Diskurs Das Grundeinkommen in der deutschen Debatte - Leitbilder, Motive und Interessen - Bibliothek ...
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März 2009 Expertisen und Dokumentationen zur Wirtschafts- und Sozialpolitik Diskurs Das Grundeinkommen in der deutschen Debatte Leitbilder, Motive und Interessen Gesprächskreis Sozialpolitik 1
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Diskussionspapier im Auftrag des Gesprächskreises Sozialpolitik der Friedrich-Ebert-Stiftung Das Grundeinkommen in der deutschen Debatte Leitbilder, Motive und Interessen Björn Wagner
WISO Diskurs Friedrich-Ebert-Stiftung Inhalt Vorbemerkung 3 1. Einleitung 4 2. Die Ideen hinter der Idee: Ist ein Grundeinkommen sozial oder neoliberal? 6 Kompensation vs. Arbeitsumverteilung: Ist ein Grundeinkommen marktkonform? 10 Freiheit, Gleichheit, Bürgerlichkeit: gesellschaftspolitische Implikationen eines Grundeinkommens 14 3. Die aktuelle Debatte: Ist Deutschland reif für ein Grundeinkommen? 17 Grundeinkommensmodelle in der Theorie: eine idealtypische Kategorisierung 17 Grundeinkommensmodelle in der Praxis: gute Gründe, wenig Einkommen? 21 Der neoliberale Diskurs 21 Der sozialliberale Diskurs 26 Der sozial-egalitäre Diskurs 31 Der emanzipatorische Diskurs 34 4. Zusammenfassung und Schlussfolgerungen: Perspektiven für eine sozialdemokratische Politik 39 Bibliographie 41 Informationen zum Autor 44 Übersicht der Tabellen: Tabelle 1: Idealtypische Kategorisierung von Grundeinkommensdiskursen 20 Tabelle 2: Neoliberale Grundeinkommensmodelle 22 Tabelle 3: Sozialliberale Grundeinkommensmodelle 27 Tabelle 4: Sozial-egalitäre Grundeinkommensmodelle 33 Tabelle 5: Emanzipatorische Grundeinkommensmodelle 35 Dieses Diskussionspapier wird von der Abteilung Wirtschafts- und Sozialpolitik der Friedrich-Ebert-Stiftung veröffentlicht. Die Ausführungen und Schlussfolgerungen sind von dem Autor in eigener Verantwortung vorgenommen worden. Impressum: © Friedrich-Ebert-Stiftung Herausgeber: Abteilung Wirtschafts- und Sozialpolitik der Friedrich-Ebert-Stiftung Godesberger Allee 149 53175 Bonn Fax 0228 883 9205 www.fes.de/wiso Gestaltung: pellens.de Druck: bub Bonner Universitäts-Buchdruckerei ISBN: 978-3-86872-057-0
Wirtschafts- und Sozialpolitik WISO Diskurs Vorbemerkung Wie schon in den 80er Jahren findet gegenwärtig Wir haben Björn Wagner von der Universität eine Debatte um das Bedingungslose Grundein- Jena um eine Darstellung bestehender Konzepte kommen wieder erhöhte Aufmerksamkeit. Diese zum Bedingungslosen Grundeinkommen gebe- Aufmerksamkeit erhält sie, da in ihr der Anspruch ten, in der die Leitbilder, Motive und potenziellen erhoben wird, ein akzeptableres Sozialstaatsmo- Auswirkungen der jeweiligen Positionen deutlich dell anbieten zu können als z.B. das Konzept zum werden. Wir haben ihn auch um die Beantwor- Vorsorgenden Sozialstaat. tung der Frage gebeten, ob es zwischen den Kon- Bei der Auseinandersetzung um das bessere zepten Bedingungsloses Grundeinkommen und Sozialstaatsmodell geht es um eine ganze Reihe Vorsorgender Sozialstaat Berührungspunkte und/ grundsätzlicher Themen, wie z.B. die Verteilung oder scharfe Abgrenzungen gibt. gesellschaftlichen Reichtums, um Menschenwür- Wir bedanken uns bei Herrn Wagner für sein de und Teilhabe einschließlich aktiver demokra- Engagement und seine konstruktive Zusammen- tischer Mitwirkung, um staatliche Strategien arbeit. gesellschaftlicher Gestaltung und deren Reich- weite sowie das Verhältnis von Bedingungslosem Peter König Grundeinkommen und sozialer Sicherung. Es geht Leiter des Gesprächskreises Sozialpolitik auch um die Frage, welches Sozialstaatsmodell – z.B. Bedingungsloses Grundeinkommen oder Vorsorgender Sozialstaat – größere Innovationen auslösen würde. 3
WISO Diskurs Friedrich-Ebert-Stiftung 1. Einleitung Die Idee eines Grundeinkommens ist nicht neu.1 Grundeinkommen spielt, verschob sich in den In ihrer allgemeinsten Form geht sie der Ent- 1980er Jahren der Fokus der Argumentation er- wicklung kapitalistischer Produktionsverhältnis- neut und richtete sich verstärkt auf die Notwen- se weit voraus. Bereits die etwa 700 v. Chr. ein- digkeit der Reform des keynesianischen Wohl- geführte und rund 500 Jahre unangetastete Ver- fahrtsstaates. Angetrieben durch die augenschein- fassung des antiken Sparta sah eine Trennung liche Krise des fordistischen Produktionsmodells zwischen notwendigen und Luxusgütern vor: Ers- und die angesichts steigender Massenarbeitslosig- tere standen jedem Mitglied der Gesellschaft un- keit mangelnde Problemlösungsfähigkeit lohnar- abhängig von der erbrachten Arbeitsleistung zur beitszentrierter Sicherungssysteme war es unter Verfügung. Hier wie auch bei Thomas Morus – anderem der französische Intellektuelle André gewissermaßen der Ausgangspunkt neuzeitlicher Gorz (1983), der der Idee neue Impulse verlieh. In Vorschläge für eine öffentliche Daseinsfürsorge – Deutschland waren es vor allem Michael Opielka ging es indes noch in erster Linie um die Siche- und Georg Vobruba, die gewissermaßen als Vor- rung der allgemeinen Grundversorgung durch kämpfer für ein allgemeines Grundeinkommen die Beschränkung aller Mitglieder der Gesell- gesehen werden können (vgl. Opielka/Vobruba schaft, indem Luxusgüter verpönt waren und die 1986, Vobruba 2006). Warenproduktion weitgehend auf das Notwen- Die Idee an sich ist also nicht neu. Nichtsde- dige reduziert wurde2. Gegen Ende des 19. Jahr- stotrotz wird die Debatte um ein allgemeines hunderts verschob sich hingegen der Schwer- Grundeinkommen in regelmäßigen Abständen punkt allmählich von der Bewältigung der all- neu geführt. Vor diesem Hintergrund sollte es da- gemeinen Knappheit zur Verteilung des durch mit in der vorliegenden Studie weniger darum Industrialisierung und Produktivitätsfortschritte gehen, konkrete Ausgestaltungs- und Finanzie- erzeugbaren Überschusses. Symptomatisch hier- rungsdetails der aktuellen Grundeinkommens- für steht die Frage Theodor Hertzkas (1890, zit. modelle zu diskutieren. Wesentlicher ist die Fra- nach Vobruba 2006: 73): „Warum werden wir ge, was das eigentlich Neue an der gegenwärtigen nicht reicher nach Maßgabe unserer wachsenden Auseinandersetzung ist. Um die Antwort partiell Fähigkeit, Reichtum zu erzeugen?