Die "Jenaer Erklärung gegen Rassismus" und ihre Anwendung im Unterricht

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Die "Jenaer Erklärung gegen Rassismus" und ihre Anwendung im Unterricht
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Die „Jenaer Erklärung gegen Rassismus“
und ihre Anwendung im Unterricht
Die "Jenaer Erklärung gegen Rassismus" und ihre Anwendung im Unterricht
IMPRESSUM
Porges, Karl & Hoßfeld, Uwe:
Die Jenaer Erklärung gegen Rassismus und ihre Anwendung im Unterricht,
herausgegeben vom Thüringer Ministerium für Bildung, Jugend und Sport,
Erfurt 2023

ISBN: 978-3-9821193-7-3

Autoren         Dr. Karl Porges & apl. Prof. Dr. Uwe Hoßfeld
                Friedrich-Schiller-Universität Jena
                Fakultät für Biowissenschaften
                Institut für Zoologie und Evolutionsforschung
                AG Biologiedidaktik
                Am Steiger 3 (Bienenhaus)
                07743 Jena

Herausgeber     Thüringer Ministerium für Bildung, Jugend und Sport
                Postfach 900463
                99107 Erfurt
                Tel.: +49 361 57 341 1100
                Fax: +49 361 57-34411690
                poststelle@tmbjs.thueringen.de
                https://bildung.thueringen.de

Fotos           Titelbild, S. 2: Bildagentur PantherMedia | shtefanyelizaveta@gmail.com
                S. 4: Jacob Schröter
                S. 14: Bildagentur PantherMedia | Arne Trautmann

Diese Publikation darf nicht als Parteienwerbung oder für Wahlkampfzwecke verwendet
werden. Die Publikation ist Teil der Öffentlichkeitsarbeit der Landesregierung; sie wird
kostenlos abgegeben und ist nicht zum Verkauf bestimmt.

Stand:    März 2023
Die "Jenaer Erklärung gegen Rassismus" und ihre Anwendung im Unterricht
Die „Jenaer Erklärung gegen Rassismus“
und ihre Anwendung im Unterricht

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Die "Jenaer Erklärung gegen Rassismus" und ihre Anwendung im Unterricht
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Die "Jenaer Erklärung gegen Rassismus" und ihre Anwendung im Unterricht
Inhalt

Vorwort                                                                    4

1         Einleitung: Den Begriff „Rasse“ überwinden                       7

2         Positionen der Kultusministerkonferenz (KMK)                     9

3         Die „Jenaer Erklärung“ von 2019                                 11

4         Grundaussagen der „Jenaer Erklärung“                            15

5         Ausgewählte Sachinformationen und Hinweise für den Unterricht   17

    5.1   Ernst Haeckel und die Menschenarten                             17

    5.2   Zur Hautfarbe des Menschen                                      21

    5.3   „Rasse“ bei Haustieren und Menschen: ein Missverständnis        23

6         Ausblick                                                        25

Anhang: Text der „Jenaer Erklärung“                                       26

Literatur                                                                 30

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Die "Jenaer Erklärung gegen Rassismus" und ihre Anwendung im Unterricht
Vorwort

Rassismus in unserem Land ist ein tagtägliches       Natürlich kommt auch da dem Bildungssektor
Alltagsproblem. Es steht einer weltoffenen, tole-    eine besondere Bedeutung zu, denn schon bei
ranten und vielfältigen, modernen Gesellschaft       der Bildung und Erziehung unserer Jüngsten
fundamental entgegen, in der wir leben wollen        müssen wir ansetzen. Deshalb begrüße ich die
und die die Grundlage für eine freie Entwicklung     „Jenaer Erklärung“ gegen Rassismus und auch
der Persönlichkeit ist. Die Gleichwertigkeit aller   ihre Anwendung im Schulunterricht. Mit dieser
Menschen und ihre gleichberechtigte Teilnahme        Publikation werfen wir ein besonderes Schlag-
an der Gesellschaft sind ein hohes Gut und ei-       licht auf den Begriff der Rasse selbst, seine
gentlich selbstverständlich. Die Realität ist aber   äußerst belastete Geschichte in Wissenschaft
leider immer noch viel zu häufig eine andere.        und Schule und auf den Wandel insbesondere
Menschen werden ausgegrenzt, abschätzig be-          im Biologieunterricht, der in den letzten Jahren
handelt, rassistisch beleidigt oder diskriminiert.   nicht zuletzt durch die biologiedidaktische Wis-
Rassismus gibt es offen und versteckt. Gerade        senschaft und die Jenaer Erklärung angestoßen
Letzteres zieht sich quer durch die Gesellschaft.    worden ist. Dieser Wandel war überfällig, denn
Manchmal ist es gar nicht so einfach, ihn als sol-   noch bis in das beginnende 21. Jahrhundert hi-
chen zu erkennen und zu entlarven. Häufig ist es     nein fanden sich – auch in Thüringen und trotz
eine Frage der Wortwahl oder des nonverbalen         eindeutiger wissenschaftlicher Erkenntnisse –
Agierens beispielsweise durch abschätzige oder       Reste dieses Begriffs in der schulischen Praxis.
hämische Blicke. Und es gibt den strukturellen       Auch in den unmittelbar vergangenen Jahren gab
Rassismus. Hier sind wirksame Kommunika-             es Einzelfälle, die zeigen, dass die Verdrängung
tions- und Handlungsstrategien gefragt, denn         des Begriffs aus Köpfen und manchen Lehrkon-
Rassismus ist in allen seinen Ausprägungen           zepten noch nicht vollständig gelungen ist. Die
inakzeptabel. Ein zielstrebiges Vorgehen gegen       Jenaer Erklärung, so selbstverständlich und da-
rassistische Vorurteile und Stereotype muss flä-     mit womöglich redundant sie manchem erschei-
chendeckend in unserer Gesellschaft verwurzelt       nen mag, ist nach wie vor relevant und hochak-
sein, wenn vorhandene Ungleichheitsstrukturen        tuell.
immer mehr der Vergangenheit angehören sol-
len.                                                 Aktiv gegen jegliche Form des Rassismus und
                                                     Diskriminierung in den Schulen zu wirken, ist
                                                     eine Verpflichtung für alle Lehrkräfte, für alle Pä-
                                                     dagoginnen und Pädagogen in Thüringen.

                                                     In einer Welt, die von wirtschaftlichen Globalisie-
                                                     rungsprozessen, einer Vielzahl von politischen
                                                     Polarisierungs- und Radikalisierungsformen,
                                                     von wieder mehr um sich greifender gruppenbe-
                                                     zogener Menschenfeindlichkeit, dem Erstarken
                                                     wissenschaftsfeindlicher Auffassungen, dem
                                                     Auftreten verschiedenster Verschwörungstheori-

