Die Roten Listen Thüringens Gefährdungskategorien und Gefährdung der Arten, Pflanzengesellschaften und Biotope
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Die Roten Listen Thüringens − Gefährdungskategorien und Gefährdung der Arten, Pflanzengesellschaften und Biotope Frank Fritzlar, Heiko korscH, timo Förster, Werner WestHus, tristan lemke, tina BucHmann, anke rotHgänger & cornelia genßler 1. Einführung Rote Listen und der Zustand der Biodiversität (Barnosky et al. 2011). Deshalb werden die men- schengemachte Krise des Artensterbens und Wenn man das aktuelle Ausmaß der Gefähr- gleichermaßen auch die Krise der Biodiversität dung von Arten, Pflanzengesellschaften und heutzutage in einem Atemzug mit der Klima- Biotopen bewerten und dokumentieren krise genannt. Beide haben ein weltweites Aus- möchte, sind Rote Listen als wissenschaftli- maß und einen grundlegenden Einfluss auf das che Fachgutachten kaum wegzudenken. Sie Leben und Überleben alles Lebendigen. stellen eines der am längsten gebräuchlichen „Messinstrumente“ für die Veränderung des Ar- Auf bundesdeutscher Ebene liegen Rote Listen tenreichtums eines Raumes dar. Sie vermitteln für etwa 60 unterschiedliche Artengruppen von einen Eindruck vom Zustand der biologischen Tieren, Pflanzen und Pilzen vor. Von den etwa Vielfalt, deren integraler Bestandteil Arten- 72.000 in Deutschland einheimischen Tier-, reichtum ist. Die Einschätzung der Gefährdung Pflanzen- und Pilzarten sind mittlerweile rund von Arten und Lebensräumen ist daher eine 30.000 auf ihre Gefährdung hin untersucht wor- unverzichtbare Grundlage für alle Maßnahmen den (Rote-Liste-Zentrum 2021). Sie werden in zur Erhaltung der biologischen Mannigfaltig- einem etwa zehnjährigen Turnus aktualisiert. keit. Durch die Identifikation von Gefährdungs- Die Bewertung der Gefährdung wird für alle ursachen werden auch Hinweise gegeben für Arten der jeweiligen Organismengruppen vor- notwendige Maßnahmen zur Sicherung des Ar- genommen. So entstehen jeweils vollständige tenreichtums und somit auch der Biodiversität. Inventarlisten der bearbeiten Artengruppe. Rote Listen existieren auf internationaler, natio- Die nachfolgend vorgelegten Thüringer Roten naler und regionaler Ebene. Auf internationaler Listen betrachten etwa 17.000 Arten aus 44 Ar- Ebene wird deren Erstellung seit 1964 von der tengruppen sowie Biotoptypen und Pflanzen- International Union for Conservation of Nature gesellschaften. Davon sind 40 % als „gefährdet“ (IUCN; „Weltnaturschutzunion“) umgesetzt. eingestuft worden. Nach der aktuellen Roten Liste der IUCN, wel- che quartalsweise aktualisiert wird (zuletzt am Wozu brauchen wir Rote Listen? 25. März 2021), gelten weltweit fast 37.500 Tier- und Pflanzenarten als bedroht (IUCN 2021). Ziel des Naturschutzes gemäß § 1 des Bundes- Der Europäische Feldhamster (Cricetus cricetus) naturschutzgesetzes (BNatSchG) ist es, Natur beispielsweise wurde mit dieser Aktualisierung und Landschaft so zu schützen, dass die bio- von „ungefährdet“ auf die Gefährdungsstufe logische Vielfalt auf Dauer gesichert ist. Zur „vom Aussterben bedroht“ („critically endan- dauerhaften Sicherung der biologischen Viel- gered“) eingestuft. falt sind lebensfähige Populationen wild le- bender Tiere und Pflanzen einschließlich ihrer Das Artensterben ist heute mindestens dut- Lebensstätten zu erhalten. Gefährdungen ist zende bis hunderte Male größer als im Durch- entgegenzuwirken. In § 6 des BNatSchG wer- schnitt der letzten zehn Millionen Jahre den Bund und Länder zur Beobachtung von 8
Natur und Landschaft verpflichtet. Dabei sind die Managementmaßnahmen (Hege, Pflege, nicht nur der Zustand und dessen Veränderun- Steuerung) von Pflanzen- und Tierbeständen gen zu erfassen, sondern auch deren Ursachen planen und durchführen und Folgen zu ermitteln. Rote Listen sind ein y Vorbereitung und Formulierung von Unter- Resultat solcher Beobachtungen über längere suchungsprogrammen für die am meisten Zeiträume. Sie stellen dementsprechend einen gefährdeten Arten hinsichtlich der Größe wesentlichen Beitrag zur Umsetzung dieses und Entwicklung ihrer Populationen (Arten- Gesetzes dar. monitoring) y Schaffung ökologischen Grundlagenwissens Als Argumentations- und Entscheidungshilfe als Voraussetzung für die Einleitung und haben sich Rote Listen zu einem unersetzli- Durchführung wirksamer Schutzmaßnah- chen Instrument der täglichen Naturschutzar- men (z. B. im Rahmen von Artenhilfsprogram- beit entwickelt. Ihr Erfolg beruht nicht zuletzt men) auf der Reduzierung der komplexen Gefähr- y Anregung für alle Fachleute, sich in stärkerem dungssituation der heimatlichen Natur auf Maße an der Lösung von Fragen der Überle- ein leicht verständliches, abgestuftes Katego- benssicherung von Pflanzen- und Tierarten riensystem. Auf nationaler und internationaler zu beteiligen Ebene dienen sie dem Setzen von fachlichen y Aufforderung an alle Schulen und Hochschu- Prioritäten in verschiedenen Bereichen. Sie len, ein erhöhtes Augenmerk auf die Vermitt- sind auch eine Argumentationshilfe für um- lung von Wissen über die Bedrohung von weltrelevante Planungen und ein Frühwarn- Flora und Fauna und über die Gefährdungs- system für die Entwicklung der biologischen ursachen zu richten Vielfalt. Sie zeigen den vordringlichen Hand- y Anregung zur Prüfung der Wirksamkeit der lungsbedarf im Artenschutz auf und helfen aktuell verfügbaren Naturschutzinstrumente auf politischer Ebene abzuschätzen, ob die (z. B. im Rahmen von Erfolgskontrollen) Ziele der Biodiversitätsstrategien von Bund und Ländern zum Erhalt der biologischen Viel- Nicht zuletzt machen die Roten Listen darauf falt erreicht werden. aufmerksam, dass manche Artengruppen noch nicht oder nicht mehr bearbeitet wurden und Ziele und Bedeutung Roter Listen lassen sich daher grundlegende Wissenslücken bezüglich in Anlehnung an noWak et al. (1994) folgender- der Artenvielfalt existieren. Deshalb ist es drin- maßen charakterisieren: gend nötig, vorhandene Kenner zu unterstüt- zen und neue Bearbeiterinnen oder Bearbeiter y Information der Öffentlichkeit, der zuständi- zu finden, zu schulen und zu betreuen. gen Landes- und Bundesbehörden und inter- nationaler Gremien über die Gefährdung der 45 Jahre Rote Listen in Thüringen – ein kur- biologischen Vielfalt zer Rückblick y Entscheidungshilfe für Naturschutzbehörden bei Anträgen auf Ausweisung von Schutzge- Bereits seit dem Ende des 19. Jahrhunderts bieten für gefährdete Arten und Biotope sowie weisen Forscherinnen und Forscher in einzel- zur Abwehr von Eingriffen in Schutzgebiete nen Studien auf Verluste in der thüringischen y Entscheidungshilfe für alle Institutionen, die Pflanzen- und Tierwelt hin. Systematische Ver- Eingriffe in die Landschaft planen, durchfüh- zeichnisse der gefährdeten Pflanzen und Tie- ren oder auf ihre Verträglichkeit prüfen re Thüringens werden jedoch erst seit etwa y Richtschnur für Maßnahmen in Land- und 45 Jahren erarbeitet. Die längste Tradition hat Forstwirtschaft sowie für die Anwendung hierbei die Rote Liste für die Farn- und Blüten- des Vertragsnaturschutzes und anderer För- pflanzen. Für diese Artengruppe wurde die dermaßnahmen erste Fassung bereits 1977 von rauscHert (1980) y Entscheidungshilfe für alle Institutionen des verfasst. Es folgten die Roten Listen gefährdeter Naturschutzes, der Jagd und der Fischerei, Moosarten (meinunger 1983) und Großpilze (HirscH 9