“ Während die- vorwegzunehmen: Neu an der aktuellen Diskus- se Frage weiterhin eine bedeutende Rolle in ge- sion ist sicherlich, dass die Forderung nach einem genwärtigen Diskussionen um ein allgemeines allgemeinen Grundeinkommen erstmals auch 1 Das vorliegende Papier ist als Diskussionsgrundlage im Rahmen des von der Friedrich-Ebert-Stiftung geförderten Projekts „Das Grund- einkommen in der gesellschaftspolitischen Debatte“ entstanden (Projektleitung: Prof. Dr. Stephan Lessenich, Friedrich-Schiller-Univer- sität Jena). Stand des Papiers ist der 1. Januar 2008. Vgl. diesbezüglich auch Lessenich 2009: http://library.fes.de/pdf-files/wiso/06193.pdf 2 In Sparta war durch eine quasi-Abschaffung des Geldes – die alten Gold- und Silbermünzen wurden aus dem Verkehr gezogen, stattdes- sen führte man spezielles Geld aus Eisen ein, welches aufgrund seines enormen Gewichts faktisch nicht nutzbar und zudem zur Weiter- verarbeitung ungeeignet war – die Herstellung von Luxusgütern nicht lohnenswert, weshalb sich die Produktion weitgehend auf die notwendigen Güter beschränkte. Thomas Morus‘ Hauptwerk Utopia (1516) folgt dieser Logik einer gerechten Verteilung der Knappheit weitgehend. Bei Morus findet sich indes erstmals auch das Prinzip ‚Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen‘, die Versorgung beruht somit auf Gegenleistung jedes Einzelnen. Allerdings richtet sich dies, vor dem Hintergrund der damaligen feudalgesellschaftlichen Ver- hältnisse in England, vor allem gegen Adel und Klerus und deren Nichtbeteiligung am Arbeitseinsatz. Morus‘ Anliegen zielte damit vor allem auf die Argumentation, dass bei gleichberechtiger Verteilung der notwendigen Arbeit eine allgemeine Grundversorgung möglich sei und zugleich das wirksamste Mittel gegen Kriminalität darstelle. 4
Wirtschafts- und Sozialpolitik WISO Diskurs von Unternehmerseite vehement vorgetragen mens diskutieren. Im Anschluss soll die gegen- wird. Dies eröffnet einerseits potenziell die Mög- wärtige deutsche Debatte strukturiert werden, lichkeit, eine breitere gesellschaftliche Basis für indem vier grundsätzliche Diskurse unterschie- die Realisierung eines Grundeinkommens zu den werden, die mit den Adjektiven neoliberal, schaffen. Andererseits könnte ein solcher gesell- sozialliberal, sozial-egalitär und emanzipatorisch schaftlicher Konsens auch fragil sein. Denn die umschrieben werden können. Die einzelnen Dis- Ausweitung des Unterstützerkreises bedeutet zu- kurse lassen sich vor allem mit Blick auf ihre gleich eine starke Diversifizierung der mit der Positionierung gegenüber zentralen sozial- und Forderung verbundenen Motivationen und Er- gesellschaftspolitisch relevanten Fragestellungen wartungen. So ist es zum Beispiel von grundsätz- voneinander abgrenzen, wie etwa das Verhältnis licher gesellschaftspolitischer Relevanz, ob einem des jeweiligen Grundeinkommensmodells zu den Grundeinkommen in erster Linie ein Kompen- gegenwärtigen sozialen Sicherungssystemen, zu sationszweck zugedacht wird, es also vor allem Entlohnungs- und Arbeitsmarktstrukturen oder eine neue Form der Armutsbekämpfung darstellt, zu Formen von Mitbestimmung und Partizipa- oder ob damit das Ziel einer Umverteilung ge- tion. Im Anschluss daran werden diese Diskurse sellschaftlich notwendiger Arbeit verbunden ist. und die damit verbundenen Vorschläge im Detail Diese Motivationen und Erwartungen stehen im diskutiert und nach Überschneidungen und An- Mittelpunkt der vorliegenden Studie. Zu diesem knüpfungspunkten gefragt. Das Schlusskapitel Zweck wird das folgende Kapital zunächst auf all- fasst die Ergebnisse zusammen und gibt einen gemeiner Ebene potenzielle Auswirkungen und Ausblick auf die Fragen, die bei der weiteren De- Transformationspotenziale eines Grundeinkom- batte im Mittelpunkt stehen sollten. 5
WISO Diskurs Friedrich-Ebert-Stiftung 2. Die Ideen hinter der Idee: Ist ein Grundeinkommen sozial oder neoliberal? In diesem Kapitel sollen zunächst einige grund- tenzsicherndes Einkommen bereits durch das sätzliche Konflikte ausgearbeitet werden, welche Grundeinkommen gegeben wäre. Für die Arbeit- sich hinter der Idee eines Grundeinkommens ver- nehmerseite würde sich im besten Falle nichts bergen können. Dabei wird die deutsche Debatte verändern: Der ‚Zwang‘ zur Arbeit wäre weiterhin zunächst nur am Rande gestreift werden. Die fol- gegeben, während sich das Einkommen nur un- gende Diskussion dient eher dem Zweck, auf ab- wesentlich vom vorherigen Einkommen unter- strakter Ebene einige Kategorien zu benennen, scheiden würde (es hätte sich also faktisch nur welche bei der Strukturierung der deutschen De- die Quelle des Einkommens partiell verändert). batte behilflich sein können. Im ungünstigeren Falle könnte das verfügbare Die Tatsache, dass aktuell ein Grundeinkom- Einkommen real aufgrund der höheren Ver- men von so unterschiedlichen Akteuren wie der brauchssteuern sogar sinken; würde es zudem Bundesarbeitsgemeinschaft Grundeinkommen in und gleichzeitig zu einer weiteren Lockerung tarifver- bei der Partei DIE LINKE auf der einen Seite und traglicher Strukturen kommen, zöge dies darüber dem Unternehmer Götz Werner oder der FDP auf hinaus eine verschlechterte Verhandlungsposi- der anderen Seite vorgeschlagen beziehungsweise tion der Arbeitnehmer nach sich. Dieses Modell eingefordert wird, lässt bereits vermuten, dass mit bzw. Motiv ließe sich als neoliberal bezeichnen. der Idee eines Grundeinkommens stark unter- Am anderen Ende der idealtypischen Skala schiedliche Motivationen verbunden sind, die könnte ein Grundeinkommen aber auch den ent- sich vor allem hinsichtlich ihrer Positionierung gegengesetzten Effekt haben. Wäre das Grund- gegenüber dem Verhältnis von Markt und Gesell- einkommen hoch genug angesetzt, um tatsäch- schaft differenzieren lassen. Idealtypisch lassen lich existenzsichernd zu wirken und wären zu- sich zunächst zwei diametral entgegengesetzte gleich über eine Mindestlohngesetzgebung sowie Motive beziehungsweise Anreize für ein Grund- den Bestand von Tarifautonomie und Arbeitneh- einkommen unterscheiden. Je nach Ausgestal- merrechten bestehende Lohnstrukturen abgesi- tung der konkreten Regelungen im Detail könnte chert, könnte dies in der Tat den Effekt einer Ent- ein Grundeinkommen dementsprechend stark kopplung von Arbeit und Einkommen im posi- variierende Folgen nach sich ziehen: tiven Sinne haben: Gesamtgesellschaftlich wäre Zunächst könnte ein Grundeinkommen zu damit nicht auszuschließen, dass es zu einer weit- einer doppelten Entlastung der Arbeitgeberseite reichenden Arbeitsumverteilung käme, und zwar führen. Würde man ein Grundeinkommen, wie gleichermaßen zwischen den Geschlechtern wie dies in einigen Modellen gefordert wird, zum auch innerhalb der Erwerbsbevölkerung als Gan- Beispiel weitgehend über Verbrauchssteuern finan- zes. Durch den Wegfall des (finanziellen) Zwangs zieren und würden zugleich bisherige Sozial- zur Arbeit könnten damit sowohl unbezahlte Tä- versicherungsleistungen wegfallen, hätte dies ei- tigkeiten aufgewertet, die gesellschaftliche Posi- nen senkenden Effekt auf die Lohnnebenkosten. tion und Autonomie der Arbeitnehmer gestärkt Zusätzlich könnte es zu einer Ausweitung des und ihre Verhandlungsposition gegenüber dem Niedriglohnsektors bzw. einer generellen Lohn- Arbeitgeber verbessert werden. Ein solches Mo- senkung kommen, da die Löhne ja nun nicht dell bzw. Motiv könnte man also als emanzipato- mehr alleine die Reproduktionskosten decken risch bezeichnen. müssten, sondern ein mehr oder weniger exis- 6
