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Digitalisierung in Deutschland – Lehren aus der Corona-Krise Gutachten des Wissenschaftlichen Beirats beim Bundesministerium für Wirtschaft und Energie (BMWi) bmwi.de
Der Wissenschaftliche Beirat beim Bundesministerium für Wirtschaft und Energie hat sich in mehreren Sitzungen, zuletzt am 12. Februar 2021, mit dem Thema „Digitalisierung in Deutschland – Lehren aus der Corona-Krise“ befasst und ist dabei zu der nachfolgenden Stellungnahme gelangt: Impressum Herausgeber Bundesministerium für Wirtschaft und Energie (BMWi) Öffentlichkeitsarbeit 11019 Berlin www.bmwi.de Stand 12. März 2021 Diese Publikation wird ausschließlich als Download angeboten. Gestaltung PRpetuum GmbH, 80801 München Zentraler Bestellservice für Publikationen der Bundesregierung: E-Mail: publikationen@bundesregierung.de Telefon: 030 182722721 Bestellfax: 030 18102722721 Diese Publikation wird vom Bundesministerium für Wirtschaft und Energie im Rahmen der Öffentlichkeitsarbeit herausgegeben. Die Publikation wird kostenlos abgegeben und ist nicht zum Verkauf bestimmt. Sie darf weder von Parteien noch von Wahlwerbern oder Wahlhelfern während eines Wahl- kampfes zum Zwecke der Wahlwerbung verwendet werden. Dies gilt für Bundestags-, Landtags- und Kommunalwahlen sowie für Wahlen zum Europäischen Parlament.
1 Inhalt I. Einführung ................................................................................................................................................................................................................................................................................................................................. 2 II. Krisenbedingte Digitalisierung .................................................................................................................................................................................................................................... 5 II.1 Homeoffice und digitale Kommunikation..................................................................................................................................................................................6 II.2 Bargeldlose Zahlung..........................................................................................................................................................................................................................................................................8 II.3 Gesundheitssystem..............................................................................................................................................................................................................................................................................8 II.4 Allgemeinbildende Schulen.......................................................................................................................................................................................................................................10 II.5 Hochschulen.....................................................................................................................................................................................................................................................................................................10 II.6 Öffentliche Verwaltung........................................................................................................................................................................................................................................................11 III. Staatliches Handeln ........................................................................................................................................................................................................................................................................... 13 III.1 Infrastruktur ...................................................................................................................................................................................................................................................................................................14 III.2 Datenstrategie und Datenschutz.................................................................................................................................................................................................................15 III.3 Staatliche Fördermaßnahmen für Digitalisierung im Unternehmenssektor.................................19 III.4 Öffentliche Verwaltung und Bildungssystem...............................................................................................................................................................20 IV. Fazit ....................................................................................................................................................................................................................................................................................................................................................... 23 Literatur .................................................................................................................................................................................................................................................................................................................................................... 26 Mitglieder ............................................................................................................................................................................................................................................................................................................................................ 31 Anhang: Gutachten des Wissenschaftlichen Beirats seit April 1948 ............................................................. 34
2 I. Einführung
I. EINFÜHRUNG 3 Deutschland ist sowohl beim Ausbau der digitalen auch wenn der gesellschaftliche Nutzen größer ist Infrastruktur als auch beim Einsatz digitaler Tech- als die Kosten. Hier hat die Bundesregierung bereits nologien und Dienstleistungen hinter viele andere mit Regulierung und Subventionsprogrammen OECD-Staaten zurückgefallen. Im letzten Jahr hat gegengesteuert. Jetzt kommt es vor allem auf die die Corona-Krise zu einem erheblichen, wenn auch zügige Umsetzung an. nicht geplanten Digitalisierungsschub geführt. In einigen Bereichen (z. B. Homeoffice) war es möglich, In vielen weiteren Bereichen scheinen dagegen in kurzer Zeit auf digitale Kommunikation und die verschiedene Formen von „Organisationsversagen“ Nutzung digitaler Prozesse umzustellen, in anderen zu dominieren. Vieles von dem, was während der Bereichen (z. B. Schul- und Gesundheitswesen) gelang Corona-Pandemie in kurzer Zeit umgesetzt wurde, dies nur mühsam oder so gut wie gar nicht. In die- hätte auch schon lange vor der Krise unternommen sem Gutachten analysiert der Beirat diese Entwick- werden können. Doch erst in der Krise sahen sich lungen und ihre Ursachen. Er gibt Empfehlungen, in Unternehmen, Verwaltungen und Haushalte ge welchen Bereichen und mit welchen Mitteln sich zwungen, Arbeitsabläufe auf einen digitalen Modus der Staat stärker engagieren sollte, um die erzielten umzustellen. Dies mag daran liegen, dass Organisa- Fortschritte nach der Pandemie zu erhalten und tionen Schwierigkeiten haben, Prozessinnovationen die digitale Transformation weiter voranzutreiben. in ihre internen Abläufe zu integrieren. Die Verhal- tensökonomie erklärt mangelnde Veränderungsbe- Der Breitbandausbau weist in Deutschland bei höhe- reitschaft mit einem sogenannten Status Quo Bias, ren Übertragungsgeschwindigkeiten einen