Diskurs Das Grundeinkommen in der deutschen Debatte - Leitbilder, Motive und Interessen - Bibliothek ...

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März 2009

Expertisen und Dokumentationen
zur Wirtschafts- und Sozialpolitik   Diskurs
                                     Das Grundeinkommen in
                                     der deutschen Debatte

                                     Leitbilder, Motive und
                                     Interessen

                                     Gesprächskreis
                                     Sozialpolitik

                                                                      1
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Diskussionspapier im Auftrag des Gesprächskreises Sozialpolitik
der Friedrich-Ebert-Stiftung

Das Grundeinkommen in
der deutschen Debatte

Leitbilder, Motive und
Interessen

Björn Wagner
WISO
 Diskurs                                                                                    Friedrich-Ebert-Stiftung

           Inhalt

           Vorbemerkung                                                                                           3

           1. Einleitung                                                                                          4

           2. Die Ideen hinter der Idee: Ist ein Grundeinkommen sozial oder neoliberal?                           6

              Kompensation vs. Arbeitsumverteilung:
              Ist ein Grundeinkommen marktkonform?                                                              10

              Freiheit, Gleichheit, Bürgerlichkeit: gesellschaftspolitische Implikationen
              eines Grundeinkommens                                                                             14

           3. Die aktuelle Debatte: Ist Deutschland reif für ein Grundeinkommen?                                17

              Grundeinkommensmodelle in der Theorie: eine idealtypische Kategorisierung                         17

              Grundeinkommensmodelle in der Praxis: gute Gründe, wenig Einkommen?                               21

                    Der neoliberale Diskurs                                                                     21

                    Der sozialliberale Diskurs                                                                  26

                    Der sozial-egalitäre Diskurs                                                                31

                    Der emanzipatorische Diskurs                                                                34

           4. Zusammenfassung und Schlussfolgerungen: Perspektiven für eine
              sozialdemokratische Politik                                                                       39

           Bibliographie                                                                                        41

           Informationen zum Autor                                                                              44

           Übersicht der Tabellen:

           Tabelle 1: Idealtypische Kategorisierung von Grundeinkommensdiskursen                                20
           Tabelle 2: Neoliberale Grundeinkommensmodelle                                                        22
           Tabelle 3: Sozialliberale Grundeinkommensmodelle                                                     27
           Tabelle 4: Sozial-egalitäre Grundeinkommensmodelle                                                   33
           Tabelle 5: Emanzipatorische Grundeinkommensmodelle                                                   35

           Dieses Diskussionspapier wird von der Abteilung Wirtschafts- und Sozialpolitik der
           Friedrich-Ebert-Stiftung veröffentlicht. Die Ausführungen und Schlussfolgerungen sind
           von dem Autor in eigener Verantwortung vorgenommen worden.

           Impressum: © Friedrich-Ebert-Stiftung Herausgeber: Abteilung Wirtschafts- und Sozialpolitik der
           Friedrich-Ebert-Stiftung    Godesberger Allee 149 53175 Bonn Fax 0228 883 9205 www.fes.de/wiso
           Gestaltung: pellens.de     Druck: bub Bonner Universitäts-Buchdruckerei   ISBN: 978-3-86872-057-0
Wirtschafts- und Sozialpolitik
                                                                                                          WISO
                                                                                                           Diskurs

Vorbemerkung

Wie schon in den 80er Jahren findet gegenwärtig          Wir haben Björn Wagner von der Universität
eine Debatte um das Bedingungslose Grundein-        Jena um eine Darstellung bestehender Konzepte
kommen wieder erhöhte Aufmerksamkeit. Diese         zum Bedingungslosen Grundeinkommen gebe-
Aufmerksamkeit erhält sie, da in ihr der Anspruch   ten, in der die Leitbilder, Motive und potenziellen
erhoben wird, ein akzeptableres Sozialstaatsmo-     Auswirkungen der jeweiligen Positionen deutlich
dell anbieten zu können als z.B. das Konzept zum    werden. Wir haben ihn auch um die Beantwor-
Vorsorgenden Sozialstaat.                           tung der Frage gebeten, ob es zwischen den Kon-
     Bei der Auseinandersetzung um das bessere      zepten Bedingungsloses Grundeinkommen und
Sozialstaatsmodell geht es um eine ganze Reihe      Vorsorgender Sozialstaat Berührungspunkte und/
grundsätzlicher Themen, wie z.B. die Verteilung     oder scharfe Abgrenzungen gibt.
gesellschaftlichen Reichtums, um Menschenwür-            Wir bedanken uns bei Herrn Wagner für sein
de und Teilhabe einschließlich aktiver demokra-     Engagement und seine konstruktive Zusammen-
tischer Mitwirkung, um staatliche Strategien        arbeit.
gesellschaftlicher Gestaltung und deren Reich-
weite sowie das Verhältnis von Bedingungslosem               Peter König
Grundeinkommen und sozialer Sicherung. Es geht               Leiter des Gesprächskreises Sozialpolitik
auch um die Frage, welches Sozialstaatsmodell –
z.B. Bedingungsloses Grundeinkommen oder
Vorsorgender Sozialstaat – größere Innovationen
auslösen würde.

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           1. Einleitung

           Die Idee eines Grundeinkommens ist nicht neu.1                             Grundeinkommen spielt, verschob sich in den
           In ihrer allgemeinsten Form geht sie der Ent-                              1980er Jahren der Fokus der Argumentation er-
           wicklung kapitalistischer Produktionsverhältnis-                           neut und richtete sich verstärkt auf die Notwen-
           se weit voraus. Bereits die etwa 700 v. Chr. ein-                          digkeit der Reform des keynesianischen Wohl-
           geführte und rund 500 Jahre unangetastete Ver-                             fahrtsstaates. Angetrieben durch die augenschein-
           fassung des antiken Sparta sah eine Trennung                               liche Krise des fordistischen Produktionsmodells
           zwischen notwendigen und Luxusgütern vor: Ers-                             und die angesichts steigender Massenarbeitslosig-
           tere standen jedem Mitglied der Gesellschaft un-                           keit mangelnde Problemlösungsfähigkeit lohnar-
           abhängig von der erbrachten Arbeitsleistung zur                            beitszentrierter Sicherungssysteme war es unter
           Verfügung. Hier wie auch bei Thomas Morus –                                anderem der französische Intellektuelle André
           gewissermaßen der Ausgangspunkt neuzeitlicher                              Gorz (1983), der der Idee neue Impulse verlieh. In
           Vorschläge für eine öffentliche Daseinsfürsorge –                          Deutschland waren es vor allem Michael Opielka
           ging es indes noch in erster Linie um die Siche-                           und Georg Vobruba, die gewissermaßen als Vor-
           rung der allgemeinen Grundversorgung durch                                 kämpfer für ein allgemeines Grundeinkommen
           die Beschränkung aller Mitglieder der Gesell-                              gesehen werden können (vgl. Opielka/Vobruba
           schaft, indem Luxusgüter verpönt waren und die                             1986, Vobruba 2006).
           Warenproduktion weitgehend auf das Notwen-                                      Die Idee an sich ist also nicht neu. Nichtsde-
           dige reduziert wurde2. Gegen Ende des 19. Jahr-                            stotrotz wird die Debatte um ein allgemeines
           hunderts verschob sich hingegen der Schwer-                                Grundeinkommen in regelmäßigen Abständen
           punkt allmählich von der Bewältigung der all-                              neu geführt. Vor diesem Hintergrund sollte es da-
           gemeinen Knappheit zur Verteilung des durch                                mit in der vorliegenden Studie weniger darum
           Industrialisierung und Produktivitätsfortschritte                          gehen, konkrete Ausgestaltungs- und Finanzie-
           erzeugbaren Überschusses. Symptomatisch hier-                              rungsdetails der aktuellen Grundeinkommens-
           für steht die Frage Theodor Hertzkas (1890, zit.                           modelle zu diskutieren. Wesentlicher ist die Fra-
           nach Vobruba 2006: 73): „Warum werden wir                                  ge, was das eigentlich Neue an der gegenwärtigen
           nicht reicher nach Maßgabe unserer wachsenden                              Auseinandersetzung ist. Um die Antwort partiell
           Fähigkeit, Reichtum zu erzeugen?“ Während die-                             vorwegzunehmen: Neu an der aktuellen Diskus-
           se Frage weiterhin eine bedeutende Rolle in ge-                            sion ist sicherlich, dass die Forderung nach einem
           genwärtigen Diskussionen um ein allgemeines                                allgemeinen Grundeinkommen erstmals auch