Wirtschafts- und Sozialpolitik WISO Diskurs Diese Gegenüberstellung ist gleichermaßen • es wird einkommensunabhängig ausgezahlt, ist spekulativ wie extrem. Die realen Auswirkungen also nicht bedürftigkeitsgeprüft; eines Grundeinkommens würden sich vermut- • der Anspruch auf ein Grundeinkommen ist an lich eher irgendwo zwischen diesen zwei Model- keinerlei Arbeitsleistung oder -bereitschaft geknüpft. len bewegen (was allerdings nicht weniger spe- Allerdings handelt es sich hierbei nur um ein kulativ ist ...). Die Idealtypen verdeutlichen aber mögliches Grundeinkommensmodell, nämlich das zum einen, dass es lohnenswert ist, sich im Rah- sogenannte bedingungslose Grundeinkommen, wel- men der Debatte um ein Grundeinkommen und ches weder an eine Prüfung finanzieller Bedürftig- jenseits der vordergründigen Rhetorik seiner Ver- keit noch an die Sphäre der Erwerbsarbeit gekop- fechter auf die dahinterstehenden Motive einzu- pelt ist. Als denkbare Varianten eines Grundein- lassen und diese zu verstehen. Zum anderen – kommens werden aber ebenso Modelle diskutiert, und darauf basierend – wird deutlich, dass sich die in Richtung einer bedarfsabhängigen Grundsi- eine Debatte nicht alleine auf die Fragen von Fi- cherung, eines an gemeinnützige Arbeit gekop- nanzierung eines Grundeinkommens und seines pelten Bürgergeldes für Erwerbslose oder einer Verhältnissses gegenüber konventionellen sozial- negativen Einkommenssteuer gehen. Die einzelnen staatlichen Strukturen beschränken sollte. Mit Vorschläge werden an anderer Stelle noch disku- einzubeziehen sind vielmehr eine Vielzahl von tiert werden, festzuhalten ist für den Moment vor Fragen und Detailregelungen, die nicht nur – wie allem, dass es unterschiedliche Varianten eines oben beschrieben – Lohn- und tarifvertragliche Grundeinkommens gibt, deren jeweilige Moda- Strukturen betreffen, sondern zahlreiche gesell- litäten wiederum umstritten sein können. Für schaftsstrukturelle und normative Grundfragen. welches Modell optiert wird, hängt in der Regel Ein Grundeinkommen, welches sich nicht auf vor allem von drei Aspekten ab: einen breiten gesellschaftlichen Konsens in die- • Die spezifischen Motive und Absichten, die mit ser Hinsicht stützen kann, wäre vermutlich – un- einem Grundeinkommen verbunden sind; abhängig von seiner konkreten Ausgestaltung – • Erwartungen bezüglich der Finanzierbarkeit von vornherein zum Scheitern verurteilt. Im Fol- sowie genden sollen dementsprechend einige wesent- • das jeweilige Menschenbild der Verfechter liche Motive, Begrifflichkeiten und Zusammen- eines Modells, anders formuliert: die Erwar- hänge kontrovers diskutiert werden, die im Rah- tungen an die Reaktion der Betroffenen, ob es men der Debatte von grundsätzlicher Relevanz also zum Beispiel infolge eines bedingungs- sind. losen Grundeinkommens zu einem massen- Die Schwierigkeiten bei der Debatte um ein haften Rückzug vom Arbeitsmarkt und damit Grundeinkommen fangen indes bereits bei der ökonomischer Instabilisierung kommen würde Frage der Definition an. Die Mehrheit der Auto- oder aber im Gegenteil zu freierer, selbstbe- ren stützt sich dabei auf die Definition des Basic stimmterer und damit auch produktiverer Ar- Income Earth Network (BIEN) und dessen deutschem beit. Ableger, das Netzwerk Grundeinkommen: Demnach Im Rückblick auf die Debatte der 80er Jahre un- handelt es sich um „ein Einkommen, das bedin- terscheidet Vobruba (2006: 176ff.) gesellschafts- gungslos jedem Mitglied einer politischen Gemein- politische, ökonomische und sozialpolitische Ar- schaft gewährt wird, ohne Bedürftigkeitsprüfung gumente für ein Grundeinkommen (siehe Kasten). oder Arbeitspflicht“ (www.netzwerk-grundeinkom- So hilfreich diese Kategorisierung für deskriptive men.de). Somit unterscheidet sich ein Grundein- und analytische Zwecke ist, so ungeeignet erweist kommen von der derzeitigen Form der Mindest- sie sich indes, wechselt man von der Ebene der sicherung in Deutschland mindestens in dreier- Argumente für ein Grundeinkommen auf die lei Hinsicht: Ebene der Motive. Damit ist keineswegs gesagt, • Es besteht ein individueller Rechtsanspruch, das dass in der laufenden Diskussion die vorgetra- heißt es wird an Individuen und nicht an genen Argumente lediglich dazu dienen, die da- Haushalte gezahlt; hinter stehenden Motive und Absichten zu ver- 7
WISO Diskurs Friedrich-Ebert-Stiftung schleiern. Genauso wenig ist aber das Gegenteil der Fall, dass also (öffentlichkeitswirksame) Argu- Argumente für ein Grundeinkommen mente immer deckungsgenau die spezifischen Motive der jeweiligen Akteure widerspiegeln. 1. Gesellschaftspolitische Argumente Mindestens ist demgegenüber zu beobachten, dass ähnliche oder gleichlautende Argumente Das Autonomieargument. Dieses repräsentiert ohne (für die laufende Diskussion wären hier vor allem Zweifel die älteste Begründung für ein Grundein- das Arbeitslosigkeitsargument, das Armutsargu- kommen. Explizit oder implizit wurde an die ment und das Bürokratieargument zu nennen) klassischen Utopien, Randfiguren der sozialisti- von Vertretern unterschiedlicher politischer La- schen Bewegung(en) und an die anarchistische ger mit stark divergierenden gesellschaftspoli- Tradition angeknüpft. Die Forderung nach einem tischen Leitbildern vorgetragen werden. Diese garantierten Grundeinkommen richtet sich mit gesellschaftspolitischen Leitbilder aber sind es, die diesem Argument gegen den Zwang zur und die im Mittelpunkt der Analyse der Debatte um ein Fremdbestimmung von Arbeit. Ihre Rechtferti- Grundeinkommen stehen sollten, da nur auf die- gung findet sie in einem nicht weiter explizierten ser Grundlage die Möglichkeiten für ein breites „Menschenrecht“, ihre Realisierbarkeit in Vor- gesellschaftliches Bündnis, welches auf einem stellungen immenser säkularer Produktivitäts- breitestmöglichen Konsens basiert, ausgelotet steigerungen kapitalistischer Ökonomie. werden können. Wendet man