Diesseits Schauplatz Schweiz - Quinten lebt

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Diesseits Schauplatz Schweiz - Quinten lebt
Schauplatz Schweiz

 Jenseits vom
 Diesseits

 Das Hauptverkehrsmittel
 von Quinten: Im 60-plätzigen
 Motorschiff »Alvier« fände
 die gesamte Einwohner-
 schaft von Quinten bequem
 auf einmal Platz

 Auf der Nordseite des Walensees liegt ein mediterran anmutender Ort:
 Quinten. Für Tagestouristen ist das Dorf das Paradies, für Einheimische
 manchmal eine Herausforderung. Jetzt soll sich in Quinten einiges
 ändern – und zwar, damit sich nicht alles von selbst ändert

 Text: Thomas Kaiser, Fotos: Christian Beutler/Keystone

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Diesseits Schauplatz Schweiz - Quinten lebt
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 Quinten, ein
 kleines Schiff-
 fahrtszentrum:
 Hinter dem Hafen
 und dem Haus gestreut, wo die steilen Hänge der Churfirsten
 Zur alten Post, gerade noch etwas Platz bieten für Wiesland oder
 einem ehemaligen Rebbau, und wo Schutt und Schotter kleine Land-
 Gasthaus für zungen gebildet haben.
 Schiffsreisende, Die grösste Häusergruppe ist das sogenannte
 steht die St.-Bern- Dörfli. Eine Felswand weiter rechts folgen Au,
 hards-Kapelle. Schilt, Gand, Gändli, einen Rebberg weiter links
 Der Walensee ist Laui, Laueli, Tscherüti. Nah am Berg steht ganz
 in dem kleinen
 Quinten. Ob den Häusern wölben sich Felstürme
 Sakralbau in Form
 DAS LEBEN, SO HEISST ES, beginnt mit einem Schrei vor, an die sich erst noch eine üppige Vegetation
 eines Decken-
 und endet mit einem Seufzer. In Quinten, so sagt gemäldes präsent klammert, bis das Grün schliesslich nur noch aus
 man, folgt auf den ersten Schrei und auf den letz- Tannen besteht und aus kargem, von Geröll durch-
 ten Seufzer jeweils dasselbe: eine Schifffahrt über zogenem Gras. Gut 1500 Höhenmeter über Quin-
 den Walensee. Denn geboren werden die meisten ten scheint schliesslich ein Felsband die zerschrun-
 Quintnerinnen und Quintner im Spital Walen- denen Gipfel und Grate der Churfirsten zusam-
 stadt, ihre letzte Ruhe finden sie auf den Fried- menzuhalten. Doch bei Regen und Frost löst sich
 höfen der Pfarrei Quarten. immer wieder Steinschlag, und im Winter stiebt der
 Vom Dorf Quarten aus erscheint Quinten win- Schnee durch die Tobel bis zu den Rebbergen am
 zig. Kaum mehr als ein paar kalkweisse und holz- See hinab. Manchmal liegt der Lawinenschnee
 braune Punkte sind über den fjordähnlichen, gut noch dann ob den Häusern, wenn am Ufer bereits
 1500 Meter breiten Walensee hinweg erkennbar. Zaun- und Mauereidechsen über die Trockenstein-
 Bald einzeln, bald in kleinen Gruppen scheinen mauern huschen und sich Schling-, Ringel- oder
 die wenigen Häuser und Höfe dort ans Ufer hin- Äskulapnattern an die Sonne schlängeln.