Rück- also einer Präferenz gegen Veränderungen, wenn stand zu vielen anderen OECD-Ländern und ein diese in einigen Dimensionen mit Verlusten ver- starkes Stadt-Land-Gefälle auf. Beim Einsatz digita- bunden sind, selbst wenn die Gewinne in anderen ler Technologien und Arbeitsweisen hat Deutsch- Dimensionen überwiegen. land ebenfalls die Rolle eines Nachzüglers einge- nommen, so bei der Nutzung von Homeoffice, der Nach Ansicht des Beirates sind es insbesondere Anwendung bargeldloser Zahlungsverfahren, beim solche Formen des Organisationsversagens, die in Einsatz digitaler Abläufe in der öffentlichen Ver- Deutschland überwunden werden müssen. Eine waltung (E-Government) und bei der Nutzung digi- erfolgreiche digitale Transformation erfordert nicht taler Geschäftsmodelle in Unternehmen. Auch im nur die Implementierung digitaler Technologien, Gesundheitswesen sowie in Schulen und Hoch- sondern auch die Anpassung von Arbeitsprozessen schulen kamen digitale Technologien und Prozesse und das Erlernen neuer Fähigkeiten. Fällt der Trans bisher vergleichsweise selten zum Einsatz. Das ist formationsprozess zudem in eine Zeit wirtschaft ein Grund zur Besorgnis, da der Einsatz digitaler licher Erfolge, die mit etablierten Prozessen herbei- Technologien produktivitätserhöhend wirken, die geführt wurden, kann sich die Einführung innovativer Resilienz der Wirtschaft stärken und neue Wert- Abläufe verzögern, weil die Notwendigkeit für Ver- schöpfungsmöglichkeiten erschließen kann. änderungen unterschätzt wird. Die Ursachen für diese Entwicklungen sind vielfältig. Schließlich spielen auch juristische und bürokra In einigen Bereichen liegt ein klassisches Marktver tische Hemmnisse eine wichtige Rolle im Prozess der sagen vor. Dies gilt insbesondere beim Ausbau der Digitalisierung. Der Datenschutz wird in Deutsch- digitalen Infrastruktur, der im ländlichen Raum für land oft als ein Wert angesehen, der in der Abwä- private Anbieter nicht hinreichend profitabel ist, gung mit anderen Rechtsgütern absolute Priorität
4 I. EINFÜHRUNG genießt. Das hat die Nutzung digitaler Möglichkeiten Wenn es private Unternehmen und öffentliche während der Corona-Krise stark eingeschränkt, wie Verwaltung nicht schaffen, effizienzsteigernde die Corona-Warn-App und die sich immer weiter Innovation in ihre Prozessabläufe zu integrieren, verzögernde elektronische Patientenakte gezeigt kann die Politik dazu beitragen, dieses Organisati- haben. Auch Kompetenzstreitigkeiten zwischen onsversagen zu überwinden, indem sie Informatio- Bund und Ländern haben die Einführung einheitli- nen bereitstellt, die die Vorteile dieser Veränderun- cher Verfahren und Standards insbesondere in der gen sichtbar machen. Sie kann zudem an einzelnen öffentlichen Verwaltung erheblich verzögert. Stellen durch gezielte Fördermaßnahmen, so bei KMU, die Digitalisierung unterstützen. Vor allem Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, wie sollte der Staat aber die lange überfällige digitale der Staat die Erfahrungen mit der Digitalisierung Transformation der eigenen Dienstleistungen aus der Corona-Krise nutzen kann, um die in zügig umsetzen und die öffentlichen Verwaltungen Deutschland vergleichsweise langsam ablaufende konsequent digitalisieren. digitale Transformation in die gewünschte Rich- tung zu lenken und zu beschleunigen. Dafür sollte Im folgenden Abschnitt II geht der Beirat zunächst der Staat den Ausbau der notwendigen Infrastruk- auf die krisenbedingten Veränderungen im Bereich tur zügig vorantreiben. Er sollte bürokratische Hin- der Digitalisierung ein und analysiert jene Defizite, dernisse minimieren und einen Regulierungsrahmen die die Krise offengelegt hat. Vor diesem Hintergrund schaffen, der Digitalisierung erleichtert, fördert werden in Abschnitt III staatliche Handlungsoptio- und ihren wohlfahrtssteigernden Wirkungen zum nen entwickelt und diskutiert. Abschnitt IV fasst Durchbruch verhilft. In vielen Bereichen ist die die wichtigsten Aussagen und Handlungsempfeh- digitale Transformation von Unternehmen und lungen zusammen. Haushalten jedoch selbst zu bewältigen.
5 II. Krisenbedingte Digitalisierung
6 I I . K R I S E N B E D I N G T E D I G I TA L I S I E R U N G Dieser Abschnitt gibt einen kurzen Überblick, in Vor der Pandemie standen verschiedene Faktoren welchen Bereichen die pandemiebedingte Umstel- der Verbreitung von Homeoffice im Wege: zum lung auf digitale Abläufe gut funktioniert hat und in einen die fehlende Infrastruktur und technische welchen Bereichen Defizite offensichtlich geworden Ausstattung der Arbeitsplätze zu Hause, zum ande- sind. Die Auswahl der Bereiche ist exemplarisch ren eine Tradition der Präsenzkultur bzw. Anwesen- und nicht vollständig. heitspflicht in vielen Organisationen. Die technischen Hindernisse konnten in vielen Fällen durch rasch getätigte Investitionen in die Ausstattung mit Lap- II.1 Homeoffice und digitale tops, virtuelle private Netzwerke (VPNs) und Soft- Kommunikation ware behoben werden. Die fehlenden Kompetenzen und Erfahrungen im Umgang mit digitalen Tech- Vor der Pandemie arbeiteten 12 Prozent der Be nologien wurden vielfach nebenbei und im Selbst- schäftigten in Deutschland mindestens einmal studium der Erwerbstätigen erworben. Ebenso wöchentlich im Homeoffice. In der EU waren dies haben die Pandemie und die damit verbundenen zum Vergleich 15 Prozent in Skandinavien und mehr Eindämmungsmaßnahmen der Bundesregierung als 30 Prozent der Beschäftigten in den Niederlan- und der Bundesländer Betriebe dazu angehalten, den. Selbst unter Berücksichtigung der Struktur neue Wege jenseits der Präsenzkultur zu beschrei- der deutschen Wirtschaft wurde das Potenzial für ten. Betriebliche Arbeitsabläufe und Kommunikati- Homeoffice-Arbeit bei weitem nicht ausgenutzt onswege konnten vielfach erstaunlich schnell und (Dingel und Neiman 2020). Jedoch hat die Nutzung ohne größere Probleme an die Online-Kommuni- von Homeoffice im Zuge der Pandemie stark zuge- kation angepasst werden. Zahlreiche Unternehmen nommen: Im Frühsommer 2020 gaben fast 50 Pro- haben festgestellt, dass sich mehr Tätigkeiten im zent der Erwerbstätigen an, im Homeoffice arbeiten Homeoffice erledigen lassen als vor der Pandemie zu können (Hopp Survey 2020). Befragungen von angenommen (Erdsiek 2020a). Unternehmen und Beschäftigten deuten darauf hin, dass die Homeoffice-Nutzung auch nach Ende der Betriebe und Arbeitnehmer bewerten die Arbeit im Pandemie deutlich oberhalb des Vorkrisenniveaus Homeoffice mittlerweile mehrheitlich positiv und liegen dürfte (Bonin et al. 2020, Stürz et al. 2020). gehen davon aus, dass Homeoffice ein wichtiger und fester Bestandteil der Arbeitswelt nach der Pande- Generell haben hochqualifizierte Erwerbstätige und mie bleiben wird.1 Neben einer flexibleren Arbeits- solche mit Führungsaufgaben in Branchen wie Wis- einteilung ermöglicht das Homeoffice auch eine senschaft und Forschung sowie IT und Kommuni- Verringerung der Pendelzeiten für Arbeitnehmer, kation eher die Möglichkeit, im Homeoffice zu was sich positiv auf die Arbeitszufriedenheit und arbeiten. Dagegen ist die Verlegung von Tätigkeiten, Gesundheit der Arbeitnehmer und ihrer Familien die direkten Kundenkontakt verlangen (z. B. ortsge- auswirken kann. Aus gesamtgesellschaftlicher Sicht bundene Dienstleistungen oder Gesundheitswesen), kann das Homeoffice zudem die CO2-Freisetzung starren Produktionsabläufen unterliegen oder sonst und das Verkehrsaufkommen durch Pendler, ins- physische Präsenz erfordern, ins Homeoffice bzw. besondere in Ballungsgebieten, verringern – mit Internet oft nur schwer oder gar nicht möglich positiven Effekten für Gesundheit und Umwelt (Robelski et al. 2020). (Bonin et al. 2020). 1 Vgl. die detaillierten Diskussionen und Zusammenfassungen der Diskussion in Bonin et al. (2020) sowie Stürz et al. (2020).