sich solchen Leit- bildern zu, wird ebenfalls deutlich, dass hier die Das Ökologieargument. Dieses Argument ist dem Trennlinien zwischen gesellschaftlichen, ökono- Autonomieargument insofern verwandt, als ein mischen und sozialpolitischen Argumenten ver- Grundeinkommen die materiell unterfütterte schwimmen und statt dessen fundamentale Fra- Möglichkeit zur Verweigerung von ökologisch gen gesellschaftlicher Organisation – inklusive (oder friedenspolitisch) problematischer abhän- giger Erwerbsarbeit eröffnet. In diesem Aspekt ihrer ökonomischen und (sozial-) regulativen partizipierte die Forderung nach einem Grund- Grundlagen – ins Blickfeld treten. Anders formu- einkommen an der als selbstverständlich voraus- liert: Die Idee eines Grundeinkommens „ist weit- gesetzten Rechtfertigung ihres Effekts. Bei einem aus mehr als eine technisch-administrative Re- Instrument, das die ökologie- und friedenspoli- form. Sie berührt zentrale Fragen der Ordnungs- tische Handlungsfähigkeit stützt, erübrigte sich bzw. Gesellschaftspolitik in modernen Gesell- die Frage seiner Rechtfertigung. schaften“ (Opielka/Strengmann-Kuhn 2007: 26). Weiter oben wurde bereits die unterschiedliche Das frauenpolitische Argument. Auch dieses Argu- Positionierung der verschiedenen Vorschläge ment kann man als eine Art Derivat des Autono- hinsichtlich des impliziten Verhältnisses von miearguments begreifen. Ein Grundeinkommen Markt und Gesellschaft angesprochen. Im Fol- wurde begründet als materielle Fundierung zum genden sollen einige dieser Aspekte detaillierter Ausstieg aus ungewünschter oder unzumutbaren diskutiert werden. Lebenssituationen. Diese Begründung freilich blieb keineswegs unbestritten. Das Gegenargu- ment lautete, dass ein Grundeinkommen die Ver- drängung der Frauen aus dem Arbeitsmarkt er- leichtere. Offensichtlich steht hinter dieser Dis- kurskonstellation die – wenn ich recht sehe – bis heute unaufgelöste Kontroverse um die Einschät- zung von abhängiger Erwerbsarbeit als emanzi- pationsfördernd oder -behindernd. 8
Wirtschafts- und Sozialpolitik WISO Diskurs 2. Ökonomische Argumente Sicherungsfunktion immer weniger erfüllen kann. Einem Grundeinkommen als Instrument Das Argument alternativer Arbeit. Wichtig, und mit zur Absicherung der Gesellschaft nach unten dem Ökologieargument verbunden, war das Ar- („Abschaffung der Armut“) wurde entgegenge- gument, ein Grundeinkommen könne als Grund- halten, dass dieses Ziel auch im Rahmen der ge- lage selbstbestimmter Tätigkeiten fungieren. We- gebenen Institutionen des Sozialstaats, durch niger prominent war die Variante, es könne als „Sockelungen“ erreichbar sei, also ohne das Risi- Subvention für Unternehmensgründungen ge- ko eines sozialpolitischen Systemwechsels. nutzt werden. Weit populärer war die Vorstellung, mit einem Grundeinkommen ökonomisch nicht Das Bürokratieargument. Dieses Argument machte (oder nicht ganz) tragfähige Tätigkeiten in der eben diesen Systemwechsel zum Kern des Anlie- Alternativökonomie finanziell zu unterstützen. gens. Das Grundeinkommen wurde nicht als Er- gänzung, sondern als Ersatz für die bestehenden Das Kaufkraftargument. Dieses Argument funktio- Systeme sozialer Sicherung angesehen. Durch die niert in Verlängerung der konventionellen „built Standardisierung der Transferzahlungen und den in stability“ der Arbeitslosenversicherung. Der Wegfall diverser Einzelfallprüfungen wurden Sozialtransfer stabilisiert die Kaufkraft, und zwar Möglichkeiten eines radikalen (Sozial-) Bürokra- insbesondere in wirtschaftlichen Abschwüngen, tieabbaus gesehen. Eine problemlose Rechtferti- sichert so ausreichende Gewinne und Beschäfti- gung ergab dies nur im Rahmen eines liberalen, gung. Wie alle kreislauftheoretischen Argumente allenfalls ökolibertären Weltbildes. läuft auch dieses auf die Rechtfertigung des Grundeinkommens als im Interesse aller – Kon- Das Armutsfallenargument. Das Argument beruhte sumenten, Investoren und Arbeitskräfte – hinaus. auf der weit verbreiteten Überzeugung, dass an der Schnittstelle von Sozialhilfe und Arbeitsmarkt Das Arbeitslosigkeitsargument. Das war die Forde- eine fehlerhafte Anreizstruktur besteht: Die (so rung nach einem Grundeinkommen als Reaktion gut wie) vollständige Anrechnung von Erwerbs- auf die offensichtliche Unmöglichkeit, Vollbe- einkommen auf den Sozialtransfer belastet Um- schäftigung im Sinne der Sechziger- und frühen steiger von Sozialhilfe in Erwerbsarbeit mit einem Siebzigerjahre des 20. Jahrhunderts wiederherzu- unzumutbar hohen De-facto-Steuersatz – je nach stellen. Dieses Argument war rasch dem Einwand Freibetrag von etwa 80 –100 Prozent. Rationalen ausgesetzt, die Forderung nach einem Grundein- Einkommenskalkülen folgend verharren darum kommen sei das Eingeständnis eines Versagens – potenziell Beschäftigte im Sozialhilfebezug und womit die Debatte auf die Ebene der gesellschafts- bringen sich damit um die längerfristigen Mög- politischen Argumente wechselte. Das Argument lichkeiten materiellen Aufstiegs (...). Darum: war also umstritten und damals keineswegs „Armutsfalle“. Dem sollte durch ein Grundein- dominant. kommen in der technischen Ausgestaltung einer negativen Einkommenssteuer, welche fließende 3. Sozialpolitische Argumente Übergänge von Sozialtransferbezug in Erwerbs- einkommen ermöglicht, entgegengewirkt wer- Das Armutsargument. Es war dem Arbeitslosigkeits- den. Das Grundeinkommen (in Form der nega- argument ähnlich, aber prominenter. Seine tiven Einkommenssteuer) wird hier gerechtfertigt Grundlage war der Nachweis, dass das gegebene als Instrument zur Beseitigung einer Anreizkon- System sozialer Sicherung angesichts rascher stellation, welche selbstschädigendes Verhalten Wandlungsprozesse auf dem Arbeitsmarkt seine nahe legt. Quelle: Vobruba 2006, S.176–178. 9
