EHRBARER STAAT? POLITIK VERSUS STATISTIK: NARRATIVE IM SPIEGEL ÖKONOMISCHER FAKTEN - UPDATE 2022
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Update 2022 Ehrbarer Staat? Politik versus Statistik: Narrative im Spiegel ökonomischer Fakten Argumente zu Marktwirtschaft und Politik Nr. 166 | Dezember 2022 Bernd Raffelhüschen Teresa Brinkschmidt Philipp Toussaint Sebastian Will
Ehrbarer Staat? Politik versus Statistik: Narrative im Spiegel ökonomischer Fakten Bernd Raffelhüschen Teresa Brinkschmidt Philipp Toussaint Sebastian Will Argumente zu Marktwirtschaft und Politik, Nr. 166 Inhaltsverzeichnis Vorwort 03 1 Einleitung 04 2 Die Staatsverschuldung explodiert: Die Nachhaltigkeitslücke im Status quo 05 3 Staatsverschuldung und Inflation 09 3.1 Bestandsaufnahme der gegenwärtigen Preisentwicklung 09 3.2 Die Geldpolitik der EZB und ihre Auswirkungen auf das Inflationsgeschehen 10 4 Eine „Niedrigzins“-Phase? Die gab es nicht 15 5 Die Mietkostenbelastungsquote ist konstant geblieben 17 5.1 Die Mietkostenbelastung 17 5.2 Die Mietpreisentwicklung und ihre Determinanten 18 6 Fazit 21 7 Methodische Grundlagen der Generationenbilanzierung 22 7.1 Die Methode der Generationenbilanzierung 22 7.2 Berücksichtigte Rahmenbedingungen 24 7.3 Verwendete Nachhaltigkeitsindikatoren 24 Literatur 26 Executive Summary 28 © 2022 Stiftung Marktwirtschaft (Hrsg.) Charlottenstraße 60 10117 Berlin Die Publikation ist auch über den QR-Code Telefon: +49 (0)30 206057-0 kostenlos abrufbar. info@stiftung-marktwirtschaft.de www.stiftung-marktwirtschaft.de Diese Studie wurde am Forschungszentrum Generationenverträge der Albert- Ludwigs-Universität Freiburg erstellt. Für wertvolle Hinweise und Hilfestellungen ISSN: 1612 – 7072 danken die Autoren Tobias Kohlstruck, Guido Raddatz und Ann Zimmermann. Für Titelfoto: © Sergej Khackimullin – Fotolia.com alle verbleibenden Fehler zeigen sich die Autoren verantwortlich.
Narrative im Spiegel ökonomischer Fakten Vorwort Vorwort Narrative haben eine enorme Bedeutung für die gesellschaft- deutlich wird. Von der „neuen Ehrlichkeit“, die den Wählern liche, aber auch die politische Meinungsbildung – insbeson- bereits im Bundestagswahlkampf 2013 versprochen wurde, dere in Krisenzeiten. Ob während der Covid-19-Pandemie, sind wir zumindest noch ein gutes Stück weit entfernt, wie im Zusammenhang mit dem russischen Angriffskrieg oder vor diese Studie aufzeigt. dem Hintergrund der Energiekrise, letztendlich gewinnt in der Werden „passende“ Narrative bewusst gestrickt, indem Öffentlichkeit meistens die Seite mit dem stärksten Narrativ. unbequeme ökonomische Tatsachen und Zusammenhänge Dabei spielt insbesondere die Interpretation von Fakten und nur unvollständig dargestellt oder gar missverständlich inter- deren Einordnung in den Gesamtkontext eine bedeutende pretiert werden, ist es an der Zeit, kritische Fragen zu stel- Rolle. len und die Faktenlage noch einmal genauer unter die Lupe Ökonomischen Narrativen ist häufig eine normative Di- zu nehmen – insbesondere dann, wenn aus ihnen politische mension inhärent, die sich vor allem dadurch ergibt, dass Handlungsoptionen abgeleitet werden. Denn eines dürfte klar Narrativen