           1   Das vorliegende Papier ist als Diskussionsgrundlage im Rahmen des von der Friedrich-Ebert-Stiftung geförderten Projekts „Das Grund-
               einkommen in der gesellschaftspolitischen Debatte“ entstanden (Projektleitung: Prof. Dr. Stephan Lessenich, Friedrich-Schiller-Univer-
               sität Jena). Stand des Papiers ist der 1. Januar 2008. Vgl. diesbezüglich auch Lessenich 2009: http://library.fes.de/pdf-files/wiso/06193.pdf
           2   In Sparta war durch eine quasi-Abschaffung des Geldes – die alten Gold- und Silbermünzen wurden aus dem Verkehr gezogen, stattdes-
               sen führte man spezielles Geld aus Eisen ein, welches aufgrund seines enormen Gewichts faktisch nicht nutzbar und zudem zur Weiter-
               verarbeitung ungeeignet war – die Herstellung von Luxusgütern nicht lohnenswert, weshalb sich die Produktion weitgehend auf die
               notwendigen Güter beschränkte. Thomas Morus‘ Hauptwerk Utopia (1516) folgt dieser Logik einer gerechten Verteilung der Knappheit
               weitgehend. Bei Morus findet sich indes erstmals auch das Prinzip ‚Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen‘, die Versorgung beruht
               somit auf Gegenleistung jedes Einzelnen. Allerdings richtet sich dies, vor dem Hintergrund der damaligen feudalgesellschaftlichen Ver-
               hältnisse in England, vor allem gegen Adel und Klerus und deren Nichtbeteiligung am Arbeitseinsatz. Morus‘ Anliegen zielte damit vor
               allem auf die Argumentation, dass bei gleichberechtiger Verteilung der notwendigen Arbeit eine allgemeine Grundversorgung möglich
               sei und zugleich das wirksamste Mittel gegen Kriminalität darstelle.

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Wirtschafts- und Sozialpolitik
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                                                                                                            Diskurs

von Unternehmerseite vehement vorgetragen             mens diskutieren. Im Anschluss soll die gegen-
wird. Dies eröffnet einerseits potenziell die Mög-    wärtige deutsche Debatte strukturiert werden,
lichkeit, eine breitere gesellschaftliche Basis für   indem vier grundsätzliche Diskurse unterschie-
die Realisierung eines Grundeinkommens zu             den werden, die mit den Adjektiven neoliberal,
schaffen. Andererseits könnte ein solcher gesell-     sozialliberal, sozial-egalitär und emanzipatorisch
schaftlicher Konsens auch fragil sein. Denn die       umschrieben werden können. Die einzelnen Dis-
Ausweitung des Unterstützerkreises bedeutet zu-       kurse lassen sich vor allem mit Blick auf ihre
gleich eine starke Diversifizierung der mit der       Positionierung gegenüber zentralen sozial- und
Forderung verbundenen Motivationen und Er-            gesellschaftspolitisch relevanten Fragestellungen
wartungen. So ist es zum Beispiel von grundsätz-      voneinander abgrenzen, wie etwa das Verhältnis
licher gesellschaftspolitischer Relevanz, ob einem    des jeweiligen Grundeinkommensmodells zu den
Grundeinkommen in erster Linie ein Kompen-            gegenwärtigen sozialen Sicherungssystemen, zu
sationszweck zugedacht wird, es also vor allem        Entlohnungs- und Arbeitsmarktstrukturen oder
eine neue Form der Armutsbekämpfung darstellt,        zu Formen von Mitbestimmung und Partizipa-
oder ob damit das Ziel einer Umverteilung ge-         tion. Im Anschluss daran werden diese Diskurse
sellschaftlich notwendiger Arbeit verbunden ist.      und die damit verbundenen Vorschläge im Detail
Diese Motivationen und Erwartungen stehen im          diskutiert und nach Überschneidungen und An-
Mittelpunkt der vorliegenden Studie. Zu diesem        knüpfungspunkten gefragt. Das Schlusskapitel
Zweck wird das folgende Kapital zunächst auf all-     fasst die Ergebnisse zusammen und gibt einen
gemeiner Ebene potenzielle Auswirkungen und           Ausblick auf die Fragen, die bei der weiteren De-
Transformationspotenziale eines Grundeinkom-          batte im Mittelpunkt stehen sollten.

                                                                                                           5
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           2. Die Ideen hinter der Idee:
              Ist ein Grundeinkommen sozial oder neoliberal?

           In diesem Kapitel sollen zunächst einige grund-       tenzsicherndes Einkommen bereits durch das
           sätzliche Konflikte ausgearbeitet werden, welche      Grundeinkommen gegeben wäre. Für die Arbeit-
           sich hinter der Idee eines Grundeinkommens ver-       nehmerseite würde sich im besten Falle nichts
           bergen können. Dabei wird die deutsche Debatte        verändern: Der ‚Zwang‘ zur Arbeit wäre weiterhin
           zunächst nur am Rande gestreift werden. Die fol-      gegeben, während sich das Einkommen nur un-
           gende Diskussion dient eher dem Zweck, auf ab-        wesentlich vom vorherigen Einkommen unter-
           strakter Ebene einige Kategorien zu benennen,         scheiden würde (es hätte sich also faktisch nur
           welche bei der Strukturierung der deutschen De-       die Quelle des Einkommens partiell verändert).
           batte behilflich sein können.                         Im ungünstigeren Falle könnte das verfügbare
                Die Tatsache, dass aktuell ein Grundeinkom-      Einkommen real aufgrund der höheren Ver-
           men von so unterschiedlichen Akteuren wie der         brauchssteuern sogar sinken; würde es zudem
           Bundesarbeitsgemeinschaft Grundeinkommen in und       gleichzeitig zu einer weiteren Lockerung tarifver-
           bei der Partei DIE LINKE auf der einen Seite und      traglicher Strukturen kommen, zöge dies darüber
           dem Unternehmer Götz Werner oder der FDP auf          hinaus eine verschlechterte Verhandlungsposi-
           der anderen Seite vorgeschlagen beziehungsweise       tion der Arbeitnehmer nach sich. Dieses Modell
           eingefordert wird, lässt bereits vermuten, dass mit   bzw. Motiv ließe sich als neoliberal bezeichnen.
           der Idee eines Grundeinkommens stark unter-                Am anderen Ende der idealtypischen Skala
           schiedliche Motivationen verbunden sind, die          könnte ein Grundeinkommen aber auch den ent-
           sich vor allem hinsichtlich ihrer Positionierung      gegengesetzten Effekt haben. Wäre das Grund-
           gegenüber dem Verhältnis von Markt und Gesell-        einkommen hoch genug angesetzt, um tatsäch-
           schaft differenzieren lassen. Idealtypisch lassen     lich existenzsichernd zu wirken und wären zu-
           sich zunächst zwei diametral entgegengesetzte         gleich über eine Mindestlohngesetzgebung sowie
           Motive beziehungsweise Anreize für ein Grund-         den Bestand von Tarifautonomie und Arbeitneh-
           einkommen unterscheiden. Je nach Ausgestal-           merrechten bestehende Lohnstrukturen abgesi-
           tung der konkreten Regelungen im Detail könnte        chert, könnte dies in der Tat den Effekt einer Ent-
           ein Grundeinkommen dementsprechend stark              kopplung von Arbeit und Einkommen im posi-
           variierende Folgen nach sich ziehen:                  tiven Sinne haben: Gesamtgesellschaftlich wäre
                Zunächst könnte ein Grundeinkommen zu            damit nicht auszuschließen, dass es zu einer weit-
           einer doppelten Entlastung der Arbeitgeberseite       reichenden Arbeitsumverteilung käme, und zwar
           führen. Würde man ein Grundeinkommen, wie             gleichermaßen zwischen den Geschlechtern wie
           dies in einigen Modellen gefordert wird, zum          auch innerhalb der Erwerbsbevölkerung als Gan-
           Beispiel weitgehend über Verbrauchssteuern finan-     zes. Durch den Wegfall des (finanziellen) Zwangs
           zieren und würden zugleich bisherige Sozial-          zur Arbeit könnten damit sowohl unbezahlte Tä-
           versicherungsleistungen wegfallen, hätte dies ei-     tigkeiten aufgewertet, die gesellschaftliche Posi-
           nen senkenden Effekt auf die Lohnnebenkosten.         tion und Autonomie der Arbeitnehmer gestärkt
           Zusätzlich könnte es zu einer Ausweitung des          und ihre Verhandlungsposition gegenüber dem
           Niedriglohnsektors bzw. einer generellen Lohn-        Arbeitgeber verbessert werden. Ein solches Mo-
           senkung kommen, da die Löhne ja nun nicht             dell bzw. Motiv könnte man also als emanzipato-
           mehr alleine die Reproduktionskosten decken           risch bezeichnen.
           müssten, sondern ein mehr oder weniger exis-