I I . K R I S E N B E D I N G T E D I G I TA L I S I E R U N G 7 Jedoch kann eine virtuelle Arbeitswelt auch Nach- kations- und Entscheidungsprozesse im Unterneh- teile haben. So kann eine mangelhafte ergonomi- men nicht verloren geht. sche Ausstattung im Homeoffice gesundheitliche Probleme nach sich ziehen. Lücken in der IT-Aus- Vereinbarungen über Möglichkeit und Ausmaß von stattung können das Homeoffice zu einer Gefahr Homeoffice sollten dezentral zwischen Unternehmen für die IT-Sicherheit des gesamten Unternehmens und Beschäftigten, etwa im Rahmen von Tarifver- werden lassen. Typische Wohnungsgrößen mögen handlungen, ausgehandelt werden. Denn nur so für dauerhaftes Homeoffice zu klein sein, gerade können die individuellen Gegebenheiten und Not- wenn es um Doppelverdiener-Familien geht. wendigkeiten des Arbeitsplatzes sowie die Präfe- Wenn Homeoffice die Grenzen zwischen Arbeit renzen beider Seiten berücksichtigt und flexibel an und Freizeit nachhaltig aufweicht, könnten dieje- den raschen digitalen Wandel angepasst werden. nigen, die vermehrt Aufgaben der Kinderbetreu- Daher steht der Beirat Überlegungen skeptisch ung und der Haushaltsführung übernehmen, ent- gegenüber, der Gesetzgeber solle das Homeoffice sprechende Nachteile für ihre Karrierechancen inhaltlich detailliert ausgestalten oder gar einen erleiden. Schließlich erfordert das Homeoffice ein Rechtsanspruch auf Homeoffice schaffen.2 Denn hohes Maß an Selbstorganisation der Beschäftig- international gibt es bestenfalls einen schwachen ten und neue Formen der Personalführung. Zu Zusammenhang zwischen der Verbreitung und der dem besteht die Gefahr, dass Arbeitnehmerinnen rechtlichen Ausgestaltung von Homeoffice (Bonin und Arbeitnehmer, die vermehrt im Homeoffice et al. 2020). In den meisten europäischen Nachbar- arbeiten, von informellen Kommunikationswegen ländern, selbst in solchen mit weit höherem Anteil und möglicherweise auch von Aufstiegsmöglich an Beschäftigten mit Homeoffice, wird Homeoffice keiten ausgeschlossen werden. Diese Gefahren dezentral geregelt – entweder durch individuelle können jedoch durch angemessene Ausstattung Vereinbarungen zwischen Unternehmen und Be sowie Anpassungen in der Management- und Lei- schäftigten oder aber zwischen den Sozialpartnern tungspraxis beseitigt oder zumindest stark verrin- (wie etwa in Dänemark, Frankreich oder Schweden). gert werden. Jedoch kann der Gesetzgeber durch verfahrens- rechtliche Regelungen wie Anhörungsrechte dazu Unter Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern ist beitragen, dass Unternehmen und Beschäftigte ein- der Wunsch nach Flexibilität weit verbreitet. Home- gefahrene Routinen und Arbeitsabläufe überdenken. office und mobiles Arbeiten werden dabei als wich- Dann legt der Gesetzgeber nicht das Ergebnis des tig angesehen. Die Erfahrungen in der Pandemie Aushandlungsprozesses fest, sondern trägt zu einem haben gezeigt, dass Betriebe, in denen flexible Ar Kulturwandel bei, in dem sich die Parteien selbst beitsorte realisierbar sind, keine Produktivitäts neu koordinieren können. Bei der Verbreitung von verluste erleiden, wenn sie dem Wunsch nach Fle- Homeoffice sollte die öffentliche Verwaltung mit xibilität entsprechen. Wichtig scheint in Zukunft, gutem Beispiel vorangehen. Büroarbeit, mobile Arbeit und Homeoffice so zu kombinieren, dass die Vorteile der Flexibilisierung Im Zuge der Corona-Krise hat zudem die Nutzung genutzt werden, aber die Einbindung der Arbeit- der Videokommunikation als Substitut für Prä- nehmerinnen und Arbeitnehmer in die Kommuni- senztreffen stark zugenommen.3 Zudem hat die 2 Davon ausgenommen ist eine einheitliche, temporäre Verpflichtung zum Homeoffice, um die Dynamik der Corona-Pandemie zu bremsen. 3 Vgl. hierzu EY und Wuppertal-Institut (2020). Zwischenbilanz COVID-19: Umweltpolitik und Digitalisierung. Verfügbar unter https://www.bmu.de/fileadmin/Daten_BMU/Download_PDF/Digitalisierung/zwischenbilanz_covid19_bf.pdf (letzter Abruf am 21.10.2020).
8 I I . K R I S E N B E D I N G T E D I G I TA L I S I E R U N G Bundesregierung eine Flexibilisierung bei Vorgaben haben, scheint der Trend zum kontaktlosen Bezah- für Öffentlichkeitsbeteiligung in Gesetzgebungsver len ungebrochen. Im Frühsommer 2020 wurden fahren, Präsenzpflichten und Hauptversammlungen 55 Prozent der Lebensmitteleinkäufe im Einzelhan- auf den Weg gebracht. Viele Dienstreisen und Treffen del bargeldlos bezahlt – etwa zehn Prozentpunkte zwischen Firmen und ihren Kunden oder Zuliefe- mehr als im Jahr zuvor. Den stärksten Zuwachs rern, aber auch Besprechungen innerhalb der Unter haben Kartenzahlungen zu verzeichnen. Auch das nehmen haben sich in der Pandemie flexibel und kontaktlose Zahlen mit Smartphones hat erheblich fast unabhängig vom Aufenthaltsort der Teilnehmen- zugenommen. Die vermehrte Nutzung ist in allen den durchführen lassen. Dies hat nicht nur Reise- Altersgruppen sichtbar, in den mittleren Alters- kosten und Zeit für die Betriebe gespart, sondern gruppen aber besonders ausgeprägt (Mai 2020). im besten Fall auch die Produktivität und Arbeits- Auch hier ist anzunehmen, dass das einmal ange- zufriedenheit der Arbeitnehmerinnen und Arbeit- nommene und für gut befundene bargeldlose bzw. nehmer erhöht. Auch mit Videokommunikation kontaktfreie Bezahlen nach der Pandemie die do haben Unternehmen inzwischen in der Regel posi- minante Zahlungsmethode bleibt und sich in den tive Erfahrungen machen können, sodass nach nächsten Jahren noch stärker verbreitet. Wie der Ende der Pandemie mit einer anhaltenden Reduk- Beirat in einem früheren Gutachten ausgeführt tion von dienstlichen Reisetätigkeiten zu rechnen hat, sieht er keinen Anlass dafür, dass der Staat ist. Die damit einhergehenden Kosteneffekte