sowohl vereinfachende Annahmen als auch be- sein: Für die öffentliche Meinungsbildung ist kaum etwas so stimmte Zielvorstellungen zugrunde liegen. Sie helfen dabei, unabdingbar wie Transparenz und Nachvollziehbarkeit – und Struktur in die empirische Gemengelage zu bringen, Wissen das nicht nur in Krisenzeiten. didaktisch aufzubereiten und schlussendlich Erkenntnisse in die Welt zu tragen. Dass sich Narrative vor allem im poli- Wir danken der informedia-Stiftung für die Förderung dieser tischen Kontext nicht ohne ein gewisses Maß an normativer Publikation. Bewertung herausbilden, ist weder überraschend noch an und für sich problematisch. Wenn Narrative jedoch auf einer Interpretation von Zahlen und Statistiken aufbauen, die weder transparent kommuni- ziert, noch nachvollziehbar ist, können „gefühlte“ Wahrheiten entstehen, die mit der Realität nicht unbedingt übereinstim- men oder sich gar als konstruierte Kausalitäten entpuppen. Es besteht insofern zuweilen ein Spannungsfeld zwischen Prof. Dr. Michael Eilfort Prof. Dr. Bernd Raffelhüschen ökonomischen Tatsachen und politischer Botschaft, das Vorstand Vorstand manchmal – wenn überhaupt – erst bei genauerem Hinsehen der Stiftung Marktwirtschaft der Stiftung Marktwirtschaft 03
Einleitung Ehrbarer Staat? Politik versus Statistik: 1 Einleitung Nach zwei langen Jahren, in denen sich die mediale Auf- das Vorkrisenniveau absinken – die Ära der (viel zu) billigen merksamkeit hierzulande fast ausschließlich auf die Covid- Energiebeschaffung scheint auf absehbare Zeit vorbei zu 19-Pandemie beschränkte, stehen seit Beginn des Jahres sein. 2022 vor allem der Ukrainekrieg, die Energiekrise und die Vor dem Hintergrund der aktuellen Entwicklungen the- steigenden Inflationsraten im Zentrum der öffentlichen De- matisiert die vorliegende Studie vier in der Öffentlichkeit vor- batte. Diese teils erschütternden und tragischen Entwick- herrschende „gefühlte“ Wahrheiten und unterzieht sie einer lungen prägen nicht nur das politische Tagesgeschehen, kritischen Analyse. Zu einer dieser gefühlten Wahrheiten ge- sondern sorgen darüber hinaus ökonomisch wie auch gesell- hört die vermeintlich höhere Wohnkostenbelastung. Durch schaftlich für ein hohes Maß an Unsicherheit. Insbesondere die nominal steigenden Preise und Mieten entsteht der Ein- die Situation auf den Gasmärkten aufgrund des erheblichen druck, dass Wohnraum immer teurer wird. Wie hoch die Be- Angebotsrückgangs durch den Wegfall der Gaslieferungen lastung durch höhere Mieten jedoch tatsächlich ist, wird erst aus Russland macht der deutschen Wirtschaft wie auch den ersichtlich, wenn sie ins Verhältnis zum Haushaltseinkommen Bürgern zu schaffen. Auf Ebene der Privathaushalte spiegelt gesetzt werden. Darüber hinaus wird in der vorliegenden Pu- sich der Anstieg der Verbraucherpreise vor allem in Kauf- blikation die (coronabedingte) implizite Staatsverschuldung kraftverlusten wider, die einen Rückgang des Konsums zur offengelegt, die deutlich größer als die ausgewiesene expli- Folge haben. Die inflationsbedingt entstehenden Gewinne zite Staatsschuld ist. Ferner wird die Zinsentwicklung der bleiben jedoch nicht in Deutschland, da ein