      6
Wirtschafts- und Sozialpolitik
                                                                                                                  WISO
                                                                                                                   Diskurs

     Diese Gegenüberstellung ist gleichermaßen        • es wird einkommensunabhängig ausgezahlt, ist
spekulativ wie extrem. Die realen Auswirkungen           also nicht bedürftigkeitsgeprüft;
eines Grundeinkommens würden sich vermut-             • der Anspruch auf ein Grundeinkommen ist an
lich eher irgendwo zwischen diesen zwei Model-           keinerlei Arbeitsleistung oder -bereitschaft geknüpft.
len bewegen (was allerdings nicht weniger spe-        Allerdings handelt es sich hierbei nur um ein
kulativ ist ...). Die Idealtypen verdeutlichen aber   mögliches Grundeinkommensmodell, nämlich das
zum einen, dass es lohnenswert ist, sich im Rah-      sogenannte bedingungslose Grundeinkommen, wel-
men der Debatte um ein Grundeinkommen und             ches weder an eine Prüfung finanzieller Bedürftig-
jenseits der vordergründigen Rhetorik seiner Ver-     keit noch an die Sphäre der Erwerbsarbeit gekop-
fechter auf die dahinterstehenden Motive einzu-       pelt ist. Als denkbare Varianten eines Grundein-
lassen und diese zu verstehen. Zum anderen –          kommens werden aber ebenso Modelle diskutiert,
und darauf basierend – wird deutlich, dass sich       die in Richtung einer bedarfsabhängigen Grundsi-
eine Debatte nicht alleine auf die Fragen von Fi-     cherung, eines an gemeinnützige Arbeit gekop-
nanzierung eines Grundeinkommens und seines           pelten Bürgergeldes für Erwerbslose oder einer
Verhältnissses gegenüber konventionellen sozial-      negativen Einkommenssteuer gehen. Die einzelnen
staatlichen Strukturen beschränken sollte. Mit        Vorschläge werden an anderer Stelle noch disku-
einzubeziehen sind vielmehr eine Vielzahl von         tiert werden, festzuhalten ist für den Moment vor
Fragen und Detailregelungen, die nicht nur – wie      allem, dass es unterschiedliche Varianten eines
oben beschrieben – Lohn- und tarifvertragliche        Grundeinkommens gibt, deren jeweilige Moda-
Strukturen betreffen, sondern zahlreiche gesell-      litäten wiederum umstritten sein können. Für
schaftsstrukturelle und normative Grundfragen.        welches Modell optiert wird, hängt in der Regel
Ein Grundeinkommen, welches sich nicht auf            vor allem von drei Aspekten ab:
einen breiten gesellschaftlichen Konsens in die-      • Die spezifischen Motive und Absichten, die mit
ser Hinsicht stützen kann, wäre vermutlich – un-         einem Grundeinkommen verbunden sind;
abhängig von seiner konkreten Ausgestaltung –         • Erwartungen bezüglich der Finanzierbarkeit
von vornherein zum Scheitern verurteilt. Im Fol-         sowie
genden sollen dementsprechend einige wesent-          • das jeweilige Menschenbild der Verfechter
liche Motive, Begrifflichkeiten und Zusammen-            eines Modells, anders formuliert: die Erwar-
hänge kontrovers diskutiert werden, die im Rah-          tungen an die Reaktion der Betroffenen, ob es
men der Debatte von grundsätzlicher Relevanz             also zum Beispiel infolge eines bedingungs-
sind.                                                    losen Grundeinkommens zu einem massen-
     Die Schwierigkeiten bei der Debatte um ein          haften Rückzug vom Arbeitsmarkt und damit
Grundeinkommen fangen indes bereits bei der              ökonomischer Instabilisierung kommen würde
Frage der Definition an. Die Mehrheit der Auto-          oder aber im Gegenteil zu freierer, selbstbe-
ren stützt sich dabei auf die Definition des Basic       stimmterer und damit auch produktiverer Ar-
Income Earth Network (BIEN) und dessen deutschem         beit.
Ableger, das Netzwerk Grundeinkommen: Demnach         Im Rückblick auf die Debatte der 80er Jahre un-
handelt es sich um „ein Einkommen, das bedin-         terscheidet Vobruba (2006: 176ff.) gesellschafts-
gungslos jedem Mitglied einer politischen Gemein-     politische, ökonomische und sozialpolitische Ar-
schaft gewährt wird, ohne Bedürftigkeitsprüfung       gumente für ein Grundeinkommen (siehe Kasten).
oder Arbeitspflicht“ (www.netzwerk-grundeinkom-       So hilfreich diese Kategorisierung für deskriptive
men.de). Somit unterscheidet sich ein Grundein-       und analytische Zwecke ist, so ungeeignet erweist
kommen von der derzeitigen Form der Mindest-          sie sich indes, wechselt man von der Ebene der
sicherung in Deutschland mindestens in dreier-        Argumente für ein Grundeinkommen auf die
lei Hinsicht:                                         Ebene der Motive. Damit ist keineswegs gesagt,
• Es besteht ein individueller Rechtsanspruch, das    dass in der laufenden Diskussion die vorgetra-
   heißt es wird an Individuen und nicht an           genen Argumente lediglich dazu dienen, die da-
   Haushalte gezahlt;                                 hinter stehenden Motive und Absichten zu ver-

                                                                                                                  7
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 Diskurs                                                                                       Friedrich-Ebert-Stiftung