dürf- diesen Transformationsprozess zu mehr digitalen ten sich wiederum in Produktivitätsgewinnen und Zahlungsformen steuern oder beeinflussen sollte Beiträgen zu Nachhaltigkeitszielen niederschlagen. (Wissenschaftlicher Beirat 2017b). Allerdings sollte Sie könnten jedoch zu weniger Nachfrage nach der Staat den Bürgerinnen und Bürgern erlauben, Transportdienstleistungen und nach Arbeitskräften Verwaltungs- oder Benutzungsgebühren mit mo im mittleren Management führen. dernen digitalen Zahlverfahren zu begleichen. Der Gesetzgeber hat die entsprechenden gesetzlichen Grundlagen dafür schon vor einigen Jahren geschaf- II.2 Bargeldlose Zahlung fen (§ 4 E-Government-Gesetz 2013). In den vergangenen Jahren hat bargeldlose Zahlung, etwa durch Debit- oder Kreditkarten oder Lastschrif- II.3 Gesundheitssystem ten, stark zugenommen. Dabei waren im Jahr 2019 europaweit Kartenzahlungen (mit fast 50 Prozent) Fortschritte in den Informations- und Kommuni- am stärksten verbreitet, gefolgt von Überweisun- kationstechnologien (IKT) schaffen auch im Gesund- gen und Lastschriften (jeweils knapp 25 Prozent). heitssystem enorme Innovationspotenziale. Die Online-Bezahldienste wie etwa PayPal spielten Interaktion zwischen realen und virtuellen Gesund- dagegen in den meisten EU-Ländern bisher kaum heitsdienstleistungen betrifft sämtliche Stufen der eine Rolle (Europäische Zentralbank 2020). komplexen Wertschöpfungskette des Gesundheits- systems. Dreh- und Angelpunkt der aktuellen Re In der Pandemie hat sich die Verbreitung und Nut- formdebatten ist dabei die institutionelle Ausge- zung bargeldloser Zahlverfahren weiter beschleu- staltung der Daten-Kommunikationsprozesse und nigt – befeuert durch die Furcht, dass das Virus über die damit einhergehende Reform der Telematik Banknoten und Münzen verbreitet werden könnte. infrastruktur im Gesundheitswesen. Während sich diese Befürchtungen nicht bestätigt
I I . K R I S E N B E D I N G T E D I G I TA L I S I E R U N G 9 In jüngster Zeit sind verschiedene gesetzliche Rege- Die Digitalisierung des Gesundheitswesens in lungen mit dem Ziel getroffen worden, eine flächen- Deutschland hatte bereits vor Ausbruch der Corona- deckend verfügbare Kommunikationsinfrastruktur Pandemie an Fahrt aufgenommen. Ein wichtiger für den sicheren Austausch gesundheitsrelevanter Grund ist die stark zunehmende Verwendung von Daten zu schaffen. Ein wesentliches Ziel ist die seit Apps in allen Lebensbereichen, die auch vor dem dem GKV-Modernisierungsgesetz aus dem Jahre 2003 Gesundheitssektor nicht haltmacht. Da im Gesund- angestrebte und dem E-Health-Gesetz von 2015 heitswesen außerordentlich sensible Daten anfallen, beschlossene einrichtungsübergreifende elektroni- spielen der Datenschutz und IT-Sicherheitsrisiken sche Patientenakte. Die wichtigsten Gesundheits- eine herausragende Rolle. Die Digitalisierung des daten einer Person sollen so erfasst werden, dass deutschen Gesundheitssystems hinkt der in ande- diese über alle Gesundheitsversorgungs-Einrichtun- ren europäischen Ländern hinterher. Vorreiterrollen gen hinweg dokumentiert sind. Mit dem Termin- hatten Estland, Dänemark, Finnland, Schweden service- und Versorgungsgesetz aus dem Jahr 2019 und die Niederlande eingenommen, in vielen Fällen werden schnellere Arzttermine, mehr Sprechstunden eingebettet in die Reform der E-Governance der und bessere Angebote für gesetzlich Versicherte an jeweiligen Länder. Die Entwicklung wird durch gestrebt. Die Krankenkassen sind verpflichtet, seit EU-Förderprogramme zur Schaffung eines echten dem 1. Januar 2021 ihren Versicherten eine elektro- Binnenmarktes für Daten und die Förderung der nische Patientenakte zur Verfügung zu stellen. Das europäischen Datenrauminitiativen (insbesondere im Oktober 2020 in Kraft getretene Gesetz zum den Europäischen Datenraum für Gesundheitsdaten) Schutz elektronischer Patientendaten in der Tele- angetrieben. Eine nachhaltige Digitalisierung des matikinfrastruktur enthält weitere Regelungen zur Gesundheitssystems hängt außerdem von einer aus Ausgestaltung der elektronischen Patientenakte reichend entwickelten Breitbandnetzinfrastruktur ab. zur Stärkung der Versichertenrechte und weitere Vorgaben zum Datenschutz und einer sicheren Die Bereitschaft, digitale Lösungen im Gesundheits- Digitalisierung im Gesundheitswesen. Mit dem ge system einzusetzen, ist in der Pandemie bei Ärztin- planten Gesetz zur digitalen Modernisierung von nen und Ärzten und Patientinnen und Patienten Versorgung und Pflege (DVPMG) werden digitale gestiegen. Im Zuge der Pandemie hat die Bundes Helfer für die Pflege, die Telemedizin und die erfor- regierung zudem Maßnahmen zur Digitalisierung derliche Telematikinfrastruktur im Gesundheits- der Gesundheitsämter in die Wege geleitet. So sol- wesen weiter vorangetrieben. Mit dem im Dezem- len die Meldungen von Corona-Erkrankungen an ber 2019 in Kraft getretenen Gesetz für eine bessere das Robert-Koch-Institut durchweg digital erfolgen Versorgung durch Digitalisierung und Innovation und die Nachverfolgung von Infektionsketten er (Digitale-Versorgung-Gesetz, DVG) sollen die Vor- leichtert werden. Allerdings gelang es nur teilweise, teile einer Digitalisierung im Gesundheitswesen diese Ziele zu erreichen. Bis zuletzt wurden Infek auf Basis eines sicheren Datennetzes im Gesund- tionszahlen immer noch in großem Umfang per heitswesen konsequent ausgeschöpft werden. Hierzu Telefax an das Robert-Koch-Institut gemeldet. zählen die Einführung des elektronischen Rezepts (E-Rezepts) für verschreibungspflichtige Arzneimit- tel, das Angebot von digitalen Gesundheitsanwen- dungen (App auf Rezept), die einfache Nutzung von Videosprechstunden, aber auch der Anschluss von Pflegeeinrichtungen an die Telematikinfrastruktur.