Großteil der letzten Jahre sowie das aktuelle Inflationsgeschehen und die durch den Preisanstieg hervorgerufenen Mehreinnahmen ins diesbezügliche Rolle der Europäischen Zentralbank (EZB) Ausland abfließt. Wenngleich angenommen werden kann, genauer unter die Lupe genommen. Der in diesem Zusam- dass sich die hohen Energie- und Lebensmittelpreise nicht menhang oft als „Niedrigzinsphase“ bezeichnete Zeitraum dauerhaft auf ihrem aktuellen Niveau bewegen werden, ist kann jedoch nur als solcher bezeichnet werden, wenn aus- dennoch von langfristigen Wohlstandsverlusten auszugehen. schließlich festverzinsliche Wertpapiere betrachtet werden. Denn selbst bei einem mittelfristigen Rückgang der Energie- Werden außerdem Immobilien und Aktien berücksichtigt, preise ist es äußerst unwahrscheinlich, dass diese wieder auf wird deutlich, dass sich Sparen trotzdem lohnt. 04
Narrative im Spiegel ökonomischer Fakten Die Staatsverschuldung explodiert: Die Nachhaltigkeitslücke im Status quo 2 Die Staatsverschuldung explodiert: Die Nachhaltigkeitslücke im Status quo Ökonomische Tatsache Nr. 1: Die explizite Staatsschuld als er mit Steuern und Beiträgen dauerhaft finanzieren kann. liegt aktuell bei knapp 2,5 Billionen Euro bzw. 68,7 Prozent Ausgangspunkt der Analyse bilden die Daten der Volks- des BIP. Seit Beginn der Covid-19-Pandemie ist sie um 10 wirtschaftlichen Gesamtrechnung (VGR), wobei den vorlie- Prozentpunkte gestiegen. Den weitaus größeren Teil des genden Zahlen – im Vergleich zum Sommer-Update 2022 – Schuldenbergs machen jedoch die sogenannten impliziten die endgültigen VGR-Jahresergebnisse zugrunde liegen. Das Schulden aus, die Leistungsversprechen des Staates gegen- bestehende Missverhältnis zwischen der langfristigen Einnah- über seinen jungen und zukünftigen Bürgern darstellen, die men- und Ausgabenentwicklung des Staates spiegelt sich im durch das heutige Steuer- und Abgabenniveau nicht gedeckt Status quo-Szenario des diesjährigen Herbst-Updates der sind. Generationenbilanz in einer impliziten Schuld von 330,2 Pro- Die Analyse der fiskalischen Nachhaltigkeit und die zent des BIP wider. Quantifizierung der intertemporalen und intergenerativen Im Vergleich zum vorangegangenen Sommer-Update er- Auswirkungen der Fiskalpolitik erfolgt vor dem Hintergrund gibt sich durch die Aktualisierung der VGR-Daten1 ein Anstieg des Leitbildes der Generationengerechtigkeit und einer zu- der impliziten, heute noch unsichtbaren, Schulden von 5,7 kunftsfähigen Entwicklung der öffentlichen Finanzen. Im Prozentpunkten. Bei den expliziten, heute bereits sichtbaren, Sinne einer fiskalischen Nachhaltigkeit ist die dauerhafte Fi- Staatsschulden ergibt sich demgegenüber ein geringfügiger nanzierbarkeit der öffentlichen Haushalte das langfristige Ziel. Rückgang um 2,3 Prozentpunkte von 71,0 auf 68,7 Prozent- Implizite Schulden ergeben sich dabei aus zukünftigen Haus- punkte des BIP. Dies lässt sich auf das in den endgültigen haltsdefiziten, d.h. die zukünftigen Staatseinnahmen werden VGR-Jahresergebnissen leicht nach oben korrigierte BIP bei nicht ausreichen, um die zukünftigen Staatsausgaben zu gleichzeitig niedrigerem Schuldenstand zurückführen. Die