich mitteilsam, gleichzeitig hegen sie düs- MARTIN U. MÜLLER, MARCEL ROSENBACH, Verbrauchern mag das attraktiv sein, terste Datenschutzbedenken. THOMAS SCHULZ Datenschützer bewerten viele Big-Data- So spricht eine Studie für die New Yor- Ideen dagegen als Big-Brother-Szenarien ker Werbeagentur Ogilvy One von „un- Video: So funktioniert die Ver- in einer völlig neuen Dimension. sexy Datenängsten“. 75 Prozent aller Be- brechensvorhersage der Polizei Bislang bemühen sich viele Unterneh- fragten wollen danach keine persönlichen spiegel.de/app202013daten men, derlei Bedenken mit dem Hinweis Daten bei Unternehmen gespeichert wis- oder in der App DER SPIEGEL 74 D E R S P I E G E L 2 0 / 2 0 1 3
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