WISO Diskurs Friedrich-Ebert-Stiftung Kompensation vs. Arbeitsumverteilung: 19) hat in den vergangenen Jahren zu einer zu- Ist ein Grundeinkommen marktkonform? nehmenden Konditionierung des sozialen Rechts auf eine sozio-kulturelle Mindestsicherung in Dies ist mit Sicherheit die grundlegende Frage- zweifacher Hinsicht geführt. Zum einen wird die stellung in Bezug auf ein Grundeinkommen, von Auszahlung sozialer Leistungen stärker als zuvor der sich im Prinzip sämtliche weiteren Aspekte an das verfügbare Haushaltseinkommen gekop- ableiten lassen. Wie bereits oben in den beiden pelt (und dazu zählt nicht nur ‚Einkommen‘ an- idealtypischen Extremen angedeutet, kann Sinn derer Haushaltsmitglieder im engeren Sinne, son- und Zweck eines Grundeinkommens nur in zwei dern ebenso finanzielle Reserven des Haushalts grundverschiedene Richtungen laufen. Entweder wie Spareinlagen, Vermögenswerte etc.) (Bedürf- ein Grundeinkommen bezieht seine Rechtfer- tigkeitsprüfung), zum anderen orientieren sich tigung aus dem Potenzial, den kapitalistischen Rechtsansprüche verstärkt an der Verfügbarkeit Markt und dessen gesellschaftliche Verankerung für den Arbeitsmarkt (workfare). Diese im SGB II zu stabilisieren und mit Blick auf Krisenerschei- geregelte „Grundsicherung für Arbeitsuchende“ nungen zu entlasten (und dies besser zu tun als („Hartz IV“) hat in den Augen vieler Beobachter bisherige Sozial- und Ordnungspolitiken), oder es jedoch auch mehr Probleme aufgeworfen als ge- bezieht seine Rechtfertigung gerade umgekehrt löst: Während die Reformen offenbar kein effek- aus dem Potenzial, angesichts von Instabilitäten tives Mittel zur Verhinderung von Armut darstel- der erwerbsarbeits- und marktzentrierten Gesell- len, ist zugleich der bürokratische Kontrollauf- schaftsordnung die individuelle Lebensführung wand enorm gestiegen und wird zudem von Be- von dieser zu entkoppeln. Mit anderen Worten troffenen oftmals als entwürdigend empfunden. lassen sich ein Kompensationsmotiv und ein Ar- Darüber hinaus ist fraglich, ob das workfare-Prin- beitsumverteilungsmotiv unterscheiden. Denkbar zip, also die Koppelung sozialer Leistungen an die ist eine mittlere Variante, nämlich die (partielle) Verfügbarkeit für den Arbeitsmarkt, angesichts Umverteilung von Arbeit als Kompensation. Wich- von vier bis fünf Millionen Erwerbslosen ver- tig ist dabei, wie im Folgenden deutlich wird, dass tretbar ist, nicht vor allem als Rechtfertigung für diese Unterscheidung nicht zu verwechseln ist Leistungskürzungen dient und allenfalls den mit der Unterscheidung zwischen der Verknüp- Effekt einer Entwertung erworbener Qualifika- fung von Arbeit und Einkommen einerseits und tionen hat, indem Leistungsempfänger oftmals der Entkopplung von Arbeit und Einkommen auf in einfache Tätigkeiten mit geringem Qualifika- der anderen Seite. tionsanspruch abgeschoben werden und damit Das Kompensationsmotiv. In erster Linie ist soziale Mobilität eher verbaut als fördert. das Kompensationsmotiv eine Antwort auf die Vor diesem Hintergrund fordern Vertreter Beobachtung, dass der deutsche Sozialstaat in sei- unterschiedlicher politischer Richtungen, das so- ner aktuellen Form zunehmend auf Schwierig- ziale Sicherungssystem radikal zu reformieren, keiten stößt, seinen selbstgestellten Anspruch d.h. es angesichts stark veränderter Bedingungen einzulösen. Ob man die Ursache für diese Ent- auf dem Arbeitsmarkt armutsfester zu gestalten. wicklung nun einer wie auch immer gearteten Die Verhinderung von Armut, also die finanzielle ‚Globalisierung‘, dem ‚Finanzmarktkapitalismus‘ Kompensation temporär oder dauerhaft erwerbs- oder aber gesellschaftlichen Wandlungsprozessen freier Zeiten, steht also im Mittelpunkt, ohne (Auflösung des ‚Ernährermodells‘, demographi- allerdings an den Grundfesten der herrschenden scher Wandel) zuschreibt, deutlich ist in jedem sozio-ökonomischen Ordnung zu rütteln. Im Ge- Fall, dass die Existenzsicherung durch Arbeit (di- genteil geht es darum, Wirtschaft und Gesell- rekt über ein ausreichendes Einkommen oder in- schaft an veränderte Bedingungen anzupassen direkt mittels über Erwerbsarbeit erworbene An- und sie zugleich für die damit verbundenen neu- sprüche) offenbar nicht mehr ausreichend ge- artigen Herausforderungen zu rüsten. Mit Blick währleistet werden kann. Dieser „Grundkonflikt auf ein Grundeinkommen sind hier nun, je nach für die bürgerliche Gesellschaft“ (Bischoff 2007: politischer Ausrichtung seiner Verfechter und 10
Wirtschafts- und Sozialpolitik WISO Diskurs ihrer Einschätzung der Problemlage, unterschied- Betrag, welchen eine Person bei Nichterwerbs- liche Optionen denkbar. tätigkeit als Steuergutschrift vom Finanzamt a) Wird das Problem in erster Linie in fehler- ausgezahlt bekäme – sollte zugleich unterhalb haften Anreizstrukturen gesehen, bietet sich die des formellen Existenzminimums liegen, um Einführung einer Negativen Einkommensteuer den Anreiz zur Arbeitsaufnahme in jedem an. Diesen Ansatz verfolgt beispielsweise das Fall zu gewährleisten (vgl. auch Mitschke 2000: ‚Liberale Bürgergeld‘ der Kommission Bürger- 53). geld – Negative Einkommensteuer (KoBüNE) der b) Eine alternative Sichtweise des Problems zielt FDP. Der Kommission zufolge besteht die we- stärker auf die Umverteilungsstruktur sozialstaat- sentliche Unzulänglichkeit der Hartz IV-Re- licher Leistungen. Die deutsche Sozialversi- form darin, dass das Leistungsprinzip im Nied- cherung ist stark auf das bis in die frühen 70er riglohnbereich außer Kraft – oder zumindest Jahre dominierende langjährige (männliche) nicht in Kraft – gesetzt wird. Die in der Grund- Vollzeit-Erwerbsverhältnis zugeschnitten. In sicherung für Arbeitsuchende festgesetzten dem Maße nun, wie dieses Erwerbsmodell Freibeträge von 15% bzw. 30% (je nach Höhe massiv an Bedeutung verloren und einem re- des Hinzuverdienstes) lassen in dieser Argu- lativ stark segmentierten und prekarisierten mentation die Arbeitsaufnahme im Niedrig- Arbeitsmarkt Platz gemacht hat, wirft dies für lohnbereich als nicht lohnend erscheinen und den Sozialstaat mehrere Probleme auf (vgl. zwingen somit die Betroffenen in die Armuts- auch Kumpmann 2007: 30f.). Zum einen gera- falle. Zwar ist die Negative Einkommensteuer ten die sozialen Sicherungssysteme durch die nicht die einzig mögliche Antwort auf das ver- Abnahme des Anteils klassischer sozialversi- meintliche Problem mangelnder Anreizstruk- cherungspflichtiger Beschäftigungsverhältnis- turen. Ein ähnlicher Effekt ließe sich mit einer se in einen Teufelskreis. Je stärker die Aus- einfachen Erhöhung der Freibeträge des ALG gaben steigen, desto mehr gehen die Einnah- II erzielen. In den Augen ihrer Verfechter trägt men zurück. Darüber hinaus ist der steigende jedoch die im Vergleich zu dem bisherigen Anteil prekär Beschäftigter nur unzureichend Mix an unterschiedlichen Sozialleistungen für oder gar nicht gegen soziale Notlagen gesi- unterschiedliche Empfängergruppen stärkere chert. Schließlich – und das ist die wesent- Transparenz einer Negativen Einkommen- lichste Fehlentwicklung – untergräbt der Struk- steuer dazu bei, die erwünschten Anreizstruk- turwandel des Arbeitsmarktes die eigentliche turen ersichtlicher und damit effektiver zu Funktion der Sozialsysteme, nämlich die ge- gestalten. Darüber hinaus bietet sich die Ne- sellschaftliche Umverteilung. Indem einerseits gative