10 I I . K R I S E N B E D I N G T E D I G I TA L I S I E R U N G II.4 Allgemeinbildende Schulen geschrumpft. Eine flächendeckende Nutzung digita- ler Unterrichtstechnologien hätte hier in erheblichem Als Mitte März 2020 die allgemeinbildenden Schulen Umfang Abhilfe schaffen können. in Deutschland pandemiebedingt geschlossen wur- den, waren sie nicht auf einen digitalen Distanz So hat die Corona-Krise zahlreiche Defizite bei der unterricht vorbereitet. International vergleichende Digitalisierung im Bereich der allgemeinbildenden Studien haben wiederholt belegt, dass Deutschland Schulen aufgezeigt. Es mangelt derzeit nicht nur an bei der Digitalisierung der Schulen und der Nutzung einer geeigneten, sicheren und datenschutzkonfor- digitaler Technologien im Unterricht weit hinter men digitalen Infrastruktur (schnelle Internetzu- anderen Ländern herhinkt (z. B. Beblavý et al. 2019, gänge, Unterrichtsplattformen) und technischer Aus Fraillon et al. 2020). Nach mehreren Jahren politi- stattung, sondern auch an zielführenden Konzepten scher Diskussion hatten Bundestag und Bundesrat zur Verzahnung von Präsenz- und Distanzlernen zwar im Jahr 2019 die gesetzlichen Voraussetzungen und an einer Unterstützung der pädagogischen Lehr- für den sogenannten DigitalPakt Schule geschaffen, kräfte beim professionellen Einsatz digitaler Medien im Rahmen dessen der Bund die Digitalisierung (Nationale Akademie der Wissenschaften Leopol- allgemeinbildender und beruflicher Schulen mit dina 2020). 5 Milliarden Euro fördern will.4 Von diesen Mitteln waren im Sommer 2020 aber nicht einmal ein halbes Prozent abgerufen worden.5 II.5 Hochschulen Im Verlauf der Schulschließungen ist es nur in Aus- Deutsche Hochschulen standen zu Beginn der ersten nahmefällen zu digitalen Anwendungen, die über Lockdown-Phase vor einem Dilemma. Aufgrund der die Bereitstellung klassischer Arbeitsblätter über Distanzregeln war ein regulärer Veranstaltungsbe- Online-Plattformen hinausgehen, gekommen. On trieb mit oft großen Vorlesungen und mit Präsenz- line-Video-Unterricht wurde allenfalls sporadisch seminaren nicht möglich. Gleichzeitig hinkte die genutzt. So hat eine im Juni 2020 durchgeführte Entwicklung von Online-Formaten zu diesem Zeit- Befragung von über 1.000 Eltern von Schulkindern punkt der Entwicklung in anderen europäischen ergeben, dass 57 Prozent der Schülerinnen und Ländern weit hinterher (EFI 2019: B4). Auch die Schüler in der Zeit der Corona-bedingten Schul- Digitalisierung der Verwaltung von Hochschulen schließungen seltener als einmal pro Woche ge war im internationalen Vergleich abgeschlagen. meinsamen Unterricht z. B. per Videoanruf hatten, Das Thema Digitalisierung hatte in der strategischen lediglich 6 Prozent hatten täglichen Online-Unter- Planung der meisten Hochschulen eine unterge- richt (Wößmann et al. 2020); noch seltener kam es ordnete Rolle. Zudem hatten die für die Hochschu- zu individuellen Kontakten der Schülerinnen und len zuständigen Bundesländer erforderliche Mittel Schüler mit ihren Lehrkräften. Insgesamt ist die von für den Aufbau digitaler Lehre und digitaler Ver- den Schülerinnen und Schülern mit schulischen waltungsprozesse nicht bereitgestellt. Auch die zum Aktivitäten verbrachte Zeit während der Schul- Teil wenig professionellen Leitungsstrukturen von schließungen auf weniger als die Hälfte Hochschulen und der Mangel an Führungsleistungen 4 Zudem hat der Bund sein Engagement beim DigitalPakt Schule im Zuge der Corona-Pandemie um 1,5 Mrd. € für die IT-Administration, für Werkzeuge zur Erstellung von digitalen Inhalten sowie ausleihbare schulische mobile Endgeräte für Schülerinnen und Schüler und Lehrkräfte ausgeweitet. 5 Vgl. die Antwort des Bundesministeriums für Bildung und Forschung auf die schriftliche Frage von MdB Katja Suding vom 26. August 2020, abrufbar unter: http://docs.dpaq.de/16744-sf_8_227_suding.pdf
I I . K R I S E N B E D I N G T E D I G I TA L I S I E R U N G 11 sind als Hemmnisse für eine effektive Digitalisie- Bereichen, in denen die Verwaltung bereits über rung zu nennen (EFI 2019, Gilch et al. 2019). digitale Angebote verfügt, weniger Personen diese Angebote als in anderen Ländern (EFI 2016: B4-2, Dennoch gelang es vielen Hochschulen, in einem SVR 2020: Ziff. 551). Durch eine Überwindung sol- gewaltigen Kraftakt noch vor Beginn des Sommer- cher Rückstände könnten Bürgerinnen und Bürger, semesters 2020 wichtige Pflichtveranstaltungen als Unternehmen und Behörden viel Zeit und Geld Digitalangebote zu implementieren. Das betraf vor sparen. Zudem würden die Wettbewerbsfähigkeit allem Veranstaltungen mit mehreren Hundert Teil- Deutschlands gesteigert, strukturschwache Regio- nehmerinnen und Teilnehmern, für die eine Auf- nen gestärkt, die Transparenz von Verwaltungsab- spaltung auf Kleingruppen unmöglich war. Auch läufen erhöht und Elemente der Partizipation im Bereich von Seminaren und Wahlveranstaltun- durch die Bevölkerung gestärkt werden (EFI 2016: gen wurden digitale Formate verstärkt eingesetzt. B4-1). Auch könnten Daten, die im Rahmen digita- Grundsätzlich positiv zu bewerten ist, dass es oft ler Verwaltungsprozesse generiert und verarbeitet gelang, Prüfungen in einem virtuellen Modus durch- werden, als „Open Government Data“ die Grund- zuführen. Die dabei entwickelten Ansätze stellen lage für innovative Dienstleistungen und Geschäfts jedoch sicherlich in vielen Fällen Notlösungen mit modelle bilden (EFI 2016: B4-2). Die Möglichkeiten erheblichen Nachteilen dar. eines modernen E-Government waren bereits seit etwa 2005 wissenschaftlich aufgearbeitet worden. Festzuhalten ist, dass viele Hochschulen aus der Eine systematische Implementierung fand in Corona-Krise mit gestärkten digitalen Fähigkeiten Deutschland bis 2017 jedoch nur in Ausnahme und Profilen hervorgehen werden. Damit werden fällen statt. aber die strukturellen Probleme der Unterfinanzie- rung und der mangelnden Professionalisierung Um diesen Rückstand aufzuholen, trat 2017 das noch nicht nachhaltig bewältigt sein. Im internati- Onlinezugangsgesetz (OZG) in Kraft, demzufolge onalen Vergleich zeigt sich, dass Digitalisierung auch Bund, Länder und Kommunen ihre über 500 ver- in anderen Ländern im Zuge der