et al. 1988). Unter den Tiergruppen waren es die Aufgaben der Naturschutzfachbehörde: Die- Tagfalter, für die von tHust & reinHarDt (1990) eine se „… ist zuständig für die Beobachtung von erste Fassung erstellt wurde. 1991 wurden Natur und Landschaft nach § 6 BNatSchG und dann die Roten Listen der gefährdeten Libellen veröffentlicht mindestens alle zehn Jahre den (zimmermann 1991) und Heuschrecken (köHler wissenschaftlichen Stand der Erkenntnisse über 1991) publiziert. Mittlerweile haben sich die ausgestorbene und bedrohte heimische Tier- und Roten Listen zu einem unersetzlichen Arbeits- Pflanzenarten sowie über die Gefährdung von mittel des Naturschutzes in Thüringen entwi- Biotopen (Rote Listen)“. ckelt. Als nutzerfreundliche Publikationsform hat sich ein Sammelband aller Roten Listen Die in diesem Sammelband zusammenge- bewährt. Der erste wurde 1993 veröffentlicht stellten Roten Listen enthalten die derzeit in (TLU 1993). Mit dem vorliegenden Band liegt Thüringen in ihrem Bestand gefährdeten oder nun der vierte Sammelband vor. Für einige Ro- bereits ausgestorbenen Arten, Pflanzengesell- ten Listen bedeutet das, dass schon die fünfte schaften und Biotope der untersuchten Grup- oder sogar sechste aktualisierte Fassung exis- pen. Dabei werden alle Arten aufgeführt, die tiert, wodurch die langjährige Entwicklung der sich in Thüringen regelmäßig vermehren oder Gefährdung der jeweiligen Artengruppen gut vermehrt haben und deren wild lebende Be- dokumentiert ist. stände ausgestorben, verschollen oder gefähr- det sind. Alle nachfolgend aufgeführten Listen In den letzten Jahren hat die Erhaltung der bio- sind auch im Internetauftritt des Thüringer logischen Vielfalt als zentrales Ziel des Natur- Landesamtes für Umwelt, Bergbau und Natur- schutzes wesentlich an Bedeutung gewonnen. schutz zugänglich (https://tlubn.thueringen. Die Thüringer Landesregierung hatte dazu im de/naturschutz/rote-listen). Oktober 2011 eine Thüringer Strategie zur Er- haltung der Biologischen Vielfalt beschlossen Wissensdefizite machen sich bemerkbar (TMLFUN 2012). Seit 2019 hat nach § 2 Abs. 2 des Thüringer Naturschutzgesetzes (ThürNatG) die Die Anzahl der bearbeiteten Artengruppen und oberste Naturschutzbehörde einmal in jeder Le- die Zahl bewerteter Taxa verdeutlichen auch gislaturperiode einen Bericht über den Zustand den aktuellen Kenntnisstand zu Fauna und und die Entwicklung der biologischen Vielfalt in Flora eines Landes. Als positive Entwicklung im Thüringen zu veröffentlichen. Der erste Bericht, Vergleich zum letzten Sammelband kann die für den die Roten Listen wichtige Informationen Neubearbeitung der Roten Liste der Rüsselkäfer lieferten, wurde 2019 publiziert (TMUEN 2019). mit 832 Arten hervorgehoben werden. Zudem ist es gelungen, für mehrere andere Listen, z. B. Die Erstellung von Roten Listen ist inzwischen die der Eulenfalter mit ihren 402 Arten, einen als eine zentrale Aufgabe der Naturschutz- neuen Bearbeiter zu finden. Die Bedeutung der fachbehörden etabliert. Das Bundesamt für Thüringer Roten Listen als „Messinstrument“ Naturschutz hat 2018 das Rote-Liste-Zentrum der biologischen Vielfalt wurde durch die Be- gegründet, das vor allem die Erarbeitung bun- arbeitung zusätzlicher Artengruppen und eine desweiter Roter Listen koordiniert, zur Vernet- weitere taxonomische Differenzierung (z. B. Be- zung von Artexpertinnen und -experten bei- achtung von Kleinarten, Unterarten u. a.) noch trägt und sich für eine stärkere Beachtung der erhöht. Selbstverständlich werden auch Arten- Roten Listen durch die Politik, die Behörden gruppen in die Gefährdungsanalyse einbezo- und in der Öffentlichkeit einsetzt. Hiervon pro- gen, die bisher nicht im Fokus der Naturschutz- fitieren auch die Bundesländer. praxis stehen, beispielsweise Asseln, Schaben, Schildläuse oder Keulhornblattwespen. In Thüringen wurde im Zuge der 2019 verab- schiedeten Novelle des Landesnaturschutzge- Eine vollständige Übersicht über die Roten Lis- setzes die Erarbeitung Roter Listen gesetzlich ten, für die 2021 keine Neubearbeitung erfolg- verankert. § 23 Abs. 1 ThürNatG benennt die te, befindet sich in Tabelle 1. 10
Tab. 1: Artengruppen, die 2021 nicht neu bearbeitet worden sind Artengruppe Autor(en) Zuletzt Artenzahl davon Rote- bearbeitet Liste-Arten Aquatische Tanzfliegen (Insecta: R. Wagner 2011 38 3 Diptera: Brachystomatidae, Empididae – Clinocerinae und Hemerodromiinae) Blatthornkäfer und Hirschkäfer E. Rössner 2011 134 68 (Insecta: Coleoptera: Scarabaeoidea) Eintagsfliegen R. Brettfeld, 2011 68 34 (Insecta: Ephemeroptera) W. Zimmermann Flusskrebse (Crustacea: Decapoda: W. Zimmermann 2011 2 2 Astacidae) Glasflügler (Lepidoptera: Sesiidae) D. Stadie 2001 26 15 Halmfliegen (Diptera: Chloropidae) J. Weipert 2011 134 70 Kurzflügelkäfer (Staphylinidae) W. Apfel 2011 1.150 479 Sackträger (Lepidoptera: Psychidae) T. Sobczyk, D. Stadie 2001 24 15 Schleimpilze (Myxomycetes) H. Müller, K.-H. Riemay 2011 248 29 Schmetterlingsmücken R. Wagner 2011 62 7 (Insecta: Diptera: Psychodidae) Schwebfliegen F. Dziock, M. Jessat, 2001 320 101 (Diptera: Syrphidae) H. Uthleb Steinfliegen (Insecta: Plecoptera) R. Brettfeld 2011 64 27 Stelzmücken (Diptera: Limoniidae H. Reusch, R. Bellstedt 2001 181 27 et Pediciidae) Süßwasserkrebse (Crustacea; D. Flößner 2011 133 34 Branchiopoda et Copepoda) Webspinnen F. W. Sander, S. Malt, 2001 626 261 (Arachnida: Araneae) P. Sacher Zünsler und Faulholzmotten (Lepidoptera: U. Buchsbaum 2001 267 81 Pyralidae et Oecophoridae s. l.) Tab. 2: Rote Listen Thüringens: Anzahl bearbeiteter Artengruppen und bewerteter Taxa pro Erscheinungsjahr Rote Liste Sammelband Anzahl Listen Bewertete Taxa 1993 34 9.424 2001 59 17.003 2011 54 16.814 2021 44 16.972 Seit der Veröffentlichung des Sammelbands Sollte dieser Trend anhalten, wird sich der feh- von 2001 (TLUG 2001) ist ein deutlicher Rück- lende Kenntnisstand zukünftig negativ aus- gang der Anzahl bearbeiteter Roter Listen und wirken, zum Beispiel auf die Fähigkeit, in der damit der Zahl bewerteter Artengruppen zu Naturschutzpolitik wissenschaftlich basierte verzeichnen (Tabelle 2). Entscheidungen zu treffen. 11
