Vorschläge für eine Reform der gesetzlichen Rentenversicherung - Gutachten des Wissenschaftlichen Beirats beim Bundesministerium für Wirtschaft ...

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Vorschläge für eine Reform der gesetzlichen Rentenversicherung - Gutachten des Wissenschaftlichen Beirats beim Bundesministerium für Wirtschaft ...
Vorschläge für eine Reform der
gesetzlichen Rentenversicherung
Gutachten des Wissenschaftlichen Beirats
beim Bundesministerium für Wirtschaft und Energie (BMWi)

                                                      bmwi.de
Vorschläge für eine Reform der gesetzlichen Rentenversicherung - Gutachten des Wissenschaftlichen Beirats beim Bundesministerium für Wirtschaft ...
Der Wissenschaftliche Beirat beim Bundesministerium für Wirtschaft und Energie hat sich in mehreren
Sitzungen, zuletzt am 22. April 2021, mit dem Thema

„Vorschläge für eine Reform der gesetzlichen Rentenversicherung“

befasst und ist dabei zu der nachfolgenden Stellungnahme gelangt:

Impressum

Herausgeber
Bundesministerium für Wirtschaft und Energie (BMWi)
Öffentlichkeitsarbeit
11019 Berlin
www.bmwi.de

Stand
4. Mai 2021

Diese Publikation wird ausschließlich als Download angeboten.

Gestaltung
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Europäischen Parlament.
1

Inhalt

I.     		           Anlass                      .........................................................................................................................................................................................................................................................................................................................................   2

II.  D
       ie demographische Entwicklung und der daraus folgende Zeithorizont
      für notwendige Reformmaß­nahmen                                      6                                                                                                                    .........................................................................................................................................................................................

III  D
       ie Entwicklung der finanziellen Situation der GRV unter
      geltendem Recht                                                                               ...............................................................................................................................................................................................................................................................................   11

IV.  Keine Fortführung der „doppelten Haltelinie“                                                                                                                                                                                           ......................................................................................................................................   19

V.     		           egelgebundene Anpassung des Renteneintrittsalters an
                    R
                    die Entwicklung der Lebenserwartung                                                                                                                                                   .........................................................................................................................................................................   24

VI.  P
       artielle Anwendung der Haltelinien: Preisdynamisierung der
      Bestandsrenten und Sockelschutzreform                                                                                                                                                                              ..........................................................................................................................................................   29
		VI.1                                         rennung von Bestands- und Zugangsrenten.......................................................................................................................................31
                                              T
		VI.2                                        Nach Entgeltpunkten gestaffelte Rentenleistungen...........................................................................................................35

VII.  Anmerkungen zur politischen Ökonomie von Rentenreformen                                                                                                                                                                                                                                                                .....................................................   39
		VII.1 P
         olitisch mögliche Reformen: Mehrheitsfähigkeit und
        Generationengerechtigkeit....................................................................................................................................................................................................................40
		VII.2 Reformen im ökonomischen Eigeninteresse der Rentnerinnen
         und Rentner.................................................................................................................................................................................................................................................................................43

VIII. Fehlvorstellungen, die Rentenreformen behindern                                                                                                                                                                                                               ...............................................................................................................   44
		VIII.1 D
          er Gesundheitszustand von Menschen im Renteneintrittsalter.......................................................45
		VIII.2 Die Arbeitsproduktivität älterer Menschen..................................................................................................................................................46

		VIII.3 
         Makroökonomischer Zusammenhang zwischen Rentenalter und
         Jugendarbeitslosigkeit.......................................................................................................................................................................................................................................48
		VIII.4 
         Irreführende Begriffe des deutschen Rentenrechts..............................................................................................................50

IX.       		        Empfehlungen                                                        ...........................................................................................................................................................................................................................................................................................   51

Literatur                      ....................................................................................................................................................................................................................................................................................................................................................   56

Mitglieder                             ............................................................................................................................................................................................................................................................................................................................................   60

Anhang: Gutachten des Wissenschaft­lichen Beirats seit April 1948                                                                                                                                                                                                                                                    .............................................................   63
2

I. Anlass
I. ANLASS    3

In Zeiten des demographischen Wandels steht die         niveausenkung verteilt. Dieser wurde jedoch 2018
Rentenpolitik vor der Herausforderung, den Ziel-        durch die „doppelte Haltelinie“, die ein Rentenni-
konflikt zwischen einer adäquaten Sicherung des         veau von mindestens 48 % absichert und den Bei-
Lebensunterhalts im Alter und der finanziellen          tragssatz auf höchstens 20 % begrenzt, zunächst bis
Nachhaltigkeit des umlagefinanzierten Rentensys-        2025 ausgehebelt. Gleichzeitig wurden mit der Er­­
tems zu meistern. Dieser Zielkonflikt wirft vor allem   weiterung der Mütter- und der Einführung der
Fragen der intergenerativen Verteilung zwischen         Grundrente die finanziellen Spielräume weiter ein-
der älteren und der jüngeren Generation auf. Diese      geengt und die intergenerative Verteilung deutlich
Fragen sind aber auch relevant für die Effizienz des    zuungunsten der jüngeren Generation verschoben,
Arbeitsangebots und der Beitrags-, Steuer- und          was durch die Covid-19-bedingte Rezession noch
Schuldenlast. Zudem stellen sich aufgrund der           verschärft worden ist. Wenn der Nachhaltigkeits-
sozialpolitischen Sensibilität der Rentenpolitik        faktor – wie derzeit gesetzlich vorgesehen – 2025
viele Fragen der politischen Umsetzbarkeit von          wieder aktiviert würde, hätte das erhebliche nega-
Vorschlägen zur Gestaltung der Rentenpolitik.           tive Auswirkungen auf die Entwicklung des Renten-
Während die Rentenpolitik der letzten Jahre eher        niveaus. Darum ist zu erwarten, dass die Politik
kurzfristig orientiert war, stellt dieses Gutachten     bald eine Verlängerung der doppelten Haltelinie
die längerfristigen Aspekte zur Lösung dieser Fra-      oder ähnliche Maßnahmen in Erwägung ziehen
gen in den Vordergrund.                                 wird, was ohne zusätzliche Anpassungen nur durch
                                                        eine erhebliche Ausweitung des Zuschusses aus
Eine langfristige Rentenpolitik steht heute vor zwei    dem Bundeshaushalt in die Rentenversicherung
zentralen Aufgaben. Sie muss erstens den Eintritt der   finanzierbar wäre. Hier muss ein Kompromiss ge­­
Babyboom-Generation in den Ruhestand und den            funden werden. Da der Eintritt der Babyboom-
Eintritt geburtenschwächerer Jahrgänge ins Erwerbs-     Generation in den Ruhestand in wenigen Jahren
leben verkraften. Immer weniger Erwerbstätige           bevorsteht, hält es der Beirat für dringend geboten,
müssen immer mehr Renten finanzieren. Die damit         die Suche nach einem Kompromiss zur Lösung
verbundene Herausforderung wird in den nächsten         dieser ersten Aufgabe zu beginnen.
beiden Jahrzehnten stetig anwachsen und dann
erhebliche und dauerhafte Auswirkungen auf die          Zur Bewältigung der zweiten Aufgabe hatte die
Nachhaltigkeit der Finanzierung der Rentenversi-        Rentenpolitik 2007 die „Rente mit 67“ auf den Weg
cherung haben. Zweitens muss die Rentenpolitik          gebracht, jedoch 2014 mit der „Rente mit 63“ in
damit umgehen, dass die Lebenserwartung der             Teilen wieder zurückgenommen. Zudem ist das
Menschen in Deutschland aller Voraussicht nach          Renteneintrittsalter nur bis zum Jahr 2031 festge-
weiter steigen wird.                                    legt. Da derzeit davon auszugehen ist, dass auch
                                                        danach die Lebenserwartung weiter steigen wird,
Zur Bewältigung der ersten Aufgabe hatte die rot-       muss für die folgende Zeit das Renteneintrittsalter
grüne Koalition unter Bundeskanzler Schröder 2005       bald festgelegt werden, damit die Menschen, die
den „Nachhaltigkeitsfaktor“ eingeführt, der die         in den 2030er Jahren in den Ruhestand gehen, Pla-
finanzielle Belastung des Rentensystems durch den       nungssicherheit erhalten.
Rückgang der Anzahl von Menschen, die Beiträge
zahlen, und dem Anstieg der Zahl der Menschen, die      Die rentenpolitischen Maßnahmen der letzten Jahre
Renten empfangen, zu prozentual gleichen Teilen         haben ein rentenpolitisches Dilemma geschaffen.
auf eine Beitragssatzerhöhung und eine Renten­          Einerseits sieht das geltende Recht eine Rückkehr
4     I. ANLASS