Pandemie verstärkt schiedenen Verwaltungsleistungen bis spätestens wurde. Es wird weiterer Maßnahmen bedürfen, um Ende 2022 auch online anbieten müssen. Im Januar die digitale Transformation der deutschen Hoch- 2021 hat der Deutsche Bundestag das Registermo- schulen an internationale Standards heranzuführen. dernisierungsgesetz verabschiedet, mit dem ver- schiedene staatliche Register über eine einheitliche Identifikationsnummer miteinander verknüpft II.6 Öffentliche Verwaltung werden. Und die Bundesregierung hat in ihrer im Januar 2021 veröffentlichten Datenstrategie ein Im Vergleich zu seiner Wirtschaftskraft und seinem Maßnahmenbündel vorgestellt, mit dem der digi- Entwicklungsstand schneidet Deutschland in inter- tale Datenaustausch zwischen Verwaltungsstellen nationalen E-Government-Rankings seit Längerem auf Ebene des Bundes, der Länder und der Kom- weit unterdurchschnittlich ab (Bundesministerium munen erleichtert, der Zugang zu öffentlichen des Innern, für Bau und Heimat 2019: S. 5 f., EFI 2016: Daten verbessert („Open Government Data“) und B4). Im „Digital Economy and Society Index 2020“ die Datenkompetenz in Bundesbehörden erhöht der EU-Kommission landet Deutschland aktuell werden sollen (Bundesregierung 2021: 49 ff.). Die beim E-Government innerhalb der EU auf dem Digitalisierung der öffentlichen Verwaltung ist eine 21. Platz (EU-Kommission 2020g). Auch nutzen in Herkules-Aufgabe. Dabei geht es nicht nur um die
12 I I . K R I S E N B E D I N G T E D I G I TA L I S I E R U N G Bereitstellung finanzieller Mittel, sondern auch haft in die Digitalisierung der eigenen Dienstleis- darum, das Zuständigkeitswirrwarr im föderalen tungen einsteigen muss. Laut einer Umfrage des System zu entflechten. Zwar kann föderaler Wett- Verbands Bitkom (Bitkom 2020) beobachten zwei bewerb in der Verwaltung die Entwicklung inno Drittel der Deutschen bei der öffentlichen Verwal- vativer Lösungen ermöglichen und Lernprozesse tung einen Digitalisierungsschub. Zudem sind zu unterstützen. Jedoch sollten durch entsprechende sätzliche Mittel im Umfang von etwa drei Milliar- Standards in Bezug auf Datenkompatibilität, Porta- den Euro für die OZG-Umsetzung bereitgestellt bilität und Schnittstellen Effizienzverluste vermie- worden. Außerdem ist eine Verständigung auf eine den werden, die durch parallele Systementwick- vereinfachte Arbeitsteilung erfolgt. Das für das je lungen in unterschiedlichen Ländern oder weilige Themenfeld zuständige Bundesministerium Gemeinden entstehen können. hat gemeinsam mit ein bis zwei Bundesländern und gegebenenfalls Kommunen die Führungsrolle Im Zuge der Corona-Krise ist eine Beschleunigung für seine Themen und die Prototypenentwicklung der Arbeiten eingetreten. Die Krisensituation hat übernommen. Andere Bundesländer sollen dann eine psychologische Wirkung gehabt – allen Betei- auf diesem Arbeitsstand aufbauen können. ligten ist klar, dass der Staat spätestens jetzt ernst-
13 III. Staatliches Handeln
14 I I I . S TA AT L I C H E S H A N D E L N Der kurze Überblick im vorherigen Abschnitt hat auch ein starkes Stadt-Land-Gefälle (DIW Wochen- mehrere Bereiche identifiziert, in denen infolge bericht 25, 2018; SVR 2020: 571 ff). Deutschland hat der Pandemie Schwächen im Prozess der digitalen eine Breitbandabdeckung von ungefähr 95 Prozent Transformation in Deutschland offen zutage getre- (86 Prozent) bei Geschwindigkeiten von über ten sind. Nicht alle Formen von Organisations 30 (100) Megabit pro Sekunde, aber nur eine Abde- versagen oder Rückständen können vom Staat ckung von 56 Prozent bei Geschwindigkeiten von behoben werden. In einigen Feldern ist es jedoch über 1.000 Megabit pro Sekunde (Bundesministe- möglich, Defizite zu beheben und die positiven rium für Verkehr und digitale Infrastruktur, 2020). Aspekte des kriseninduzierten Digitalisierungs- In städtischen Gemeinden betragen diese Zahlen schubs auch für die Zeit nach der Krise zu bewah- 98 Prozent, 95 Prozent und 75 Prozent, in halbstäd- ren. Damit kann dieser Digitalisierungsschub in tischen Gemeinden 93 Prozent, 80 Prozent und einen Produktivitätsgewinn für die deutsche Volks- 37 Prozent sowie in ländlichen Gemeinden 82 Pro- wirtschaft umgewandelt werden. Der Beirat sieht zent, 58 Prozent und 17 Prozent (Bundesministerium vor allem vier Bereiche, in denen der Staat seine für Verkehr und digitale Infrastruktur 2020). Die Anstrengungen intensivieren sollte. Digitalisierungsstrategie der Bundesregierung sieht eine flächendeckende Versorgung der Haushalte mit Gigabitgeschwindigkeiten im Festnetz bis 2025 III.1 Infrastruktur vor (Monopolkommission 2019). Die Mobilfunk- strategie der Bundesregierung strebt eine flächen- Die Corona-Pandemie hat deutlich gemacht, dass deckende Versorgung mit mobilen Sprach- und schnelle, hochwertige Breitbandanschlüsse für die Datendiensten (LTE/4G) an, damit Telefonie und digitale Transformation zentral sind. Sie ermöglichen mobile Datennutzung allerorts möglich werden – nicht nur eine effiziente Nutzung von Homeoffice, in Haushalten, Unternehmen, an Straßen, Bahn- sondern können auch neue Technologien – beispiels- strecken und Wasserstraßen wie auch auf landwirt- weise autonomes Fahren, KI-gestützte Produktions- schaftlich genutzten Flächen (Bundesministerium prozesse oder Telemedizin – ermöglichen. Digitales für Verkehr und digitale Infrastruktur 2019). Der Lernen in Schulen und Hochschulen kann nur auf Ausbau der mobilen Infrastruktur wird den Mobil- Grundlage einer ausreichenden Breitbandinfrastruk- funknetzbetreibern im Rahmen der Frequenzauk- tur erfolgen. Während beispielsweise die Teilnahme tionen auferlegt und sieht vor, dass bis Ende 2022 an einer Unterrichtsstunde in der Schule oder einer mindestens 98 Prozent der Haushalte mit mindes- Lehrveranstaltung an der Universität zwar prinzi- tens 100 Megabit pro Sekunde im Download zu piell auch ohne Videoverbindung möglich ist und versorgen sind (Monopolkommission 2019). Der sich mit niedrigen Downloadgeschwindigkeiten Ausbau der digitalen Infrastruktur (Festnetz sowie umsetzen lässt, entspricht eine Teilnahme mit Video- mobiles Netz) wird generell als zentraler Standort- verbindung viel eher dem herkömmlichen Unter- faktor angesehen (vgl. SVR 2020: 571 ff.; EFI 2020). richt und kann das digitale Lernen von Studieren- Zunehmend ist auch die Upload-Geschwindigkeit, den sowie Schülerinnen und Schülern maßgeblich so für Videokonferenzen und Anwendungen der erleichtern. Telemedizin, von Bedeutung. Diese ist jedoch gerade bei den in Deutschland noch vorherrschenden Die empirische Evidenz zum Breitbandausbau in hybriden Technologien, die auf Telefon- oder Deutschland zeigt neben einem Rückstand zu ande- Kabelnetzwerken aufbauen, beschränkt. ren OECD-Ländern bei höheren Geschwindigkeiten