Die Biodiversität hat in der Öffentlichkeit in Zum Schließen der Erkenntnislücken wurden letzter Zeit große Aufmerksamkeit gefunden. und werden in Zusammenarbeit mit Fachver- Trotz durchaus anspruchsvoller Ziele für die bänden regelmäßig Listen der in Thüringen vor- Erhaltung der Biodiversität ist für einige Ar- kommenden Arten – sogenannte Checklisten tengruppen aber keine Neubearbeitung mög- – erarbeitet, für die Spezialisten gewonnen oder lich gewesen. Es fehlte an aktuellen Daten für aufgebaut werden. Checklisten bilden die unver- die Neubewertung der Gefährdung, teils so- zichtbare Grundlage für eine spätere Bearbei- gar überhaupt an Kennerinnen und Kennern tung der Artengruppe im Rahmen einer Roten für die entsprechenden Arten. So konnte die Liste. Die Ermittlung des Artenbestandes ist der artenreiche Gruppe der Kurzflügelkäfer (insge- erste Schritt für eine floristische bzw. faunistische samt 1.113 bewerteten Arten, aPFel 2011) nicht Gebietsbearbeitung und die darauf aufbauende wieder bearbeitet werden. Gleiches gilt für die Gefährdungsanalyse. Hier sind der weitere Aus- durchaus naturschutzrelevanten und arten- bau und die Unterstützung von Arterfassungen reichen Webspinnen (sanDer et al. 2001), Blatt- unverzichtbar. Dabei kann die Naturschutzver- hornkäfer (rössner (2011) und Schwebfliegen waltung einen Beitrag leisten. Auch Erfassungen, (Dziock et al. 2001). Mangels vorhandener Spe- z. B. im Rahmen von Erfolgskontrollen, sind hier- zialisten gibt es in Thüringen deshalb zudem für wichtig. keine Rote Listen für Kieselalgen, Zieralgen, Weberknechte, Netzflügler sowie verschiedene Fachvereinigungen und Fachbeirat sichern Hautflügler- und Käferfamilien. gutes Niveau Der deutliche Mangel an Artenkennern der Thüringen gehört aktuell noch zu den Ländern, heimischen Natur hat mehrere Ursachen, von die für relativ viele Artengruppen Gefährdungs- denen die folgenden die wichtigsten sind: analysen vorlegen können. Dies ist u. a. der kontinuierlichen Arbeit der Fachvereinigungen y Defizite bei der Ausbildung von Biologen und (z. B. Thüringische Botanische Gesellschaft e. V., der Wissenschaftsförderung (Es wird weder Arbeitskreis Heimische Orchideen Thüringen ausreichende Artenkenntnis vermittelt noch e. V., Thüringer Arbeitsgemeinschaft Mykologie gibt es ausreichend taxonomisch-systemati- e. V., Verein Thüringer Ornithologen e. V., Inte- sche Lehrinhalte und Berufsperspektiven.) ressengemeinschaft Fledermausschutz und y Defizite bei naturkundlichen Museen (Diese -forschung Thüringen e. V., Thüringer Entomo- sind vielfach kaum noch in der Lage, ihren logenverband e. V.) und einzelner Arbeitsge- angestammten Aufgaben – wie Floristik, Fau- meinschaften an Naturkundemuseen (z. B. am nistik, Datensammlung, Aufbau von Beleg- Naturkundemuseum Erfurt oder am Mauritia- Sammlungen – nachzukommen.) num Altenburg) zu verdanken. y Defizite bei der Unterstützung von Fachverei- nigungen und Freizeitforschern (Diese leisten Ausschlaggebend ist zudem die Arbeit der momentan den wesentlichen Beitrag zur Um- Mitglieder des Thüringer Fachbeirates für Ar- weltbeobachtung, haben aber ggf. unverhält- ten- und Biotopschutz. In diesem Gremium nismäßig viel Aufwand mit Genehmigungen.) sind ausgewiesene Kenner für Artengruppen y Defizite bei der Nachwuchsgewinnung und oder Biotope vereinigt, die der Fachbehörde -förderung (als Gemeinschaftsaufgabe von beratend zur Seite stehen und die langfristig Schulen, naturkundlichen Museen und Fach- angelegten Vorhaben (wie die regelmäßige vereinigungen) Überarbeitung der Roten Listen) durch Initi- ierung von Erfassungen und die Gewinnung Das zuletzt genannte Defizit ist zumindest mit- federführender Bearbeiter unterstützen (siehe telfristig wohl am bedeutsamsten. Fritzlar et al. 2016). 12
2. Neuerungen der Roten Liste 2.1. Unser Vorgehen stände bei Arten, die ansonsten als vom Aus- sterben bedroht eingestuft würden) Die vorliegenden Roten Listen wurden – wie y Zusammenstellung der Roten Liste und schon im letzten Sammelband – auf Basis der Analyse der Gefährdungssituation für die für die Roten Listen Deutschlands erstellten Artengruppe (z. B. nach Ursachen von Verän- Methodik (luDWig et al. 2006) erarbeitet. Die derungen oder differenzierte Bewertung von gute Nachvollziehbarkeit der Bewertungen, die ökologischen Gruppen) angestrebte Vergleichbarkeit mit den Gefähr- y Beschreibung von Lebensweise und beson- dungseinstufungen auf Bundesebene und die derer Gefährdung der Gruppe, der Daten- bereitgestellten technischen Arbeitshilfen des basis für die Gefährdungsanalyse sowie von Bundesamtes für Naturschutz (auf Basis der gruppenspezifischen Festlegungen bei der dort weiterentwickelten Methodik von luDWig Einstufung der Arten als Einführungstext für et al. 2009) waren dafür ausschlaggebend. die Rote Liste Zur Gewinnung qualifizierter Mitarbeiter bzw. Wie bei den vorangegangenen Sammelbän- federführender Bearbeiter für die Listen mög- den werden nur die Roten Listen mit zugehö- lichst vieler Tier-, Pflanzen- und Pilzgruppen rigen Erläuterungen und Auswertungen als wurden Autoren früherer Fassungen Roter Lis- kompakter Sammelband publiziert. Die zuge- ten und von Checklisten bisher nicht bearbei- hörigen Checklisten werden über die Internet- teter Gruppen angesprochen. Die federführen- seite des TLUBN zur Verfügung gestellt (https:// den Gruppenbearbeiter versuchten darüber tlubn.thueringen.de/naturschutz/rote-listen). hinaus, alle zu beteiligen, die wesentliche Bei- Den Bearbeitern wurde außerdem eine sepa- träge zur Gefährdungsanalyse leisten können. rate Veröffentlichung der Gesamtartenlisten in Für den Koordinationsaufwand konnten durch geeigneten Fachzeitschriften empfohlen. das Thüringer Landesamt für Umwelt, Bergbau und Naturschutz mit finanzieller Unterstüt- Für die Fische wurde mit der Gesamtartenlis- zung des Thüringer Ministeriums für Umwelt, te bereits ein Arbeitsstand der Roten Liste im Energie und Naturschutz Werkverträge abge- Rahmen einer Landesfauna (müller 2019) ver- schlossen werden. Die Bearbeitung der Listen öffentlicht. Für viele Insektengruppen erfolgte erfolgte in den Jahren 2018 bis 2020. die Publikation der Artenlisten, teils regionali- siert oder mit Bestandsangaben, bereits inner- Von den federführenden Autoren wurden auf halb einer speziellen Publikationsreihe (Thü- Grundlage der Vorgaben des Bundes (luDWig ringer Entomologenverband 1993−2020). Auf et al. 2009, 2006) die folgenden Bearbeitungs- Aktualisierungen im Detail oder geplante Ver- schritte mit der Zielstellung einer möglichst öffentlichungen wird in den Einleitungstexten objektiven Einschätzung der Gefährdungssitu- der Einzellisten verwiesen. ation umgesetzt: y Aufstellung bzw. Aktualisierung einer Ge- In den Checklisten sind zusätzlich zu den er- samtartenliste („Checkliste“) der aus Thürin- mittelten Gefährdungskategorien für gefähr- gen bekannten Arten dete Arten auch folgende Einstufungen für die y Beurteilung der Kriterien „Aktuelle Bestands- ungefährdeten Arten aufgeführt, die in den situation“, „Langfristiger Bestandstrend“, eigentlichen Roten Listen nicht enthalten sind: „Kurzfristiger Bestandstrend“ und „Risikofak- D: Daten zur Art defizitär toren“ V: Art der so genannten Vorwarnliste y Beachtung zusätzlicher Festlegungen zum *: Ungefährdete Art Umgang mit Sonderfällen (insbesondere #: Nicht bewertete Art korrekte Berücksichtigung von Risikofakto- Bei Bedarf werden in der Arbeitstabelle artspe- ren und separate Prüfung auf stabile Teilbe- zifische Kommentare angebracht, so zu Taxono- 13