zum Nachhaltigkeitsfaktor vor, der die finanziellen     Das Gutachten geht von einem Anstieg der Erwerbs-
Belastungen des demographischen Wandels gleich-         tätigkeit von Frauen aus, diskutiert jedoch nicht,
mäßig auf die ältere und die jüngere Generation         welche Maßnahmen ergriffen werden sollen, um
verteilt und in diesem Sinne das Fundament einer        das Arbeitsangebotsverhalten jüngerer Menschen
langfristig tragbaren Lösung schaffen kann. Ande-       zu verändern, z. B. um die Erwerbstätigkeit von
rerseits hat die Haltelinienpolitik der großen Koali-   Frauen noch weiter zu erhöhen und mehr Teilzeit-
tion große Erwartungen für die Zeit nach deren          in Vollzeitarbeit umzuwandeln. Dies wäre ein Thema
Gültigkeit geweckt, die mit der Rückkehr zum alten      für ein eigenes Gutachten. Zudem ist zu bedenken,
Recht mit seinem Nachhaltigkeitsfaktor inkompa-         dass eine Ausdehnung der Rentenversicherung
tibel sind. Auswege aus diesem Dilemma müssen           durch eine Erweiterung des Kreises von Beitrags-
dringend gefunden werden. Dies ist der von der          zahlenden nur vorübergehend zu einer finanziel-
großen Koalition eingesetzten Kommission „Ver-          len Erleichterung der Rentenversicherung führt,
lässlicher Generationenvertrag“ nicht gelungen.         weil dadurch neue Ansprüche an die Rentenversi-
                                                        cherung entstehen.
Ziel des vorliegenden Gutachtens ist es, verschiedene
Lösungsansätze und Bausteine für einen Ausweg           Die Vorschläge des Beirats werden quantitativ ab­­
aus diesem Dilemma vorzuschlagen und ihre Vor-          geschätzt. Dabei geht der Beirat von Simulationen
und Nachteile abzuwägen. Dabei konzentriert sich        der zukünftigen Entwicklung von Demographie,
das Gutachten auf Reformen innerhalb der gesetz-        Männer- und Frauenerwerbstätigkeit aus, die auf
lichen Rentenversicherung, ohne die grundsätzliche      dem Rentenversicherungsbericht und den Kon-
Struktur des Systems der deutschen Altersvorsorge       junkturprognosen mehrerer Wirtschaftsforschungs-
in Frage zu stellen. Daher werden Vorschläge wie        institute vom Spätherbst 2020 basieren.
die Einbeziehung von beamtet und selbständig
Erwerbstätigen in die gesetzliche Rentenversiche-       Das Gutachten ist wie folgt aufgebaut: Zunächst
rung ebenso ausgeklammert wie Vorschläge zur            beschreiben wir die demographische Entwicklung
größeren Verbreitung von Betriebsrenten oder der        und zeigen, dass der Handlungsbedarf dringend ist,
Vorschlag einer aktienbasierten Zusatzrente, zumal      weil der Eintritt der Babyboom-Generation in den
diese erst in sehr langer Frist wirksam sein können.    Ruhestand jetzt beginnt und Planungssicherheit
                                                        bezüglich des zukünftigen Rentenalters jetzt her-
Das Gutachten diskutiert weiterhin nicht, welche        gestellt werden muss. In Abschnitt 3 berechnen wir
Möglichkeiten es gibt, die Demographie selbst zu        die zukünftige Entwicklung von Beitragssatz und
beeinflussen (z. B. durch verstärkte Einwanderung       Sicherungsniveau, wenn das derzeit geltende Recht
oder durch Programme zur Erhöhung der Geburten-         fortgesetzt würde. Wir gehen insbesondere auf die
zahlen). Wie im Bericht der Kommission „Verläss­        Auswirkungen der Corona-Krise auf Beitragssatz
licher Generationenvertrag“ gezeigt, sind diese Opti-   und Sicherungsniveau ein. Der Beirat empfiehlt,
onen unter realistischen Annahmen nicht in der          die Balance zwischen den Generationen, die durch
Lage, die Probleme der gesetzlichen Rentenversi-        die Corona-Krise verschoben wurde, baldmöglichst
cherung in den nächsten 20-30 Jahren zu lösen.          wiederherzustellen. In Abschnitt 4 wird gezeigt, dass
Vor allem ein Anstieg der Geburtenrate würde erst       eine Fortsetzung der Politik der doppelten Halte­
sehr langfristig wirken.                                linie keine Lösung des rentenpolitischen Dilemmas
                                                        sein kann. In Abschnitt 5 argumentiert der Beirat,
                                                        dass eine graduelle Anpassung der Lebensarbeits-
I. ANLASS   5

zeit an die Lebenszeit eine essentielle Bedingung
für eine langfristige Lösung ist. Darauf aufbauend
schlägt der Beirat im Abschnitt 6 Lösungsansätze
und -varianten vor, die unter dieser Bedingung eine
zumindest partielle Fortführung der Haltelinien
er­­möglichen. Die Abschnitte 7 und 8 befassen sich
schließlich damit, wie die politische Akzeptanz von
Rentenreformen verbessert werden kann. Ab­­schnitt 9
fasst die Empfehlungen des Beirats zusammen.
6

II. D
     ie demographische
    Entwicklung und der daraus
    folgende Zeithorizont für
    notwendige Reformmaß­
    nahmen
I I . D I E D E M O G R A P H I S C H E E N T W I C K LU N G U N D D E R D A R AU S F O LG E N D E Z E I T H O R I Z O N T …   7

Die demographische Entwicklung wird von sehr                                     In allen Szenarien steigt der Altersquotient in den
langfristigen Trends bestimmt. Die Alterung der                                  nächsten 15 Jahren stark an. Je nach demographi-
Bevölkerung ist ein gut zu prognostizierender Pro-                               scher Annahme wird der Altersquotient ab etwa
zess, da der heutige Bestand der Bevölkerung die                                 2035 ein Plateau erreichen oder weiter steigen. Eine
Veränderungen durch Geburten, Sterbefälle und                                    signifikante Differenz zwischen dem Basisszenario
Migration dominiert und sich die zugrunde liegen-                                und den beiden Extremszenarien ergibt sich erst
den Parameter der Veränderungen (Geburtenraten,                                  danach. In keinem Szenario sinkt der Altersquotient
Mortalitätsraten) nur allmählich ändern. Selbst die                              langfristig wieder unter 50 % oder erreicht gar den
z. T. heftigen Schwankungen der Migration – wie z. B.                            heutigen Ausgangswert. Die Herausforderung, dass
im Jahr 2015 – sind gering in Relation zur Gesamt-                               die Renten einer wachsenden Zahl älterer Menschen
bevölkerung. Die Alterung Deutschlands wird lang-                                von immer weniger jungen Menschen finanziert
fristig nicht signifikant von der Corona-Pandemie                                werden müssen, bleibt also auf Dauer bestehen.
beeinflusst werden, da auf Phasen der Übersterblich-
keit wie im Winter 2020/21 typischerweise Phasen                                 Der Anstieg des Altersquotienten in Abbildung 1
der Untersterblichkeit folgen.                                                   wird durch zwei sehr unterschiedliche demogra-
                                                                                 phische Entwicklungen geprägt. Die erste Entwick-
Die Annahmen der 14. koordinierten Bevölkerungs-                                 lung ist die historisch gegebene Entwicklung der
vorausberechnung vom Juni 2019 sind daher weiter-                                Geburten, insbesondere die Abfolge von „Babyboom“
hin eine solide Grundlage für Berechnungen, wie                                  und „Pillenknick“. Die zweite Entwicklung ist die
sich die finanzielle Lage der gesetzlichen Renten-                               steigende Lebenserwartung. Das Statistische Bun-
versicherung (GRV) entwickeln wird. Abbildung 1                                  desamt geht in seinem mittleren Szenario („Basis-
zeigt die erwartete Alterung Deutschlands in Form                                prognose“ in Abbildung 1) für die Zeit zwischen
des Altersquotienten in der traditionellen Definition,                           2020 und 2060 von einer nahezu linearen Steige-
also der Anzahl der Menschen im Alter von 65 Jahren                              rung der Lebenserwartung von Männern um 5,5
und darüber im Verhältnis zur Anzahl der Menschen                                Jahre aus, für Frauen um 4,3 Jahre, d.h. Männer/
im Alter zwischen 20 und 64 Jahren.1 Aus den 27                                  Frauen haben im Jahr 2060 eine Lebenserwartung
Szenarien der 14. koordinierten Bevölkerungsvor-                                 von 84,4/88,1 Jahren statt 78,9/83,8 im Jahr 2020.
ausberechnung wählen wir das mittlere sowie die
beiden Extremszenarien aus. Das mittlere Szenario                                Wann und wie viele Prozentpunkte diese beiden
(„Basisprognose“) ist schwarz markiert, das Szenario                             Entwicklungen zum Anstieg des Altersquotienten
einer relativ jungen Bevölkerung („Bev jung“) grün                               beitragen, wird in Abbildung 2 dargestellt. Der Ein-
gestrichelt und das Szenario einer relativ alten Be­­                            fluss der Geburtenzahlen auf den Altersquotienten
völkerung („Bev alt“) rot gestrichelt.2                                          lässt sich an der grünen und der roten Fläche ablesen.