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Siedlung am
 Seeufer und
 Berghang: Vor
 Quinten liegt der
 rund 150 Meter
 tiefe Walensee.
 Hinter Quinten
 ragen gut
 1500 Meter die
 Gipfel der
 Churfirsten auf

 »Manchmal scheint es in
 Quinten einfacher, eine Gämse beim
 Äsen am Seeufer zu beobachten,
 als Einheimische aufzuspüren«

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»Auswärts weilen,

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 WISCHEN DEM ERSTEN Schrei und das heisst erst einmal:
 dem letzten Seufzer sollte sich das Le-
 ben vollziehen. An Quinten, so scheint über den See fahren«
 es, zieht das Leben jedoch vorbei. Spät-
 nachts noch sind auf der gegenüberliegenden See-

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 seite Lichterschlangen zu sehen, die sich in Rich- I E T M A R W U R Z E R K E N N T alle Quint-
 tung Sargans oder Ziegelbrücke bewegen. Innert nerinnen und Quintner. Von vielen
 24 Stunden verkehren am Ufer jenseits von Quin- kennt er auch die Tagesabläufe, von den
 ten 26 Güter- und 150 Personenzüge, auf der Quintner Schulkindern gar die Stun-
 Autobahn A3 werden pro Tag mehr als 35 000 denpläne. Und wenn Dietmar Wurzer morgens
 Fahrten registriert. um Viertel vor sieben Uhr den Landesteg Au an-
 Strassen gibt es in Quinten keine, und die Kies-, steuert, dann stehen die Schulkinder schon bereit,
 Wald- und Wanderwege werden höchstens mal um sich im Motorschiff „Alvier“ nach Murg fah-
 von einem Aebi mit Heuladung, einem kleinen ren zu lassen.
 Raupenfahrzeug der Marke Honda oder einem Ein Schulhaus gibt es zwar in Quinten, aber in
 roten Mofa befahren. Letzteres steht allerdings diesem warten Handarbeit- und Geschenkartikel
 meist idyllisch am Wegrand ausserhalb des Dör- auf Touristen, und längst keine Kinder mehr auf
 fli. Und manchmal scheint es in Quinten ein- den Unterricht. 1973 wurde die Schule auf Geheiss
 facher, eine Gämse beim Äsen am Seeufer zu beo- der Behörden geschlossen, der Lehrer entlassen:
 bachten, als Einheimische aufzuspüren. Denn Fünf Schulkinder waren dem Kanton St. Gallen zu
 erstens gibt es nicht sehr viele Quintnerinnen wenig. Heute erleben die jungen Quintnerinnen
 und Quintner: 40 sind es derzeit. Und zweitens und Quintner den ersten Schultag in Murg. Nach
 weilen viele der wenigen Quintnerinnen und zwei Jahren wechseln sie nach Quarten, dann nach
 Quintner tagsüber auswärts. Mols, schliesslich nach Unterterzen. Derzeit fah-
 Auswärts weilen, das heisst erst einmal: über ren vier Kinder in der „Alvier“ zur Schule.
 den See fahren. Dorthin übersetzen, wo nicht nur Dietmar Wurzer fährt seit drei Jahren über den
 der Verkehr vorbeizieht, sondern auch das poli- See; zwei Jahre dauerte zuvor seine Ausbildung
 tische Leben beheimatet ist. Denn mit Murg, Un- vom Leichtmatrosen zum Schiffsführer. Nur sel-
 terterzen, Oberterzen, Quarten und Mols liegen ten setzt er sich auf den Barhocker hinter dem
 fünf der sechs Dörfer, die zusammen mit Quinten hölzernen Steuerrad, meist balanciert er den Wel-
 die politische Gemeinde Quarten bilden, auf der lengang gelassen im Stehen aus. Hinter dem ge-
 Südseite des Walensees. Und auf ebenjener Seite bürtigen Österreicher, der der Liebe wegen in die
 gibt es nicht nur amtliche Formulare, sondern Walensee-Region zog, gibt es auf roten Sitzbän-
 auch das, was sonst im Alltag meist vonnöten ist: ken Platz für 35 Personen und eine schlichte Art
 Einkaufs- und Arbeitsmöglichkeiten. von Gemütlichkeit: Mit Messing-Ankern verzier-
 Eine gute Chance, Einheimische anzutreffen, te Lämpchen zieren die Fenster des Innenraums,
 bietet darum das Kursschiff „Alvier“. Dieses ver- das Brummen des Heckmotors wird von leiser
 kehrt zwischen Murg, Au und Quinten, und pas- Radiomusik begleitet. Draussen gibt es nochmals
 siert im Winter die Grenze zwischen Sonnenlicht Platz für 25 Gäste.
 und Schattenreich. Denn wenn die Sonne kaum Dietmar Wurzer kennt nicht nur den Wellen-
 mehr über den Flumser- und Kerenzerberg hin- gang und die Windverhältnisse auf dem Walensee,
 auskommt, bleibt es auf der Südseite des Walen- er kennt auch die Eigenheiten der „Alvier“, die be-
 sees stellenweise bis zu drei Monaten lang schat- reits vor rund 100 Jahren als „Dornröschen“ den
 tig. Dann erscheint Murg nahezu leblos, obwohl Zugersee befuhr und seither einige Male umgebaut
 es hier zwei Schiffs-Landestege gibt, und obwohl wurde. Dietmar Wurzer ist gelernter Flugzeug-
 zwischen Murg Ost und Murg West auch noch mechaniker; in der Werft des Schiffsbetriebs
 Murg City liegt. Doch im Winter legt die „Alvier“ Walensee AG kümmert er sich zusammen mit sei-
 in Murg Ost gar nicht erst an; der nahe Camping- nen Schiffsführerkollegen nicht nur um die
 platz ist dann verwaist, der nahe Parkplatz leer. „Alvier“, sondern auch um die Motoren, Lackierun-
 Murg City ist zudem keine Innenstadt, sondern gen und die Überholung der weiteren Flotten-
 ein Restaurant. Eines, wo noch Aromat und schiffe – und manchmal, wie nach den Winter-
 Maggi auf den Tischen stehen, und am Nachmit- stürmen Burglind und Evi, auch um grössere
 tag ältere Damen einen Jass klopfen. Reparaturen. Evi fuhr im Januar mit Böenspitzen