mie, Gefährdung und der erfolgten Nachsuche untergebracht, sondern in Form einheitlich zu bei verschollenen Arten. Diese Informationen gebrauchender Zusatzangaben in der eigentli- stehen für die Plausibilitätsprüfung der vorge- chen Roten Liste (vgl. Abschnitt 2.4). nommenen Einstufungen zur Verfügung. 2.3. Die Gefährdungskategorien Das Kriteriensystem wurde bei einer Auto- renkonferenz im März 2018 vorgestellt und Bei der Erarbeitung der Roten Listen wurde erläutert. Die zugehörigen Rote Liste-Erfas- die Verwendung einheitlicher Gefährdungs- sungsbögen wurden bei Bedarf von Seiten der kategorien angestrebt. Die Definitionen der Fachbehörde vorbereitet, um den Umgang mit Gefährdungskategorien entsprechen denen dem für die Qualitätssicherung sehr wertvol- des Bundesamtes für Naturschutz (luDWig et al. len Werkzeug zu erleichtern bzw. dessen ord- 2009, 2006; Tabelle 3). nungsgemäße Nutzung sicherzustellen. Die technische wie fachliche Begleitung wurde Wie bereits bei den Roten Listen 2011 liegt vom TLUBN sichergestellt. Eine abschließende der Neubearbeitung ein strikt vorgegebenes Prüfung zum korrekten Umgang hat ebenfalls methodisches Vorgehen zugrunde. Dessen noch einmal eine intensive Auseinanderset- Kern ist eine Bewertungsmatrix aus den Krite- zung mit dem Kriteriensystem und den sich rien „Aktuelle Bestandssituation“, „Langfristiger von Artengruppe zu Artengruppe unterschei- Bestandstrend“, „Kurzfristiger Bestandstrend“ denden Voraussetzungen für dessen Gebrauch und „Risikofaktoren“. Mit ihrer Hilfe wird ein mit sich gebracht. Letztlich ist damit erneut Bewertungsvorschlag erstellt, der dann über eine Verbesserung der Nachvollziehbarkeit verschiedene Schritte geprüft und nach vorge- und Objektivität der Gefährdungseinschät- gebenen Regeln korrigiert wird (siehe luDWig et zung erreicht worden. al. 2009, 2006). 2.2. Die einführenden Texte Für viele Arten war die Datenlage zur Ermitt- lung der Parameter für die Bewertungsmatrix Der kurze einführende Text zu jeder Roten Lis- jedoch unzureichend. Insbesondere die daten- te soll auch Nicht-Fachleuten die behandelte basierte Herleitung der Bestandstrends (be- Artengruppe näherbringen. Deshalb sind in sonders des kurzfristigen) ist in manchen Fällen der Regel Informationen zur Lebensweise der nicht möglich gewesen. Es liegen zwar durch- Gruppe vorangestellt. Diesen folgt eine Dar- aus aktuelle Erfassungsdaten vor, aber metho- stellung zum Artenbestand in Thüringen, zur disch vergleichbar erhobene Daten fehlen. Die vorhandenen Datengrundlage und zum taxo- Kriterien zur Ermittlung der Gefährdung wur- nomischen Bezugswerk für die Rote Liste. Wo den dann per Expertenvotum empirisch fest- aktuelle Artenlisten oder Landesbearbeitun- gestellt. Dies erfolgte in der Regel auch auf Ba- gen vorliegen, wurde auf taxonomische oder sis von Analogieschlüssen zum Bestandstrend faunistische Detaildarstellungen verzichtet. bzw. zur Gefährdung der Lebensräume stenö- Spezielle Gefährdungsursachen werden be- ker Arten oder der speziellen Wirtspflanzen bei nannt, wenn sie aus den Untersuchungen ab- phytophagen Arten. zuleiten sind. Bei einigen Gruppen wie zum Beispiel den Vertiefende Auswertungen und detaillierte Schildläusen war auch dieses Vorgehen nicht Analysen der Gefährdungsursachen müssen praktikabel (bzw. hätte zum überwiegenden separat vorgenommen werden; mit den Roten Ergebnis „Daten zur Art defizitär“ geführt); hier Listen ist eine wesentliche Basis dafür geschaf- wurden die Einstufungen gemäß dem Sinn der fen worden. Definitionen der Gefährdungskategorien her- geleitet. Weitere gruppenspezifische Informationen zu den behandelten Arten wurden nicht im Text 14
Tab. 3: Definition der Gefährdungskategorien Symbol Kategorie Definition Arten, die im Bezugsraum verschwunden sind oder von denen keine wild lebenden Populationen mehr bekannt sind. Die Populationen sind entweder • nachweisbar ausgestorben, in aller Regel ausgerottet (Die bisherigen Habitate bzw. Standorte sind so stark verändert, dass mit einem Wiederfund Ausgestorben 0 nicht mehr zu rechnen ist.) oder oder verschollen • verschollen (Das heißt, dass aufgrund vergeblicher Nachsuche über einen längeren Zeitraum der begründete Verdacht besteht, dass ihre Populatio- nen erloschen sind. Konkretisierung für Thüringen: mindestens 10 Jahre bei Wirbeltieren bzw. 20 Jahre bei den meisten anderen Artengruppen) Arten, die so schwerwiegend bedroht sind, dass sie in absehbarer Zeit ausster- Vom Aussterben ben, wenn die Gefährdungsursachen fortbestehen. Ein Überleben im Be- 1 bedroht zugsraum kann nur durch sofortige Beseitigung der Ursachen oder wirksame Schutz- und Hilfsmaßnahmen für die Restbestände gesichert werden. Arten, die erheblich zurückgegangen oder durch laufende bzw. absehbare menschliche Einwirkungen erheblich bedroht sind. Wird die aktuelle Gefähr- 2 Stark gefährdet dung der Art nicht abgewendet, rückt sie voraussichtlich in die Kategorie „Vom Aussterben bedroht“ auf. Arten, die merklich zurückgegangen oder durch laufende bzw. absehbare menschliche Einwirkungen bedroht sind. Wird die aktuelle Gefährdung der Art 3 Gefährdet nicht abgewendet, rückt sie voraussichtlich in die Kategorie „Stark gefährdet“ auf. Extrem seltene bzw. sehr lokal vorkommende Arten, deren Bestände in der Summe weder lang- noch kurzfristig abgenommen haben und die auch nicht R Extrem selten aktuell bedroht, aber gegenüber unvorhersehbaren Gefährdungen besonders anfällig sind. Gefährdung Arten, die gefährdet sind. Einzelne Untersuchungen lassen eine Gefährdung G unbekannten erkennen, aber die vorliegenden Informationen reichen für eine exakte Zuord- Ausmaßes nung zu den Kategorien 1 bis 3 nicht aus. Die konkrete Vorgehensweise ist jeweils im Ein- tung von Prioritäten im Arten- und Biotop- führungstext der Liste erläutert, ebenso wei- schutz bieten. tere Festlegungen – etwa der Zeitraum ohne Nachweis, nach dem eine Art in die Kategorie Kennzeichnung gesetzlich geschützter Ar- „Ausgestorben oder verschollen“ einzustufen ten, Pflanzengesellschaften und Biotope ist. Bei den Listen der Pflanzengesellschaften und Biotope sind die aus fachlichen Gründen Der gesetzliche Schutz bestimmter Arten, Pflan- etwas abweichenden Definitionen zu finden. zengesellschaften und Biotope wird vermerkt, weil die Ermittlung des jeweiligen Schutzstatus 2.4. Die Zusatzangaben aus anderen Quellen durch die komplizierte Struktur des Artenschutzrechts aufwendig ist. In der Spalte „Bemerkungen“ werden zusätzli- Die Einträge stellen den Stand Oktober 2020 che Angaben gemacht, um den Informations- dar. Als weitere Quelle zur Feststellung des ge- gehalt der Roten Listen zu erweitern. Sie sollen setzlichen Schutzstatus von vielen, aber nicht vor allem eine zusätzliche Hilfe bei der Ablei- allen Arten kann das wissenschaftliche Infor- 15