1   Wir verwenden den in der demographischen Forschung verwendeten Begriff „Altersquotient“ statt dem vom Statistischen Bundesamt verwendeten
    Begriff „Altenquotient“.
2   Alle Berechnungen in diesem Gutachten wurden mit dem MEA-PENSIM Modell durchgeführt und sind in Börsch-Supan et al. (2020) sowie Börsch-Supan
    und Rausch (2020a, 2020b, 2021) dokumentiert. Die leichten Abweichungen von den Ergebnissen der 14. koordinierten Bevölkerungsvorausberechnung
    beruhen auf unterschiedlichen Berechnungsmodellen. Das Basisszenario entspricht den Annahmen G2-L2-W2 (Geburtenrate 1,55; Lebenserwartung
    84,4/88,1; jährliche Nettozuwanderung 206.000), das Szenario einer relativ jungen Bevölkerung den Annahmen G3-L1-W3 (Geburtenrate 1,73; Lebenser-
    wartung 82,5/86,4; jährliche Nettozuwanderung 300.000) und das Szenario einer relativ alten Bevölkerung den Annahmen G1-L3-W1 (Geburtenrate 1,43;
    Lebenserwartung 86,2/89,6; jährliche Nettozuwanderung 110.500).
In allen Szenarien steigt der Altersquotient in den nächsten 15 Jahren stark an. Je
         nach demographischer Annahme wird der Altersquotient ab etwa 2035 ein Plateau
8        I I . D I E D E M O G R A P H I S C H E E N T W I C K LU N G U N D D E R D A R AU S F O LG E N D E Z E I T H O R I Z O N T …
         erreichen oder weiter steigen. Eine signifikante Differenz zwischen dem Basisszenario
         und den beiden Extremszenarien ergibt sich erst danach. In keinem Szenario sinkt der
         Altersquotient langfristig wieder unter 50% oder erreicht gar den heutigen
         Ausgangswert. Die Herausforderung, dass die Renten einer wachsenden Zahl älterer
         Menschen von immer weniger jungen Menschen finanziert werden müssen, bleibt also
      auf Dauer bestehen.
    Abbildung 1: Entwicklung des Altersquotienten 65+/20-64 bis 2060 (in Prozent)
         Abbildung 1: Entwicklung des Altersquotienten 65+/20-64 bis 2060 [in Prozent]
             70%

             65%

             60%

             55%

             50%

             45%                                                                                                      Bev alt
                                                                                                                      Basisprognose
             40%
                                                                                                                      Bev jung

             35%

             30%
                                                                                                                            2048
                   2018

                          2020

                                 2022

                                        2024

                                               2026

                                                      2028

                                                             2030

                                                                    2032

                                                                           2034

                                                                                  2036

                                                                                         2038

                                                                                                2040

                                                                                                       2042

                                                                                                              2044

                                                                                                                     2046

                                                                                                                                   2050

                                                                                                                                          2052

                                                                                                                                                 2054

                                                                                                                                                        2056

                                                                                                                                                               2058

                                                                                                                                                                      2060
          Quelle: Eigene Berechnung auf der Basis des MEA-PENSIM Modells.
          Anmerkung: Die Abbildung zeigt die Entwicklung des Altersquotienten (Bevölkerung im Alter von 65 Jahren und
          darüber als Prozent der 20 bis 64jährigen Bevölkerung) in drei Prognosevarianten des Statistischen
    Quelle: Eigene Berechnung auf der Basis des MEA-PENSIM Modells.
          Bundesamtes: alte, mittlere und junge Gesamtbevölkerung.
    Anmerkung: Die Abbildung zeigt die Entwicklung des Altersquotienten (Bevölkerung im Alter von 65 Jahren und darüber in Prozent der 20- bis 64-jährigen Bevölkerung)
    in drei Prognosevarianten des Statistischen Bundesamtes: alte, mittlere und junge Gesamtbevölkerung.

         Alle Berechnungen in diesem Gutachten wurden mit dem MEA-PENSIM Modell durchgeführt und sind
         2

Die grüneBörsch-Supan
       in   Fläche zeigt,etwie
                             al. sich
                                  (2020)
                                      dersowie  Börsch-Supan und
                                           Altersquotient    dazu,Rausch
                                                                    dass der(2020a, 2020b,
                                                                               Anstieg     2021) dokumentiert.
                                                                                       des Altersquotienten     stark
       Die leichten Abweichungen von den Ergebnissen der 14. koordinierten Bevölkerungsvorausberechnung
ohne Babyboom
       beruhen aufund    ohne Anstieg der
                     unterschiedlichen         Lebenser-     beschleunigt
                                           Berechnungsmodellen.               wird und
                                                                 Das Basisszenario      das Niveau
                                                                                     entspricht den von   48 Prozent
                                                                                                    Annahmen
wartung   entwickeln
       G2-L2-W2        würde. Von
                   (Geburtenrate       etwa
                                    1,55;    35 Prozent im84,4/88,1;
                                          Lebenserwartung    nicht erst  2050,Nettozuwanderung
                                                                     jährliche  sondern schon 2032     erreicht
                                                                                                  206.000),   daswird.
       Szenario    einer  relativ   jungen    Bevölkerung den   Annahmen       G3-L1-W3   (Geburtenrate
Jahr 2019 würde er auf über 48 Prozent im Jahr 2050 Der Altersquotient überschießt dieses Niveau auf-       1,73;
       Lebenserwartung 82,5/86,4; jährliche Nettozuwanderung 300.000) und das Szenario einer relativ alten
ansteigen   (gestrichelte
       Bevölkerung    den Linie)
                           Annahmenund dann    nur margi-
                                          G1-L3-W1           grund
                                                    (Geburtenrate    des Lebenserwartung
                                                                  1,43;   Babybooms, steigt   bis auf 51
                                                                                            86,2/89,6;    Prozent im
                                                                                                        jährliche
       Nettozuwanderung
nal wieder   zurückgehen.110.500).
                             Das reflektiert den Rück-       Jahr 2036 an und fällt dann wieder langsam auf
gang der Geburtenrate von 2,2 Anfang der 1950er 7 ca. 48 Prozent. Der zweite rote „Buckel“ nach 2050
Jahre auf unter 1,4 in den 1970er Jahren. Erst seit ergibt sich daraus, dass die Kinder der Babyboom-
2010 ist die Geburtenrate in Deutschland wieder     Generation in dieser Zeit das 65. Lebensjahr über-
etwas angestiegen, auf knapp 1,6. Die rote Fläche   schreiten. Ohne den Anstieg der Lebenserwartung
zeigt den zusätzlichen Effekt der Abfolge von Baby- würde sich der Altersquotient bei etwa 50 Prozent
boom und Pillenknick. Weil in den 2020er Jahren     einpendeln.3
die Babyboomer ins Alter 65+ kommen, führt dies