decken. Der Staat verspricht mehr öffentliche Leistungen, Nachhaltigkeitslücke der öffentlichen Haushalte, definiert als Abbildung 1: Leichter Anstieg der Nachhaltigkeitslücke aufgrund der aktualisierten endgültigen VGR-Jahresergebnisse (in Prozent des jeweiligen BIP*) Quelle: Eigene Berechnungen. Sommer-Update 2022 Herbst-Update 2022 (Status quo) 395,4 398,9 Explizite Staatsschuld 71,0 68,7 Implizite Staatsschuld Sommer-Update 2022: Notwendige Einnahmen- 324,5 330,2 Erhöhung um 16,0%** oder Ausgaben-Senkung um 13,8% Update 2022 (Status quo): Notwendige Einnahmen- 14,1 Billionen 14,4 Billionen Erhöhung um 16,2% oder Euro Euro Ausgaben-Senkung um 13,9% * Referenz-BIP für das Sommer-Update 2022 (BIP 2021) = 3,57 Billionen Euro; Herbst-Update 2022 (BIP 2021) = 3,60 Billionen Euro. ** Wert der notwendigen Einnahmen-Erhöhung für das Sommer-Update 2022 wurde korrigiert. 1 Verwendung der endgültigen VGR-Jahresergebnisse (Statistisches Bundesamt, 2022k) im Vergleich zu den vorläufigen VGR-Ergebnissen aus dem Mai 2022 (Statistisches Bundesamt, 2022j). 05
Die Staatsverschuldung explodiert: Die Nachhaltigkeitslücke im Status quo Ehrbarer Staat? Politik versus Statistik: die Summe aus expliziter und impliziter Verschuldung, be- für beide Jahre nach oben korrigiert. Im Jahr 2020 lagen läuft sich demnach auf 398,9 Prozent des BIP im Vergleich diese schlussendlich 4,45 Milliarden Euro und im darauffol- zu 395,4 Prozent im Sommer-Update dieses Jahres. Umge- genden Jahr 2021 3,57 Milliarden Euro über den Werten aus rechnet entspricht dies einer Staatsschuld von 14,4 Billionen der vorläufigen VGR. Die Zunahme der impliziten Verschul- Euro und damit einem durch die Datenaktualisierung indu- dung lässt sich dementsprechend auf den in der endgültigen zierten Schuldenanstieg von 0,3 Billionen Euro. Version der VGR leicht verschlechterten Finanzierungssaldo Die Einnahmen der Gebietskörperschaften fielen gemäß der Gebietskörperschaften zurückführen. Auf Grundlage der der endgültigen VGR-Jahresergebnisse für 2020 um 1,93 endgültigen Jahresergebnisse der VGR ergibt sich für das Milliarden Euro und im Jahr 2021 um 0,13 Milliarden Euro hö- Jahr 2021 ein Defizit der Gebietskörperschaften in Höhe von her aus, als sie in den vorläufigen Ergebnissen aus dem Mai 138,5 Milliarden Euro und damit ein neues Rekordhoch. Im 2022 ausgewiesen wurden (vgl. Tabelle 2). Gleichzeitig wur- Krisenjahr 2020 lag das Finanzierungsdefizit der Gebietskör- den jedoch auch die Ausgaben der Gebietskörperschaften perschaften noch bei 112,7 Milliarden Euro. Tabelle 1: Staatsfinanzen unter Druck: Einnahmen, Ausgaben und Finanzierungssalden der Gebietskörperschaften und der Sozial- versicherungen gemäß endgültiger VGR (in Milliarden Euro) Quelle: Statistisches Bundesamt (2022k). Einnahmen Ausgaben Finanzierungssaldo 2020 2021 2020 2021 2020 2021 Gebietskörperschaften 1.003,8 1.116,4 1.116,6 1.255 -112,7 -138,5 Gesetzliche Rentenversicherung 339,8 352,7 344,1 352,4 -4,3 0,3 Gesetzliche Krankenversicherung 273,6 298,8 278,7 298,9 -5,1 -0,1 Soziale Pflegeversicherung 51,1 52,4 47,8 52,3 3,2 0,13 Sonstige Sozialversicherungen 55,7 82,0 84,4 78,1 -28,7 3,9 Unter der