I I I . S TA AT L I C H E S H A N D E L N 15 Staatliche Förderung von Investitionstätigkeiten lässt Weiter ist zu bedenken, dass die Förderung des Aus- sich dann begründen, wenn Unternehmen nicht baus der digitalen Infrastruktur erst längerfristig oder zu wenig investieren, obwohl der Nutzen für Wirkung zeigen wird. Daher könnten ergänzend die Gesellschaft die Kosten übersteigt. Ein weiterer zur klassischen Ausbauförderung, wie von der Mono- Grund, insbesondere für die Förderung von Inves- polkommission (2019) vorgeschlagen, auch Gigabit- titionen im ländlichen Bereich, kann das Herstellen Gutscheine zum Einsatz kommen, die sowohl für gleichwertiger Lebensverhältnisse sein. Gleichzeitig den Abschluss eines Vertrages als auch für die Er möchte man verhindern, dass private Investitionen richtung eines Glasfaserhausanschlusses verwendet durch staatliche Investitionen verdrängt werden. werden können. Während das Ziel dieser Gutscheine So ist der Ausbau der digitalen Infrastruktur bisher von der Monopolkommission in der Stärkung der vor allem im urbanen Raum für Unternehmen pro- Nachfrage nach gigabitfähigen Breitbandanschlüssen fitabel gewesen, während der Ausbau der digitalen und in der Verbesserung der Rentabilität von Aus- Infrastruktur im ländlichen Raum weniger lukrativ bauprojekten gesehen wird, wäre nun das Ziel, KMU ist und daher nachhinkt (Beirat des Bundesminis- sowie Haushalte mit schulpflichtigen Kindern beim teriums für Wirtschaft und Energie 2020). Damit ist Zugang zu hochwertigen Breitbandanschlüssen zu zu erwarten, dass eher Unternehmen sowie Studie- unterstützen. rende, Schülerinnen und Schüler aus dem ländlichen Raum bei der Umstellung auf Homeoffice und bei Um etwaige Mitnahmeeffekte möglichst klein zu der Teilhabe am digitalen Unterricht benachteiligt halten, könnte die Vergabe auch an Einkommens- (gewesen) sind. grenzen gebunden werden. Insbesondere ein Gut- schein für den Abschluss eines Vertrages könnte Ein beschleunigter Ausbau der digitalen Infrastruk- ein kurzfristig wirksames Instrument sein. Dieser tur im ländlichen Raum stellt ein mögliches Instru- könnte noch mit einer monatlichen Unterstützung ment dar, um diese Defizite zu beheben. Die Um für einkommensschwache Haushalte einhergehen, setzung der Fördermaßnahmen sollte zielgerichtet um vor allem diese Haushalte beim digitalen Ler- erfolgen, und die öffentliche Förderung des Aus- nen zu unterstützen und ein Auseinanderdriften baus der digitalen Infrastruktur sollte den privat- von Studierenden sowie Schülerinnen und Schü- wirtschaftlichen Ausbau nicht verdrängen (Mono- lern aus einkommensschwachen und einkom- polkommission 2017). In mehreren Bundesländern mensstarken Haushalten zu verhindern. wie beispielsweise Bayern und Niedersachsen wur- den bereits Staatshilfen in den Ausbau der digitalen Infrastruktur im ländlichen Bereich gelenkt. Unter- III.2 Datenstrategie und Datenschutz suchungen über die Wirkungsweise dieser Staats- hilfen zeigen, dass sich die Breitbandverfügbarkeit Um die Potenziale der Digitalisierung ausschöpfen und Anzahl der Anbieter von Internetdiensten in zu können, muss die Politik eine Datenstrategie den Fördergebieten erhöht hat und die Preise für verfolgen, die die Produktivitätspotenziale der Digi- Internetzugänge dort gesunken sind (Duso et al. 2020). talisierung ausschöpft und gleichzeitig einen ange- Davon profitieren sowohl Unternehmen als auch messenen Datenschutz sicherstellt. Am 27. Januar Haushalte. Positive Auswirkungen lassen sich ins- 2021 hat die Bundesregierung die Datenstrategie besondere in ländlichen Regionen nachweisen beschlossen (Bundesregierung 2021), die mit dem (Briglauer et al. 2021). Ziel einer vernetzten Dateninfrastruktur innerhalb Europas eng verknüpft ist. Gleichzeitig will die
16 I I I . S TA AT L I C H E S H A N D E L N Europäische Kommission einen Binnenmarkt für beigemessen. Zu Beginn der Covid-19-Impfkampa- den Datenverkehr innerhalb der EU stärken, in dem gne konnten mehrere Bundesländer nicht alle impf- Daten ohne institutionelle Barrieren branchenüber- berechtigten Risikopatientinnen und Patienten greifend genutzt werden können, wobei der Schutz bezüglich eines Impftermins kontaktieren, weil sie personenbezogener Daten und die IT-Sicherheit ge deren Adressen aus den amtlichen Melderegistern währleistet werden sollen (Europäische Kommission nicht verwendeten. Einem absolut verstandenen 2020a, 2020b, 2020c). Mit einem „Data Governance Recht an den eigenen Daten ist damit Genüge getan. Act“, dessen Entwurf die Europäische Kommission Aber Rechtspositionen sind selten absolut ausge- im November 2020 präsentiert hat (Europäische staltet. Sie unterliegen rechtlich garantierten Ab Kommission 2020d), sollen die bereichsübergreifende wägungsprozessen, soweit dies zur Wahrung anderer Nutzung und das Teilen von Daten in der Europäi- Interessen – beispielsweise einer effektiven Pande- schen Union ermöglicht werden. Mit einem „Digital miebekämpfung – notwendig ist. Eine Abwägung Services Act“ und einem „Digital Markets Act“, deren mit Rechtspositionen Dritter und Interessen der Entwürfe die Europäische Kommission im Dezem- Allgemeinheit kann auch Einschränkungen von ber 2020 im Rahmen des „Digital Services Package“ Grundrechten legitimieren. vorgelegt hat, sollen ein reibungsloses Funktionieren des Binnenmarktes für Vermittlungsdienste sicher- In einer Pandemie gibt es viele Beispiele für solche gestellt, ein sicheres, vorhersehbares und vertrauens- Grundrechtseinschränkungen: Staatlich verhängte würdiges Online-Umfeld gewährleistet sowie auf „Lockdowns“ führen zu Einschränkungen bei der sehr