3   In der öffentlichen Diskussion wird oft der Eintritt der Babyboom-Generation in das Rentenalter als Ursache für den Anstieg des Altersquotienten ausge-
    macht. Das ist jedoch nur zum Teil richtig. Abbildung 2 zeigt, dass die wichtigere Ursache die anhaltend niedrige Fertilitätsrate ist, die dazu führt, dass der
    Altersquotient auf ein deutlich höheres Gleichgewichtsniveau steigen muss. Der Babyboom beschleunigt diesen Anstieg und führt zu einem leichten
    Überschießen, er hat aber keinen Einfluss auf das Gleichgewichtsniveau.
I I . D I E D E M O G R A P H I S C H E E N T W I C K LU N G U N D D E R D A R AU S F O LG E N D E Z E I T H O R I Z O N T …           9

    Abbildung 2: Auswirkungen der Geburtenentwicklung und des Anstiegs der Lebenserwartung
    auf denAbbildung
            Altersquotienten,  2020–2060
                     2: Auswirkungen      (in Prozentpunkten)und des Anstiegs der
                                     der Geburtenentwicklung
               Lebenserwartung auf den Altersquotienten, 2020-2060 [in Prozentpunkten]

    Quelle: Eigene Berechnung
                Quelle:    Eigeneauf der Basis des MEA-PENSIM
                                     Berechnung                  Modells.
                                                     auf der Basis    des MEA-PENSIM Modells.
    Anmerkung:Anmerkung:
                 Die Abbildung zeigtDie Abbildung zeigt die Entwicklung
                                       die Entwicklung des Altersquotienten            des
                                                                            (Bevölkerung     Altersquotienten
                                                                                         im Alter                    (Bevölkerung
                                                                                                  von 65 Jahren und darüber             im20-Alter
                                                                                                                            in Prozent der          von 65Bevölkerung)
                                                                                                                                              bis 64-jährigen
    auf Basis der mittleren Variante des Statistischen Bundesamtes. Die Flächen repräsentieren, welchen Anteil die angezeigten demographischen Entwicklungen zum
                Jahren und darüber
    Anstieg des Altersquotienten   beitragen. als Prozent der 20 bis 64jährigen Bevölkerung) auf Basis der mittleren Variante des
               Statistischen Bundesamtes. Die Flächen repräsentieren, welchen Anteil                                             die    angezeigten
               demographischen Entwicklungen zum Anstieg des Altersquotienten beitragen.

Die Wirkung Dieder  steigenden
                 Wirkung         Lebenserwartung
                           der steigenden            auf
                                              Lebenserwartung Dieauf
                                                                  erste
                                                                      diePhase  des demographischen
                                                                           deutsche   Altersstruktur wirdWandels ist
die deutsche Altersstruktur wird durch die blaue              daher vom schnellen Anstieg des Altersquotienten
            durch die blaue Fläche illustriert. Da die Lebenserwartung fast linear steigt, steigt auch
Fläche illustriert. Da die Lebenserwartung fast linear aufgrund von Babyboom und Pillenknick domi-
            ihre
steigt, steigt   Wirkung
               auch        auf den auf
                     ihre Wirkung   Altersquotienten
                                         den Altersquo-stetig niert,
                                                               an und  ist der
                                                                     deren      dominierende
                                                                            Wirkung    etwa imGrund     für kulminiert.
                                                                                                 Jahr 2035
            das an
tienten stetig   weiter  wachsende
                    und ist          Finanzierungsproblem
                            der dominierende      Grund       Erder  GRVsich
                                                                 äußert     ab derzeit
                                                                               den 40er    Jahren
                                                                                       in den       dieses
                                                                                               schnell  ansteigenden
für das weiter   wachsende    Finanzierungsproblem            Renteneintrittszahlen.
            Jahrhunderts. Im mittleren Szenario des Statistischen Bundesamtes trägt die In der  anschließenden    zwei-
der GRV absteigende
              den 40er Jahren   dieses Jahrhunderts.
                         Lebenserwartung       bis 2050 sechs ten Phase   kommt es zum
                                                                   Prozentpunkte     zunächst    zu einem
                                                                                            Anstieg    des Plateau,
Im mittleren Szenario des Statistischen Bundesam- weil der Anstieg der Anzahl der Sterbefälle aus der
            Altersquotienten bei. Das erklärt, warum der Altersquotient weiter steigt, selbst
tes trägt die steigende Lebenserwartung bis 2050              Babyboom-Generation den Anstieg der Lebenser-
            nachdem     der  Babyboom     überwunden
sechs Prozentpunkte zum Anstieg des Altersquoti-         ist und   sich indie
                                                              wartung         Geburtenrate
                                                                            etwa kompensiert, auf   einem
                                                                                                  bevor  der Altersquo-
            niedrigeren  Niveau  stabilisiert hat.
enten bei. Das erklärt, warum der Altersquotient              tient dann ab etwa 2050 wegen der weiter steigen-
weiter steigt, selbst nachdem der Babyboom über-              den Lebenserwartung und des Rückgangs der
            Die erste Phase des demographischen Wandels ist daher vom schnellen Anstieg des
wunden ist und sich die Geburtenrate auf einem                Sterbefälle wieder deutlich ansteigt.4 Wegen der
            Altersquotienten aufgrund von Babyboom und Pillenknick dominiert, deren Wirkung
niedrigeren Niveau stabilisiert hat.                          auf niedrigem Niveau verharrenden Geburtenrate
               etwa im Jahr 2035 kulminiert. Er äußert sich derzeit in den schnell ansteigenden
               Renteneintrittszahlen. In der anschließenden zweiten Phase kommt es zunächst zu
               einem Plateau, weil der Anstieg der Anzahl der Sterbefälle aus der Babyboom-
4              Generation
    Präziser: Sterbefälle pro Kopfden    Anstieg
                                   der Bevölkerung.        der Lebenserwartung in etwa kompensiert, bevor der
               Altersquotient dann ab etwa 2050 wegen der weiter steigenden Lebenserwartung und
                                                       9
10    I I . D I E D E M O G R A P H I S C H E E N T W I C K LU N G U N D D E R D A R AU S F O LG E N D E Z E I T H O R I Z O N T …

kommt es in dieser zweiten Phase schon bei sehr
optimistischen Annahmen nicht zu einem nen-
nenswerten Rückgang des Altersquotienten, aber
nicht mehr zu einem derart dramatischen Anstieg
wie zwischen 2020 und 2035.

Es ist wichtig, diese beiden Phasen und die dahin-
terstehenden demographischen Entwicklungen zu
unterscheiden, weil sie unterschiedliche Politikant-
worten verlangen. Für die erste Phase müssen
unverzüglich Maßnahmen getroffen werden, um
die finanziellen Belastungen durch die massiv
erhöhten Eintrittszahlen in die GRV so zu verteilen,
dass ihre schädlichen ökonomischen und sozialen
Nebenwirkungen möglichst gering bleiben. Für die
zweite Phase gilt es dagegen, sich schon heute
damit auseinanderzusetzen, wie das Rentensystem
auf eine weiter steigende Lebenserwartung reagie-
ren soll.
11

III. Die Entwicklung der
     finanziellen Situation der
     GRV unter geltendem Recht
12      I I I . D I E E N T W I C K LU N G D E R F I N A N Z I E L L E N S I T UAT I O N D E R G R V U N T E R G E LT E N D E M R E C H T