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Mit Quinten
 verbunden:
 von über 130 Kilometern pro Stunde über den See, Susanne Hard-
 Das Unglück von 1570 soll 46 Menschen das Le-
 fällte in Quinten zahlreiche Bäume und beschä- egger ist Bäuerin ben gekostet haben. Einige Reisende konnten sich
 digte im Hafen von Unterterzen die Walensee-Flot- und sorgt sich in offenbar noch „uff dess schiffs boden“ retten und
 tenschiffe. Und Evi machte auch erahnbar, was Quinten unter schliesslich, „mit grosser angst und not“, Quinten
 sich im Januar 1570 auf dem Walensee ereignete. anderem um einen erreichen. Die heutigen Schiffsführer kennen den
 halben Hektar Westwind, den Föhn, die Stürme, doch Unglücks-
 grossen Rebberg. fälle haben Dietmar Wurzer und seine Kollegen

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 M 11. JENNERS, Vormittag zwüschet Dietmar Wurzer ist keine erleben müssen. Keine Katastrophe wie
 acht und nün urr, kam ein unversähen- Schiffsführer und 1850, als vor Weesen die „Delphin“ versank, der
 sorgt sich unter
 licher wind, und kart underobsich ein erste Schraubendampfer der Schweiz. In einer
 anderem um die
 schiff, welches mit lüthen, wyn und Dezembernacht stampfte die „Delphin“ wohl so
 Technik der
 saltz überladen.“ So steht es in der Nachrichten- Walensee-Schiffe
 stark gegen Wind und Wellen an, dass der Heiz-
 sammlung des Zürcher Chorherrn Johann Jakob kessel überhitzte und explodierte. 13 Menschen
 Wick aus dem 16. Jahrhundert. Der „undergang kamen ums Leben. Ein solcher Unglücksfall, sagt
 eines schiffs uff dem Walenstatter see“ wird in der Dietmar Wurzer, sei dank den heutigen Schiffen
 Chronik gar mit einer Federzeichnung festgehal- und Frühwarnsystemen nicht mehr möglich.
 ten: Links zu sehen sind die Felsen vor Quinten, Doch warum liessen sich im Januar 1570 Men-
 davor recken Menschen die Arme aus dem Was- schen wie Anthoni von Molina aus dem Calanca-
 ser, klammern sich an Planken, Weinfässer, Salz- tal oder Hans Nouwer aus Splügen dazu bewegen,
 kisten. Und während manche Reisende verzwei- in Walenstadt auf ein Schiff zu steigen? Und war-
 felt versuchen, sich und andere Verunglückte auf um fuhr in der „Delphin“ jener Franz Kyd mit,
 den Schiffsrumpf zu ziehen, während Pferde teils dessen später geborgene Uhr mit Viertel nach
 kopfüber in den Wellen entschwinden, bläst von eins noch den Zeitpunkt des Unglücks anzeigte?
 Walenstadt her eine pausbäckige, allegorische Der Verkehr und Warentransport in Richtung
 Windgestalt unablässig den Föhn über den See. Bündner Alpenpässe und nach Zürich war auf