Einkommensteuer aus dieser (neolibe- gerade die Bezieher hoher Einkommen sich ralen) Sicht schon deshalb an, da Sozialleis- aufgrund der Möglichkeit der Inanspruchnah- tungen nun nicht mehr die Lohnnebenkosten me alternativer Sicherungssysteme nur rudi- belasten und damit den Markt so wenig als mentär an der Finanzierung des Sozialstaates möglich beeinträchtigen. Diese Argumenta- beteiligen, andererseits aber auch die wach- tion zur Rechtfertigung einer Negativen Ein- sende Gruppe der gering qualifizierten, gering kommensteuer wurde am prominentesten entlohnten und prekär Beschäftigten nur we- vom US-amerikanischen Ökonom und Nobel- nig beiträgt, verteilt der deutsche Sozialstaat preisträger Milton Friedman in seinem Buch gegenwärtig „überwiegend innerhalb der Ar- Kapitalismus und Freiheit (1962) dargelegt. Fried- beitnehmerschaft mit mittlerem Einkommen man war es auch, der im gleichen Zusammen- unter Beteiligung ihrer Arbeitgeber um. Dies hang das sogenannte ‚Armutslücken-Konzept‘ ist nicht nur verteilungspolitisch problema- vertrat: Um positive Anreizstrukturen zu set- tisch, sondern trägt zusätzlich zu einer hohen zen, genügt es nicht, die entsprechenden Frei- Belastung beschäftigungsintensiver Unterneh- beträge einer Negativen Einkommensteuer men bei“ (Kumpmann 2007: 31). Das Problem hoch genug anzusetzen. Ihre Höhe – also der ist also in erster Linie ein Problem der (Um-) 11
WISO Diskurs Friedrich-Ebert-Stiftung Verteilung finanzieller Ressourcen. Indem Ver- ein Verteilungsproblem im Mittelpunkt, aller- sicherungsleistungen anteilig von einer Form dings liegt der Fokus in dieser Argumentation von Einkommen abgezweigt werden, deren weniger auf der durch den ökonomischen Dominanz rückläufig ist, muss die Schlussfol- Strukturwandel bedingten Schwächung der gerung zwangsläufig lauten, die Finanzierung Einnahmenseite als vielmehr darin, dass die – des Sozialstaates auf eine neue, breitere Basis aus unterschiedlichen Quellen stammenden zu stellen. Der logische Schritt ist somit die – verfügbaren Mittel gesamtgesellschaftlich Finanzierung aus Steuermitteln. Ein derartiger gesehen höchst ungleich verteilt werden und Systemwechsel erfordert jedoch zugleich eine vor allem den Gruppen entzogen werden, die Umstellung des Systems der Zuweisung von ohnehin das höchste Armutrisiko tragen. Leistungsansprüchen, die ja nun nicht mehr Würde man, so die Argumentation, nun das über Beitragszahlungen erworben werden. gesamte Steuer- und Abgabensystem durch Theoretisch ist das Verteilungsproblem mit ein bedingungsloses Grundeinkommen erset- Hilfe unterschiedlicher Modelle in den Griff zen, welches jedem Mitglied der Gesellschaft zu bekommen, da die wesentliche Frage weni- ausgezahlt wird und gleichermaßen den (von ger die der Verteilung der Mittel betrifft, son- eventuellen Ausnahmeregelungen für beson- dern vor allem deren Finanzierung. Denkbar dere Lebenslagen abgesehen) einzigen An- ist also auch hier das Modell einer Negativen spruch auf staatliche Leistungen wie auch die Einkommensteuer, ebenso wie die Einführung einzige Form von Steuervergünstigungen einer steuerfinanzierten, bedarfsabhängigen begründet, ließe sich gleichzeitig die Vertei- Grundsicherung. Insofern jedoch das Argu- lungsgerechtigkeit auf der Ausgabenseite er- ment der Verteilungsproblematik oftmals höhen und das undurchsichtige und aufwän- auch eine Kritik der aufwändigen Verteilungs- dige Steuersystem transparenter und unbüro- bürokratie nach sich zieht, liegt die Option kratischer gestalten. Zudem kann in dieser eines bedingungslosen Grundeinkommens zumin- Argumentation die Kostenfrage insofern rela- dest nahe. tiviert werden, als eine einfache Gegenüber- c) Eine dritte Sichtweise geht teils in eine ähn- stellung der potenziellen Ausgaben für ein all- liche Richtung, benennt als die zentrale Pro- gemeines Grundeinkommen mit den Kosten blematik gegenwärtiger Sozialpolitik aber vor des gegenwärtigen Sozialstaates als unzulässig allem die mangelnde Fähigkeit zur Sicherung angesehen wird, da es ja auf der Gegenseite eines sozio-kulturellen Existenzminimums. Wäh- vermutlich zu massiven Steuermehreinnah- rend einerseits die Sozialversicherungen vor men kommen würde. oben beschriebenen Herausforderungen ste- Das Arbeitsumverteilungsmotiv. Gegenüber dem hen, kennt das deutsche Steuersystem auf der Kompensationsmotiv zielt zwar auch das Ar- anderen Seite eine Vielzahl von Vergünsti- beitsumverteilungsmotiv auf Fragen von Vertei- gungen und Abschreibungsmöglichkeiten, in lungsgerechtigkeit und Existenzsicherung. Die deren Genuss aber in erster Linie diejenigen grundlegende Problematik wird allerdings weni- kommen, deren Einkommen einen ausreichen- ger im sozialpolitischen Verteilungsapparat an den Lebensstandard bereits garantiert. Dieje- sich gesehen, sondern systemisch in der Abhän- nigen Bevölkerungsteile, die zur Erreichung gigkeit der Beschäftigten von einem zunehmend eines mehr oder weniger existenzsichernden prekarisierten und segmentierten Arbeitsmarkt. Lebensstandards auf staatliche Transfers ange- Im Gegensatz zu oben diskutierten Motiven und wiesen sind, werden hingegen die hauptsäch- Problemdefinitionen lässt sich das Arbeitsumver- lichen Opfer knapper öffentlicher Kassen, teilungsmotiv zudem eindeutig politisch zuord- nicht zuletzt deshalb, weil sie interessenpoli- nen. Als linkes, emanzipatorisches Projekt zielt es tisch gesehen eine relativ schwache Gruppe eben nicht auf eine Anpassung gesellschaftlicher darstellen. Ähnlich wie oben steht hier also Strukturen an eine flexible und globalisierte Öko- 12
Wirtschafts- und Sozialpolitik WISO Diskurs nomie, sondern im Gegenteil auf die Institu- gesellschaftliche Position und Autonomie der tionalisierung weitgehender gesellschaftlicher von Erwerbsarbeit abhängigen Menschen enorm Autonomie gegenüber Marktprozessen. Ein be- gestärkt. Das Grundeinkommen ist eine emanzi- dingungsloses Grundeinkommen in ausreichen- patorische Antwort auf die zunehmende Prekari- der Höhe eröffnet in dieser Perspektive eine Wahl sierung und Fremdbestimmung von Arbeit und – die Wahl für oder gegen abhängige Erwerbs- Leben vieler Menschen“ (BAG Grundeinkommen arbeit. Es ermöglicht damit Arbeitsumverteilung 2007: 1). in dreifacher Hinsicht: zum einen innerhalb der Im Mittelpunkt steht also hier nicht die wie (aktiven und arbeitslosen) Erwerbsbevölkerung, auch immer geartete Kompensation in Situatio- indem die garantierte staatliche Existenzsiche- nen und Lebensphasen, in denen eine Erwerbsar- rung eine veränderte Kombination von markt- beit den