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Die "Jenaer Erklärung gegen Rassismus" und ihre Anwendung im Unterricht
en sowie deren Verbreitung im Internet geprägt     Vieles entwickelt sich in Thüringen Schuljahr für
ist, sind alle Lehrkräfte sowie Lehramtsanwärte-   Schuljahr, und diese schlaglichtartige Moment-
rinnen und Lehramtsanwärter ganz besonders         aufnahme zeigt, dass besonders durch aktives
gefordert, den Bildungs- und Erziehungsauftrag,    Lernen und Handeln im Miteinander Schülerin-
den das Thüringer Schulgesetz vorgibt, mit ei-     nen und Schüler Erfahrung machen können, die
ner eigenen Haltung konkret auszugestalten.        sie für ihr weiteres Leben prägen. Die vielfälti-
Ich denke an das eigene Rollenverständnis und      gen Aktivitäten: schulisch, außerschulisch, wie
an eine Vorbildwirkung, so dass ihr fundiertes     auch in der Lehrerfortbildung beziehungsweise
Wissen im Schulalltag auch zur Stärkung der        Lehrerbildung tragen also wirkungsvoll zu einer
Vermittlung der demokratischen Werte unse-         Stärkung der Demokratiebildung in den Schulen
res Grundgesetzes beiträgt. Dabei kommt der        bei. Für die Zukunft unseres Landes ist es daher
Auseinandersetzung mit den Themen Rassis-          von großer Bedeutung das Verständnis für die
mus und Diskriminierung fächerübergreifend         demokratischen Säulen fest im Bewusstsein zu
eine Schlüsselstellung bei Prozessen der poli-     verankern, denn die heutigen Schülerinnen und
tischen Bildung, der Förderung rassismuskriti-     Schüler sind die Verteidigerinnen und Verteidi-
scher Urteilsbildung und der Weiterentwicklung     ger der Demokratie von morgen. Alle Lernenden
der demokratischen Schulentwicklung zu. Be-        in den Thüringer Schulen sollen Kompetenzen
reits heute gibt es ganz vielfältige schulische    erwerben, die sie stark machen gegen antide-
Ansätze und Möglichkeiten zur Stärkung der         mokratische, antisemitische, extremistische
politischen Bildung sowie der Förderung des        und populistische Positionen. Die Aneignung
rassismuskritischen Lehrens und Lernens, die       demokratischer Wissenskompetenzen und die
in verschiedenen Thüringer Schulen umgesetzt       Stärkung des Urteils-, Handlungs- und Vermitt-
werden. Lassen Sie mich das an einigen Bei-        lungsvermögens ist ein fester Bestandteil der
spielen darstellen: Da wäre zum Beispiel die       partizipativen und demokratischen Schulent-
„Schule ohne Rassismus – Schule mit Courage“.      wicklung.
Aktuell gibt es 65 allgemein bildende Thüringer
Schulen, die im entsprechenden bundesweiten        Alle Menschen haben das Recht auf ein Leben
Netzwerk eingebunden sind. Als weiteres gibt es    frei von Diskriminierung. Die Würde eines Jeden
die „Service-Learning-Schulen“, die dem Prinzip    und einer Jeden ist unantastbar. Von klein auf
Lernen durch Engagement folgen. Auch freue ich     müssen Kinder und Jugendliche entsprechend
mich, dass es zahlreiche Schulklassen gibt, die    sensibilisiert werden. Dafür haben die Familien
regelmäßig Thüringer Lernorte und die Gedenk-      eine große Verantwortung, aber auch die Bil-
stätte in Ausschwitz besuchen. Bis zu Beginn       dungseinrichtungen in unserem Land. In Schu-
der Corona-Pandemie waren das jährlich etwa        len als Orten der Demokratiebildung fördern wir
180 Schulen, die zu außerschulischen Lernor-       die Anerkennungskultur von Schülerinnen und
ten in Thüringen gefahren sind und bis zu 15       Schülern und unterstützen ihre Möglichkeiten
Schulen, die zur internationalen Gedenkstätte      der Mitbestimmung. Und wir treten vehement
in Ausschwitz und weiteren Orten früherer natio-   dafür ein, dass auch im Unterricht Diskriminie-
nalsozialistischer Vernichtungslager im heutigen   rung jeglicher Art entgegengewirkt wird.
Polen gereist sind. Daran knüpfen wir nun wieder
an. Nicht unerwähnt lassen möchte ich auch den
Landeswettbewerb „Jugend debattiert“ und das
Landesprogramm beziehungsweise den Landes-
wettbewerb „Demokratisch Handeln“, bei denen
zahlreiche Schülerinnen und Schüler aus Thürin-    Helmut Holter
gen mitmachen.                                     Thüringer Minister für Bildung Jugend und Sport

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Die "Jenaer Erklärung gegen Rassismus" und ihre Anwendung im Unterricht
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Die "Jenaer Erklärung gegen Rassismus" und ihre Anwendung im Unterricht
1 Einleitung: Den Begriff „Rasse“ überwinden

Das Konzept der „Rasse“, auf den Menschen             vermehrt auseinanderzusetzen. Orientierung für
übertragen, gilt seit langem als wissenschaftlich     die politische Bildung liefern zwar der Beutels-
überholt. Zentrale Appelle für diese Lesart sind      bacher Konsens von 1976 (vgl. Wehling 1977)
etwa das „Statement on Race“ (1950) sowie die         sowie das Magdeburger Manifest von 2005, die
„Erklärung über ‚Rassen‘ und rassistische Vorur-      Auseinandersetzung mit dem Begriff „Rasse“ als
teile“ von 1978 (beides UNESCO), die „UNESCO-         etablierter Fachsprache muss jedoch auch (bio-)
Erklärung gegen den ‚Rasse‘-Begriff“ von 1995,        wissenschaftlich geführt werden.
die „Erklärung des Vorstandes der American An-
thropological Association“ (AAA) aus dem Jahr         Unsicherheiten im Umgang mit dem Begriff re-
1998 sowie im Jahr 2019 das „AABA Statement           sultieren zum Teil daher, dass Rassentheorien,
on Race & Racism“ und die „Jenaer Erklärung“.         wenn auch nicht als rassistische Segregation
                                                      intendiert, noch bis Anfang des 21. Jahrhunderts
Die kontroversen Reaktionen bspw. auf die             im Biologieunterricht verpflichtend behandelt
„Jenaer Erklärung“ (vgl. Abb. 1) sowie die Er-        wurden. Dies zeigt eine Analyse historischer
gebnisse des Thüringen-Monitors (Reiser et al.        Schulmaterialien (Porges 2022). Zwar sind die
2021) und des Nationalen Diskriminierungs- &          aktuellen Lehrpläne frei von derartigen Annah-
Rassismusmonitors (Foroutan et al. 2022) ver-         men, doch kritisiert Fereidooni (2016) zurecht,
deutlichen dabei die Notwendigkeit, naturwis-         dass das Bildungssystem Rassismus dann be-
senschaftlich fundierte Rassismuskritik auch im       günstigt, wenn Rassismuskritik kein Thema ist
Schulunterricht zu implementieren. Schließlich        (Sprung 2021). Zwar ist unstrittig, dass admi-
kommen Lehrkräfte nicht umhin, sich mit anti-         nistrative Vorgaben wie die Thüringer Lehrpläne
demokratischen und menschenverachtenden               und der Thüringer Bildungsplan von demokrati-
Ansichten in der analogen sowie digitalen Welt        schen Werten geprägt sind und somit ein anti-

                                Abb. 1: Facebook-Einträge zur „Jenaer Erklärung“ prozentual gestapelt (Erhe-
                                        bung vom 18. Dezember 2019; Porges et al. 2021b).

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Die "Jenaer Erklärung gegen Rassismus" und ihre Anwendung im Unterricht
rassistisches Weltbild postulieren, ihnen fehlen    der Gedenkstätte Buchenwald, dem Lebenshilfe-
jedoch zumeist konkrete inhaltliche Angebote        Werk Weimar/Apolda e. V. sowie dem ThILLM.
für die Umsetzung im Unterricht. Ein vielfältiges   Finanziert wird das Vorhaben durch Fördergelder
Angebot für die Beschäftigung mit Rassismus         des Bundesministeriums der Finanzen (BMF),
– in diesem Kontext auch ein Baustein der De-       verwaltet durch die Stiftung Erinnerung, Verant-
mokratiebildung – liefern eher außerschulische      wortung und Zukunft (EVZ) aus Berlin. Auf der
Initiativen, die Landes- und Bundeszentrale für     Basis von Biographiearbeit und in Zusammenar-
politische Bildung, Gewerkschaften, vereinzelt      beit mit Wissenschaftler*innen, Kunstschaffen-
auch (fach-)didaktische Zeitschriften etc. sowie    den und Fachdidaktiker*innen/ Pädagog*innen
ausgewählte Publikationen und Fortbildungs-         entstehen eine Graphic Novel, Fassadenprojek-
angebote des Thüringer Institutes für Lehrer-       tionen, Bildungsmedien für das (außer-)schu-
fortbildung, Lehrplanentwicklung und Medien         lische Lernen und ein Theaterstück. Relevante
(ThILLM).                                           Materialien für den Unterricht sollen dann auch
                                                    im Thüringer Schulportal hinterlegt werden.
Exemplarisch für eine institutsübergreifende
Arbeit steht ein Projekt der Bildungsagenda         Hier schließt die vorliegende Handreichung an
NS-Unrecht mit dem Titel „Beredtes Schwei-          und bietet mit der schulischen Aufarbeitung der
gen – NS-Eugenikverbrechen und ihre Folgen“         „Jenaer Erklärung“ (2019) einen weiteren An-
(Förderzeitraum: 2023 bis 2024). Hier arbeiten      satz für rassismuskritische Bildungsarbeit. Die
zahlreiche Akteure mit, um die Täterorte der        im folgenden abgedruckten Hinweise und Texte
„Rassenhygiene“ in Thüringen und exempla-           entstammen dabei zum Teil aus vorausgegange-
risch Lebens- und Leidenswege ins öffentliche       nen fachdidaktischen bzw. wissenschaftlichen
Bewusstsein zu rücken. Zu den Projektpartnern       Veröffentlichungen der Autoren und dienen, so
gehören die Arbeitsgruppe Biologiedidaktik der      die Intention, als Anregung für ein weiteres, ver-
Friedrich-Schiller-Universität Jena, der Lernort    tiefendes Studium für alle Thüringer Lehrkräfte,
Weimar e. V. sowie das Jugendtheater Stellwerk      Pädagog*innen und Interessierten (vgl. das Lite-
Weimar. Unterstützung erhalten sie dabei von        raturverzeichnis).