mationssystem zum internationalen Arten- handhabt werden. Es sollten nur solche Arten schutz (www.wisia.de) genutzt werden. gekennzeichnet werden, die tatsächlich oder mit hoher Wahrscheinlichkeit genetische Be- Außerdem wurden die in den Anhängen der sonderheiten aufweisen oder aufgrund ihrer EG-Vogelschutzrichtlinie (I) und der FFH-Richt- isolierten Lage ein hohes Potenzial besitzen, linie (II, IV, V) verzeichneten Arten gekenn- solche auszubilden. Am ehesten ist dies für Ar- zeichnet. Die Bedeutung der Abkürzungen ist ten mit Vorkommen an typischen Reliktstand- Tabelle 4 bzw. der vorderen Umschlagsseite zu orten (Moore, Quellen und Quellbäche, Step- entnehmen. penrasen-Gebiete o. ä.) anzunehmen. Besondere Verantwortlichkeit Thüringens Als weltweit gefährdet sind Arten gekenn- für die globale Erhaltung zeichnet, die in der IUCN Red List of Threatened Species (http://www.redlist.org) als gefährdet Durch entsprechende Angaben soll die Verant- verzeichnet sind. wortlichkeit Thüringens für die globale Erhal- tung bestimmter Arten besonders hervorge- Letzter Nachweis hoben werden. Sie ergibt sich vor allem aus der Größe und der biogeographischen Lage der Bei ausgestorbenen oder verschollenen Arten thüringischen Vorkommen (Kategorien siehe (Kategorie 0) wurde in der Spalte „Bemerkun- Tabelle 3), daneben auch aus der weltweiten gen“ nach Möglichkeit das Jahr bzw. der Zeit- Gefährdung der Art. raum des letzten Nachweises in Thüringen an- gegeben. Bei Literaturangaben ohne konkretes Die hervorgehobenen Arten sind außer wegen Nachweisdatum ist gegebenenfalls das Jahr ihrer Gefährdung auch wegen der Bedeutung der letzten Meldung angegeben worden. der Thüringer Vorkommen für ihre globale Er- haltung in besonderem Maß zu schützen. Den Außerdem wurden Neobiota (nach 1492 einge- Angaben liegt meist das System von WestHus & wanderte Neubürger unserer Flora und Fauna) Fritzlar (2002) zugrunde. Die entsprechenden in den Bemerkungen zu manchen Listen mit Weiterentwicklungen bzw. bundesweit abge- „N“ gekennzeichnet. Sie sind in die Listen auf- stimmten Vorschläge (gruttke 2004, gruttke & genommen worden, soweit es sich um fest luDWig 2004) zur Ermittlung der Verantwort- eingebürgerte Arten handelt, die bereits ein lichkeit verlangen Informationen zur Gesamt- mehr oder weniger deutliches Areal aufwiesen situation in den jeweiligen Artarealen, die den bzw. aufweisen (mehr als fünf eingebürgerte meisten Autoren der Thüringer Listen nicht zur Vorkommen) sowie einem Rückgang und einer Verfügung stehen bzw. nicht mit zumutbarem Gefährdung unterliegen. In vielen Listen wur- Aufwand erhoben werden konnten. Arten, für den Neobiota nicht bewertet. deren weltweite Erhaltung Thüringen eine be- sondere Verantwortung trägt, wurden nur für In den Einführungstexten mancher Roten Listen Artengruppen selektiert, zu denen eine ausrei- finden sich weitere Informationen, beispiels- chende (in der Regel das Gesamtareal umfas- weise zu einstufungsrelevanten Risikofaktoren sende) Informationsbasis vorliegt. Aufgrund oder konkreten Gründen für Kategorieände- dieser Einschränkungen konnten nur wenige rungen bei Arten, Pflanzengesellschaften und Gruppen bzw. nur wenige Arten dieser Gruppen Biotopen, die durch Naturschutzmaßnahmen aus diesem Blickwinkel bearbeitet werden. In eine Bestandsstabilisierung oder -zunahme Abweichung zu WestHus & Fritzlar (2002) sollte erfahren oder die aufgrund des Klimawandels aufgrund der Empfehlung von gruttke & luDWig zu- oder abgenommen haben. (2004) die Ausweisung von Arten mit hochgra- dig isolierten Vorkommen noch restriktiver ge- 16
Tab. 4: Bedeutung der Abkürzungen und Zeichen in den Roten Listen Thüringens Abkürzung Bedeutung Gefährdung 0 Ausgestorben oder verschollen 1 Vom Aussterben bedroht 2 Stark gefährdet 3 Gefährdet R Extrem selten G Gefährdung unbekannten Ausmaßes Bemerkung § Besonders geschützt nach § 7 Abs. 2 Nr. 13 BNatSchG * §§ Streng geschützt nach § 7 Abs. 2 Nr. 14 BNatSchG * EU Art des Anhangs I der EG-Vogelschutzrichtlinie bzw. der Anhänge II, IV und V der FFH- Richtlinie* EU! Prioritäre Art der FFH-Richtlinie* E Endemit, d. h. in Thüringen endemische Art bzw. Sippe und Art bzw. Sippe, die außer in Thüringen nur in wenigen weiteren Gebieten vorkommt („subendemische Sippe“) K Art mit sehr kleinem mitteleuropäischen Areal I Art mit hochgradig isoliertem Vorkommen W Weltweit gefährdete Art (nach IUCN Red List of Threatened Species: http://www.iucnredlist.org/)** Hinweise: * Die Angaben zum gesetzlichen Schutz entsprechen dem Stand Oktober 2020, können aber geändert werden oder in Einzelfällen fehlerhaft sein; im Zweifelsfall gelten die jeweils aktuellen Bestimmungen. ** Die Gefährdungsangabe nach IUCN Red List wird kontinuierlich aktualisiert. Die Kennzeichnung „W“ umfasst auch Arten, deren Gefährdungsangabe aufgrund einer länger als zehn Jahre zurückliegenden Bewertung als „needs updating“ gekennzeichnet ist. Aufgenommen sind nur die nach globaler Bewer- tung („global assessment“) der Bestände gefährdeten Arten. Sofern nicht anders angegeben, bezieht sich die Gefährdung auf Version 2020-3 der IUCN-Liste. In einzelnen Listen werden weitere Zusatzangaben gemacht bzw. weitere Abkürzungen verwendet; die Erklärungen zu diesen Abkürzungen erfolgt am Ende der jeweiligen Liste. 17
3. Überblick über die Gefährdung und ihre Ursachen 3.1 Die Gefährdungssituation und ihre Ver- Für die vorliegenden Roten Listen wurden änderung in den letzten zehn Jahren 16.972 in Thüringen vorkommende Taxa aus 44 Gruppen betrachtet. Davon wurden insgesamt Einen Überblick über die Gefährdungssituation 16.023 Arten hinsichtlich ihrer Gefährdung aller berücksichtigten Artengruppen, Pflanzen- untersucht. Danach sind 6.383 (= 39,8 %) der gesellschaften und Biotoptypen bietet Tabelle 5. bewerteten Arten in unterschiedlichem Maße in den Gefährdungskategorien der Roten Liste eingestuft. Hiervon sind 1.104 Arten (= 6,9 %) in Thüringen ausgestorben oder verschollen. Tab. 5: Bestandszahlen und Gefährdung von Artengruppen, Pflanzengesellschaften und Biotoptypen in Thüringen Anzahl Gefährdung nach Roter Liste Anzahl bewertet Absolute Anzahl gesamt (= 100 %) Anteil in % 0 1 2 3 R G 0–G Arten 16.489 16.023 1.104 1.157 1.423 1.601 638 458 6.383 6,9 7,2 8,9 10,0 4,0 2,9 39,8 32 33 33 34 13 5 150 - Wirbeltiere 352 317 10,1 10,4 10,4 10,7 4,1 1,6 47,3 677 637 634 737 217 109 3.013 - Wirbellose Tiere 6.716 6.562 10,3 9,7 9,7 11,2 3,3 1,7 45,9 239 284 533 593 256 1.905 - Pflanzen 4.128 4.015 − 6,0 7,1 13,3 14,8 6,4 47,4 - Pilze (inkl. phytop. 156 203 223 237 152 344 1.315 5.293 5.129 Kleinpilze) 3,0 4,0 4,3 4,6 3,0 6,7 25,6 Pflanzengesell- 755 750 6 57 115 114 20 10 322 schaften 0,8 7,6 15,3 15,2 2,7 1,3 42,9 Biotoptypen 205 199 4 20 28 25 3 80 − 2,0 10,1 14,1 12,6 1,5 40,2 alle Gruppen 17.442 16.972 1.114 1.234 1.566 1.740 661 468 6.785 6,6 7,3 9,2 10,3 3,9 2,8 40,0 18