Für die Berechnungen der finanziellen Situation der                                  Wir nehmen an, dass die Erwerbsquote für Männer
GRV unter geltendem Recht und der Auswirkungen                                       in Zukunft unverändert bleibt. Für Frauen beobach-
der in diesem Gutachten gemachten Reformvor-                                         ten wir jedoch einen starken Jahrgangstrend, d. h.
schläge sind Annahmen zur Beschäftigungssitua-                                       spätere Jahrgänge haben ihr ganzes Leben lang ten-
tion nötig. Hier stützen wir uns für die lange Frist                                 denziell höhere Erwerbsquoten und niedrigere
ebenfalls auf die Annahmen der Kommission „Ver-                                      Teilzeitquoten als frühere Jahrgänge. Daher gehen
lässlicher Generationenvertrag“ (kurz: Kommission                                    wir bei den Frauen davon aus, dass in Zukunft das
VGV)5, weichen aber in der kurzen Frist von diesen                                   jahrgangstypische Niveau konstant bleibt, die
ab, weil sich die Arbeitsmarktsituation aufgrund der                                 Erwerbs- und Teilzeitquoten auf diesem höheren
Corona-Krise deutlich verändert hat. Zudem hat                                       Niveau aber dem typischen Altersverlauf folgen.
die Corona-bedingte Rezession ein kompliziertes                                      Bereits jetzt ist die mit der Teilzeitquote gewichtete
Wechselspiel zwischen Rentengarantie, Haltelinien                                    Erwerbstätigkeit deutscher Frauen höher als in
und den diversen Anpassungsfaktoren der Renten-                                      Frankreich, wo zwar die Vollzeitquote höher, aber
berechnung in Gang gesetzt, das zu bei der Verab-                                    die Erwerbsquote niedriger ist. Unter den hier ge­­
schiedung des „Rentenpakts 2019“ im Jahr 2018 kaum                                   troffenen Annahmen würde die mit der Teilzeit-
antizipierten Effekten auf Sicherungsniveau, Bei-                                    quote gewichtete Erwerbstätigkeit von Frauen im
tragssatz und Bundeszuschuss führt.                                                  Jahr 2040 das derzeitige Niveau von Dänemark er­­
                                                                                     reichen, das im europäischen Vergleich an zweiter
Wie sich die Wirtschaftslage nach der Pandemie                                       Stelle hinter Schweden steht.
entwickeln wird, ist zum jetzigen Zeitpunkt (April
2021) noch schwer abzusehen. Wir übernehmen                                          Aus den Annahmen zur Demographie und der
die Szenarien des Rentenversicherungsberichts                                        Beschäftigungsentwicklung folgt die Anzahl und
2020, die sich bis zum Jahr 2034 erstrecken. Für                                     Struktur der Menschen, die Renten beziehen bzw.
unsere eigenen langfristigeren Vorausschätzungen                                     Beiträge zahlen. Die finanzielle Situation der GRV
stützen wir uns in der kurzen Frist auf das Herbst-                                  und die kurz- und langfristigen Folgen der Covid-
gutachten 2020 der Wirtschaftsforschungsinstitute                                    19-Pandemie auf das deutsche Rentensystem er­­
und nehmen nur geringfügige Anpassungen der                                          geben sich dann aus dem deutschen Rentenrecht,
Annahmen gemäß dem Rentenversicherungsbe-                                            dessen Grundzüge im Kasten 1 erläutert und in
richt 2020 vor. Insbesondere übernehmen wir die                                      Abbildung 3 graphisch dargestellt werden. Zentral
mittleren Annahmen zur Entwicklung der (beitrags-                                    ist dabei, dass sich Rentenerhöhungen zunächst an
pflichtigen) Bruttolöhne und -gehälter je Arbeit-                                    den vorangegangenen Lohnsteigerungen orientie-
nehmer. Erst für die lange Frist greifen wir wieder                                  ren, dann aber durch eventuelle Erhöhungen der
auf die Annahmen der Kommission VGV zurück.6                                         Sozialbeiträge und – über den Nachhaltigkeitsfak-
Die Projektionen und ihre Annahmen werden in                                         tor – die demographische Entwicklung reduziert
Börsch-Supan und Rausch (2021) detailliert be­­                                      werden.
schrieben.

5    Bericht der Kommission „Verlässlicher Generationenvertrag“, März 2020, Band I – Empfehlungen, Abschnitt 3.1.
6    Wir passen dabei nicht die angenommenen Beitragssatzentwicklungen der übrigen Sozialversicherungssysteme (GKV, SPV und ALV) an. Allerdings dürften
     alle drei Beitragssätze in den nächsten Jahren höher ausfallen als zuletzt angenommen. Dies hätte offenkundig direkte und indirekte Auswirkungen auf
     die GRV sowie das Netto-Standardrentenniveau vor Steuern.
I I I . D I E E N T W I C K LU N G D E R F I N A N Z I E L L E N S I T UAT I O N D E R G R V U N T E R G E LT E N D E M R E C H T   13

Kasten 1: Grundzüge der Rentenberechnung

Das deutsche Rentenrecht weist den sozialversicherungspflichtigen Beschäftigten Rentenanwart-
schaften in Form von Entgeltpunkten zu. Ein volles Jahr sozialversicherungspflichtiger Beschäfti-
gung zum Durchschnittslohn ergibt einen Entgeltpunkt; die so genannte Standardrente wird als
diejenige Rente definiert, die sich aus einem hypothetischen Erwerbsleben von 45 Jahren ergibt, in
dem jedes Jahr der Durchschnittslohn verdient und daher 45 Entgeltpunkte erworben wurden.
Beim Rentenzugang werden diese Entgeltpunkte (EP) mit dem Zugangsfaktor (ZF), dem aktuellen
Rentenwert (AR) und dem Rentenartfaktor (RAF) multipliziert, um den monatlichen Rentenzahlbe-
trag (RZ) zu berechnen:

(1)

Der Zugangsfaktor beträgt 1 für Versicherte, die zum gesetzlichen Rentenalter erstmals die Rente
beantragen, und wird durch Abschläge reduziert, wenn sie dies vorzeitig tun. Der Rentenartfaktor
beträgt 1 für alle Altersrenten und ist geringer für Erwerbsminderungs- oder Hinterbliebenenrenten.
Für Versicherte, die zum gesetzlichen Rentenalter ihre Altersrente beantragen, vereinfacht sich
Gleichung (1) also zu

(1a)

Der Rentenzahlbetrag einer Standardrente geteilt durch das Bruttodurchschnittsentgelt der sozial-
versicherungspflichtig Beschäftigten ergibt das sog. „Sicherungsniveau“. Mit dem Sicherungsniveau
wird nicht die Kaufkraft der Rente beschrieben, sondern ihre Relation zum Bruttodurchschnittsentgelt.

Der aktuelle Rentenwert ergibt sich aus einer Kombination von Rentenanpassungsformel, Renten-
garantie und Haltelinien. Im einfachsten Fall greifen Rentengarantie und Haltelinien nicht. Dann
erhöht sich der aktuelle Rentenwert (AR) zunächst um den Lohnfaktor (LF), der die Erhöhung der
Bruttoentgelte (BE) widerspiegelt, wird dann aber durch zwei Faktoren gedämpft:

•     erstens durch den Beitragssatzfaktor (BSF): Gleichung (4) zeigt, dass dieser Faktor kleiner ist als 1,
      wenn die Beiträge zur Sozialversicherung einschließlich der hypothetischen Beiträge zur zusätz-
      lichen Altersvorsorge (BS) steigen, wenn also der neue Wert größer ist als der alte;
•     zweitens durch den Nachhaltigkeitsfaktor (NHF): Wenn der Rentnerquotient (RQ), vereinfacht:
      die Anzahl der Rentnerinnen und Rentner geteilt durch die Anzahl der sozialversicherungs-
      pflichtigen Beschäftigten, ansteigt, wie es aufgrund des demographischen Wandels auf absehbare
      Zeit der Fall sein wird, ist der Klammerausdruck in Gleichung (5) negativ und der Wert des NHF
      ist kleiner als 1.
14         I I I . D I E E N T W I C K LU N G D E R F I N A N Z I E L L E N S I T UAT I O N D E R G R V U N T E R G E LT E N D E M R E C H T

     Als Rentenanpassungsformel ergibt sich daher

     (2)

     wobei

     (3)

     (4)

     (5)

     Wegen der Verfügbarkeit entsprechender Daten geht die Bruttoentgeltentwicklung des vergangenen
     Jahres und der Rentnerquotient des vorvergangenen Jahres in die Rentenanpassungsformel ein.7
     Dementsprechend reagiert die Rentenanpassungsformel mit einer ein- bzw. zweijährigen Verzögerung
     auf Änderungen des Bruttoentgelts bzw. des Rentnerquotienten. Daher wurden im Sommer 2020
     die Renten erhöht, obwohl gleichzeitig die Bruttoentgelte sanken.