großen Internet-Plattformen Transparenz und Berufsausübung, Beherbergungsverbote beschränken fairer Wettbewerb gesichert werden (Europäische die Bewegungsfreiheit und verschärfte Versamm- Kommission 2020e, 2020f). Auch die 10. GWB-Novelle, lungsverbote beschränken das Grundrecht auf Ver- die der Deutsche Bundestag am 14. Januar 2021 ver- sammlungsfreiheit. Von diesem Mechanismus, wo abschiedet hat, soll den Wettbewerb insbesondere nach Grundrechte eingeschränkt werden können, in digitalen Märkten schützen und gibt dem Bundes- soweit dies zum Schutz von Grundrechtspositionen kartellamt die Möglichkeit, die Erleichterung der Dritter oder Interessen der Allgemeinheit notwen- Portabilität von Daten in bestimmten Fällen anzu- dig ist und bestimmte Schranken – insbesondere ordnen. Dabei stellt das Datenschutzrecht gleich- das Verhältnismäßigkeitsprinzip – gewahrt bleiben, zeitig eine wichtige Grundlage der Datenstrategie ist auch das Datenschutzrecht nicht ausgenommen. wie auch eine wichtige Herausforderung dar. Der Dass Menschen bereit sind, in Zeiten einer Pande- Beirat möchte in diesem Zusammenhang auf zwei mie Einschränkungen ihrer persönlichen Freihei- Aspekte des Datenschutzes eingehen: ein absolutes ten – inklusive des Datenschutzes – hinzunehmen, Verständnis von Datenschutz und den Primat der zeigt eine groß angelegte Studie mit über 370.000 Einwilligung im Datenschutzrecht. Teilnehmern aus 15 Ländern, darunter auch Deutsch- land (Alsan et al. 2020: 41). In der öffentlichen Diskussion wird der Datenschutz mitunter als absoluter Wert wahrgenommen, der Während der Datenschutz damit schwerlich als eine unter keinen Umständen aufgeweicht werden dürfe. unangreifbare Rechtsposition verstanden werden So wurde bei der Ausgestaltung nationaler Corona- kann, zeigt die tägliche Erfahrung im Internet, wie Apps in Europa freiwilligen Entscheidungen der nutzlos es ist, das Datenschutzrecht nach dem Primat einzelnen Nutzerinnen und Nutzer in allen Stufen der Einwilligung des Betroffenen auszugestalten. der Kontaktnachverfolgung ein sehr hohes Gewicht Das deutsche und europäische Datenschutzrecht
I I I . S TA AT L I C H E S H A N D E L N 17 folgt in vielen Bereichen dem Primat der Einwilli- Entscheidungssystem mit Daten über Gesundheits-, gung: Jeder soll eigenständig und freiwillig darüber Berufs- und Unternehmensrisiken gefüttert wird entscheiden können, ob, in welchem Umfang und und auf dieser Grundlage vorschlägt, ob eine Versi- zu welchem Zweck seine personenbezogenen Daten cherung, eine Hypothek oder ein Darlehen gewährt erhoben, verarbeitet und ausgewertet werden. Wäh- werden soll oder nicht, dann hat die Verfügbarkeit rend dies vor dem Hintergrund des verfassungs- von Daten über individuelle Gesundheits-, Berufs- rechtlich verbürgten Rechts auf informationelle und Unternehmensrisiken Auswirkungen auf Dritte, Selbstbestimmung grundsätzlich der richtige Aus- nämlich die Antragsteller der Versicherung, Hypo- gangspunkt ist, zeigt die Erfahrung, dass die kon- thek oder des Darlehens. Ein Datenschutzregime kreten Umsetzungen des Einwilligungsprinzips kann solche negativen Externalitäten, die aus indi- im Internet die Autonomie der Bürgerinnen und viduellen Entscheidungen über die Preisgabe per- Bürger nicht hinreichend wahren können: Inter- sonenbezogener Daten resultieren, nicht ignorieren net-Nutzende müssen eine so große Anzahl an Zu (Benndorf et al. 2015; Fairfield/Engel 2015; Ben-Sha- stimmungen zum Setzen von Cookies durch ihre har 2019; Choi et al. 2019; Hill et al., 2020; Acemoglu Internet-Browser abgeben, dass sie die Umstände et al. im Erscheinen). und Reichweite der einzelnen Zustimmungen schwer- lich überblicken können. Datenschutz-Richtlinien Die Ordnungspolitik sollte beim Datenschutz daher werden wenig oder gar nicht gelesen (Bakos et al. auch andere Regulierungsansätze in Erwägung zie- 2014). Dazu trägt auch ein Phänomen bei, das in der hen, die den Primat der datenschutzrechtlichen Forschung als „Privacy Paradox“ bezeichnet wird: Einwilligung ergänzen können. Zu solchen Ansätzen Vielen Menschen ist der Schutz ihrer Privatsphäre können Datentreuhänder zählen, wie sie im Entwurf abstrakt zwar sehr wichtig. In konkreten Entschei- des schon erwähnten „Data Governance Act“ der dungssituationen – zum Beispiel im Internet – geben Europäischen Kommission und der Datenstrategie Menschen dann aber viele private Informationen der Bundesregierung enthalten sind (Bundesregie- sehr leicht preis (im Überblick Acquisti/Brandimarte/ rung 2021: 33 ff.). Intermediäre könnten Internet- Loewenstein 2020, s. a. Acquisti/Grossklags 2005, Nutzern helfen, indem sie die Transaktionskosten Barth/de Jong 2017). Aufgrund dieser Verhaltens- für das Verwalten ihrer personenbezogenen Daten disposition vieler Menschen ist es schwierig, ein in Internet-Anwendungen senken, vertraglich Datenschutzrecht ausschließlich auf der Annahme bestimmte Schutzniveaus anbieten und dafür ver- eigenständiger und wohl informierter Entschei- traglich haften, wenn sie ihr Schutzversprechen dungen von Menschen aufzubauen. nicht einlösen. Insgesamt könnten sie damit das Vertrauen in die gemeinsame Nutzung von Daten Selbst wenn Menschen solche eigenständigen und stärken. Der Gesetzgeber kann das Entstehen solcher wohl informierten Entscheidungen über die Preis- Intermediäre durch Regeln zu Datenmanagement- gabe ihrer eigenen personenbezogenen Daten tref- systemen und „Personal Information Management fen könnten, wäre einem effektiven Datenschutz in Services“ (PIMS) fördern. Auch können Internet- Kommunikationsnetzwerken nicht Genüge getan. Plattformen den Verbraucherinnen und Verbrau- Zwei Beispiele mögen dies illustrieren. Greift der chern Dienstleistungen in verschiedenen Versionen Betreiber eines sozialen Netzwerks auf die Kontakt- anbieten, die mehr oder weniger personenbezogene daten eines Nutzers zu, erhält er dadurch nicht nur Daten verarbeiten und deren Finanzierungsmodelle Informationen über den Nutzer, sondern auch über in unterschiedlicher Weise Werbe- und Teilnehmer- dessen Kontaktpersonen. Wenn ein automatisiertes finanzierung kombinieren. Weiterhin kann das
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