Tab. 6: Bearbeitete Artengruppen, ihre Artenzahl und der Anteil gefährdeter Arten in Thüringen Artengruppe Arten Arten Gefährdete Arten gesamt bewertet Absolute Anzahl (= 100 %) Anteil in % 0 1 2 3 R G 0–G Säugetiere (Mammalia pt.) 55 47 3 6 5 5 − 2 21 ohne Fledermäuse 6,4 12,8 10,6 10,6 4,3 45,0 Fledermäuse 21 21 1 3 9 4 1 1 19 (Mammalia: Chiroptera) 4,8 14,3 42,9 19,0 4,8 4,8 90,5 Brutvögel 205 183 20 13 11 16 12 − 72 (Aves) 10,9 7,1 6,0 8,7 6,6 39,3 Kriechtiere 6 6 − 1 1 3 − − 5 (Reptilia) 16,7 16,7 50,0 83,3 Lurche 19 19 − 4 4 5 − − 13 (Amphibia) 21,1 21,1 26,3 68,4 Fische und Rundmäuler 46 41 8 6 3 1 - 2 20 (Pisces et Cyclostomata) 19,5 14,6 7,3 2,4 4,9 48,8 Schnecken und Muscheln 216 193 12 26 17 30 14 - 99 (Mollusca) 6,2 13,5 8,8 15,5 7,3 51,3 Asseln 31 28 - 1 3 - - 3 7 (Isopoda) 3,6 10,7 10,7 25,0 Libellen 66 63 1 5 6 6 5 - 23 (Odonata) 1,6 7,9 9,5 9,5 7,9 36,5 Wildschaben 8 4 - − − 1 1 − 2 (Blattoptera) 25,0 25,0 50,0 Heuschrecken 58 57 2 1 5 6 4 − 18 (Orthoptera) 3,5 1,8 8,8 10,5 7,0 31,6 Ohrwürmer 6 6 1 1 1 − − − 3 (Dermaptera) 16,7 16,7 16,7 50,0 Zikaden 489 478 13 43 48 67 1 16 188 (Hemiptera: Auchenorrhyncha) 2,7 9,0 10,0 14,0 0,2 3,3 39,3 Wildlebende Schildläuse 57 36 − − − 2 4 − 6 (Coccina) 5,6 11,1 16,7 Wanzen 686 671 57 52 43 66 46 5 271 (Heteroptera) 8,5 7,7 6,4 9,8 6,9 0,7 40,1 Laufkäfer 411 411 42 54 53 53 8 − 210 (Coleoptera: Carabidae) 10,2 13,1 12,9 12,9 1,9 51,1 Wasserkäfer 257 257 31 17 18 28 11 − 105 (aquatische Coleoptera) 12,1 6,6 7,0 10,9 4,3 40,9 Buntkäfer, Malachitkäfer etc. 65 64 6 3 4 4 5 2 24 (Coleoptera: Lymexyloidea et 9,4 4,7 6,3 6,3 7,8 3,1 37,5 Cleroidea) Schnellkäfer, Weichkäfer etc. 224 224 25 15 8 11 13 − 72 (Coleoptera: Elateroidea et Dero- 11,2 6,7 3,6 4,9 5,8 32,1 dontoidea) Aaskäfer, Nestkäfer etc. 401 387 65 35 22 36 29 9 196 (Coleoptera: Silphidae, Tenebrio- 16,8 9,0 5,7 9,3 7,5 2,3 50,6 nidae etc.) 19
Artengruppe Arten Arten Gefährdete Arten gesamt bewertet Absolute Anzahl (= 100 %) Anteil in % 0 1 2 3 R G 0–G Prachtkäfer 70 68 13 9 10 9 − 1 42 (Coleoptera: Buprestidae) 19,1 13,2 14,7 13,2 1,5 61,8 Bockkäfer 159 148 26 9 7 26 9 2 79 (Coleoptera: Cerambycidae) 17,6 6,1 4,7 17,6 6,1 1,4 53,5 Blattkäfer 408 407 45 40 62 71 1 − 219 (Coleoptera: Chrysomelidae) 11,1 9,8 15,2 17,4 0,2 53,8 Rüsselkäfer 832 826 134 48 45 60 46 30 363 (Coleoptera: Curculionoidea) 16,1 5,8 5,4 7,2 5,5 3,6 43,7 Keulhornblatt-, Holz- und 30 30 5 3 3 − − 11 22 Schwertwespen 16,7 10,0 10,0 36,7 73,3 (Hymenoptera: Cimbicidae, Siricidae, Xiphydriidae) Bienen 416 416 43 72 61 56 7 − 239 (Hymenoptera: Apidae) 10,3 17,3 14,7 13,5 1,7 57,5 Grabwespen 196 194 22 39 50 10 − 5 126 (Hymenoptera: Ampulicidae, Sphecidae, Crabronidae) 11,3 20,1 25,8 5,2 2,6 64,9 Ameisen 84 83 5 6 11 14 1 2 39 (Hymenoptera: Formicidae) 6,0 7,2 13,3 16,9 1,2 2,4 47,0 Köcherfliegen 208 208 9 24 26 23 4 22 108 (Trichoptera) 4,3 11,5 12,5 11,1 1,9 10,6 51,9 Tagfalter 133 129 14 22 10 15 1 − 62 (Lepidoptera: Papilionoidea) 10,9 17,1 7,8 11,6 0,8 48,1 Widderchen 18 18 1 2 3 5 − − 11 (Lepidoptera: Zygaenidae) 5,6 11,1 16,7 27,8 61,1 Spinner und Schwärmer 143 142 14 12 12 18 1 1 58 (Lepidoptera: Hepialidae, 9,9 8,5 8,5 12,7 0,7 0,7 40,9 Limacodidae, Cossidae etc.) Eulenfalter 423 402 46 44 51 43 2 − 186 (Lepidoptera: Noctuidae, 11,4 10,9 12,7 10,7 0,5 46,3 Pantheidae, Nolidae) Spanner 353 344 28 33 25 25 4 − 115 (Lepidoptera: Geometridae) 8,1 9,6 7,3 7,3 1,2 33,4 Langbeinfliegen 268 268 17 21 30 52 − − 120 (Diptera: Dolichopodidae) 6,3 7,8 11,2 19,4 44,8 Farn- und Blütenpflanzen 2.100 1.994 101 136 287 231 55 − 810 (Pteridophyta et Spermatophyta) 5,1 6,8 14,4 11,6 2,8 40,6 Moose 820 814 42 44 92 129 69 11 387 (Bryophyta) 5,2 5,4 11,3 15,8 8,5 1,4 47,5 Armleuchteralgen 18 18 1 1 8 5 1 − 16 (Charophyceae) 5,6 5,6 44,4 27,8 5,6 88,9 Süßwasser-Rotalgen 21 21 1 2 2 10 3 − 18 (Rhodophyceae) 4,8 9,5 9,5 47,6 14,3 85,7 20
Artengruppe Arten Arten Gefährdete Arten gesamt bewertet Absolute Anzahl (= 100 %) Anteil in % 0 1 2 3 R G 0–G Flechten 1.169 1.168 94 101 144 218 127 17 701 (Lichenes) 8,0 8,6 12,3 18,7 10,9 1,5 60,0 Pilze 4.403 4.273 20 153 172 180 137 328 990 (Fungi) 0,5 3,6 4,0 4,2 3,2 7,7 23,2 phytoparasitische Kleinpilze 890 856 136 50 51 57 15 16 325 (Ustilaginomycetes, …, 15,9 5,8 6,0 6,7 1,8 1,9 38,0 Albuginaceae) Arten gesamt 2021 16.489 16.023 1.104 1.157 1.423 1.601 638 458 6.383 6,9 7,2 8,9 10,0 4,0 2,9 39,8 Arten gesamt 2011 [ %] 16.981 16.814 6,7 7,2 9,1 10,3 6,5 1,0 40,8 Aus der vorliegenden Bewertung lassen sich hinsichtlich ihrer Standortqualitäten extrem Gefährdungsschwerpunkte für taxonomi- verändert wurden. Einige Arten sind selbst in sche Gruppen ableiten. Durch einen weit über ihren Sekundärlebensräumen gefährdet, etwa dem Durchschnitt liegenden Anteil gefährde- die Lurche an Abbaustellen. Mehrfach aufge- ter Vertreter zeichnen sich u. a. die Süßwasser- führt wurden u. a. auch Quellbiotope (Moo- Rotalgen, die Armleuchteralgen, die Lurche, se) und Arten der Äcker, die durch moderne die Kriechtiere, die Fledermäuse und eine Bewirtschaftungsmethoden immer mehr zu- Hautflüglergruppe (Keulhornblatt-, Holz- und rückgedrängt werden (Feldhamster, Blattkäfer, Schwertwespen) aus. Moose, Farn- und Blütenpflanzen). In vielen Roten Listen werden auch Gefähr- Besiedler nährstoffarmer Lebensräume sind dungsschwerpunkte für ökologische Grup- von den großräumigen Nähr- und Schadstof- pen genannt. Hiervon sollen nur die aufgeführt feinträgen (vgl. UBA o. J.) besonders betroffen. werden, die für mehrere Artengruppen Bedeu- Hierzu zählen epiphytisch wachsende Pflanzen tung haben. Gefährdet sind besonders Arten, (Flechten- und Moosarten), bestimmte Schne- die an Lebensräume mit extremen Standort- ckenarten, aber auch Mykorrhizapilze und My- bedingungen gebunden sind, z. B. sehr tro- korrhiza-abhängige Arten der Farn- und Blü- ckene, nasse oder nährstoffarme Biotope. Es tenpflanzen (z. B. Orchideen-, Wintergrün- und ist besorgniserregend, dass hier sehr oft Arten Bärlappgewächse). trockener Magerrasen hervorgehoben wurden, obwohl Thüringen aus bundesweiter Sicht für Zu den gefährdeten Arten zählen oft Pflanzen diese einen Verbreitungsschwerpunkt darstellt und Tiere, die die Übergangsbereiche (Ökoto- und für ihren Schutz eine besondere Verant- ne) zwischen unterschiedlichen Lebensräu- wortung trägt. Auch Arten anderer Lebens- men besiedeln. Die Schärfe der Abgrenzung räume, die in Thüringen jedoch schon immer zwischen Flächen mit Intensivnutzung und etwas seltener waren, werden aufgeführt, z. B. Flächen mit sehr geringer oder zeitweise feh- Bewohner von Mooren, Binnensalzstellen oder lender Nutzung hat zugenommen. Breite Über- von Sandlebensräumen (Blattkäfer, Moose). gangsbereiche, die für die bäuerliche Kultur- Immer wieder werden Bewohner von Auen- landschaft bezeichnend waren, sind zum Teil biotopen als besonders gefährdet hervorgeho- viel stärker gefährdet als die Biotope, die durch ben, da fast alle thüringischen Auen mit ihren sie verbunden werden. Flüssen durch den Menschen strukturell und 21