Anmerkung:

Aus heutiger Sicht ist die Rechtsprechung „einer der wenigen Orte, in denen Rasse als personale
Kategorie noch Verwendung findet“ (Liebscher 2021). Artikel 3, Absatz 3 des Grundgesetzes für die
Bundesrepublik Deutschland lautet: „Niemand darf wegen […] seiner Rasse […] benachteiligt oder
bevorzugt werden“ (BMJV, 2020, S. 2). Doch steht dabei die Verwendung des Begriffes wiederholt
im politischen und öffentlichen Raum zur Diskussion. Die Debatte behandelt dabei das allgemeine
Problem, dass Recht gegen Rassismus den Begriff „Rasse“ mit rassistischen Konzepten teilt (Lieb-
scher 2012). Unter Bezugnahme auf den Bedeutungsgehalt des Begriffs „Rasse“ stellen Kutting und
Amin (2020) aus rechtswissenschaftlicher Sicht die Frage, ob die Begriffsverwendung im Grundge-
setz trotz der naturwissenschaftlichen Widerlegung sachdienlich ist und weiterhin gerechtfertigt
werden kann. Sie kommen dabei zu dem Schluss: „Der Terminus ‚Rasse‘ bleibt trotz verschiedener
Umdeutungsversuche einem biologistischen Deutungsmuster verhaftet und ist somit im Grundge-
setz nicht mehr tragfähig. Die neuerliche naturwissenschaftliche Thematisierung des Rassebegriffs
muss als Anstoß genommen werden, den bisher unternommenen Änderungsanläufen auch auf Ver-
fassungsebene zur Umsetzung zu verhelfen. In der Gesamtschau hat sich die Formulierung ‚auf-
grund rassistischer Kriterien‘ als beste Formulierungsoption für Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG erwiesen“
(Kutting und Amin 2020, S. 617).

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2 Positionen der Kultusministerkonferenz (KMK)

In einigen Beschlüssen und Veröffentlichungen       liegen (vgl. u. a. Beelmann 2018; Beelmann und
der KMK finden sich Elemente einer rassismus-       Sterba 2021).
kritischen Bildungsarbeit. Dazu gehören bei-
spielsweise die Empfehlungen zur Auseinander-       Mit Blick auf Bildungsmedien (Schullehrbücher
setzung mit dem Holocaust in der Schule (1997),     etc.) sind Bildungsverwaltungen und Schulen
die Empfehlungen zur Interkulturellen Bildung       bereits seit einiger Zeit angehalten, diese „auf
und Erziehung in der Schule (2013) und zur Erin-    eine angemessene, diskriminierungsfreie und
nerungskultur (2014) sowie zur Lehrerbildung für    rassismuskritische Berücksichtigung der viel-
eine Schule der Vielfalt (2015a). Auch nahm die     schichtigen, auch herkunftsbezogenen Hetero-
KMK im Jahr 2018 das siebzigjährige Jubiläum        genität von Schülerinnen und Schülern [zu prü-
der „Allgemeinen Erklärung der Menschenrech-        fen]“ (KMK 2015b, S. 4).
te“ zum Anlass, Hinweise zur Menschenrechts-
bildung in der Schule zu veröffentlichen. Darüber   Neben diesen allgemeinen Vorgaben ist eine kri-
hinaus empfiehlt die KMK (2021, S. 9), sich mit     tische Auseinandersetzung mit dem Begriff „Ras-
der Wirkung von Vorurteilen, Stigmatisierung,       se“ in relevanten Fächern wie Biologie, Ethik etc.
Rassismus und Antisemitismus proaktiv ausein-       bisher jedoch nicht vorgesehen, sondern bleibt
anderzusetzen und verweist hier auf „zahlreiche     primär im Schulfach Geschichte verortet (KMK,
Angebote außerschulischer Bildungsinitiativen“      1997). Zwar heißt es im KMK-Beschluss von
wie beispielsweise „Schule ohne Rassismus –         2018, dass „Fächer wie Geschichte, Politik/Wirt-
Schule mit Courage“ (KMK 2018, S. 5).               schaft/Sozialkunde/Sachkunde, Sprachen, Bio-
                                                    logie, Religion und Ethik/Philosophie“ über „ein
Dass dieses Projekt und somit politische Bildung    besonderes Potenzial für eine an den Menschen-
erfolgreich bereits in der Grundschule gelebt       rechten orientierte Wertebildung verfügen“,
werden können, zeigt bisher einmalig in Thürin-     doch bleibt eine naturwissenschaftlich fundierte
gen die Freie Ganztagsgrundschule Anna Amalia       Rassismuskritik, die aktuelle wissenschaftli-
in Weimar . Sie kommt damit nicht nur den Fra-      che Erkenntnisse mit einbezieht, an deutschen
gen der Kinder nach, sondern handelt entspre-       Schulen ein Desiderat (vgl. Porges & Stewart
chend dem Forschungsstand. Dieser besagt,           2022). Die Einbindung der „Jenaer Erklärung“ im
dass die sensiblen Phasen der Vorurteils-, Mo-      Unterricht könnte diese Lücke schließen helfen.
ral- und Werteentwicklung in der Grundschulzeit

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3 Die „Jenaer Erklärung“ von 2019