           schleiern. Genauso wenig ist aber das Gegenteil
           der Fall, dass also (öffentlichkeitswirksame) Argu-     Argumente für ein Grundeinkommen
           mente immer deckungsgenau die spezifischen
           Motive der jeweiligen Akteure widerspiegeln.
                                                                   1. Gesellschaftspolitische Argumente
           Mindestens ist demgegenüber zu beobachten,
           dass ähnliche oder gleichlautende Argumente             Das Autonomieargument. Dieses repräsentiert ohne
           (für die laufende Diskussion wären hier vor allem       Zweifel die älteste Begründung für ein Grundein-
           das Arbeitslosigkeitsargument, das Armutsargu-          kommen. Explizit oder implizit wurde an die
           ment und das Bürokratieargument zu nennen)              klassischen Utopien, Randfiguren der sozialisti-
           von Vertretern unterschiedlicher politischer La-        schen Bewegung(en) und an die anarchistische
           ger mit stark divergierenden gesellschaftspoli-         Tradition angeknüpft. Die Forderung nach einem
           tischen Leitbildern vorgetragen werden. Diese           garantierten Grundeinkommen richtet sich mit
           gesellschaftspolitischen Leitbilder aber sind es, die   diesem Argument gegen den Zwang zur und die
           im Mittelpunkt der Analyse der Debatte um ein           Fremdbestimmung von Arbeit. Ihre Rechtferti-
           Grundeinkommen stehen sollten, da nur auf die-          gung findet sie in einem nicht weiter explizierten
           ser Grundlage die Möglichkeiten für ein breites         „Menschenrecht“, ihre Realisierbarkeit in Vor-
           gesellschaftliches Bündnis, welches auf einem           stellungen immenser säkularer Produktivitäts-
           breitestmöglichen Konsens basiert, ausgelotet           steigerungen kapitalistischer Ökonomie.
           werden können. Wendet man sich solchen Leit-
           bildern zu, wird ebenfalls deutlich, dass hier die      Das Ökologieargument. Dieses Argument ist dem
           Trennlinien zwischen gesellschaftlichen, ökono-         Autonomieargument insofern verwandt, als ein
           mischen und sozialpolitischen Argumenten ver-           Grundeinkommen die materiell unterfütterte
           schwimmen und statt dessen fundamentale Fra-            Möglichkeit zur Verweigerung von ökologisch
           gen gesellschaftlicher Organisation – inklusive         (oder friedenspolitisch) problematischer abhän-
                                                                   giger Erwerbsarbeit eröffnet. In diesem Aspekt
           ihrer ökonomischen und (sozial-) regulativen
                                                                   partizipierte die Forderung nach einem Grund-
           Grundlagen – ins Blickfeld treten. Anders formu-
                                                                   einkommen an der als selbstverständlich voraus-
           liert: Die Idee eines Grundeinkommens „ist weit-
                                                                   gesetzten Rechtfertigung ihres Effekts. Bei einem
           aus mehr als eine technisch-administrative Re-
                                                                   Instrument, das die ökologie- und friedenspoli-
           form. Sie berührt zentrale Fragen der Ordnungs-
                                                                   tische Handlungsfähigkeit stützt, erübrigte sich
           bzw. Gesellschaftspolitik in modernen Gesell-
                                                                   die Frage seiner Rechtfertigung.
           schaften“ (Opielka/Strengmann-Kuhn 2007: 26).
           Weiter oben wurde bereits die unterschiedliche
                                                                   Das frauenpolitische Argument. Auch dieses Argu-
           Positionierung der verschiedenen Vorschläge             ment kann man als eine Art Derivat des Autono-
           hinsichtlich des impliziten Verhältnisses von           miearguments begreifen. Ein Grundeinkommen
           Markt und Gesellschaft angesprochen. Im Fol-            wurde begründet als materielle Fundierung zum
           genden sollen einige dieser Aspekte detaillierter       Ausstieg aus ungewünschter oder unzumutbaren
           diskutiert werden.                                      Lebenssituationen. Diese Begründung freilich
                                                                   blieb keineswegs unbestritten. Das Gegenargu-
                                                                   ment lautete, dass ein Grundeinkommen die Ver-
                                                                   drängung der Frauen aus dem Arbeitsmarkt er-
                                                                   leichtere. Offensichtlich steht hinter dieser Dis-
                                                                   kurskonstellation die – wenn ich recht sehe – bis
                                                                   heute unaufgelöste Kontroverse um die Einschät-
                                                                   zung von abhängiger Erwerbsarbeit als emanzi-
                                                                   pationsfördernd oder -behindernd.

      8
Wirtschafts- und Sozialpolitik
                                                                                                           WISO
                                                                                                            Diskurs

2. Ökonomische Argumente                              Sicherungsfunktion immer weniger erfüllen
                                                      kann. Einem Grundeinkommen als Instrument
Das Argument alternativer Arbeit. Wichtig, und mit    zur Absicherung der Gesellschaft nach unten
dem Ökologieargument verbunden, war das Ar-           („Abschaffung der Armut“) wurde entgegenge-
gument, ein Grundeinkommen könne als Grund-           halten, dass dieses Ziel auch im Rahmen der ge-
lage selbstbestimmter Tätigkeiten fungieren. We-      gebenen Institutionen des Sozialstaats, durch
niger prominent war die Variante, es könne als        „Sockelungen“ erreichbar sei, also ohne das Risi-
Subvention für Unternehmensgründungen ge-             ko eines sozialpolitischen Systemwechsels.
nutzt werden. Weit populärer war die Vorstellung,
mit einem Grundeinkommen ökonomisch nicht             Das Bürokratieargument. Dieses Argument machte
(oder nicht ganz) tragfähige Tätigkeiten in der       eben diesen Systemwechsel zum Kern des Anlie-
Alternativökonomie finanziell zu unterstützen.        gens. Das Grundeinkommen wurde nicht als Er-
                                                      gänzung, sondern als Ersatz für die bestehenden
Das Kaufkraftargument. Dieses Argument funktio-       Systeme sozialer Sicherung angesehen. Durch die
niert in Verlängerung der konventionellen „built      Standardisierung der Transferzahlungen und den
in stability“ der Arbeitslosenversicherung. Der       Wegfall diverser Einzelfallprüfungen wurden
Sozialtransfer stabilisiert die Kaufkraft, und zwar   Möglichkeiten eines radikalen (Sozial-) Bürokra-
insbesondere in wirtschaftlichen Abschwüngen,         tieabbaus gesehen. Eine problemlose Rechtferti-
sichert so ausreichende Gewinne und Beschäfti-        gung ergab dies nur im Rahmen eines liberalen,
gung. Wie alle kreislauftheoretischen Argumente       allenfalls ökolibertären Weltbildes.
läuft auch dieses auf die Rechtfertigung des
Grundeinkommens als im Interesse aller – Kon-         Das Armutsfallenargument. Das Argument beruhte
sumenten, Investoren und Arbeitskräfte – hinaus.      auf der weit verbreiteten Überzeugung, dass an
                                                      der Schnittstelle von Sozialhilfe und Arbeitsmarkt
Das Arbeitslosigkeitsargument. Das war die Forde-     eine fehlerhafte Anreizstruktur besteht: Die (so
rung nach einem Grundeinkommen als Reaktion           gut wie) vollständige Anrechnung von Erwerbs-
auf die offensichtliche Unmöglichkeit, Vollbe-        einkommen auf den Sozialtransfer belastet Um-
schäftigung im Sinne der Sechziger- und frühen        steiger von Sozialhilfe in Erwerbsarbeit mit einem
Siebzigerjahre des 20. Jahrhunderts wiederherzu-      unzumutbar hohen De-facto-Steuersatz – je nach
stellen. Dieses Argument war rasch dem Einwand        Freibetrag von etwa 80 –100 Prozent. Rationalen
ausgesetzt, die Forderung nach einem Grundein-        Einkommenskalkülen folgend verharren darum
kommen sei das Eingeständnis eines Versagens –        potenziell Beschäftigte im Sozialhilfebezug und
womit die Debatte auf die Ebene der gesellschafts-    bringen sich damit um die längerfristigen Mög-
politischen Argumente wechselte. Das Argument         lichkeiten materiellen Aufstiegs (...). Darum:
war also umstritten und damals keineswegs             „Armutsfalle“. Dem sollte durch ein Grundein-
dominant.                                             kommen in der technischen Ausgestaltung einer
                                                      negativen Einkommenssteuer, welche fließende
3. Sozialpolitische Argumente                         Übergänge von Sozialtransferbezug in Erwerbs-
                                                      einkommen ermöglicht, entgegengewirkt wer-
Das Armutsargument. Es war dem Arbeitslosigkeits-     den. Das Grundeinkommen (in Form der nega-
argument ähnlich, aber prominenter. Seine             tiven Einkommenssteuer) wird hier gerechtfertigt
Grundlage war der Nachweis, dass das gegebene         als Instrument zur Beseitigung einer Anreizkon-
System sozialer Sicherung angesichts rascher          stellation, welche selbstschädigendes Verhalten
Wandlungsprozesse auf dem Arbeitsmarkt seine          nahe legt.
                                                                        Quelle: Vobruba 2006, S.176–178.