Etliche Arten sind auch auf besondere Biotop- Totholzbewohner sind besonders hervorzu- strukturen angewiesen. Teilweise sind ganze heben, da sie in verschiedenen Artengruppen spezialisierte Artengruppen ausgestorben, so einen hohen Anteil der gefährdeten Arten bil- z. B. sämtliche Arten der Mittelwälder unter den (Großpilze, verschiedene Käfergruppen, den Tagfaltern (tHust et al. 2001). Keine dieser Holzwespen). Arten konnte wiedergefunden werden. Auch Abb. 1: Verteilung der untersuchten Wirbeltiere, wirbellosen Tiere, Pflanzen, Pilze, Pflanzengesellschaften und Biotoptypen auf die Gefähr- dungskategorien 0 bis „Ungefährdet“ (inklusive Taxa der Vorwarnliste und aufgrund von Datenmangel nicht weiter bewerteter Taxa). Abb. 2: Verteilung der Arten ausgewählter Gruppen auf die Gefährdungskategorien 0 bis „Ungefährdet“ (inklusive Taxa der Vorwarnliste und aufgrund von Datenmangel nicht weiter bewerteter Taxa). 22
Vergleicht man die Anteile gefährdeter Arten hin. Noch dazu liegt diese Ab- oder Zunahme (Kategorien 0 bis G) im Jahr 2011 (TLUG 2011) in den meisten Gruppen unter 5 %. Trotz der mit denen in den vorliegenden Listen, so zeich- möglichst konsequenten Anwendung der nen sich nur teilweise Änderungen ab, die über vorgegebenen Bewertungsmethodik spielen zufällige Schwankungen hinaus interpretierbar Umstufungen aufgrund subjektiver Betrach- sind (Tabelle 6, Abb. 3). Meist liegt der Anteil der tungen (v. a. bei Wechsel des Bearbeiters) also gefährdeten Arten nur geringfügig über oder eine gewisse Rolle. unter den Angaben des Sammelbandes aus 2011 (Abb. 3). Vorherige starke Änderungen Betrachtet man einzelne Arten oder aber Ge- wie zwischen 2001 und 2011 waren vorwie- biete, sind einige positive Entwicklungen aus- gend in der veränderten Bewertungsmethodik zumachen; dem gegenüber steht aber meist begründet. Dieser Faktor fällt nun weg, sodass eine vergleichbare Anzahl an Arten, die nach wahrscheinlich auch deswegen die Verände- wie vor oder sogar noch stärker gefährdet sind. rungen geringfügiger ausfallen. Der Anteil der als „verschollenen“ oder „ausge- Der Anteil der gefährdeten Arten hat bei storben“ geltenden Arten ist zum Beispiel bei zwölf Gruppen zugenommen, während er bei den Artengruppen der Fische, Ameisen, Was- 19 Gruppen abgenommen hat. Diese Anzahl serkäfer oder Holzwespen gestiegen. Auffällig deutet nicht auf einen übergeordneten Trend und positiv sind allerdings die Erhöhung der Abb. 3: Anteil gefährdeter Arten in ausgewählten Gruppen 2001, 2011 und 2021. 23
Anzahl der bewerteten Arten sowie Wieder- Auswirkung des Gefährdungskomplexes auf funde ehemals verschollener Arten. Ohne diese die bearbeitete Gruppe: wäre die Anzahl der Arten, die in Kategorie 0 4 sehr groß geführt werden, noch stärker gewachsen. 3 groß 2 mäßig Auch in den letzten Jahren haben sich Verän- 1 gering derungen in der Natur vollzogen, die im Aus- 0 kaum vorhanden oder fehlend sterben von Arten, in einer Zunahme der Ge- Zudem war die Bewertung „nicht zu beurteilen fährdung, aber auch in einem Rückgang der / nicht relevant“ möglich. Bestandsbedrohung zum Ausdruck kommen. Eine zusammenfassende Analyse der Bedeu- Der Trend der Auswirkungen des Gefährdungs- tung einzelner Gefährdungsfaktoren und ihrer komplexes in den letzten zehn Jahren wurde Auswirkungen ist bei der Vielzahl der bearbei- ebenfalls in einer fünfstufigen Skala eingeschätzt: teten Gruppen schwierig. Maßnahmen, die be- 2 deutlich verringert stimmte Arten fördern, können für andere Ar- 1 verringert ten eine Gefährdung nach sich ziehen. 0 kaum verändert -1 erhöht Etliche Arten verdanken ihre frühere Verbrei- -2 deutlich erhöht tung historischen Landnutzungsformen bis Auch hier war die Bewertung „nicht zu beurtei- hin zu starken Nutzungseingriffen in den Na- len / nicht relevant“ möglich. turhaushalt (wie Übernutzung von Wäldern und Weiden bis hin zur Bodenerosion), die aus Um einen Vergleich mit den Erhebungen vor heutiger Betrachtung nicht nachhaltig sind. zehn Jahren zu ermöglichen (Fritzlar & WestHus Gefährdungsursachen wie Hochwasserschutz 2011), hat man sich weitgehend an die damalige und Verkehrssicherung stehen mit dem Sicher- Methodik angelehnt. Da innerhalb einer Gruppe heitsbedürfnis des Menschen im Zusammen- einzelne Arten ganz unterschiedlich reagieren hang. Bei der Umsetzung dieser Maßnahmen können (z. B. südlich verbreitete und arktisch- muss stärker auf Belange des Artenschutzes alpine Arten auf den Klimawandel), war eine Ver- Rücksicht genommen werden. So wie die ge- allgemeinerung erforderlich. Trotzdem erlaubt setzlich geschützten Arten, müssen auch die die Zusammenschau der Ergebnisse Aussagen hochgefährdeten Arten beachtet werden. zur Wirkung der einzelnen Gefährdungskomple- xe auf die Artenvielfalt. Bei der Interpretation ist 3.2 Die Gefährdungsursachen und ihre Ver- zu beachten, dass es sich um eine Zusammenfas- änderung in den letzten zehn Jahren sung der Einschätzungen über alle bewerteten Gruppen handelt. Für eine einzelne Artengruppe Um die Auswirkungen von Gefährdungsur- kann ein mit durchschnittlich geringer Wirkung sachen auf die gesamte Artenvielfalt besser eingeschätzter Gefährdungskomplex durchaus beurteilen zu können, wurden alle Autoren der sehr große Auswirkungen haben. So wurde über Roten Listen gebeten, diese für die von ihnen alle bewerteten Gruppen der „Aufgabe der fisch- bearbeitete Artengruppe einzuschätzen. Dabei wirtschaftlichen Nutzung“ nur geringe bis mäßi- sollten zum einen die Auswirkung insgesamt, ge Auswirkung beigemessen, während diese bei zum anderen der Trend in den letzten zehn den Armleuchteralgen als „sehr groß“ bewertet Jahren beurteilt werden. Die zahlreichen ein- wurde. Armleuchteralgen sind auf eine extensive zelnen Gefährdungsursachen wurden zu die- Teichnutzung angewiesen, weil hierdurch immer sem Zweck zu zwölf Gefährdungskomplexen wieder die für diese Arten günstigen konkur- zusammengefasst. Die Auswirkungen des je- renzarmen Wuchsorte entstehen. weiligen Gefährdungskomplexes wurden dann von den Bearbeitern auf einer fünfstufigen Ska- Die Autorinnen und Autoren von 25 Roten Lis- la eingeschätzt. ten haben die Bewertung vorgenommen. Eine Übersicht zu den Ergebnissen bietet Tabelle 7. 24