Die „Jenaer Erklärung“ ist eine wissenschaftliche          wie bspw. der Hautfarbe oder Haarstruktur
Stellungnahme, die das „Konzept der Rasse“ so-             und deren Umsetzung in eine stammesge-
wie den Rassismus in den Wissenschaften und                schichtliche Sichtweise. Daraus wurden eine
der Öffentlichkeit kritisch und aktuell hinterfragt.       soziale Leserichtung und Visualisierung mit
Sie wurde am 10. September 2019 anlässlich                 angeblich biologisch höher und tiefer ste-
der 112. Jahrestagung der Deutschen Zoologi-               henden Menschenarten.
schen Gesellschaft (DZG) in Jena vom Institut für
Zoologie und Evolutionsforschung der Friedrich-        2. Mit diesem Haeckel-Bezug war eine mehr
Schiller-Universität in einer öffentlichen Abend-         als 80jährige Kontinuität im Rassedenken
veranstaltung zum Thema „Jena, Haeckel und die            (1863 bis 1945) an der Universität Jena ge-
Frage nach den Menschenrassen: wie Rassismus              geben, die in diese aktuellen Diskussionen
Rassen macht“ erstmals vorgestellt. Die Autoren           mit einbezogen werden musste und
der Erklärung sind der Zoologe und Evolutions-
biologe Martin S. Fischer (Jena), der Biologie-        3. wollte man den sonst üblichen wissen-
historiker und Biologiedidaktiker Uwe Hoßfeld             schaftshistorischen Einführungsvortrag zur
(Jena), der Genetiker Johannes Krause (Leipzig)           „Geschichte der Zoologie in Jena“ zu Beginn
sowie der Zoologe Stefan Richter (Rostock).               der DZG-Tagung durch ein anderes Format
Prominente Unterstützer sind der Präsident der            einmal ersetzen – zumal die DZG im Jahr
Friedrich-Schiller-Universität, Walter Rosenthal,         2019 bereits zum dritten Mal in Jena tagte.
der Vorstand der DZG, Haeckels Urenkel Wolf-
gang Benn, der ehemalige Kantonsratspräsident          Mit Blick auf eine „rassistische“ (Thüringer
des Kantons Zürich, Helmuth Attenhofer sowie           bzw. auch Jenaer) Geschichte, die vom „Rasse-
der Kriminalbiologe Mark Benecke. Die Intenti-         Günther“ (gemeint ist der Philologe und Rassen-
onen für das Verfassen einer „Jenaer Erklärung“        kundler Hans F. K. Günther mit seinem 1930 er-
waren dreierlei:                                       richteten Lehrstuhl für Sozialanthropologie) bis
                                                       hin zum NSU-Komplex reicht und „Traditionslini-
1. Am 9. August 2019 jährte sich der 100. To-          en“ aufweist, ist diese Stellungnahme nunmehr
   destag des Jenaer Professors Ernst Haeckel,         ein weiterer Beleg für eine neue, wissenschaft-
   des „deutschen Darwins” und wohl bekann-            lich fundierte Denkweise. Unmittelbar nach ihrer
   testen deutschen Zoologen und Evolutions-           ersten Präsentation am 10. September 2019
   biologen (Hoßfeld et al. 2019). Haeckel,            wurde daher versucht, die „Jenaer Erklärung“
   der Begründer der Stammesgeschichts-                nicht nur den Fachwissenschaftler*innen, son-
   forschung, hat u. a. durch seine hypothe-           dern auch einer breiten Öffentlichkeit vorzustel-
   tische wissenschaftliche Anordnung von              len. Unter Einbeziehung der Biologiedidaktik an
   Menschenarten (nicht „Rassen“) in einem             der Universität Jena liegen nunmehr erste Ange-
   „Stammbaum“ in fataler Weise zu einem               bote für eine politische und rassismuskritische
   angeblich wissenschaftlich begründeten              Bildungsarbeit für den Biologieunterricht in Thü-
   Rassismus beigetragen. Die Stellung der             ringen und bundesweit vor (Porges et al. 2020,
   einzelnen Menschenarten basierte hier auf           2021 a-c).
   willkürlich herausgegriffenen Merkmalen

10
Eine Tagung der Universität Jena in Kooperation        Da die Urfassung der „Jenaer Erklärung“ zu-
mit dem ThILLM zum Thema „Die ‚Jenaer Erklä-           nächst ohne wissenschaftliche Querverweise
rung‘ in der (Hoch-)Schulbildung. Den Begriff          und Zitierungen auskommen musste (Fischer et
‚Rasse‘ überwinden“ am 23. September 2021              al. 2019), wurde in den nachfolgenden Publika-
fand ebenso großen Anklang und wurde von               tionen besonders Wert auf die Wissenschaftsevi-
prominenten Persönlichkeiten aus Kultur, Poli-         denz gelegt, um eine Einheit von Aussage(n) und
tik und den Wissenschaften unterstützt. Darun-         wissenschaftlicher Überprüfbarkeit für die Leser-
ter waren u. a. Andreas Beelmann (Direktor des         schaft aufzuzeigen (Fischer et al. 2020, 2021;
KomRex der Universität Jena), Johannes Krause          Levit und Hoßfeld 2020). Für einen rassismuskri-
(Direktor am Max-Planck-Institut in Leipzig; Abb.      tischen Unterricht eignen sich in Ergänzung auch
2), Stephan J. Kramer (Präsident des Amtes für         Publikationen der Landeszentrale für politische
Verfassungsschutz Thüringen) sowie Dota (Lie-          Bildung Erfurt wie über Institute, Geld, Intrigen.
dermacherin aus Berlin) und Ezé Wendtoin (Lie-         Rassenwahn in Thüringen (Hoßfeld 2014) oder
dermacher aus Burkina Faso, Dresden). Infolge          Biologie und Politik. Die Herkunft des Menschen
dieser Tagung entstand eine Publikation, die das       (Hoßfeld 2021) bzw. einige Blätter zur Landes-
Ziel verfolgt, vor dem Hintergrund der Geschichte      kunde (Hoßfeld 2004, 2006; Hoßfeld & Breid-
des „Rasse“-Begriffs vielfältige Ideen und Kon-        bach 2008). Diese können kostenlos im Versand
zepte zu seiner Überwindung anzubieten, die            oder teilweise als E-Book online erhältlich, bei
(Hoch-)Schulbildung bundesweit neu zu den-             der Landeszentrale für politische Bildung in Er-
ken. Dabei geht es sowohl um wissenschaftshis-         furt bestellt werden. Zu empfehlen ist ebenso
torische Aspekte und deren zentrale Akteure als        der Beitrag von Georgy S. Levit und Uwe Hoßfeld
auch um aktuelle Perspektiven moderner, rassis-        (2020) über Ernst Haeckel und dessen Schüler,
muskritischer Bildungsarbeit (vgl. Porges 2023).       den russischen Forschungsreisenden Nikolai N.
                                                       Mickloucho-Maclay. Letzterer gilt als Begründer
                                                       des wissenschaftlichen Antirassismus (Abb. 3).

                  Abb. 2: Graphik zum Vortrag „Gibt es eine genetische Grundlage für menschliche Rassen?“
                          von Prof. Dr. Johannes Krause, gehalten auf der Tagung „Die ‚Jenaer Erklärung‘ in
                          der (Hoch-)Schulbildung. Den Begriff ‚Rasse‘ überwinden“ vom 23. September 2021
                          (Quelle: Salea Rackwitz).

                                                                                                       11
Abb. 3: Postkarte s/w aus dem Ernst-Haeckel-Haus. Motiv: Ernst Haeckel und Nikolai Nikola-
        jewitsch Miklucho-Maklay (Archiv Porges, privat).

12
4 Grundaussagen der „Jenaer Erklärung“

Die Kernaussage der Autoren um Fischer et al.       und andere daran, dass es der Rassismus ist,
(2019, 2020, 2021) ist, dass es für die Verwen-     der Rassen geschaffen hat und die Zoologie/
dung des Begriffs der „Rasse“ im Zusammen-          Anthropologie sich unrühmlich an vermeintlich
hang mit menschlichen Gruppen keine biologi-        biologischen Begründungen beteiligt hat. Der
sche Begründung gibt und tatsächlich es diese       Nichtgebrauch des Begriffes Rasse sollte heute
auch nie gegeben hat: „Das Konzept der Rasse        und zukünftig zur wissenschaftlichen Redlich-
ist das Ergebnis von Rassismus und nicht dessen     keit gehören“ (Fischer et al. 2019, S. 401−402).
Voraussetzung“ (Fischer et al. 2019, S. 399).
Nachdem zunächst in der Urfassung der „Jenaer
Erklärung“ von 2019 in einer wissenschaftshis-      Fazit:
torischen Hinführung zum Themenkontext, die
Frage „Warum Jena?“ beantwortet wird, schlie-       Der Rassebegriff ist nichts anderes als ein ge-
ßen sich ein zoologischer und (archäo)geneti-       dankliches Konstrukt und entbehrt jeder Reali-
scher Teil in der Argumentation an. Die Erklärung   tät. Er sollte nicht mehr im Zusammenhang mit
wurde mit Absicht kurz und übersichtlich gehal-     Wissenschaft benutzt werden. Hier haben eben
ten und verzichtete daher zunächst auf wissen-      die Biologie, Anthropologie und teilweise auch
schaftliche Zitierungen. Am Ende der „Jenaer        die Medizin (vgl. Hoßfeld 2016), auch aufgrund
Erklärung“ resümieren die Verfasser: „Eine blo-     ihrer teilweise verhängnisvollen Geschichte,
ße Streichung des Wortes ‚Rasse‘ aus unserem        eine besondere Verantwortung, sich nunmehr
Sprachgebrauch wird Intoleranz und Rassismus        offensiver, objektiver und deutlicher mit den
nicht verhindern. Ein Kennzeichen heutiger For-     neuen Forschungsergebnissen in der Öffentlich-
men des Rassismus ist bereits die Vermeidung        keit zu positionieren, um eben zu verhindern,
des Begriffes ‚Rasse‘ gerade in rechtsradikalen     dass biologische Argumente missbräuchlich in
und fremdenfeindlichen Milieus. Rassistisches       sozialen oder sozialpsychologischen Kontext
Denken wird mit Begriffen wie Selektion, Rein-      verwendet werden. Man kann irgendein Merk-
haltung oder Ethnopluralismus aufrechterhal-        mal nehmen, egal welches man zu Rate zieht:
ten. Bei dem Begriff des Ethnopluralismus han-      Körpergröße, Haarfarbe usw., die fehlende ge-
delt es sich aber um nichts weiter als um eine      naue Abgrenzbarkeit widerlegt stets das Prinzip
Neuformulierung der Ideen der Apartheid.“ Die       der Kategorisierung. Scharfe Grenzen existieren
Autoren fahren fort: „Auch die Kennzeichnung        schlichtweg nicht, sondern sind reine menschli-
‚des Afrikaners‘ als vermeintliche Bedrohung        che Konstrukte. Das ist auch der Grund, warum
Europas und die Zuordnung bestimmter, bio-          man sich für Populationen mit dem Begriff der
logischer Eigenschaften stehen in direkter Tra-     Metapopulation behilft. In letzter Konsequenz
dition des übelsten Rassismus vergangener           bedeutet das aber auch, dass nicht nur „Ras-
Zeiten. Sorgen wir also dafür, dass nie wieder      sen“, sondern auch Gruppen, Populationen, Völ-
mit scheinbar biologischen Begründungen Men-        ker nicht real sind. Real sind Gradienten! (Porges
schen diskriminiert werden und erinnern wir uns     et al. 2020).