Prämisse, dass heutige und zukünftige Ge- Mit Blick auf die Schuldentransparenz der öffentlichen nerationen gleichermaßen zur Konsolidierung der öffentlichen Haushalte ergibt sich im Status quo ein Anteil der impliziten Haushalte herangezogen werden, ergäben sich im Status Verschuldung an den Staatsschulden von 82,8 Prozent, wäh- quo notwendige Ausgabeneinsparungen im Umfang von rend nur 17,2 Prozent der Gesamtverschuldung auf die expli- 13,9 Prozent. Ebenso könnte die bestehende Nachhaltig- ziten Staatsschulden fällt. Insofern wird weiterhin weniger als keitslücke – unter gleichbleibender Prämisse bezüglich der ein Fünftel der Staatsschulden auch tatsächlich seitens des Lastenverteilung zwischen heutigen und zukünftigen Gene- Staates als solche ausgewiesen, während der weitaus größe- rationen – durch dauerhafte Einnahmenerhöhungen von 16,2 re Teil der Verschuldung für die Öffentlichkeit im Verborgenen Prozent ausgeglichen werden. bleibt (vgl. Abbildung 2). 06
Narrative im Spiegel ökonomischer Fakten Die Staatsverschuldung explodiert: Die Nachhaltigkeitslücke im Status quo Tabelle 2: Abweichungen der Einnahmen, Ausgaben und Finanzierungssalden der Gebietskörperschaften und der Sozialversiche- rungen nach endgültiger VGR 2022 im Vergleich zur vorläufigen VGR aus dem Mai 2022 (in Milliarden Euro) Quelle: Statistisches Bundesamt (2022j, 2022k), eigene Berechnungen. Einnahmen Ausgaben Finanzierungssaldo 2020 2021 2020 2021 2020 2021 Gebietskörperschaften 1,93 0,13 4,45 3,57 -2,52 -3,34 Gesetzliche Rentenversicherung -0,04 0,11 -0,03 0,29 0,00 -0,18 Gesetzliche Krankenversicherung 0,03 0,13 0,02 0,53 0,00 -0,40 Soziale Pflegeversicherung 0,06 -0,08 0,33 -0,01 -0,16 -0,07 Sonstige Sozialversicherungen -0,02 0,14 -0,35 -0,39 0,33 0,54 Abbildung 2: Weiterhin werden nur ein Fünftel der Staatsschulden tatsächlich als solche ausgewiesen Expliziter und impliziter Anteil der Staatsschulden im Zeitverlauf (in Prozent der jeweiligen Nachhaltigkeitslücke) Quelle: Eigene Berechnungen. 81,1% 72,9% 63,9% 75,5% 78,8% 73,0% 64,1% 64,6% 66,3% 67,6% 67,5% 68,2% 65,9% 72,3% 84,1% 82,8% 18,9% 27,1% 36,1% 24,5% 21,2% 27,0% 35,9% 35,4% 33,7% 32,4% 32,5% 31,8% 34,1% 27,7% 15,9% 17,2% 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 2013 2014 2015 2016 2017 2018 2019 2020 2021 Explizite Staatsschuld Implizite Staatsschuld 07
Die Staatsverschuldung explodiert: Die Nachhaltigkeitslücke im Status quo Ehrbarer Staat? Politik versus Statistik: Das kontrafaktische Szenario aus dem Sommer-Update Steuerschätzungen (BMF, 2019) aus dem Vorkrisenjahr 2019 2021 stellt die konjunkturelle Entwicklung dar, die zu erwar- zugrunde gelegt.2 ten gewesen wäre, hätte es die Covid-19-Pandemie nicht Dieses kontrafaktische Szenario kann als näherungs- gegeben, und illustriert somit eine hypothetische Situation. weises Vergleichsszenario herangezogen werden, um die Den Berechnungen werden hierfür annahmegemäß die Kon- Größenordnung der fiskalischen Auswirkungen der Pandemie junkturerwartungen (Gemeinschaftsdiagnose, 2019) und greifbar zu machen. Übertragen auf das diesjährige Herbst- Update ergibt sich auf dieser Grundlage eine ausschließlich coronabedingte implizite