Lebensunterhalt nicht (ausreichend) si- und nicht marktbezogenen Präferenzen und so- chern kann, sondern die gesellschaftspolitische mit vor allem die Ausweitung von Teilzeitarbeit Neudefinition von Arbeit insgesamt und die Neu- fördert. Zweitens zwischen marktbezogenen und justierung des Verhältnisses von Markt, Staat und nicht marktbezogenen Tätigkeiten, indem der Gesellschaft. Während das Kompensationsmotiv Zweck der Arbeit zunehmend von der Erzielung sich – mit unterschiedlichen Begründungen – von Einkommen entkoppelt wird und damit letztlich auf die Forderung nach einem Wechsel ehrenamtliche, soziale, familiäre oder künstle- des Systems der Finanzierung und Verteilung so- rische Tätigkeiten aufgewertet werden. Aufgrund zialstaatlicher Leistungen beschränkt, weist das dieser Aufwertung von nicht marktbezogenen Arbeitsumverteilungsmotiv darauf hin, dass die Tätigkeiten kommt es drittens, so die Vermutung, gesellschaftlichen Verhältnisse nicht in erster zu einer Arbeitsumverteilung zwischen den Ge- Linie durch die Einkommensverteilung, sondern schlechtern. Damit diese Ziele erreicht werden die jeweilige Produktionsweise mit den daraus er- können, muss das Grundeinkommen aber einer- wachsenden Klassenverhältnissen resultiert. Es seits hoch genug angesetzt sein, um tatsächlich geht hier, wohlgemerkt, nicht um die Abschaf- existenzsichernd nicht nur im materiellen Sinne, fung des Kapitalismus, sondern um die Annah- sondern auch bezüglich der Möglichkeiten zu me, dass der Fähigkeit, gesellschaftlichen Reich- sozialer und kultureller Teilhabe zu wirken, und tum mit zunehmend weniger (kapitalistischer!) andererseits mit der Aufrechterhaltung und Stär- Arbeit zu erzeugen, effektiv nicht mit einer blo- kung formeller Partizipationsrechte der Arbeit- ßen Umverteilung dieses Reichtums entgegenge- nehmer wie auch der Aufrechterhaltung be- treten werden kann. Dies ändert nämlich nichts stimmter bisheriger sozialer Sicherungsmechanis- an der Tatsache, dass die Lebensweise eines Groß- men verbunden sein, um die Wahl für oder gegen teils der Bevölkerung weiterhin vom Markt ab- Erwerbsarbeit tatsächlich zu einer echten Wahl hängt, letzterer aber immer weniger in der Lage zu machen (es muss also darauf vertraut werden ist, eine mehr oder weniger ausgeglichene Ver- können, auch in besonderen Notlagen wie etwa teilung der Mittel zu garantieren. Aus dieser Pers- schwerer Krankheit nicht auf den Kosten sitzen pektive „wird die tatsächliche Wirkung eines zu bleiben). Vertreter eines solchen ‚emanzipato- Grundeinkommens nicht ausschließlich von sei- rischen‘ Grundeinkommens machen zudem kei- ner eigenen inneren Logik, sondern von seiner nen Hehl daraus, dass ihre Position als politisches Einbettung in ein System von sozialpolitischen Projekt verstanden werden kann und nicht den Maßnahmen und von der Geschlechterperspek- Anspruch erhebt, eine objektive, ideologiefreie tive abhängen, aus der es konzipiert ist“ (Baier Analyse der aktuellen Problemlage zu liefern. So 2007: 62). Ähnlich argumentiert Eric Olin Wright: erklärt zum Beispiel die Bundesarbeitsgemein- Ein Grundeinkommen aus linker, emanzipato- schaft Grundeinkommen der Linken explizit ihr rischer Perspektive „is not, however, primarily Konzept für ein Grundeinkommen als „politisch about social justice as such. It is about creating gewollt: Durch ein Grundeinkommen wird die the conditions under which a stable move toward 13
WISO Diskurs Friedrich-Ebert-Stiftung more equal power within class relations can be und Finanzierung hinaus auf einem breiten ge- achieved“ (Wright 2004: 85). Ein Grundeinkom- sellschaftlichen Konsens beruht, welcher die Fra- men kann somit nicht für sich stehen und keines- ge beantwortet, in welcher Gesellschaft wir in falls lediglich ein reformiertes Verteilungsinstru- Zukunft leben wollen. Gleichzeitig wurden aber ment darstellen, sondern sollte darauf abzielen, bislang vor allem die wesentlichen Motive mit ih- mit Hilfe einer Kombination von Maßnahmen ren erwünschten Effekten diskutiert, die hinter die Gesellschaft als Ganzes in dem Maße unab- der Idee eines Grundeinkommens stehen. Um die hängiger vom Markt zu machen, in dem der zahlreichen vorgeschlagenen Grundeinkommens- Markt den Zusammenhalt eben dieser Gesell- modelle vergleichend gegenüberstellen und An- schaft nicht mehr garantieren kann. Bereits in nahmen über deren potenzielle Auswirkungen den 80er Jahren konstatierte André Gorz, das treffen zu können, ist es allerdings wichtig, auch Grundeinkommen, wie es seinerzeit diskutiert die konkreten Begrifflichkeiten, mit denen in der wurde, sei vor allem „ein neues gesellschaftliches Debatte hantiert wird, genauer unter die Lupe zu Konzept der Rechten, das Konzept einer ge- nehmen und deren unterschiedliche ideologische spaltenen Zukunftsgesellschaft: Auf der einen Hintergründe darzulegen. Die Tatsache, dass ver- Seite eine Arbeitselite, angetrieben von Leistungs- schiedene Vorschläge für ein Grundeinkommen ethik, Wettbewerbsgeist und Konsum-Sucht; auf oftmals mit denselben Begriffen und Begrün- der anderen Seite eine Mehrheit ohne regelmä- dungen hantieren, erschwert die bewertende Ge- ßige Arbeit, die dank des Grundeinkommens ihr genüberstellung der Konzepte ungemein. Von Leben mehr schlecht als recht fristet und sich um Bedeutung ist deshalb nicht nur ein ‚Lesen‘ der das Vorrecht streitet, der Arbeitselite irgendwel- einzelnen Vorschläge, sondern auch ihre Deutung, che persönlichen Dienste zu Niedrigstpreisen ver- indem zentrale Begrifflichkeiten vor dem Hinter- kaufen zu dürfen. Dies ist die Gesellschaft, die grund der potenziellen Motive interpretiert wer- gegenwärtig im Entstehen ist“ (Gorz 1986: 61). den. Die folgenden Absätze beschränken sich le- Um einer solchen Gesellschaft „entgegentreten diglich auf einige Bemerkungen zu den Begriffen zu können, ist es wesentlich, dass die Forderung ‚Armut‘ und ‚Freiheit‘. Beide Begriffe sind in der nach einem Grundeinkommen unauflöslich mit Diskussion um ein Grundeinkommen von zen- der allgemeinen Reduzierung der Arbeitszeit und traler Bedeutung. Aus diesem Grunde sollen hier der Ausweitung der autonomen Tätigkeiten ver- nur in knapper Form einige unterschiedliche knüpft wird, ohne Reduzierung des Lebensstan- Interpretationen hervorgehoben werden, die als dards oder des sozialen Schutzes“ (ebd.). Anhaltspunkt für die spätere Diskussion der ein- zelnen Modelle dienen können. Armut. Die Bekämpfung von Armut steht seit Freiheit, Gleichheit, Bürgerlichkeit: den Anfängen der Debatte im 16. Jahrhundert im gesellschaftspolitische