                                                                                                 13
Tafelbild: Grundaussagen der „Jenaer Erklärung“

 1. Aus genetischer Sicht sind wir alle Afrikaner!

 2. Es gibt keine genetischen Grenzen, nur Gradienten!

 3. Die genetischen Unterschiede innerhalb einer Population sind viel größer als
     zwischen den Populationen.

 4. Die genetischen Unterschiede, die den Phänotyp beeinflussen, sind meist Teil der
     Anpassung an die Umwelt.

 5. Die helle Haut der Europäer ist als Anpassung an den Ackerbau erst wenige
     tausend Jahre alt und aus Anatolien und Zentralasien eingewandert.

 Fazit: Es gibt keine genetische Basis für menschliche „Rassen“!

14
5 Ausgewählte Sachinformationen und Hinweise
  für den Unterricht

5.1   Ernst Haeckel und die Menschenarten

Die Beschäftigung mit humanphylogenetischen         Im zweiten seiner beiden 1865 gehaltenen Vor-
Fragestellungen reicht beim Jenaer Zoologen         trägn Ueber die Entstehung und den Stamm-
Ernst Haeckel über einen Zeitraum von 45 Jah-       baum des Menschengeschlechts (gedruckt
ren. Sie beginnt mit dem Jahr 1863 (Stettiner       1868) unterteilte er dann die Menschenaffen
Vortrag) und endet 1908 mit der Schrift über Un-    (Anthropoides) in „Asiatische Waldmenschen
sere Ahnenreihe (Progonotaxis Hominis).             (Kleiner Orang, Großer Orang)“ und „Afrikani-
                                                    sche Waldmenschen (Schimpanse, Gorilla)“. Die
Im Vortrag auf der 38. Versammlung der deut-        zuvor u. a. von Johann Friedrich Blumenbach un-
schen Naturforscher und Ärzte in Stettin am 19.     terschiedenen Menschen-Rassen fasste Haeckel
September 1863 „Ueber die Entwickelungsthe-         als Menschen-Arten auf und erweiterte diese auf
orie Darwin‘s“ formulierte er bereits allgemein:    zehn (Haeckel 1868b).
„Was uns Menschen selbst betrifft, so hätten wir
also consequenter Weise, als die höchst orga-       Im 27. Kapitel seines Hauptwerkes Generelle
nisirten Wirbelthiere, unsere uralten gemeinsa-     Morphologie der Organismen mit dem Unter-
men Vorfahren in affenähnlichen Säugethieren,       titel „Allgemeine Grundzüge der organischen
weiterhin in känguruhartigen Beutelthieren,         Formen-Wissenschaft, mechanisch begrün-
noch weiter hinauf in der sogenannten Secun-        det durch die von Charles Darwin reformierte
därperiode in eidechsenartigen Reptilien, und       Descendenz-Theorie“ (1866) thematisierte
endlich in noch früherer Zeit, in der Primärperi-   Haeckel schließlich die Stellung des Menschen
ode, in niedrig organisirten Fischen zu suchen“     in der Natur. Die somatischen und psychischen
(Haeckel 1864, S. 17). Der Mensch sei weder         Differenzen zwischen dem Menschen und den
„als eine gewappnete Minerva aus dem Haupte         übrigen Tieren seien nur quantitativer, nicht
des Jupiter“ noch „als ein erwachsener sünden-      qualitativer Natur. Anthropologie sei nichts an-
freier Adam aus der Hand des Schöpfers“ (ebd.,      deres als ein spezieller Zweig der Zoologie. Als
S. 26) hervorgegangen.                              hypothetisches Verbindungsglied zwischen den
                                                    Menschenaffen (Anthropoiden) und den echten
                                                    (sprechenden) Menschen sah er den Affenmen-
                                                    schen, den Pithecanthropus.

                                                                                                15
Abb. 4: Stammbaum der 12 Menschen-Arten (Natürliche Schöpfungsgeschichte, 9. Auflage,
        Berlin 1898, S. 743).

16
Seine populäre Natürliche Schöpfungsgeschich-       trages stellte eine Kompilation seiner Ansichten
te (Haeckel 1868a) erbrachte im Hinblick auf die    zur biologischen Anthropologie, Entwicklungs-
früheren Arbeiten dann nichts wesentlich Neues.     geschichte und Zoologie dar. So diskutierte er
Er unterschied „zehn verschiedene Species der       bspw. den Pithecanthropus-Fund und polemi-
Gattung Homo“, unterteilt in die Abteilungen:       sierte gegen die Fehldeutung des Pithecanthro-
Wollhaarige Menschen (Homines ulotriches)           pus durch Virchow.
sowie Schlichthaarige Menschen (Homines lis-
sotriches). An der Spitze des Schemas findet        In späteren Schriften wie Der Kampf um den
sich: „X. Kaukasischer Mensch, 20. Indoger-         Entwickelungsgedanken (Berliner Vorträge von
manischer (nördlicher) Zweig, 40. Germanen          1905), Das Menschen-Problem und die Herren-
und als Territorium Nordwesteuropa“. Von der        tiere von Linné (1907) schloss Haeckel dann an
zweiten Auflage (1870) an, werden nicht mehr        seine Ausführungen aus den Jahren 1866 bis
zehn sondern zwölf Menschen-Arten (mit 36           1895 unmittelbar ohne nennenswerte Ergänzun-
Rassen) unterschieden (Abb. 4). Man findet nun      gen an. Die Schrift Unsere Ahnenreihe (Progo-
auch erste rassenkundliche Bemerkungen und          notaxis Hominis) von 1908 bildet den publizis-
Abbildungen, die eine Wertung als „niedere“         tischen Abschluss der Beschäftigung mit diesem
und „höhere“ Menschen erkennen lassen. „Die         Themengebiet (Hoßfeld 2010, 2016).
niedersten Menschen [Australneger, Afroneger,
Tasmanier] stehen offenbar den höchsten Affen       Auch in seinen „philosophischen“ Schriften
[Gorilla, Schimpanse, Orang] viel näher, als dem    wie Die Welträthsel (1899), Die Lebenswunder
höchsten Menschen“ (ebd., S. 555).                  (1904), Sandalion (1910) oder den „Kriegs-
                                                    schriften“ wie bspw. Ewigkeit (1915) finden sich
In der Anthropogenie oder Entwickelungsge-          vereinzelt Aussagen zur Herkunftsgeschichte
schichte des Menschen (1874) kehrt diesel-          der Menschen nunmehr mit einem stärkeren
be Humanphylogenie wieder (Haeckel 1874,            Bezug auf Politik und Gesellschaft. In Ewigkeit.
S. 481–496; Abb. 5). Sein Stammbaumentwurf          Weltkriegsgedanken über Leben und Tod/Reli-
blieb bis zur sechsten und letzten Ausgabe          gion und Entwicklungslehre (1915) sah Haeckel
(1910, 2 Bde.) unverändert.                         nach wie vor in der Anthropologie einen „Teil der
                                                    Zoologie“, benutzte aber wie schon in den Le-
Im Werk Systematische Phylogenie (1895) dis-        benswundern nun ausschließlich den Terminus
kutierte Haeckel dann im achten Kapitel des         „monistische Anthropologie“, die die „richtige
dritten Teiles „Systematische Phylogenie der        Wertschätzung des Menschenwesens“ zum Ziel
Wirbelthiere (Vertebrata)“ nochmals ausführlich     hat (Haeckel 1915, S. 65). Die biologische Anth-
die „Systematische Phylogenie des Menschen“         ropologie sollte nunmehr in einer mehr philoso-
unter stärkerer Berücksichtigung der Paläontolo-    phisch orientierten Anthropologie aufgehen und
gie. Von den gefundenen Fossilien sprach er ei-     politische Bemerkungen enthalten. So wirft er an
nigen wie dem Pithecanthropus erectus von Java      einer Stelle dem „Todfeind England“ vor, „alle
(1894) einen gewissen „hohen Werthe“ zu.            verschiedenen Menschenrassen zur Vernichtung
                                                    des deutschen Brudervolkes [nächstverwandten
Im Frühjahr 1898 erhielt er die Einladung, auf      Germanen] mobil gemacht“ zu haben: „[…] ruft
dem vierten internationalen Zoologenkongress        es [England] als Verbündete die niederen farbi-
in Cambridge einen Vortrag zu halten. Von vie-      gen Menschenrassen aus allen Erdteilen zusam-
len Seiten war der Wunsch an ihn herangetragen      men: vorab die gelben, schlitzäugigen Japaner,
worden, dort eine der großen allgemeinen Fra-       die perfiden Seeräuber des Ostens!, dann die
gen, wenn nicht gar die „Frage aller Fragen“ (T.    Mongolen aus Hinterindien und die braunen
H. Huxley), zu thematisieren. Der Inhalt des Vor-   Malayen aus dem benachbarten Malakka und