                                                                                                           9
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 Diskurs                                                                                        Friedrich-Ebert-Stiftung

           Kompensation vs. Arbeitsumverteilung:                 19) hat in den vergangenen Jahren zu einer zu-
           Ist ein Grundeinkommen marktkonform?                  nehmenden Konditionierung des sozialen Rechts
                                                                 auf eine sozio-kulturelle Mindestsicherung in
           Dies ist mit Sicherheit die grundlegende Frage-       zweifacher Hinsicht geführt. Zum einen wird die
           stellung in Bezug auf ein Grundeinkommen, von         Auszahlung sozialer Leistungen stärker als zuvor
           der sich im Prinzip sämtliche weiteren Aspekte        an das verfügbare Haushaltseinkommen gekop-
           ableiten lassen. Wie bereits oben in den beiden       pelt (und dazu zählt nicht nur ‚Einkommen‘ an-
           idealtypischen Extremen angedeutet, kann Sinn         derer Haushaltsmitglieder im engeren Sinne, son-
           und Zweck eines Grundeinkommens nur in zwei           dern ebenso finanzielle Reserven des Haushalts
           grundverschiedene Richtungen laufen. Entweder         wie Spareinlagen, Vermögenswerte etc.) (Bedürf-
           ein Grundeinkommen bezieht seine Rechtfer-            tigkeitsprüfung), zum anderen orientieren sich
           tigung aus dem Potenzial, den kapitalistischen        Rechtsansprüche verstärkt an der Verfügbarkeit
           Markt und dessen gesellschaftliche Verankerung        für den Arbeitsmarkt (workfare). Diese im SGB II
           zu stabilisieren und mit Blick auf Krisenerschei-     geregelte „Grundsicherung für Arbeitsuchende“
           nungen zu entlasten (und dies besser zu tun als       („Hartz IV“) hat in den Augen vieler Beobachter
           bisherige Sozial- und Ordnungspolitiken), oder es     jedoch auch mehr Probleme aufgeworfen als ge-
           bezieht seine Rechtfertigung gerade umgekehrt         löst: Während die Reformen offenbar kein effek-
           aus dem Potenzial, angesichts von Instabilitäten      tives Mittel zur Verhinderung von Armut darstel-
           der erwerbsarbeits- und marktzentrierten Gesell-      len, ist zugleich der bürokratische Kontrollauf-
           schaftsordnung die individuelle Lebensführung         wand enorm gestiegen und wird zudem von Be-
           von dieser zu entkoppeln. Mit anderen Worten          troffenen oftmals als entwürdigend empfunden.
           lassen sich ein Kompensationsmotiv und ein Ar-        Darüber hinaus ist fraglich, ob das workfare-Prin-
           beitsumverteilungsmotiv unterscheiden. Denkbar        zip, also die Koppelung sozialer Leistungen an die
           ist eine mittlere Variante, nämlich die (partielle)   Verfügbarkeit für den Arbeitsmarkt, angesichts
           Umverteilung von Arbeit als Kompensation. Wich-       von vier bis fünf Millionen Erwerbslosen ver-
           tig ist dabei, wie im Folgenden deutlich wird, dass   tretbar ist, nicht vor allem als Rechtfertigung für
           diese Unterscheidung nicht zu verwechseln ist         Leistungskürzungen dient und allenfalls den
           mit der Unterscheidung zwischen der Verknüp-          Effekt einer Entwertung erworbener Qualifika-
           fung von Arbeit und Einkommen einerseits und          tionen hat, indem Leistungsempfänger oftmals
           der Entkopplung von Arbeit und Einkommen auf          in einfache Tätigkeiten mit geringem Qualifika-
           der anderen Seite.                                    tionsanspruch abgeschoben werden und damit
                 Das Kompensationsmotiv. In erster Linie ist     soziale Mobilität eher verbaut als fördert.
           das Kompensationsmotiv eine Antwort auf die                Vor diesem Hintergrund fordern Vertreter
           Beobachtung, dass der deutsche Sozialstaat in sei-    unterschiedlicher politischer Richtungen, das so-
           ner aktuellen Form zunehmend auf Schwierig-           ziale Sicherungssystem radikal zu reformieren,
           keiten stößt, seinen selbstgestellten Anspruch        d.h. es angesichts stark veränderter Bedingungen
           einzulösen. Ob man die Ursache für diese Ent-         auf dem Arbeitsmarkt armutsfester zu gestalten.
           wicklung nun einer wie auch immer gearteten           Die Verhinderung von Armut, also die finanzielle
           ‚Globalisierung‘, dem ‚Finanzmarktkapitalismus‘       Kompensation temporär oder dauerhaft erwerbs-
           oder aber gesellschaftlichen Wandlungsprozessen       freier Zeiten, steht also im Mittelpunkt, ohne
           (Auflösung des ‚Ernährermodells‘, demographi-         allerdings an den Grundfesten der herrschenden
           scher Wandel) zuschreibt, deutlich ist in jedem       sozio-ökonomischen Ordnung zu rütteln. Im Ge-
           Fall, dass die Existenzsicherung durch Arbeit (di-    genteil geht es darum, Wirtschaft und Gesell-
           rekt über ein ausreichendes Einkommen oder in-        schaft an veränderte Bedingungen anzupassen
           direkt mittels über Erwerbsarbeit erworbene An-       und sie zugleich für die damit verbundenen neu-
           sprüche) offenbar nicht mehr ausreichend ge-          artigen Herausforderungen zu rüsten. Mit Blick
           währleistet werden kann. Dieser „Grundkonflikt        auf ein Grundeinkommen sind hier nun, je nach
           für die bürgerliche Gesellschaft“ (Bischoff 2007:     politischer Ausrichtung seiner Verfechter und

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Wirtschafts- und Sozialpolitik
                                                                                                                 WISO
                                                                                                                  Diskurs

ihrer Einschätzung der Problemlage, unterschied-            Betrag, welchen eine Person bei Nichterwerbs-
liche Optionen denkbar.                                     tätigkeit als Steuergutschrift vom Finanzamt
a) Wird das Problem in erster Linie in fehler-              ausgezahlt bekäme – sollte zugleich unterhalb
    haften Anreizstrukturen gesehen, bietet sich die        des formellen Existenzminimums liegen, um
    Einführung einer Negativen Einkommensteuer              den Anreiz zur Arbeitsaufnahme in jedem
    an. Diesen Ansatz verfolgt beispielsweise das           Fall zu gewährleisten (vgl. auch Mitschke 2000:
    ‚Liberale Bürgergeld‘ der Kommission Bürger-            53).
    geld – Negative Einkommensteuer (KoBüNE) der         b) Eine alternative Sichtweise des Problems zielt
    FDP. Der Kommission zufolge besteht die we-             stärker auf die Umverteilungsstruktur sozialstaat-
    sentliche Unzulänglichkeit der Hartz IV-Re-             licher Leistungen. Die deutsche Sozialversi-
    form darin, dass das Leistungsprinzip im Nied-          cherung ist stark auf das bis in die frühen 70er
    riglohnbereich außer Kraft – oder zumindest             Jahre dominierende langjährige (männliche)
    nicht in Kraft – gesetzt wird. Die in der Grund-        Vollzeit-Erwerbsverhältnis zugeschnitten. In
    sicherung für Arbeitsuchende festgesetzten              dem Maße nun, wie dieses Erwerbsmodell
    Freibeträge von 15% bzw. 30% (je nach Höhe              massiv an Bedeutung verloren und einem re-
    des Hinzuverdienstes) lassen in dieser Argu-            lativ stark segmentierten und prekarisierten
    mentation die Arbeitsaufnahme im Niedrig-               Arbeitsmarkt Platz gemacht hat, wirft dies für
    lohnbereich als nicht lohnend erscheinen und            den Sozialstaat mehrere Probleme auf (vgl.
    zwingen somit die Betroffenen in die Armuts-            auch Kumpmann 2007: 30f.). Zum einen gera-
    falle. Zwar ist die Negative Einkommensteuer            ten die sozialen Sicherungssysteme durch die
    nicht die einzig mögliche Antwort auf das ver-          Abnahme des Anteils klassischer sozialversi-
    meintliche Problem mangelnder Anreizstruk-              cherungspflichtiger Beschäftigungsverhältnis-
    turen. Ein ähnlicher Effekt ließe sich mit einer        se in einen Teufelskreis. Je stärker die Aus-
    einfachen Erhöhung der Freibeträge des ALG              gaben steigen, desto mehr gehen die Einnah-
    II erzielen. In den Augen ihrer Verfechter trägt        men zurück. Darüber hinaus ist der steigende
    jedoch die im Vergleich zu dem bisherigen               Anteil prekär Beschäftigter nur unzureichend
    Mix an unterschiedlichen Sozialleistungen für           oder gar nicht gegen soziale Notlagen gesi-
    unterschiedliche Empfängergruppen stärkere              chert. Schließlich – und das ist die wesent-
    Transparenz einer Negativen Einkommen-                  lichste Fehlentwicklung – untergräbt der Struk-
    steuer dazu bei, die erwünschten Anreizstruk-           turwandel des Arbeitsmarktes die eigentliche
    turen ersichtlicher und damit effektiver zu             Funktion der Sozialsysteme, nämlich die ge-
    gestalten. Darüber hinaus bietet sich die Ne-           sellschaftliche Umverteilung. Indem einerseits
    gative Einkommensteuer aus dieser (neolibe-             gerade die Bezieher hoher Einkommen sich
    ralen) Sicht schon deshalb an, da Sozialleis-           aufgrund der Möglichkeit der Inanspruchnah-
    tungen nun nicht mehr die Lohnnebenkosten               me alternativer Sicherungssysteme nur rudi-
    belasten und damit den Markt so wenig als               mentär an der Finanzierung des Sozialstaates
    möglich beeinträchtigen. Diese Argumenta-               beteiligen, andererseits aber auch die wach-
    tion zur Rechtfertigung einer Negativen Ein-            sende Gruppe der gering qualifizierten, gering
    kommensteuer wurde am prominentesten                    entlohnten und prekär Beschäftigten nur we-
    vom US-amerikanischen Ökonom und Nobel-                 nig beiträgt, verteilt der deutsche Sozialstaat
    preisträger Milton Friedman in seinem Buch              gegenwärtig „überwiegend innerhalb der Ar-
    Kapitalismus und Freiheit (1962) dargelegt. Fried-      beitnehmerschaft mit mittlerem Einkommen
    man war es auch, der im gleichen Zusammen-              unter Beteiligung ihrer Arbeitgeber um. Dies
    hang das sogenannte ‚Armutslücken-Konzept‘              ist nicht nur verteilungspolitisch problema-
    vertrat: Um positive Anreizstrukturen zu set-           tisch, sondern trägt zusätzlich zu einer hohen
    zen, genügt es nicht, die entsprechenden Frei-          Belastung beschäftigungsintensiver Unterneh-
    beträge einer Negativen Einkommensteuer                 men bei“ (Kumpmann 2007: 31). Das Problem
    hoch genug anzusetzen. Ihre Höhe – also der             ist also in erster Linie ein Problem der (Um-)