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dem Seeweg schlicht einfacher zu bewerk-
 »Und ein Rathaus
 stelligen als am Südufer des Walensees, wo es bis soll Quinten auch endlich
 1856 kaum mehr als Karrenwege gab, und wo zu-
 dem Hindernisse wie der steile Kerenzerberg erhalten«
 warteten.
 Der kürzeste Weg über den 15 Kilometer lan-
 gen, leicht nach Süden ausgebauchten See führt
 über Quinten. Hier legten nach einer einstündi- tisch angehauchten Walensee erscheint. Wegen
 gen Fahrt von Walenstadt her auch die Nachtpost- der weihnachtlichen Mitternachtsmesse, wäh-
 schiffe an; Ruderboote, die von Schiffsknechten rend der die Kapelle bis auf den letzten Platz
 geführt wurden, und in denen nebst Waren bis zu gefüllt ist. Wegen dem Adventskalender-Weg
 15 Reisende Platz fanden. Im damaligen Wirts- zwischen Dörfli und Au, auf dem mitunter leben-
 haus Sonne, dem heutigen Haus Zur alten Post, de Tiere zu bestaunen sind. Wegen der Fronleich-
 wurde gerastet, bevor es eine Stunde lang weiter namsprozession, die auf den See hinausführt.
 über den See nach Weesen ging, wo um zehn Uhr Wegen dem einzigen Quintner Verein, dem Mili-
 abends die Postkutsche die Reisenden und Waren tärschützenverein, und wegen der historischen
 aufnahm. Geissenställe, die gleich unter dem 300-Meter-
 Quinten war aber nicht nur Rastort, sondern Schiesstand am Hang stehen. Oder wegen Johann
 zeitweilig auch ein kleines Schiffsbauzentrum. Im Melchior Kubli, dem einstigen Senatspräsidenten
 Schilt wurden die sogenannten Quintner Weid- der Helvetischen Republik, der inQuinten Rebbau
 linge gezimmert, mit Stehrudern ausgerüstete betrieb, Feigen pflanzte, Schafe hielt.
 Flachboote. Gebaut wurden hier auch Motorboo- Bevor es Johann Melchior Kubli noch einmal in
Gastwirtin und te; das Schild der „Libertas“, die ab 1936 den See die Politik zog, bevor er 1815 Regierungsrat des
Hobbyhistorikerin befuhr, hängt heute noch an einer Hauswand. Kantons St. Gallen wurde, dachte er in Quinten
aus Leidenschaft: wohl noch manches Mal an Anna Göldi, an die
 sogenannt letzte Hexe Europas: Als Gerichts-

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Cecile Lieberherr
hat die Lebens- AS LEBEN IN Quinten beginnt an Ostern. schreiber hatte Johann Melchior Kubli 1782 dafür
geschichte von Dann füllen sich allmählich die Plätze gesorgt, dass der Fall Anna Göldi über die Landes-
Johann Melchior auf der „Alvier“ und in den beiden Res- grenzen hinaus publik wurde. Die Verurteilung
Kubli recherchiert. taurants im Dörfli. Dann steuern auch und Enthauptung von Anna Göldi als Giftmische-
Mit ihrem Mann
 die grossen Walenseeschiffe wieder regelmässig rin und Kindsmörderin sorgte für Empörung – und
Toni Lieberherr
 die „Riviera der Ostschweiz“ an, wie Quinten auf- war der letzte Malefizprozess in Westeuropa.
wohnt und wirtet
 grund seines mediterranen Klimas genannt wird.