Die in Kasten 1 beschriebene, durch Beitragssatz-                                        wieder erreicht wurde. Dies war z. B. nach der
und Nachhaltigkeitsfaktor gedämpfte Bruttolohn-                                          Finanzkrise von 2010 bis 2013 der Fall.
anpassung wird durch die Rentengarantie außer
Kraft gesetzt, wenn die Rentenzahlbeträge sinken                                         Durch den Rentenpakt 2019 wurde mit der so ge­­
sollten, z. B. unter dem Einfluss der Corona-beding-                                     nannten „doppelten Haltelinie“ in diesen Renten-
ten Rezession. Die Rentengarantie besteht darin, dass                                    anpassungsmechanismus eingegriffen. Zum einen
der nominale Rentenzahlbetrag so lange gesichert                                         darf das Sicherungsniveau nicht unter 48 % fallen
bleibt, bis die Löhne wieder steigen. Rein rechne-                                       und zum anderen der Beitragssatz 20 % nicht über-
risch steigt dadurch das Sicherungsniveau, d. h. die                                     steigen. Da so der Gleichgewichtsmechanismus
Rentnerinnen und Rentner werden relativ zu den                                           zwischen den Einnahmen und Ausgaben der GRV
Erwerbstätigen bessergestellt. Nach bis 2018 beste-                                      außer Kraft gesetzt wird, schreibt das 2019 geänderte
hendem Rentenrecht wurde dies anschließend je­­                                          Rentenrecht vor, dass der Bund der Rentenversi-
doch wieder ausgeglichen: die nach der Krise fol-                                        cherung zusätzliche Bundesmittel zur Verfügung
genden Rentenerhöhungen wurden – vereinfacht                                             stellen muss.
beschrieben – durch den so genannten Nachhol­
faktor (nicht zu verwechseln mit dem im Kasten 1                                         Zusätzlich wurde der Nachholfaktor ausgesetzt.
dargestellten Nachhaltigkeitsfaktor) so lange halbiert,                                  Sollte die Rentengarantie greifen, kann diese per-
bis der ursprüngliche Pfad der Rentenleistungen                                          manent und nicht nur temporär das Sicherungs­

7    Zusätzlich erfolgt nach zwei Jahren eine Korrektur der Lohnanpassung gemäß dem tatsächlichen Wachstum der beitragspflichtigen Löhne und Gehälter.
I I I . D I E E N T W I C K LU N G D E R F I N A N Z I E L L E N S I T UAT I O N D E R G R V U N T E R G E LT E N D E M R E C H T   15

   Abbildung 3: Schematische Darstellung    des
                                  Abbildung 3:   Regelwerks
                                               Schematische    der Renten- und Beitrags­bestimmung
                                                             Darstellung
                      des Regelwerks der Renten- und Beitragsbestimmung in der GRV
   in der GRV sowie reformbedingte    Abweichungen     von  diesem   Regelwerk
                        sowie reformbedingte Abweichungen von diesem Regelwerk

                     Durch
   Quelle: Eigene Darstellung   den Rentenpakt 2019 wurde mit der so genannten „doppelten Haltelinie“ in
                    diesen         Rentenanpassungsmechanismus                          eingegriffen.         Zum       einen       darf      das
                    Sicherungsniveau nicht unter 48% fallen und zum anderen der Beitragssatz 20% nicht
                    übersteigen. Da so der Gleichgewichtsmechanismus zwischen den Einnahmen und
niveau erhöhen. Beide Gesetzesänderungen, doppelte Weiter kompliziert wird diese Kombination renten-
Haltelinie undAusgaben
                 Aufhebungder des
                              GRVNachholfaktors,
                                   außer Kraft gesetzt wird, schreibt
                                                    gel-              das 2019
                                                             rechtlicher       geänderte
                                                                          Vorschriften   Rentenrecht
                                                                                       dadurch,  dass in den nächs-
                vor, dass der Bund der Rentenversicherung     zusätzliche Bundesmittel zur Verfügung
ten jedoch nur bis 2025. Danach gilt wieder das alte ten Jahren die Angleichung der Ost- und Westrenten
Recht, d. h. diestellen
                 oben beschriebene
                        muss.        durch die demo-         fortgesetzt wird. Im Ergebnis bedeutet dies, dass
graphische Entwicklung gedämpfte Rentenanpas-                beim Greifen der Rentengarantie die Westrenten
sung mit Rentengarantie und Nachholfaktor tritt              konstant bleiben, während die Renten im Osten um
                                                         14
ab 2026 wieder in Kraft.                                     den Angleichungsbetrag weiterhin leicht ansteigen.
16      I I I . D I E E N T W I C K LU N G D E R F I N A N Z I E L L E N S I T UAT I O N D E R G R V U N T E R G E LT E N D E M R E C H T

Der Rentenversicherungsbericht hat bereits im                                         Der kontraintuitive Effekt einer dauerhaften Bes-
November 2020 die komplizierten Auswirkungen                                          serstellung der Rentner durch die Corona-Krise
der Corona-bedingten Rezession auf den Beitrags-                                      folgt aus dem oben beschriebenen Zusammenwir-
satz zur Rentenversicherung in drei Szenarien der                                     ken von Rentengarantie und ausgesetztem Nach-
Lohn- und Beschäftigungsentwicklung berechnet.                                        holfaktor. Die seit 2005 bestehende Garantie, dass
In allen Szenarien kann der derzeitige Beitragssatz                                   der aktuelle Rentenwert nominal nicht sinken darf,
von 18,6 % bis 2022 gehalten werden. In seinem                                        bedeutet bei sinkenden Jahreslöhnen, dass das
mittleren Szenario steigt der Beitragssatz anschlie-                                  Sicherungsniveau der Renten im Jahr 2021 deutlich
ßend an, bleibt aber knapp unter der Haltelinie von                                   ansteigen wird, und zwar umso mehr, je tiefer die
20 %, während im pessimistischen Szenario die Hal-                                    Rezession ausfallen wird. Rentenempfänger werden
telinie erreicht wird, so dass der Bund mit zusätz­                                   also weniger von der Corona-Krise betroffen als die
lichen Finanzmitteln einspringen muss. Gleichzei-                                     Erwerbsbevölkerung, deren Nettojahreslöhne
tig wird die Nachhaltigkeitsrücklage bis auf das                                      nominal sinken werden, da erstens die Bruttolöhne
gesetzlich vorgeschriebene Minimum von 20 %                                           durch die Krise niedriger ausfallen und zweitens
einer Monatsausgabe abgebaut, während das Siche-                                      die Rentenversicherungsbeiträge steigen werden.
rungsniveau vor Steuern 2023 einen Höchststand
von 50 % erreicht und danach wieder sinkt.8 Die                                       Nach altem Recht hätte der Nachholfaktor dafür
Effekte der Corona-Pandemie auf die gesetzliche                                       gesorgt, dass dieser Effekt nach einigen Jahren
Rentenversicherung treten also mit ein bis zwei                                       wieder abgebaut wird. Durch das Ausschalten des
Jahren Verzögerung ein, da die Rentenanpassung                                        Nachholfaktors im Zuge des Rentenpakts 2019 ist
wie oben beschrieben nur mit Verzögerung auf                                          dieser Effekt nun jedoch permanent.
Änderungen des Nettolohns bzw. des Rentnerquo-
tienten reagiert.                                                                     Der Beirat empfiehlt, den Nachholfaktor schon
                                                                                      vor 2025 wieder einzuführen, damit die ursprüng­
Die Berechnungen des Rentenversicherungsberichts                                      liche Balance der Belastungen zwischen den Men­
reichen nur bis zum Jahr 2034 (blau gestrichelte                                      schen, die Rente beziehen, und denen, die Beiträge
Linie in Abbildung 4). Der Vergleich der roten mit                                    zahlen, möglichst bald wiederhergestellt wird.
der schwarzen Linie in Abbildung 4 zeigt, dass die
Corona-bedingte Rezession die Beitragszahlerin-                                       Rentenpolitischer Handlungsbedarf folgt des Wei-
nen und Beitragszahler permanent, d. h. auch nach                                     teren daraus, dass der Beitragssatz bereits 2032 die
dem Projektionsende des Rentenversicherungsbe-                                        Obergrenze von 22 % überschreiten wird, während
richts, etwa einen halben Prozentpunkt Beitrags-                                      das Sicherungsniveau erst im Jahr 2053 das Niveau
satz kosten wird, während das Sicherungsniveau                                        von 43 % unterschreiten wird. Diese beiden Prozent-
vor Steuern langfristig um etwa einen Prozent-                                        sätze sind insofern wichtige Wegmarken, als sie
punkt höher liegen wird als in der Projektion aus                                     nach dem 2005 beschlossenen Recht die Bundesre-
der Zeit vor der Corona-Pandemie.9                                                    gierung dazu zwingen, „den gesetzgebenden Körper-
                                                                                      schaften geeignete Maßnahmen vorzuschlagen“,
                                                                                      wenn sie vor 2030 unter- oder überschritten werden.