                                                                                                17
Abb. 5: Entwickelungsgeschichte des Menschen (1. Schimpanse; 2. Gorilla; 3. Orang; 4. Ne-
        ger). In E. Haeckel: Anthropogenie oder Entwickelungsgeschichte des Menschen.
        Gemeinverständliche wissenschaftliche Vorträge über die Grundzüge der menschli-
        chen Keimes- und Stammesgeschichte. Leipzig 1874, Tafel XI.

18
Hinweise für den Unterricht

                     Ernst Haeckels Leben und Werk können im Unterricht in vielfältiger Art und Wei-
                     se eingebunden werden (vgl. Porges und Hoßfeld 2019; Porges et al. 2021d).
                     Vor dem Hintergrund der „Jenaer Erklärung“ lässt sich als Resümee formulieren:
                     „Das Denken von Haeckel ist grundsätzlich von der Idee der Vervollkommnung
                     geprägt, die Ausdruck seiner monistischen Weltanschauung war (Haeckel 1866).
                     Wenn er, wie beim Stammbaum des Menschen, von vornherein festlegt, wer am
                     Ende oder besser an der Spitze stehen wird, stellt sich die Frage, woher er diese
                     Gewissheit nimmt? Schließt man Selbstliebe oder die Zugehörigkeit eines Autors
                     zu einer bestimmten Gruppe als Motiv aus, stößt man auf einen wesentlichen As-
                     pekt der anthropogenetischen Forschung, ihren Eurozentrismus, dessen Kehrsei-
                     te der vermeintliche Primitivismus von ‚Afrikanern‘ ist“ (Fischer et al. 2020, S. 9).

Singapore; die schwarzbraunen Australneger            ein Meuchelmord der höheren menschlichen
und Papuas aus Ozeanien, die Kaffern aus Südaf-       Kultur gebrandmarkt“ werden (ebd., S. 86). Es
rika und die Senegalneger aus den nordafrikani-       sei sichtbar, dass der kulturelle und psychologi-
schen Kolonien – und damit kein Farbton der tief      sche Abstand zwischen den „höchstentwickelten
verachteten ‚Niederen Menschenrassen‘ fehlt,          europäischen Völkern und den niedrigst stehen-
und das buntscheckige Heer des stolzen Albion         den Wilden größer ist, als derjenige zwischen
auch in ethnographischer Zusammensetzung              diesen letzteren und den Menschenaffen“; d. h.
die ‚ewige Weltherrschaft‘ des anglosächsischen       Haeckel deutete und übertrug hier sein Schema
Inselvolks demonstriert, werden auch noch die         „Die Familiengruppe der Katarrhinen“ von 1868
Reste der Rothäute aus Amerika auf die blut-          (Natürliche Schöpfungsgeschichte) auf die zivili-
dampfenden Schlachtfelder von Europa herü-            satorischen Entwicklungen (Pithecometra-Satz).
bergeschleppt!“ (Haeckel 1915, S. 86, Hervorhe-       Er missachtete ferner den „brutalen National-
bungen im Orig.). Aus seiner Sicht stellte sich der   Egoismus“ Englands, der nur der Aufrechterhal-
gesamte Erste Weltkrieg als ein „niederträchtiger     tung der „pambritischen Weltherrschaft (‚für alle
Verrat an der weißen Rasse“ dar und musste „als       Ewigkeit!’)“ diene (Haeckel 1915, S. 86).

5.2   Zur Hautfarbe des Menschen

Dass man Menschen nach Hautfarbe klassifiziert        Ackerbauern aus Anatolien nach Europa. Zuvor
macht wenig Sinn, denn stark pigmentierte Men-        waren Europäer stärker pigmentiert. Sie haben
schen gibt es nicht nur in Afrika, sondern auch       ihre Pigmentierung erst in den letzten 5000 Jah-
in Asien, Australien und Amerika. Nur in Europa       ren wahrscheinlich als direkte Folge der Sess-
gibt es diese scheinbar nicht. Allerdings haben       haftigkeit und Ausbreitung des Ackerbaus verlo-
genetische Analysen gezeigt, dass dies vor weni-      ren. Wurde der Vitamin-D-Bedarf bei Jägern und
gen Jahrtausenden noch anders war. Die europäi-       Sammlern hauptsächlich über Fisch und Fleisch
schen Ureinwohner, die bis vor 5000 Jahren noch       gedeckt, so entstand in der Ernährung der frühen
in Mitteleuropa als Jäger und Sammler lebten,         Ackerbauern ein Mangel, der durch zunehmen-
besaßen noch nicht die Gene, die heutigen Eu-         des „Ausbleichen” kompensiert werden musste.
ropäern ihre Hellhäutigkeit verleihen. Diese ka-      Vitamin D kann bekanntermaßen aus einem Cho-
men vor 7-8000 Jahren erstmals mit den frühen         lesterinderivat in der Haut durch UV-Strahlen des