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sie im Haus des
einstigen Senats- Im Hafen werden ab da der Grossteil der rund E N N C E C I L E L I E B E R H E R R von
präsidenten der 200 000 jährlichen Ein- und Ausstiege verbucht; Johann Melchior Kubli spricht, dann
Helvetischen die eine Hälfte entfällt auf die grossen Ausflugs- erscheint der Glarner Staatsmann
Republik schiffe, die andere Hälfte auf die Querverbindung nahezu vom Format eines Jean-Jac-
 mit Murg. Nach Ostern werden in Quinten Fei- ques Rousseau, jenem Philosoph der Aufklärung,
 genbäume und Palmen bestaunt, knirschen Wan- der seine glücklichsten Tage auf der Petersinsel
 derschuhe über die Kieswege, spähen Touristen im Bielersee verbrachte. Und vielleicht erlebte
 neugierig in die Wohnung von Marc Antoni Nay. Johann Melchior Kubli seine besten Tage in Quin-
 Vorhänge hat der aus Graubünden stammende ten am Walensee.
 Kunsthistoriker keine, dafür ein Klavier und eini- Sicher setzte er sich hier für das Gemeinwohl
 ges Wissen über Quinten; jenen Ort, den er vor ein, und er sorgte auch für die Revolution des
 einigen Jahren gefunden hat, als er eigentlich auf Rechnungswesen: Die Steuern wurden unter sei-
 der Suche nach einer Bleibe am Meer war. ner Anleitung nicht mehr wie zuvor bloss mit
 Für den Kunsthistoriker ist Quinten Insel und Kreide auf dem Boden eines Holzgefässes
 Oase zugleich; Insel wegen dem Schiffsweg, Oase geschrieben, sondern ordentlich mit Tinte in
 wegen dem Klima, den Feigen hinter dem Haus, Büchern festgehalten. Gut möglich, dass Johann
 dem Rebberg unter dem Balkon. Und für ihn Melchior Kubli auch den Blauen Thuner nach
 bildet Quinten ein ganzjähriges Faszinosum. Quinten gebracht hatte, eine Rebsorte, die früher
 Wegen der St. Bernhards-Kapelle, auf deren in Bern beheimatet war. Bei der Alten Post gedeiht
 Deckengemälde der heilige Bernhard von Clair- ein solcher Rebstock noch immer; über 100 Jahre
 vaux in Rokoko-Manier über einem impressionis- ist er alt.