Tab. 7: Auswirkung von Gefährdungskomplexen auf die bearbeiteten Artengruppen und der Trend in den letzten zehn Jahren (in Klammern Mittelwerte) Gefährdungskomplex Auswirkungen Trend Ausmaß Rang- Stärke Rang- folge folge Intensivierung der landwirtschaftlichen Nutzung (Entwässe- rung, Grünlandumbruch, Einsaat, Flurbereinigung mit Beseiti- gung von Klein- und Saumstrukturen, Intensivweide u. -mahd, sehr groß−groß erhöht 1 2 Tiefpflügen von Äckern, Saatgutreinigung, Einengung des (3,5) (-0,8) Nutzpflanzenspektrums, hoher Biozid- und Düngemitteleinsatz) Nähr- und Schadstoffeinträge in Stand- und Fließgewässer erhöht−kaum und allen terrestrischen Lebensräume groß−mäßig 2 verändert 3 (2,7) (-0,7) Aufgabe der landwirtschaftlichen Nutzung (Brachfallen, (Ge- erhöht−kaum hölz-)Sukzession, zu geringe Nutzungsintensität, fehlende oder groß−mäßig 3 verändert 5 falsch angewandte Landschaftspflegeprogramme) (2,4) (-0,6) Direkte Zerstörung von Lebensräumen (Bebauung, Abbau und Abgrabung, Überschüttung, Versiegelung, wasserbauliche erhöht−kaum groß−mäßig Maßnahmen, Zerschneidung der Landschaft durch Verkehrs-, 4 verändert 4 (2,4) (-0,6) Siedlungs- und Industriebauten, Dorf- und Gebäudesanierung) Aufgabe historischer Waldnutzungsformen (Nieder-, Mittel- erhöht−kaum und Hudewälder), Ausdunklung der Wälder, Aufgabe Kahlschlag- groß−mäßig 5 verändert 10 wirtschaft (2,3) (-0,3) Klimawandel (bei feststellbaren Auswirkungen wie Vorkom- mäßig erhöht mensverlust und Habitatbeeinträchtigung) 6 1 (2,1) (-0,9) Intensivierung der forstwirtschaftlichen Nutzung (Entwässe- rung, verstärkter Holzeinschlag, verkürzte Nutzungszeiten, Defi- erhöht−kaum mäßig zite an Alt- und Totholz, hoher Biozideinsatz, Düngung, Kalkung, 7 verändert 7 (2,0) (-0,4) Erstaufforstung waldfreier Flächen) Intensivierung der fischwirtschaftlichen Nutzung von Stand- erhöht−kaum und Fließgewässern (erhöhter Fischbesatz, Düngung, starke mäßig−gering 8 verändert 9 Zufütterung, Teichausbau) (1,7) (-0,3) Invasive und andere problematische Arten (z. B. illegaler Fisch- erhöht−kaum besatz, Verbiss durch zu hohe Wilddichte) mäßig−gering 9 verändert 6 (1,5) (-0,5) Aufgabe der teichwirtschaftlichen Nutzung (fehlendes perio- mäßig−gering kaum verändert disches Ablassen, fehlende Bespannung, starke Verlandung) 10 11 (1,3) (-0,2) Auswirkungen von Sport- und Freizeitaktivitäten (Betreten, erhöht−kaum Befahren, Klettern, Wellenschlag, Störungen) mäßig−gering 11 verändert 8 (1,3) (-0,3) Entnahme und Beseitigung von Arten gering−kaum (Sammeln, Ausgraben, Bekämpfung) kaum verändert vorhanden 12 12 (+0,2) (0,7) Bedeutung der Zahlenwerte siehe Text Hinweis: Bei der Ermittlung des Trends ist zu betonen, dass es sich um ein Maß der Verbesserung oder Verschlechterung handelt, welches aus den aktuellen Angaben der Autoren errechnet wurde. Keinesfalls darf die Maßzahl der Trendstärke (z. B. -0,8) so aufgefasst werden, dass dies die Änderung der aktuellen Auswirkungs-Maßzahl (z. B. 3,5) im Vergleich zur Liste von 2011 (3,1) darstellt. 25
Intensivierung der landwirtschaftlichen Kontaktzonen sich besonders auf wirtswech- Nutzung selnde Rostpilze negativ auswirkt. Hinsichtlich der Auswirkungen der Gefähr- Der Einsatz von Bioziden wuchs in Deutsch- dungskomplexe auf die bearbeiteten Gruppen land bis zum Jahr 2017. Durch Herbizideinsatz, ergibt sich eine schon aus anderen Untersu- aber auch durch weitere Faktoren, hat ein gro- chungen bekannte Reihenfolge: Die insgesamt ßer Teil der Ackerwildkräuter einen stark rück- größte negative Auswirkung wurde wiederum läufigen kurzfristigen Trend und viele Arten der Intensivierung der landwirtschaftlichen mussten neu in die Rote Liste aufgenommen Nutzung beigemessen. Nach Auffassung der werden (korscH & WestHus 2021). Der verstärk- Autoren hat sich der Trend bei diesem Ge- te Einsatz von Glyphosat und die bereits seit fährdungskomplex in den letzten zehn Jahren langer Zeit stattfindende Ausdünnung der deutlich verstärkt. Intensiv genutzte Agrarräu- Samenbank durch intensive Herbizidbehand- me bieten immer weniger Arten Lebensraum. lung der Felder einschließlich ihrer Ränder hat Beim Ackerbau verschlechtern große Schläge, zur Folge, dass die Artenausstattung dieser enge ertragsoptimierte Pflanz- und Saatab- Flächen immer spärlicher und uniformer wird, stände und der zunehmende Anbau von Pflan- was sich auch auf phytophage Käfer auswirkt. zen zur Gewinnung von Bioenergie, verbunden Die Anwendung von Glyphosat im Grünland- mit einer Einengung der Fruchtfolge, die Le- bereich führt wahrscheinlich dazu, dass auch bensbedingungen z. B. für Feldhamster, Feld- häufige Arten wie Kleiner Halsbock Pseudo- spitzmaus, Maulwurf und Igel oder auch für vadonia livida oder Schwarzhörniger Flecken- bestimmte phytophage Insektenarten. bock Brachyta interrogationis vom Rückgang betroffen sind. Der Bestandstrend dieser auf Der Grünlandverlust hat sich seit 2010 fortge- kräuterreiche Wiesen und Säume angewiese- setzt (vgl. HocHBerg et al. 2013). Dementspre- nen Bockkäfer-Arten ist in den letzten Jahren chend wurde die Situation bei Wiesenvögeln stark rückläufig (Weigel 2021). Als hoch bedeut- wie Kiebitz und Braunkehlchen als besonders sam wird der Biozideinsatz (neben Insektiziden kritisch bewertet (JaeHne et al. 2021). Die Intensi- auch Herbizide!) bei Blattkäfern bewertet, da er vierung der Grünlandnutzung ist beispielswei- sich direkt gegen Blattkäfer (Kartoffelkäfer in se weiterhin für den dramatischen Rückgang Kartoffelkulturen; Kohlerdflöhe, Glanzkäfer und der Wiesenpilze verantwortlich, insbesondere Weißlinge in Kohlkulturen) und gegen deren bei Arten des mesophilen Grünlandes, die auf Wirtspflanzen (Ackerwildkräuter) wendet. Dies eine extensive Bewirtschaftung angewiesen hat direkte Relevanz, weil in Gemeinschaft mit sind (gminDer 2021). Für eine Reihe von Blüten- den „schädlichen“ Arten auch hochgefährdete pflanzen wirkt sich der vielfach stattfindende Arten leben. Nutzungswandel von gemähten Wiesen hin zu Rinderweiden negativ aus (korscH & WestHus Ein spezifisch auf phytoparasitische Pilze wir- 2021). Auch bei Quellmooren spielt nach eck- kender Gefährdungsfaktor ist der Einsatz von stein (2021) die zunehmende Beweidung (statt Fungiziden (tHiel & scHmiDt 2021). Einige Aus- der schonenderen Mahd) für die Gefährdung wirkungen des Einsatzes von Düngemitteln, von Moosen eine Rolle. Für Zikaden stellt der sich auf hohem Niveau bewegt, werden dagegen die immer häufiger durchgeführte weiter unten erläutert. und technisch perfekter werdende Mahd mit immer größeren Maschinen eine bedeutende Agrarumweltmaßnahmen (KULAP) sind ein Gefährdungsursache dar (nickel 2021). wichtiges Instrument, um negative Entwicklun- gen in der Agrarlandschaft aufzuhalten. Da die- Die nachteiligen Wirkungen der Flurbereini- se Maßnahmen vor allem auf noch vergleichs- gung sind schon mehrfach beschrieben wor- weise ertragreichen Standorten durchgeführt den. tHiel & scHmiDt (2021) heben hervor, dass werden, stabilisieren sie die Vorkommen oder eine Reduktion von Biotopkomplexen und verzögern den Rückgang seltener bis mäßig 26
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