                                                                                                      19
Sonnenlichtes gebildet werden. Umso schwä-          beim Menschen somit nicht existent. Es handelt
cher die Pigmentierung, umso mehr UV-Licht          sich hier um Gradienten, die beweisen, dass es
dringt durch die Haut. Die frühen Ackerbauern       keine scharfen Grenzen/Abgrenzungen inner-
aus Anatolien mussten also ihre Pigmentierung       halb der menschlichen Entwicklung zwischen
allmählich verlieren, um sich im dunklen Winter     benachbarten Weltregionen gibt (Abb. 6). Sie
Mittel- und Nordeuropas dauerhaft auszubreiten.     existieren nicht, sondern sind nur Konstrukte.
Folglich sind die Menschen Skandinaviens am         Ferner deuten aktuelle Befunde der Genetik, An-
wenigsten pigmentiert. Der Norden Europas ist       thropologie, Ethnologie und Molekularbiologie
mit Abstand der nördlichste Punkt auf der Welt,     darauf hin, dass der moderne Mensch erst vor ca.
an dem Ackerbau betrieben werden kann. Durch        200 000 Jahren in Afrika entstand und sich vor
den Golfstrom gibt es dort wesentlich mildere       relativ kurzer Zeit in die bewohnbaren Gebiete
Winter als auf dem gleichen Breitengrad in Sibi-    der Erde ausbreitete und sich während dieses
rien, Alaska oder Kanada, wo in diesen Breiten      Prozesses an die unterschiedlichen Umweltbe-
Permafrost herrscht und die Ureinwohner dieser      dingungen (Klima etc.) anpassen musste. Als der
Regionen meist auch stärker pigmentiert sind,       moderne Mensch (Homo sapiens) vor ca. 50 000
z. B. die Inuit, die ihren Vitamin-D-Bedarf durch   bis 60 000 Jahren Afrika verließ, traf er in Eura-
ihre Nahrung wie Fisch und Fleisch decken (Fi-      sien nach heutigem Erkenntnisstand mindestens
scher et al. 2020, 2021).                           drei seiner unmittelbaren Verwandten – Homo
                                                    floresiensis, den Neandertaler (Homo neandert-
Die Genforschung hat nun mit Analysen an altem      halensis) und wohl auch den jüngst entdeckten
Skelettmaterial (auch als Archäogenetik bezeich-    Denisovaner aus dem russischen Altai-Gebirge
net) den Schwachpunkt solcher Überzeugungen         (Krause et al. 2010, Green et al. 2010, Reich et
aufgedeckt und gezeigt, dass zwischen mensch-       al. 2010). Diese Notwendigkeit der Anpassung
lichen „Gruppen“ im Laufe der Zeit ein immer-       an die jeweils unterschiedlichen Umweltbedin-
währender Genaustausch stattgefunden hat. So        gungen hat aber eben nur in einer kleinen Un-
zeigen die heutigen Einwohner Westeurasiens         tergruppe von Genen, die die Empfindlichkeit
bspw. nur halb so viele genetische Unterschiede     gegenüber Umweltbedingungen betrifft, z. B.
wie die Menschen, die dort noch vor 10 000 Jah-     Sonneneinstrahlung, Veränderungen bewirkt (Fi-
ren lebten. Gruppen, Völker oder „Rassen“ sind      scher et al. 2020, 2021).

Hinweise für den Unterricht

Für den Unterricht kann ein Gedankenexperiment hilfreich sein (vgl. Porges et
al. 2020). Die Schülerinnen und Schüler sollen sich dabei folgendes Szenarium
vorstellen: Alle Menschen unserer Erde stellen sich in einer Reihe nebeneinander
auf und erhalten die Aufgabe, sich nach der Farbe ihrer Haut zu ordnen. Zuge-
geben, das wird ein wenig dauern und auch nicht wirklich umsetzbar sein. Aber
wir befinden uns in einem Gedankenexperiment und da ist alles möglich. Ganz
links soll der Mensch mit der dunkelsten Hautfarbe und ganz rechts der mit der
hellsten stehen. Nun erhalten die Lernenden die Aufgabe, eine klare Trennung
zwischen dunkelhäutig und hellhäutig festzulegen. Schnell wird klar, dass das
nicht möglich ist. Jede Trennung, die man vornimmt, wird willkürlich sein, da der
Übergang fließend ist. Nur schwarz und weiß gibt es eben nicht. Ferner kann hier
angesprochen werden, dass die Hautfarbe ebenso im Jahresverlauf und auch in
der Individualentwicklung selbst stets in Veränderung begriffen ist (Anpassungs-
erscheinungen, Alterungsprozesse etc.).

20
5.3   „Rasse“ bei Haustieren und Menschen: ein Missverständnis

Es zeigt sich bis heute in den aktuellen Dis-          schnelle Veränderung der Art beim Menschen gar
kussionen, dass anscheinend ein merkwürdi-             nicht möglich. Die meisten Hunderassen sind/
ges Bedürfnis vorhanden ist, das Konzept der           wurden von Menschen durch Inzuchtverpaarung
„Menschenrassen“ zu retten, da phänotypische           gezüchtet, um eben bestimmte Eigenschaften zu
(äußere) Unterschiede und genetische Differen-         erzeugen. Sie sind auf eine etwas andere Art und
zierung doch nun „offensichtlich” im Alltag etc.       Weise damit auch „Konstrukte des menschlichen
seien („Man sieht doch sofort die Unterschie-          Geistes“. Das englische Wort „breed“ beschreibt
de!“). Statisches, typologisches Denken scheint        dies viel besser als das deutsche Wort „Rasse“
dem Menschen eigen zu sein. Typologie zeichnet         und der Begriff Hundezüchtung wäre geeigneter
sich aber nun gerade durch das Fehlen von Über-        als Rassezucht und warum nicht Hunde„sorte“,
gängen und von statischen Eigenschaften aus            wie es in der Botanik oder bspw. Pflanzenzucht
und widerspricht allen Befunden zur Diversität         Verwendung findet?: „Die Analogie zwischen
des Menschen. Oder es wird bspw. behauptet,            Haustierrassen insbesondere Hunderassen und
bei Tieren spricht man immer noch von „Ras-            vermeintlichen Menschenrassen ist häufig ein
sen“, also gelte dies auch für den Menschen. Die       rechtfertigendes Argument für die Existenz letz-
meisten Hunderassen gibt es überhaupt erst seit        terer in der Gleichsetzung von phänotypischer
150 Jahren oder jünger. Ohne das ständige Ein-         Variabilität und deren Kategorisierung. Man sähe
greifen des Menschen würde es diese gar nicht          doch hier wie dort die Unterschiede. Die dieser
geben. Hunde sind also domestizierte Wölfe. So-        Analogie zugrunde liegende Annahme ist eigent-
mit sind die Unterscheidungen, die uns so offen-       lich simpel, dass die Verschiedenheit zwischen
sichtlich erscheinen, das reine Ergebnis dieses        unterschiedlichen Gruppen höher ist als inner-
Züchtungsprozesses. Evolutionär gesehen (lang          halb einer Gruppe […] Ein Airedale Terrier ist ein
andauernde Zeiträume), wäre so eine rasante,           Airedale Terrier und kein Boxer!“ (Fischer et al.

                  Abb. 6: Schematische Darstellung der genetischen Verwandtschaftsgradienten der heutigen
                          Menschen. Der Farbverlauf verdeutlicht, dass es keine Stufen in der genetischen
                          (und ebenso in der phänotypischen) Variation der menschlichen Populationen gibt.
                          Die größeren genetischen Unterschiede innerhalb Afrikas sind hier nicht abgebildet.
                          (Bild von: Michelle O‘Reilly, Max-Planck-Institut für Menschheitsgeschichte; Porges
                          et al 2021a).

                                                                                                         21
2020, S. 19). Weiter heißt es: „Beim Menschen        nen erlaubt, nicht jedoch zu einer ‚Rasse‘. [...]
ist es genau umgekehrt wie bei den Hunderas-         Das heißt, natürlich gibt es eine genetische Dif-
sen, und die Schimpansen stehen dazwischen.          ferenzierung des Menschen, die auch eine klein-
Die Variabilität innerhalb einer menschlichen        räumige, geographische Gliederung aufweist;
Population ist außergewöhnlich hoch [... und]        nichts anderes wäre zu erwarten gewesen, da
die Unterschiede zwischen menschlichen Popu-         Fortpflanzungspartner nicht zufällig, sondern na-
lationen sehr gering [...]. Es ist übrigens genau    türlich eher in der Nähe als in der Ferne gefunden
diese hohe Variabilität in jeder menschlichen Po-    werden“ (ebd. S. 20).
pulation, welche – genügend genetische Daten
vorausgesetzt – in der Kombinatorik eine relativ
gute Zuordnung zu geographischen Populatio-

Hinweise für den Unterricht

Bei der Frage, ob „Rassen“ im Generellen und „Menschenrassen“ im Besonderen,
eine biologische Realität sind, können Textbausteine der „Jenaer Erklärung“ für
die Phasen der inhaltlichen Erarbeitung hilfreich sein (vgl. Porges et al. 2021b).
Als Vorgehensweise bietet sich die Methode Think-Pair-Share an (vgl. u. a.
Bönsch 2002, S. 80–83), das heißt, nach der Einzelarbeit am Text tauschen sich
die Lernenden paarweise aus. Anschließend werden die Ergebnisse im Plenum
zusammengetragen. In allen drei Phasen können die Lernenden ihre Gedanken
in Form einer durch die Lehrkraft vorgegebenen Vergleichstabelle festhalten, die
danach als Tafelbild gemeinsam entwickelt wird und als Übergabe für den Hefter
dient (Tab. 1). Der Vergleich von Haustieren und Menschen zeigt daran deutlich,
dass der Begriff „Rasse“ (besser: Zuchtformen) bei Haustieren passend, auf den
Menschen jedoch nicht übertragbar, ergo das Konstrukt bzw. der vermeintliche
Analogieschluss „Menschenrassen“ ein Trugschluss ist.