Verschuldung von 179,6 Prozent des BIP. Dies entspricht umgerechnet 6,5 Billionen Euro. Die impliziten Schulden ohne Corona-Auswirkungen würden sich Abbildung 3: hingegen nur auf 150,6 Prozent des BIP oder 5,4 Billionen Anstieg der impliziten Staatsschuld auch Covid-19- Euro belaufen. Insgesamt läge die Nachhaltigkeitslücke im bedingt kontrafaktischen Szenario aus dem Sommer-Update 2021 nur bei 208,6 Prozent des BIP im Vergleich zu 398,9 Pro- Anteil der expliziten und impliziten Verschuldung an der Nachhaltigkeits lücke (in Prozent des BIP) zent im Status quo-Szenario. Der starke Anstieg ist auf die deutlichen Steuermindereinnahmen infolge des Covid-19- Quelle: Eigene Berechnungen. bedingten Wachstumseinbruchs zurückzuführen. Die bis ins Jahr 2019 durchaus erfreuliche Entwicklung der öffentlichen Finanzen wird insbesondere vor dem Hinter- 398,9 grund der Pandemiebekämpfung häufig angeführt, um die massive explizite Neuverschuldung zu relativieren. Fünf Jahre in Folge konnte der Staat einen Finanzierungsüberschuss er- wirtschaften. Seit 2010 bis zum Ausbruch von Covid-19 war 179,6 die deutsche Wirtschaft auf einem Wachstumskurs – wenn- Corona- gleich bereits vor der Pandemie nur noch in abgeschwäch- implizite Auswirkung* ter Form. Der Anstieg der expliziten Schulden infolge der Verschuldung Hilfspakete und Maßnahmen zur Konjunkturstabilisierung sei ohne Corona- Auswirkung* deshalb unproblematisch: Man habe ja schließlich zuvor gut 150,6 gewirtschaftet und würde das auch nach Ende der Pandemie wieder tun. Ignoriert werden dabei jedoch – wie so oft – die impliziten Staatsschulden, die alle Verbindlichkeiten berück- sichtigen, die der Staat gegenüber seinen Bürgern eingegan- explizite gen ist und welche im Vergleich zum Vorkrisenjahr massiv 68,7 Verschuldung angestiegen sind. Da alle impliziten Schulden irgendwann zu expliziten Schulden werden, sollten die politisch Verantwort- * Es handelt sich hier um Abschätzungen auf Basis des kontrafaktischen Sze- lichen dieser Problematik durch konsolidierende Maßnahmen narios aus dem Sommer-Update 2021, hierzu Raffelhüschen et al. (2021a). entgegenwirken. 2 Für eine detaillierte Beschreibung siehe Bahnsen et al. (2020) sowie Raffelhüschen et al. (2021a). 08
Narrative im Spiegel ökonomischer Fakten Staatsverschuldung und Inflation 3 Staatsverschuldung und Inflation prozess. Verstärkt wurde dieser Prozess zusätzlich durch 3.1 Bestandsaufnahme der gegenwärtigen die restriktive Zero-Covid-Strategie Chinas, die sich ebenfalls Preisentwicklung preiserhöhend ausgewirkt hat (Horst et al., 2022). Seit einigen Monaten sorgen vor allem die hohen Ener- giepreise für steigende Inflationsraten bei den gewerblichen Bereits in der zweiten Hälfte des Jahres 2021 sind die Inflati- Erzeugerpreisen, die sich mittlerweile auf einem Rekordniveau onsraten deutlich gestiegen. Hierfür verantwortlich war einer- befinden (vgl. Abbildung 4). Dabei wirken sich die enormen seits der starke Anstieg der aggregierten Nachfrage in Folge Preissteigerungen auf den vorgelagerten Wirtschaftsstufen der expansiven fiskal- und geldpolitischen Maßnahmen sowie wiederum preiserhöhend auf die Verbraucherpreise aus. Im des Wegfalls vieler Einschränkungen zur Pandemiebekämp- Vergleich zum Vorjahresmonat fielen die gewerblichen Erzeu- fung. Andererseits ergaben sich erhebliche Lieferengpässe, ger- sowie die Verbraucherpreise im September 2022 um insbesondere bei Rohstoffen, als Folge der globalen Über- 45,8 Prozent bzw. 10 Prozent höher aus (Statistisches Bun- lastung der Logistik durch den wirtschaftlichen Erholungs- desamt, 2022b, 2022h). 