                                                                                                                 11
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 Diskurs                                                                                        Friedrich-Ebert-Stiftung

              Verteilung finanzieller Ressourcen. Indem Ver-         ein Verteilungsproblem im Mittelpunkt, aller-
              sicherungsleistungen anteilig von einer Form           dings liegt der Fokus in dieser Argumentation
              von Einkommen abgezweigt werden, deren                 weniger auf der durch den ökonomischen
              Dominanz rückläufig ist, muss die Schlussfol-          Strukturwandel bedingten Schwächung der
              gerung zwangsläufig lauten, die Finanzierung           Einnahmenseite als vielmehr darin, dass die –
              des Sozialstaates auf eine neue, breitere Basis        aus unterschiedlichen Quellen stammenden
              zu stellen. Der logische Schritt ist somit die         – verfügbaren Mittel gesamtgesellschaftlich
              Finanzierung aus Steuermitteln. Ein derartiger         gesehen höchst ungleich verteilt werden und
              Systemwechsel erfordert jedoch zugleich eine           vor allem den Gruppen entzogen werden, die
              Umstellung des Systems der Zuweisung von               ohnehin das höchste Armutrisiko tragen.
              Leistungsansprüchen, die ja nun nicht mehr             Würde man, so die Argumentation, nun das
              über Beitragszahlungen erworben werden.                gesamte Steuer- und Abgabensystem durch
              Theoretisch ist das Verteilungsproblem mit             ein bedingungsloses Grundeinkommen erset-
              Hilfe unterschiedlicher Modelle in den Griff           zen, welches jedem Mitglied der Gesellschaft
              zu bekommen, da die wesentliche Frage weni-            ausgezahlt wird und gleichermaßen den (von
              ger die der Verteilung der Mittel betrifft, son-       eventuellen Ausnahmeregelungen für beson-
              dern vor allem deren Finanzierung. Denkbar             dere Lebenslagen abgesehen) einzigen An-
              ist also auch hier das Modell einer Negativen          spruch auf staatliche Leistungen wie auch die
              Einkommensteuer, ebenso wie die Einführung             einzige Form von Steuervergünstigungen
              einer steuerfinanzierten, bedarfsabhängigen            begründet, ließe sich gleichzeitig die Vertei-
              Grundsicherung. Insofern jedoch das Argu-              lungsgerechtigkeit auf der Ausgabenseite er-
              ment der Verteilungsproblematik oftmals                höhen und das undurchsichtige und aufwän-
              auch eine Kritik der aufwändigen Verteilungs-          dige Steuersystem transparenter und unbüro-
              bürokratie nach sich zieht, liegt die Option           kratischer gestalten. Zudem kann in dieser
              eines bedingungslosen Grundeinkommens zumin-           Argumentation die Kostenfrage insofern rela-
              dest nahe.                                             tiviert werden, als eine einfache Gegenüber-
           c) Eine dritte Sichtweise geht teils in eine ähn-         stellung der potenziellen Ausgaben für ein all-
              liche Richtung, benennt als die zentrale Pro-          gemeines Grundeinkommen mit den Kosten
              blematik gegenwärtiger Sozialpolitik aber vor          des gegenwärtigen Sozialstaates als unzulässig
              allem die mangelnde Fähigkeit zur Sicherung            angesehen wird, da es ja auf der Gegenseite
              eines sozio-kulturellen Existenzminimums. Wäh-         vermutlich zu massiven Steuermehreinnah-
              rend einerseits die Sozialversicherungen vor           men kommen würde.
              oben beschriebenen Herausforderungen ste-          Das Arbeitsumverteilungsmotiv. Gegenüber dem
              hen, kennt das deutsche Steuersystem auf der       Kompensationsmotiv zielt zwar auch das Ar-
              anderen Seite eine Vielzahl von Vergünsti-         beitsumverteilungsmotiv auf Fragen von Vertei-
              gungen und Abschreibungsmöglichkeiten, in          lungsgerechtigkeit und Existenzsicherung. Die
              deren Genuss aber in erster Linie diejenigen       grundlegende Problematik wird allerdings weni-
              kommen, deren Einkommen einen ausreichen-          ger im sozialpolitischen Verteilungsapparat an
              den Lebensstandard bereits garantiert. Dieje-      sich gesehen, sondern systemisch in der Abhän-
              nigen Bevölkerungsteile, die zur Erreichung        gigkeit der Beschäftigten von einem zunehmend
              eines mehr oder weniger existenzsichernden         prekarisierten und segmentierten Arbeitsmarkt.
              Lebensstandards auf staatliche Transfers ange-     Im Gegensatz zu oben diskutierten Motiven und
              wiesen sind, werden hingegen die hauptsäch-        Problemdefinitionen lässt sich das Arbeitsumver-
              lichen Opfer knapper öffentlicher Kassen,          teilungsmotiv zudem eindeutig politisch zuord-
              nicht zuletzt deshalb, weil sie interessenpoli-    nen. Als linkes, emanzipatorisches Projekt zielt es
              tisch gesehen eine relativ schwache Gruppe         eben nicht auf eine Anpassung gesellschaftlicher
              darstellen. Ähnlich wie oben steht hier also       Strukturen an eine flexible und globalisierte Öko-