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Der ehemalige Architekt kam 1984 nach Quinten.
 Nachkommen hat er keine, sein Heim und Erbe
 soll Quinten zugunsten kommen. Hanspeter
 Stüssys Vision und Wille ist, dass dereinst vor sei-
 nem Haus, dem künftigen Rathaus, ein Uferweg
 vorbeiführt, auf dem Menschen spazieren, rasten,
 den See und die Aussicht geniessen können. Vom
 Rathaus aus führt dieser Weg über eine Brücke
 zum „letzten Hafen“, einem Urnen-Friedhof, der
 sich zum See hin öffnet, und in dessen Trocken-
 mauern Eidechsen leben, Blumen gedeihen.
 Hanspeter Stüssy will über seine Vision und sei-
 nen letzten Willen nicht mehr allzu viel sagen,
 sich selbst auch nicht öffentlich zeigen. Es ginge
 schliesslich um Quinten, um dessen Zukunft, und
 Der Weiler Schilt: nicht um ihn, den Siebzigjährigen.
 Cecile Lieberherr wohnt mit ihrem Mann Toni Aus dem Wohn- Und wie sehen die letzten Bauern die Zukunft
 dort, wo der 85-jährige Kubli im Jahr 1835 gestor- haus von Hans- von Quinten? Susanne und Urs Hardegger leben
 peter Stüssy, einer
 ben ist; in jenem kalkweiss getünchten Glarner in der Au, zusammen mit den Töchtern Jessica,
 historischen
 Herrenhaus, das von der Laui aus weit über den See Janine und Anja; drei der vier Schulkinder, die
 Schiffswerft, soll
 strahlt. Vor 34 Jahren kam Cecile Lieberherr nach dereinst das
 derzeit über den See zur Schule fahren.
 Quinten. Sie hat die Lebensgeschichte von Johann Rathaus von Zu Haus und Hof gehören ein Beizli, vier Mut-
 Melchior Kubli recherchiert, ihre Tochter Nicole Quinten werden. terkühe, zwei Rinder, zehn Schafe, zwanzig Zie-
 Lieberherr hat das erste und bislang einzige Buch Projektiert ist auf gen, zwei Esel, einige Katzen, ein halber Hektar
 über den Staatsmann publiziert. Jetzt will Cecile dem Grundstück Rebberg und viel Arbeit. Das Land ist trocken und
 Lieberherr noch einen Sommer lang Gäste im auch der Urnen- steinig, die Wiesen sind abschüssig, teils abgele-
 Kubli-Haus empfangen und in der Ferienwohnung friedhof »der gen. Und manchmal stören sich Touristen, wenn
 beherbergen. Dann sollen Jüngere übernehmen; letzter Hafen« die Hardeggers mit dem Transporter das Heu ein-
 im neuen Bed and Breakfast im Dörfli. bringen und den Uferweg befahren, den italie-
 nische Arbeiter um 1904 aus dem Fels gesprengt

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 haben.
 U I N T E N I S T T O T “ , sagte vor einigen Quinten, sagt Susanne Hardegger, sei ein Para-
 Jahren ein Politiker. Vielleicht darum, dies. Eines mit Schattenseiten freilich, die Land-
 weil es in Quinten 1835 noch 171 Einwoh- wirtschaft sei kostenintensiv, weil die Tiere und
 ner gab, und weil es gut 100 Jahre später das Futter mit dem Schiff über den See gebracht
 rund 100 weniger waren. „Quinten lebt“, entgeg- werden müssen. Aber es sei halt wie überall im
 nete allerdings Hanspeter Stüssy. Und das war Leben: Man müsse das Negative und das Positive
 nicht nur eine Trotzreaktion, daraus ergaben sich abwägen. Für die Bäuerin überwiegt das Positive.
 eine Stiftung, eine Interessengemeinschaft sowie Wegen der Stille im Winter etwa. Dann silbert die
 diverse Visionen und Projekte für die Schaffung Sonne flach über den See, dann wird die Sonnen-
 von Wohnraum und Arbeitsplätzen. Das Bed and brille fast noch mehr gebraucht als im Sommer.
 Breakfast ist bereits im Entstehen, und die eins- Nicht für alle liegt Quinten also jenseits vom
 tige, in Quinten bis Ende des 19. Jahrhundert Diesseits, jenseits des Alltags. Und freiwillig will
 betriebene Seidenraupenzucht ist wieder aufge- Quinten niemand verlassen, scheint es. Und wenn
 nommen worden. Nun sollen die Internet-Verbin- es die Behörden bewilligen, soll künftig der letz-
 dungen verschnellert, der Schiffsverkehr abends te Weg der Quintnerinnen und Quintner nicht
 verlängert werden. Und ein Rathaus soll Quinten mehr zwingend über den See führen, sondern in
 auch endlich erhalten – im Schilt, wo früher Schif- den „letzten Hafen“ in Quinten münden können.
 fe gebaut wurden, wo heute Hanspeter Stüssy lebt. Drei Urnen stehen schon bereit. 

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