Implikationen Zentrum der Entwürfe für ein allgemeines Grund- eines Grundeinkommens einkommen bzw. eine allgemeine Grundsiche- rung. In der Einleitung wurden bereits zwei Wie im letzten Kapitel ausgeführt, ist die funda- grundlegende Aspekte erwähnt, die in der Debat- mentale Frage, die an ein Grundeinkommen ge- te um Armutsbekämpfung von Bedeutung sind stellt werden muss, ob damit in erster Linie eine bzw. waren. Ihre allgemeine Rechtfertigung zog Veränderung der gesellschaftlichen Produktions- die Forderung nach Armenhilfe zunächst aus der weise oder aber eine Stabilisierung der dominan- Tatsache, dass sich wachsende Produktivität und ten Produktionsverhältnisse bezweckt werden ökonomischer Reichtum nicht positiv auf den soll. Dies deutet erneut darauf hin, dass ein Reichtum der Gesellschaft als Ganzes auswirkten. Grundeinkommen nur dann nachhaltigen Erfolg Im Rahmen der Forderung nach breiterer Ver- verspricht, wenn das Projekt über einen Kompro- teilung des gesellschaftlichen Reichtums gewann miss bezüglich seiner konkreten Ausgestaltung zudem die Unterscheidung zwischen öffentlichen 14
Wirtschafts- und Sozialpolitik WISO Diskurs oder notwendigen Gütern auf der einen Seite und hung von Anreizstrukturen zur Annahme jedwe- Markt- oder Luxusgütern auf der anderen Seite der zur Verfügung stehenden Erwerbsarbeit und an Bedeutung. War die Frage, welche Güter ‚not- damit auf die Schaffung eines breit angelegten wendig‘ sind, damals noch relativ klar formuliert Niedriglohnsektors zielt, muss zumindest die Fra- und umfassten Grundnahrungsmittel, Kleidung ge in Erwägung gezogen werden, ob ein solches sowie ein Dach über dem Kopf, haben die Ent- Modell zwar auf der einen Seite Armutsrisiken wicklungen des 20. Jahrhunderts dem absoluten bekämpft, welche sich durch die anhaltende einen relativen Armutsbegriff zur Seite gestellt. Massenarbeitslosigkeit und die offensichtlich ein- Arm ist nun nicht mehr nur zwangsläufig dieje- geschränkte Problemlösungsfähigkeit der gegen- nige Person, deren physische Existenz nicht aus- wärtigen sozialen Sicherungssysteme ergeben, reichend abgesichert ist, sondern auch solche Ge- diese Form von Armut aber letztlich durch eine sellschaftsmitglieder, deren Möglichkeiten an so- neue Form – Einkommensarmut – ersetzt und da- zialer und kultureller Teilhabe und damit auch mit für die Betroffenen selbst wenig ändert, dafür demokratischer Partizipation in Relation zu dem aber lediglich die Finanzierung der Armutsbe- mehrheitlichen Standard der jeweiligen Gesell- kämpfung von den Lohnkosten auf das allgemei- schaft eingeschränkt sind. Allerdings – und dies ne Steuersystem schiebt. Zu beachten wäre dem- wird in der späteren Diskussion der unterschied- gemäß zum Beispiel, ob ein Grundeinkommen lichen Grundeinkommensmodelle deutlich – ist mit der Einführung eines allgemeinen gesetzli- eine solche Interpretation von Armut alles andere chen Mindestlohnes verknüpft ist. als allgemein anerkannt. Zwar hantiert zum Freiheit. Ähnlich verhält es sich mit dem Be- Beispiel auch die Europäische Union mit einem griff der Freiheit. Im neoliberalen Sinne wird Frei- Armutsbegriff, welcher soziale und kulturelle heit vor allem gleichgesetzt mit der Freiheit der Teilhabe beinhaltet: „Verarmte Personen sind Marktteilnehmer, ihre Entscheidungen unabhän- Personen, die über so geringe (materielle, kultu- gig von staatlichen Regulierungen oder sozial- relle und soziale) Mittel verfügen, dass sie von der politischen Verpflichtungen zu treffen. Im neo- Lebensweise ausgeschlossen sind, die in dem Mit- liberalen Sozialstaatsdiskurs wird Freiheit oft in- gliedstaat, in dem sie leben, als Minimum an- terpretiert als die Freiheit, arbeiten zu können nehmbar ist“ (Europäischer Rat 1985). Dieser hat und damit unabhängig (frei) von staatlicher Für- allerdings keinerlei rechtsverbindliche Auswir- sorge und bürokratischer Gängelung zu sein. Die- kungen. Wichtig für die vergleichende Betrach- sem aktiven Freiheitsbegriff – die Freiheit, etwas tung der Modelle ist aber, dass dort Armutsbe- (auf eine bestimmte Art und Weise) tun zu kön- kämpfung nicht gleich Armutsbekämpfung ist. nen – kann jedoch auch ein passiver Freiheits- Zwar stellt letztere eine der am öftesten genann- begriff entgegengehalten werden – eben die Frei- ten Rechtfertigungen für die Forderung nach heit, nichts zu tun, die Freiheit zur Enthaltung, einem Grundeinkommen dar; die Interpretation, oder anders formuliert: Freiheit auch im Sinne was darunter zu verstehen ist, zieht allerdings von Freiwilligkeit (vgl. auch Blaschke 2007). Diese Vorschläge für die Höhe eines Grundeinkom- Unterscheidung ist, wie wir sehen werden, in der mens nach sich, die sich zwischen 400 bis 500 Debatte um ein Grundeinkommen von zentraler Euro pro Monat einerseits und 1.500 Euro mo- Bedeutung. Ebenso wie beim Armutsbegriff hat natlich auf der anderen Seite bewegen. Von Be- das jeweils vorrangige Freiheitsverständnis wich- deutung ist weiterhin auch die Feststellung, dass tige Auswirkungen auf die Gestaltung der Höhe sich der Zusammenhang zwischen Grundein- eines Grundeinkommens – und umgekehrt. Die kommen und Armut nicht allein auf die Höhe ‚Verbesserung‘ von Anreizstrukturen zur Auf- der Sicherung reduzieren lässt. Zu beachten sind nahme von Erwerbsarbeit, die sich in der Regel vielmehr auch die zu erwartenden Auswirkungen aus einem niedrigen Grundeinkommen an oder des jeweiligen Grundeinkommensmodells. So- gar unterhalb der Armutsgrenze ergibt, impliziert fern letzteres beispielsweise explizit auf die Erhö- in diesem Sinne eine gewaltige Einschränkung 15
WISO Diskurs Friedrich-Ebert-Stiftung der individuellen Freiheit – indem die Freiheit selbstbestimmten und eigenständigen Gestaltung zur Enthaltung verwehrt wird. Aus dieser Perspek- der Lebensweise unabhängig vom Markt sichern tive greift zudem die klassischere Unterscheidung können. Die Debatte um ein Grundeinkommen zwischen positiver und negativer Freiheit: Ein all- beschränkt sich somit auch hier nicht auf so- gemeines und bedingungsloses Grundeinkom- zialpolitische Problemstellungen, sondern impli- men, welches die Freiheit von Arbeit bzw. Arbeits- ziert zudem grundlegende demokratietheoreti- verpflichtung grundsätzlich garantiert (negative sche Fragen. Freiheit), wird erst dann auch zu einer positiven Das folgende Kapitel soll nun die aktuelle Freiheit, wenn die zur Verfügung stehenden Mit- Debatte um ein Grundeinkommen in Deutsch- tel tatsächlich die Fähigkeit und Freiheit zu einer land aufnehmen. 16
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