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Wirtschafts- und Sozialpolitik
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                                                                                                             Diskurs

nomie, sondern im Gegenteil auf die Institu-          gesellschaftliche Position und Autonomie der
tionalisierung weitgehender gesellschaftlicher        von Erwerbsarbeit abhängigen Menschen enorm
Autonomie gegenüber Marktprozessen. Ein be-           gestärkt. Das Grundeinkommen ist eine emanzi-
dingungsloses Grundeinkommen in ausreichen-           patorische Antwort auf die zunehmende Prekari-
der Höhe eröffnet in dieser Perspektive eine Wahl     sierung und Fremdbestimmung von Arbeit und
– die Wahl für oder gegen abhängige Erwerbs-          Leben vieler Menschen“ (BAG Grundeinkommen
arbeit. Es ermöglicht damit Arbeitsumverteilung       2007: 1).
in dreifacher Hinsicht: zum einen innerhalb der            Im Mittelpunkt steht also hier nicht die wie
(aktiven und arbeitslosen) Erwerbsbevölkerung,        auch immer geartete Kompensation in Situatio-
indem die garantierte staatliche Existenzsiche-       nen und Lebensphasen, in denen eine Erwerbsar-
rung eine veränderte Kombination von markt-           beit den Lebensunterhalt nicht (ausreichend) si-
und nicht marktbezogenen Präferenzen und so-          chern kann, sondern die gesellschaftspolitische
mit vor allem die Ausweitung von Teilzeitarbeit       Neudefinition von Arbeit insgesamt und die Neu-
fördert. Zweitens zwischen marktbezogenen und         justierung des Verhältnisses von Markt, Staat und
nicht marktbezogenen Tätigkeiten, indem der           Gesellschaft. Während das Kompensationsmotiv
Zweck der Arbeit zunehmend von der Erzielung          sich – mit unterschiedlichen Begründungen –
von Einkommen entkoppelt wird und damit               letztlich auf die Forderung nach einem Wechsel
ehrenamtliche, soziale, familiäre oder künstle-       des Systems der Finanzierung und Verteilung so-
rische Tätigkeiten aufgewertet werden. Aufgrund       zialstaatlicher Leistungen beschränkt, weist das
dieser Aufwertung von nicht marktbezogenen            Arbeitsumverteilungsmotiv darauf hin, dass die
Tätigkeiten kommt es drittens, so die Vermutung,      gesellschaftlichen Verhältnisse nicht in erster
zu einer Arbeitsumverteilung zwischen den Ge-         Linie durch die Einkommensverteilung, sondern
schlechtern. Damit diese Ziele erreicht werden        die jeweilige Produktionsweise mit den daraus er-
können, muss das Grundeinkommen aber einer-           wachsenden Klassenverhältnissen resultiert. Es
seits hoch genug angesetzt sein, um tatsächlich       geht hier, wohlgemerkt, nicht um die Abschaf-
existenzsichernd nicht nur im materiellen Sinne,      fung des Kapitalismus, sondern um die Annah-
sondern auch bezüglich der Möglichkeiten zu           me, dass der Fähigkeit, gesellschaftlichen Reich-
sozialer und kultureller Teilhabe zu wirken, und      tum mit zunehmend weniger (kapitalistischer!)
andererseits mit der Aufrechterhaltung und Stär-      Arbeit zu erzeugen, effektiv nicht mit einer blo-
kung formeller Partizipationsrechte der Arbeit-       ßen Umverteilung dieses Reichtums entgegenge-
nehmer wie auch der Aufrechterhaltung be-             treten werden kann. Dies ändert nämlich nichts
stimmter bisheriger sozialer Sicherungsmechanis-      an der Tatsache, dass die Lebensweise eines Groß-
men verbunden sein, um die Wahl für oder gegen        teils der Bevölkerung weiterhin vom Markt ab-
Erwerbsarbeit tatsächlich zu einer echten Wahl        hängt, letzterer aber immer weniger in der Lage
zu machen (es muss also darauf vertraut werden        ist, eine mehr oder weniger ausgeglichene Ver-
können, auch in besonderen Notlagen wie etwa          teilung der Mittel zu garantieren. Aus dieser Pers-
schwerer Krankheit nicht auf den Kosten sitzen        pektive „wird die tatsächliche Wirkung eines
zu bleiben). Vertreter eines solchen ‚emanzipato-     Grundeinkommens nicht ausschließlich von sei-
rischen‘ Grundeinkommens machen zudem kei-            ner eigenen inneren Logik, sondern von seiner
nen Hehl daraus, dass ihre Position als politisches   Einbettung in ein System von sozialpolitischen
Projekt verstanden werden kann und nicht den          Maßnahmen und von der Geschlechterperspek-
Anspruch erhebt, eine objektive, ideologiefreie       tive abhängen, aus der es konzipiert ist“ (Baier
Analyse der aktuellen Problemlage zu liefern. So      2007: 62). Ähnlich argumentiert Eric Olin Wright:
erklärt zum Beispiel die Bundesarbeitsgemein-         Ein Grundeinkommen aus linker, emanzipato-
schaft Grundeinkommen der Linken explizit ihr         rischer Perspektive „is not, however, primarily
Konzept für ein Grundeinkommen als „politisch         about social justice as such. It is about creating
gewollt: Durch ein Grundeinkommen wird die            the conditions under which a stable move toward

                                                                                                            13
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 Diskurs                                                                                       Friedrich-Ebert-Stiftung

           more equal power within class relations can be        und Finanzierung hinaus auf einem breiten ge-
           achieved“ (Wright 2004: 85). Ein Grundeinkom-         sellschaftlichen Konsens beruht, welcher die Fra-
           men kann somit nicht für sich stehen und keines-      ge beantwortet, in welcher Gesellschaft wir in
           falls lediglich ein reformiertes Verteilungsinstru-   Zukunft leben wollen. Gleichzeitig wurden aber
           ment darstellen, sondern sollte darauf abzielen,      bislang vor allem die wesentlichen Motive mit ih-
           mit Hilfe einer Kombination von Maßnahmen             ren erwünschten Effekten diskutiert, die hinter
           die Gesellschaft als Ganzes in dem Maße unab-         der Idee eines Grundeinkommens stehen. Um die
           hängiger vom Markt zu machen, in dem der              zahlreichen vorgeschlagenen Grundeinkommens-
           Markt den Zusammenhalt eben dieser Gesell-            modelle vergleichend gegenüberstellen und An-
           schaft nicht mehr garantieren kann. Bereits in        nahmen über deren potenzielle Auswirkungen
           den 80er Jahren konstatierte André Gorz, das          treffen zu können, ist es allerdings wichtig, auch
           Grundeinkommen, wie es seinerzeit diskutiert          die konkreten Begrifflichkeiten, mit denen in der
           wurde, sei vor allem „ein neues gesellschaftliches    Debatte hantiert wird, genauer unter die Lupe zu
           Konzept der Rechten, das Konzept einer ge-            nehmen und deren unterschiedliche ideologische
           spaltenen Zukunftsgesellschaft: Auf der einen         Hintergründe darzulegen. Die Tatsache, dass ver-
           Seite eine Arbeitselite, angetrieben von Leistungs-   schiedene Vorschläge für ein Grundeinkommen
           ethik, Wettbewerbsgeist und Konsum-Sucht; auf         oftmals mit denselben Begriffen und Begrün-
           der anderen Seite eine Mehrheit ohne regelmä-         dungen hantieren, erschwert die bewertende Ge-
           ßige Arbeit, die dank des Grundeinkommens ihr         genüberstellung der Konzepte ungemein. Von
           Leben mehr schlecht als recht fristet und sich um     Bedeutung ist deshalb nicht nur ein ‚Lesen‘ der
           das Vorrecht streitet, der Arbeitselite irgendwel-    einzelnen Vorschläge, sondern auch ihre Deutung,
           che persönlichen Dienste zu Niedrigstpreisen ver-     indem zentrale Begrifflichkeiten vor dem Hinter-
           kaufen zu dürfen. Dies ist die Gesellschaft, die      grund der potenziellen Motive interpretiert wer-
           gegenwärtig im Entstehen ist“ (Gorz 1986: 61).        den. Die folgenden Absätze beschränken sich le-
           Um einer solchen Gesellschaft „entgegentreten         diglich auf einige Bemerkungen zu den Begriffen
           zu können, ist es wesentlich, dass die Forderung      ‚Armut‘ und ‚Freiheit‘. Beide Begriffe sind in der
           nach einem Grundeinkommen unauflöslich mit            Diskussion um ein Grundeinkommen von zen-
           der allgemeinen Reduzierung der Arbeitszeit und       traler Bedeutung. Aus diesem Grunde sollen hier
           der Ausweitung der autonomen Tätigkeiten ver-         nur in knapper Form einige unterschiedliche
           knüpft wird, ohne Reduzierung des Lebensstan-         Interpretationen hervorgehoben werden, die als
           dards oder des sozialen Schutzes“ (ebd.).             Anhaltspunkt für die spätere Diskussion der ein-
                                                                 zelnen Modelle dienen können.
                                                                      Armut. Die Bekämpfung von Armut steht seit
           Freiheit, Gleichheit, Bürgerlichkeit:                 den Anfängen der Debatte im 16. Jahrhundert im
           gesellschaftspolitische Implikationen                 Zentrum der Entwürfe für ein allgemeines Grund-
           eines Grundeinkommens                                 einkommen bzw. eine allgemeine Grundsiche-
                                                                 rung. In der Einleitung wurden bereits zwei
           Wie im letzten Kapitel ausgeführt, ist die funda-     grundlegende Aspekte erwähnt, die in der Debat-
           mentale Frage, die an ein Grundeinkommen ge-          te um Armutsbekämpfung von Bedeutung sind
           stellt werden muss, ob damit in erster Linie eine     bzw. waren. Ihre allgemeine Rechtfertigung zog
           Veränderung der gesellschaftlichen Produktions-       die Forderung nach Armenhilfe zunächst aus der
           weise oder aber eine Stabilisierung der dominan-      Tatsache, dass sich wachsende Produktivität und
           ten Produktionsverhältnisse bezweckt werden           ökonomischer Reichtum nicht positiv auf den
           soll. Dies deutet erneut darauf hin, dass ein         Reichtum der Gesellschaft als Ganzes auswirkten.
           Grundeinkommen nur dann nachhaltigen Erfolg           Im Rahmen der Forderung nach breiterer Ver-
           verspricht, wenn das Projekt über einen Kompro-       teilung des gesellschaftlichen Reichtums gewann
           miss bezüglich seiner konkreten Ausgestaltung         zudem die Unterscheidung zwischen öffentlichen