Methodische Möglichkeiten, um bspw. in einer Festigungsphase Argumente und
Gegenargumente – also das Nachempfinden gesellschaftlicher Diskurse – ziel-
führend auszutauschen und dabei ein Verständnis für die Argumentationsstra-
tegie des Gegenübers zu erhalten, gibt es viele. Bei der Diskussionsmethode
Fishbowl (vgl. u. a. Mattes 2011) diskutiert eine kleine Anzahl der Lernenden in
einem Innenkreis mit der Lehrkraft als Moderator, während der Großteil der Klas-
se in einem Außenkreis die Diskussion beobachtet. Die Gesprächsrunde bleibt
dadurch überschaubar und die Lernenden sind auf das Thema fokussiert. Damit
der Meinungsaustausch aktiv und lebendig bleibt, sollte im Innenkreis ein Gast-
Stuhl vorhanden sein, auf dem Lernende aus dem Außenkreis Platz nehmen und
mitdiskutieren können. Zulässig ist es auch, dass Diskutanten aus dem Innen- in
den Außenkreis wechseln können. Dadurch besteht die Möglichkeit, dass alle
am Gespräch teilnehmen und die Debatte gruppendynamische Prozesse zeigt.

22
Tabelle 1:    Vergleich von Haustier und Mensch anhand vorgegebener Kriterien
              (Tafelbild aus Porges et al. 2021b).

                             Haustier, z. B. Haushund            Mensch
                             (Canis lupus familiaris)            (Homo sapiens)
 phänotypische Vielfalt      variantenreich                      variantenreich
                             durch Zuchtformen                   innerhalb der Art
 genetische Vielfalt         zwischen Zuchtformen hoch,          zwischen Populationen gering,
                             innerhalb einer Zuchtform gering    innerhalb einer Population hoch
 Verbreitung                 weltweit mit fehlender              weltweit, dabei genetische
                             geografischer Gliederung            Differenzierung entlang eines
                                                                 geografischen Gradienten
                                                                 möglich
 Evolution (Selektion)       künstliche, menschliche             natürlich, biologischer Prozess
                             Züchtung

Tabelle 2:     Auszug aus der Verlaufsordnung zum Thema „Haustierrassen – Menschenrassen?“
               (vgl. Porges et al. 2021b).

 Didaktische Funktion         Teilziele                          Unterrichtsmittel
                              Die Lernenden können …
 Motivation                   ihre Gedanken zu den               Abbild eines Kommentars bzw.
                              Kommentaren aus den sozialen       einer Frage aus den sozialen
                              Medien äußern.                     Medien
 Zielangabe                   das Stundenthema erfassen:         Tafel (Überschrift)
                              Sind „Menschenrassen“ eine
                              biologische Realität?
 Vermittlung                  den Begriff geografische           Textbaustein der „Jenaer
                              „Rassen“ (oder Unterarten)         Erklärung“ zum Begriff „Rasse“
                              kritisch prüfen.
                              Haustiere und Menschen anhand      Textbaustein der „Jenaer
                              der Kriterien: phänotypische       Erklärung“ zum Vergleich
                              Vielfalt, genotypische Vielfalt,   „Haustierrassen –
                              Verbreitung und Evolution          Menschenrassen“, Arbeitsblatt
                              (Selektion) vergleichen.           mit Vergleichstabelle
 Übergabe                     ihre Ergebnisse auf dem            Arbeitsblatt, Tafelbild mit der
                              Arbeitsblatt korrigieren und       Vergleichstabelle
                              vervollständigen.
 Festigung                    das Thema im Innenkreis            Sitzordnung (Stühle)
                              diskutieren, während die übrigen   entsprechend der
                              Lernenden in einem Außenkreis      Diskussionsmethode Fishbowl
                              die Diskussion beobachten.

                                                                                                   23
6 Ausblick

Die besondere Herausforderung besteht bei die-      solches ein unverzichtbares Element der Allge-
ser Thematik darin, dass die Frage nach der Exis-   meinbildung sein. Den „Rasse“-Begriff nur aus
tenz menschlicher „Rassen“ emotional aufgela-       Lehrplänen und Lehrbüchern zu streichen, ist
den ist, da es neben individuellen Erfahrungen      nicht zweckdienlich. Vielmehr muss er historisch
und Erlebnissen auch das menschliche Selbst-        eingeordnet, diskutiert und thematisiert werden
verständnis betrifft. Die sachliche Ebene zu er-    − zumindest solange er im Alltag als soziales
reichen, erfordert daher einen verschärften Blick   Konstrukt existiert. Nur dadurch kann gewähr-
auf die notwendige Kompetenzentwicklung: die        leistet werden, dass sich die heranwachsenden
Schulung der Reflexionsfähigkeit – und zwar die     Generationen im persönlichen und gesellschaft-
der Lernenden sowie die der eigenen. Im Sinn        lichen Leben sachlich richtig, selbstbestimmt
der Transparenz sollte dabei nicht vergessen        und aktiv an der gesellschaftlichen Kommunika-
werden, dies mit den Lernenden zu besprechen.       tion und Meinungsbildung beteiligen − schließ-
Voraussetzung für ein Gelingen des Unterrichts      lich ist Sachkompetenz durch Fachwissen ge-
ist es, einen sicheren Umgang mit dem (histori-     prägt. Es geht also um nichts Geringeres, als um
schen) Begriff „Rasse“ zu gewährleisten und da-     die bewusste Nutzung naturwissenschaftlicher
durch ein mögliches „aneinander vorbeireden“        sowie fachspezifischer Kenntnisse der „Jenaer
einzuschränken.                                     Erklärung“, um das eigene Weltbild weiter zu
                                                    entwickeln sowie naturwissenschaftliche Sach-
Aber warum gibt es Rassismus, wenn das Kons-        verhalte in fachlichen und gesellschaftlichen
trukt „Rasse“ aus genetischer Sicht (längst) wi-    Kontexten zu reflektieren und zu bewerten. Da-
derlegt und überholt ist?                           bei sollte nicht vergessen werden, dass Emoti-
                                                    onen das Ausmaß des Involviertseins anzeigen
Wissenschaftliche Erklärungen sind gut und          und eine entscheidende Rolle bei der Entwick-
notwendig, reichen aber allein nicht aus. Der       lung von Bildungsinteressen spielen. Will man
tatsächliche Verzicht auf die Verwendung des        also ein tatsächliches Umdenken, ein „Umfüh-
„Rasse“-Begriffs im Alltag setzt voraus, dass       len“, ein sich Lösen von rassistischer Sozialisa-
dies aus Überzeugung und Einsicht geschieht.        tion erreichen, ist der Aufbau von Beziehungen,
Dies wiederum macht unterrichtliches Handeln        Teilhabe und Teil werden lassen unumgänglich.
mit jungen Menschen notwendig. Folglich muss        Hier sind dann auch alle an Bildung Beteiligte
die Antwort auf die Frage nach der Existenz von     in der Verantwortung (vgl. Porges et al. 2021a,
„Menschenrassen“ Teil der naturwissenschaftli-      c; Abb. 7).
chen Grundbildung (Scientific Literacy) und als

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