8    Aufgrund der Berechnung des so genannten „Äquivalenzbeitragszahlers“ erhöht der Nachhaltigkeitsfaktor 2023 die Renten um knapp 2,5 %. 2024 würde
     er die Renten hingegen senken, weshalb die Rentengarantie wirkt.
9    Bis 2034 stimmen die Projektionen des Rentenversicherungsberichts und die des MEA-PENSIM-Modells weitgehend überein.
I I I . D I E E N T W I C K LU N G D E R F I N A N Z I E L L E N S I T UAT I O N D E R G R V U N T E R G E LT E N D E M R E C H T      17

     Abbildung 4: Langfristige Entwicklung von Beitragssatz und Sicherungsniveau unter
     geltendem Recht
       Abbildung
                     10
                  4: Langfristige Entwicklung von Beitragssatz und Sicherungsniveau unter
         geltendem Recht10
          25%

          24%
                        Beitragssatz zur GRV
          23%

          22%

          21%                                                                     Basisprojektion
                                                                                  RVB2020
          20%
                                                                                  PräCovid
          19%

          18%

                                                             52%
                                                                                        Sicherungsniveau vor Steuern
                                                             50%
                                                                                                                                 Basisprojektion
                                                             48%                                                                 RVB2020

                                                             46%                                                                 PräCovid

                                                             44%

                                                             42%

                                                             40%

         Quelle: Eigene Berechnung auf der Basis des MEA-PENSIM Modells.
     Quelle: Eigene Berechnung auf der Basis des MEA-PENSIM Modells.
         Anmerkung: Neben der in Börsch-Supan und Rausch (2021) beschriebenen Basisprojektion stellt
     Anmerkung: Neben der in Börsch-Supan und Rausch (2021) beschriebenen Basisprojektion stellt „PräCovid“ die hypothetische Entwicklung dar, die ohne die Pandemie
         „PräCovid“
     aufgrund der Annahmen die
                             derhypothetische          Entwicklung
                                 Kommission VGV zu erwarten     war. Zudem dar,     die ohne
                                                                            ist mit „RVB2020“ die die  Pandemie
                                                                                                  mittlere               aufgrund der Annahmen
                                                                                                           Variante des Rentenversicherungsberichts          der2020
                                                                                                                                                    vom November
         Kommission VGV zu erwarten war. Zudem ist mit „RVB2020“ die mittlere Variante des
     eingetragen, welche unsere eigene Basisprojektion bis 2033 nachvollzieht.

         Rentenversicherungsberichts vom November 2020 eingetragen, welche unsere eigene
         Basisprojektion bis 2033 nachvollzieht.

Zudem Rentenpolitischer     Handlungsbedarf
         liegt die Sozialabgabenquote           folgt desebenso
                                       schon derzeit       Weiteren    daraus, dass der Beitragssatz
                                                                  aus gesamtwirtschaftlicher Sicht bereits
      bereits
je nach           2032 die Obergrenze
         Berechnungsmethode                    von 22%
                                knapp unter oder         jetzt überschreiten
                                                               Handlungsbedarf,wird,
                                                                                 da sichwährend     das
                                                                                         das 40 %-Ziel bereits
knapp über der Marke von 40 %, die die Große Koa- bei einer geringfügigen Beitragssatzerhöhung der
      Sicherungsniveau erst im Jahr 2053 das Niveau von 43% unterschreiten wird. Diese
lition im Rahmen einer gegenüber den Arbeitgebe- GRV, die selbst im optimistischsten Fall nach 2022
rinnenbeiden     Prozentsätze
        und Arbeitgebern        sind insofern
                            ausgesprochenen      wichtige
                                             „Sozial-       Wegmarken,
                                                         eintritt, nicht mehrals sie lässt.
                                                                              halten  nach dem 2005
garantie“   als ObergrenzeRecht
      beschlossenen        gesetztdie
                                  hat. Bundesregierung
                                       Daher besteht        dazu zwingen, „den gesetzgebenden
         Körperschaften geeignete Maßnahmen vorzuschlagen“, wenn sie vor 2030 unter- oder
10
        überschritten werden. Zudem liegt die Sozialabgabenquote schon derzeit je nach
     Sicherungsniveau ohne den im Rentenversicherungsbericht ausgewiesenen Erhöhungseffekt aufgrund der Neubestimmung der beitragspflichtigen Löhne
     und Gehälter in 2019.
         Berechnungsmethode knapp unter oder knapp über der Marke von 40%, die die Große
         Koalition im Rahmen einer gegenüber den Arbeitgeberinnen und Arbeitgebern
18        I I I . D I E E N T W I C K LU N G D E R F I N A N Z I E L L E N S I T UAT I O N D E R G R V U N T E R G E LT E N D E M R E C H T

                        aus gesamtwirtschaftlicher Sicht bereits jetzt Handlungsbedarf, da sich das 40%-Ziel
                        bereits bei einer geringfügigen Beitragssatzerhöhung der GRV, die selbst im
                        optimistischsten Fall nach 2022 eintritt, nicht mehr halten lässt.

     Abbildung 5: Schematische Darstellung der im Gutachten diskutierten rentenpolitischen
                      Abbildung 5: Schematische Darstellung der im Gutachten diskutierten
     Maßnahmen                          rentenpolitischen Maßnahmen

                        Abbildung 5 zeigt vor dem aus Abbildung 3 bekannten Hintergrund der
     Quelle: Eigene Darstellung
                        rentenrechtlichen Regelungen, an welchen Stellschrauben die im Folgenden
                        diskutierten Maßnahmen ansetzen. Diese reichen von einer – wie sich zeigt, nicht
                                                                                  18
Abbildung 5 zeigt vor dem aus Abbildung 3 be­­kann­                                     ten Dynamisierung der Bestandsrenten und/oder
ten Hintergrund der rentenrechtlichen Regelungen,                                       einem Sockelschutzmodell, das nur die ersten
an welchen Stellschrauben die im Folgenden dis-                                         Entgeltpunkte durch eine Haltelinie schützt – d. h.
kutierten Maßnahmen ansetzen. Diese reichen von                                         Maßnahmen, die Kompromisse bei der Lösung des
einer – wie sich zeigt, nicht tragfähigen – Fortfüh-                                    anfangs aufgezeigten rentenpolitischen Dilemmas
rung der doppelten Haltelinie über eine graduelle                                       bilden.
Anpassung des Rentenalters bis zu einer veränder-
19

IV. K
     eine Fortführung der
    „doppelten Haltelinie“
20    I V. K E I N E F O RT F Ü H R U N G D E R „ D O P P E LT E N H A LT E L I N I E “