    14
Wirtschafts- und Sozialpolitik
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                                                                                                               Diskurs

oder notwendigen Gütern auf der einen Seite und        hung von Anreizstrukturen zur Annahme jedwe-
Markt- oder Luxusgütern auf der anderen Seite          der zur Verfügung stehenden Erwerbsarbeit und
an Bedeutung. War die Frage, welche Güter ‚not-        damit auf die Schaffung eines breit angelegten
wendig‘ sind, damals noch relativ klar formuliert      Niedriglohnsektors zielt, muss zumindest die Fra-
und umfassten Grundnahrungsmittel, Kleidung            ge in Erwägung gezogen werden, ob ein solches
sowie ein Dach über dem Kopf, haben die Ent-           Modell zwar auf der einen Seite Armutsrisiken
wicklungen des 20. Jahrhunderts dem absoluten          bekämpft, welche sich durch die anhaltende
einen relativen Armutsbegriff zur Seite gestellt.      Massenarbeitslosigkeit und die offensichtlich ein-
Arm ist nun nicht mehr nur zwangsläufig dieje-         geschränkte Problemlösungsfähigkeit der gegen-
nige Person, deren physische Existenz nicht aus-       wärtigen sozialen Sicherungssysteme ergeben,
reichend abgesichert ist, sondern auch solche Ge-      diese Form von Armut aber letztlich durch eine
sellschaftsmitglieder, deren Möglichkeiten an so-      neue Form – Einkommensarmut – ersetzt und da-
zialer und kultureller Teilhabe und damit auch         mit für die Betroffenen selbst wenig ändert, dafür
demokratischer Partizipation in Relation zu dem        aber lediglich die Finanzierung der Armutsbe-
mehrheitlichen Standard der jeweiligen Gesell-         kämpfung von den Lohnkosten auf das allgemei-
schaft eingeschränkt sind. Allerdings – und dies       ne Steuersystem schiebt. Zu beachten wäre dem-
wird in der späteren Diskussion der unterschied-       gemäß zum Beispiel, ob ein Grundeinkommen
lichen Grundeinkommensmodelle deutlich – ist           mit der Einführung eines allgemeinen gesetzli-
eine solche Interpretation von Armut alles andere      chen Mindestlohnes verknüpft ist.
als allgemein anerkannt. Zwar hantiert zum                   Freiheit. Ähnlich verhält es sich mit dem Be-
Beispiel auch die Europäische Union mit einem          griff der Freiheit. Im neoliberalen Sinne wird Frei-
Armutsbegriff, welcher soziale und kulturelle          heit vor allem gleichgesetzt mit der Freiheit der
Teilhabe beinhaltet: „Verarmte Personen sind           Marktteilnehmer, ihre Entscheidungen unabhän-
Personen, die über so geringe (materielle, kultu-      gig von staatlichen Regulierungen oder sozial-
relle und soziale) Mittel verfügen, dass sie von der   politischen Verpflichtungen zu treffen. Im neo-
Lebensweise ausgeschlossen sind, die in dem Mit-       liberalen Sozialstaatsdiskurs wird Freiheit oft in-
gliedstaat, in dem sie leben, als Minimum an-          terpretiert als die Freiheit, arbeiten zu können
nehmbar ist“ (Europäischer Rat 1985). Dieser hat       und damit unabhängig (frei) von staatlicher Für-
allerdings keinerlei rechtsverbindliche Auswir-        sorge und bürokratischer Gängelung zu sein. Die-
kungen. Wichtig für die vergleichende Betrach-         sem aktiven Freiheitsbegriff – die Freiheit, etwas
tung der Modelle ist aber, dass dort Armutsbe-         (auf eine bestimmte Art und Weise) tun zu kön-
kämpfung nicht gleich Armutsbekämpfung ist.            nen – kann jedoch auch ein passiver Freiheits-
Zwar stellt letztere eine der am öftesten genann-      begriff entgegengehalten werden – eben die Frei-
ten Rechtfertigungen für die Forderung nach            heit, nichts zu tun, die Freiheit zur Enthaltung,
einem Grundeinkommen dar; die Interpretation,          oder anders formuliert: Freiheit auch im Sinne
was darunter zu verstehen ist, zieht allerdings        von Freiwilligkeit (vgl. auch Blaschke 2007). Diese
Vorschläge für die Höhe eines Grundeinkom-             Unterscheidung ist, wie wir sehen werden, in der
mens nach sich, die sich zwischen 400 bis 500          Debatte um ein Grundeinkommen von zentraler
Euro pro Monat einerseits und 1.500 Euro mo-           Bedeutung. Ebenso wie beim Armutsbegriff hat
natlich auf der anderen Seite bewegen. Von Be-         das jeweils vorrangige Freiheitsverständnis wich-
deutung ist weiterhin auch die Feststellung, dass      tige Auswirkungen auf die Gestaltung der Höhe
sich der Zusammenhang zwischen Grundein-               eines Grundeinkommens – und umgekehrt. Die
kommen und Armut nicht allein auf die Höhe             ‚Verbesserung‘ von Anreizstrukturen zur Auf-
der Sicherung reduzieren lässt. Zu beachten sind       nahme von Erwerbsarbeit, die sich in der Regel
vielmehr auch die zu erwartenden Auswirkungen          aus einem niedrigen Grundeinkommen an oder
des jeweiligen Grundeinkommensmodells. So-             gar unterhalb der Armutsgrenze ergibt, impliziert
fern letzteres beispielsweise explizit auf die Erhö-   in diesem Sinne eine gewaltige Einschränkung

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WISO
 Diskurs                                                                                      Friedrich-Ebert-Stiftung

           der individuellen Freiheit – indem die Freiheit       selbstbestimmten und eigenständigen Gestaltung
           zur Enthaltung verwehrt wird. Aus dieser Perspek-     der Lebensweise unabhängig vom Markt sichern
           tive greift zudem die klassischere Unterscheidung     können. Die Debatte um ein Grundeinkommen
           zwischen positiver und negativer Freiheit: Ein all-   beschränkt sich somit auch hier nicht auf so-
           gemeines und bedingungsloses Grundeinkom-             zialpolitische Problemstellungen, sondern impli-
           men, welches die Freiheit von Arbeit bzw. Arbeits-    ziert zudem grundlegende demokratietheoreti-
           verpflichtung grundsätzlich garantiert (negative      sche Fragen.
           Freiheit), wird erst dann auch zu einer positiven          Das folgende Kapitel soll nun die aktuelle
           Freiheit, wenn die zur Verfügung stehenden Mit-       Debatte um ein Grundeinkommen in Deutsch-
           tel tatsächlich die Fähigkeit und Freiheit zu einer   land aufnehmen.

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