Der Rentenpakt 2019 hat die doppelte Haltelinie                                      22,5 %. Die bereits heute im Gesetz verankerten
zeitlich bis 2025 befristet. So stellt sich zunächst die                             Bundeszuschüsse betragen 27,6 % des für 2020 vor
Frage, ob diese nach 2025 fortgeführt werden soll,                                   Corona vorgesehenen Bundeshaushalts und steigen
eventuell in abgeschwächter Form, d. h. mit einer                                    auf 31 % bzw. 33 % in den Jahren 2045 bzw. 2060 an.
niedrigeren Schwelle für das Sicherungsniveau
und/oder einer höheren Grenze für den Beitrags-                                      Der Anteil der Bundeszuschüsse in die Rentenver-
satz. Dies würde auch weiterhin den Mechanismus                                      sicherung am Bundeshaushalt würde daher selbst
außer Kraft setzen, der bis 2018 durch eine gleich                                   bei einer im Gegensatz zur jetzigen doppelten Halte-
proportionale Anpassung von Beitragssatz und                                         linie abgeschwächten Haltelinienkombination von
Rentenniveau für ein Gleichgewicht zwischen Ein-                                     48 % beim Sicherungsniveau und 22 % beim Beitrags-
nahmen und Ausgaben der Rentenversicherung                                           satz von derzeit weniger als einem Drittel auf mehr
gesorgt hat. In diesem Fall müsste der Bund der                                      als die Hälfte ansteigen. Wollte man gar die derzei-
Rentenversicherung also zusätzliche Bundesmittel                                     tigen Haltelinien von 48 % beim Sicherungsniveau
zur Verfügung stellen. Abbildung 6 zeigt vier hypo-                                  und 20 % beim Beitragssatz fortführen (nicht abge-
thetische Varianten der doppelten Haltelinien, die                                   bildet), würden die zur Defizitdeckung notwendi-
alle ab 2025 einsetzen. Bei ihnen beträgt das Min-                                   gen zusätzlichen Bundesmittel 23 % im Jahr 2045
destsicherungsniveau 46 % oder 48 % und der Maxi­                                    bzw. 30 % im Jahr 2060 betragen, langfristig also
malbeitragssatz 22 % oder 23 %.                                                      mehr als 60 % des Bundeshaushalts in die Rente
                                                                                     fließen müssen.
Der Maximalbeitragssatz würde in allen Fällen
bereits sehr schnell in der ersten Hälfte der 2030er                                 Nicht auszuschließen wäre, dass die notwendigen
Jahre erreicht (zwischen 2031 bei der Kombination                                    Mittel zur Finanzierung der Haltelinien nicht durch
48 %/22 % und 2035 bei der Kombination                                               Umschichtung des Bundeshaushalts, sondern durch
46 %/23 %). Diese Abbildung zeigt weiterhin den                                      dessen Ausdehnung aufgebracht werden. Dann hängt
Beitragssatz, der sich nach geltendem Recht („Basis­                                 es von der Finanzierung dieser zusätzlichen Bundes-
projektion“) ergäbe. Dieser würde die 23 %-Marke                                     mittel ab, in welchem Maße die ältere oder die jün-
im Jahr 2036 überschreiten.                                                          gere Generation durch eine Haltelinie belastet würde.
                                                                                     Eine Finanzierung über die Mehrwertsteuer bei-
Das entstehende Defizit müsste durch Bundesmittel                                    spielsweise würde beide Generationen in Propor-
ausgeglichen werden, die zusätzlich zu den eben-                                     tion zu ihren Konsumausgaben belasten, während
falls steigenden, bereits im Gesetz verankerten Bun­                                 eine Finanzierung über die Einkommensteuer die
deszuschüssen finanziert werden müssen. Diese                                        beiden Generationen nach Maßgabe ihrer Einkünfte
zusätzlichen Mittel werden im unteren Teil der                                       belastete. In beiden Fällen dürfte die jüngere Gene-
Abbildung 6 als Prozentsatz des Bundeshaushalts                                      ration stärker belastet werden als die ältere. Zum
ausgewiesen, wobei angenommen wird, dass der                                         einen sind die Konsumausgaben der Älteren tenden-
Bundeshaushalt proportional zum Bruttoinlands-                                       ziell geringer als die der Jüngeren. Zum anderen
produkt wächst und die zusätzlichen Bundesmittel                                     werden nach der vollständigen Einführung der
durch Ausgabenkürzungen an anderer Stelle finan-                                     nachgelagerten Besteuerung von Renten Ältere ein
ziert werden. Diese zusätzlichen Mittel betrügen im                                  niedrigeres zu versteuerndes Einkommen und
Jahr 2045 je nach Variante zwischen 6,8 % und 15,2 %                                 niedrigere Steuersätze aufweisen als Jüngere. Die
des ansonsten unverändert angenommenen Bundes-                                       Finanzierung über Einkommensteuern würde
haushalts und im Jahr 2060 zwischen 14,1 % und                                       allerdings alle Mitglieder der Rentenversicherung
würde daher selbst bei einer im Gegensatz zur jetzigen doppelten Haltelinie
          abgeschwächten Haltelinienkombination Ivon   48% beim Sicherungsniveau und 22%
                                                 V. K E I N E F O RT F Ü H R U N G D E R „ D O P P E LT E N H A LT E L I N I E “                                       21
          beim Beitragssatz von derzeit weniger als einem Drittel auf mehr als die Hälfte
          ansteigen. Wollte man gar die derzeitigen Haltelinien von 48% beim Sicherungsniveau
          und 20% beim Beitragssatz fortführen (nicht abgebildet), würden die zur
          Defizitdeckung notwendigen zusätzlichen Bundesmittel 23% im Jahr 2045 bzw. 30%
          im Jahr 2060 betragen, langfristig also mehr als 60% des Bundeshaushalts in die
          Rente fließen müssen.
  Abbildung 6: Beitragssatz und zusätzliche Bundesmittel zur Finanzierung der Haltelinien eines
  Sicherungsniveaus   von 46 % und
       Abbildung 6: Beitragssatz   48zusätzliche
                                 und  % und desBundesmittel
                                                 Beitragssatzes
                                                             zurvon 22 % und 23
                                                                 Finanzierung   %, jeweils in
                                                                              der
       Haltelinien
  Prozent          eines Sicherungsniveaus von 46% und 48% und des Beitragssatzes von
          des Bundeshaushalts
          22% und 23%, jeweils in Prozent des Bundeshaushalts
           25%

           24%       Beitragssatz
           23%

           22%

           21%                                                             Basisprojektion
                                                                           Haltelinie 48/23
           20%
                                                                           Haltelinie 46/23

           19%                                                             Haltelinie 46/22
                                                                           Haltelinie 48/22
           18%

                                                               25%
                                                                                  Haltelinie 48/22            Zusätzliche
                                                               20%                Haltelinie 48/23            Bundesmittel
                                                                                  Haltelinie 46/22
                                                               15%
                                                                                  Haltelinie 46/23

                                                               10%

                                                                5%

                                                                0%

          Quelle: Eigene Berechnung auf der Basis des MEA-PENSIM Modells.
           Anmerkung: Neben der in Börsch-Supan und Rausch (2021) beschriebenen Basisprojektion werden
  Quelle: Eigene Berechnung auf der Basis des MEA-PENSIM Modells.
           vier Modelle der doppelten Haltelinie berechnet. Bei diesen bezeichnet 48 bzw. 46 die Untergrenze
  Anmerkung: Neben der in Börsch-Supan und Rausch (2021) beschriebenen Basisprojektion werden vier Modelle der doppelten Haltelinie berechnet. Bei diesen bezeichnet
           des
  48 bzw. 46     Sicherungsniveaus
             die Untergrenze                und 23
                             des Sicherungsniveaus und bzw.
                                                       23 bzw.22  dieobere
                                                               22 die  obere   Grenze
                                                                           Grenze          des Beitragssatzes.
                                                                                  des Beitragssatzes.                    Die
                                                                                                      Die untere Abbildung     untere
                                                                                                                           zeigt         Abbildung
                                                                                                                                 die zusätzlichen Bundesmittel, aus­
  gedrückt in Prozent eines insgesamt mit dem BIP wachsenden Bundeshaushaltes, die nötig wären, um die Rentenausgaben der vier Modelle der doppelten Haltelinie zu
                                                                                20
  finanzieren. Vgl. Börsch-Supan und Rausch (2021). Zu diesen zusätzlichen Bundesmitteln kommen die bereits vereinbarten Bundesmittel, die im Prä-Covid-Jahr 2019
  knapp 26 % des Bundeshaushalts betrugen, aber ebenfalls im Laufe des demographischen Wandels (auf 31% in 2040, 33 % in 2060) ansteigen werden.

(d. h. Menschen, die Beiträge zahlen, und Menschen,                                   kungen sind unterschiedlich, vor allem wenn das
die Rente beziehen) insoweit entlasten, als nicht                                     Einkommensteuersystem noch progressiver ausge-
sozialversicherungspflichtige Personen (beamtet                                       staltet werden würde.
und selbständig Erwerbstätige) in die Finanzierung
einbezogen würden. Zwar wird bei einer Verlage-                                       Bei diesem Finanzierungsvolumen stellt sich die
rung der Finanzierung auf Steuermittel die Gesamt-                                    Frage, ob die Gesamtbelastung überhaupt finan-
belastung nicht geringer, aber die Verteilungswir-                                    zierbar ist. Die Wachstumsrate der für die Renten-
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