50 45,8% Abbildung 4: Die Preise steigen wie Inflationsrate gewerbliche Erzeugerpreise noch nie 40 Inflationsrate Verbraucherpreise Entwicklung der jährlichen Inflationsrate der gewerblichen Erzeugerpreise (Erzeugerpreisin- 30 dex) und der Verbraucherpreise (Verbraucherpreisindex) seit Januar 2020 (in Prozent) 20 Quelle: Statistisches Bundesamt (2022b, 2022h). 10 10,0% 0 01/20 03/20 05/20 07/20 09/20 11/20 01/21 03/21 05/21 07/21 09/21 11/21 01/22 03/22 05/22 07/22 09/22 -10 Getrieben wird die gegenwärtige Inflationsdynamik von individuellen Verbrauch gegenübersehen, sondern die Unter- nach wie vor gestörten Lieferketten infolge der Covid-19-Pan- nehmen teilweise ihre energiebedingten Mehrkosten außer- demie und des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine, der dem in Form von Preiserhöhungen ihrerseits an die privaten insbesondere auf den Energiemärkten für eine Gasknappheit Verbraucher weitergeben. Bei hohen Lohnabschlüssen, die sorgt und die Preise für Energie in ungeahnte Höhen schie- wiederum die Nachfrage erhöhen, droht außerdem eine ßen lässt. So lagen die Energiepreise im Oktober 2022 um Lohn-Preis-Spirale, die die Inflation weiter anheizt. 43 Prozent höher als im Vorjahresmonat – und das, obwohl Die Rekordinflation kann als eines der drängendsten ge- sich im Oktober die Mehrwertsteuersenkung auf Erdgaslie- sellschaftspolitischen Probleme der Gegenwart verstanden ferungen und Fernwärme preisdämpfend ausgewirkt haben werden, das seitens der Politik schnellstmöglich an der Wur- dürfte (Statistisches Bundesamt, 2022g). zel angegangen werden sollte. Denn wie Sinn (2021) treffend Für die privaten Haushalte resultiert aus den stark ge- feststellt: Wenn die Stabilität des Geldes infolge einer ausu- stiegenen Energiepreisen eine Doppelbelastung, da sie sich fernden Inflation nicht mehr gesichert ist, bricht ein Grund- nicht nur einer Verteuerung von Gas und Elektrizität für ihren pfeiler unserer marktwirtschaftlichen Ordnung weg. 09
Staatsverschuldung und Inflation Ehrbarer Staat? Politik versus Statistik: 50 Abbildung 5: Hohe Inflationsdynamik im Energiesektor 40 Entwicklung der Kerninflations- rate, des Verbraucherpreisindex (Gesamtindex) und der Energie- preise (Teilindex) in den letzten 12 Monaten (in Prozent) 30 Quelle: Statistisches Bundesamt (2022d, 2022e, 2022f, 2022g). 20 10 Energie (Teilindex) VPI (Gesamtindex) 0 Kerninflationsrate 10/21 11/21 12/21 01/22 02/22 03/22 04/22 05/22 06/22 07/22 08/22 09/22 10/22 Konkret heißt das: Zwischen dem Ausbruch der Finanz- 3.2 Die Geldpolitik der EZB und ihre Aus- krise im Sommer 2008 und September 2021 stieg die Zen- wirkungen auf das Inflationsgeschehen tralbankgeldmenge im Euroraum von 880 Milliarden auf etwa 6 Billionen Euro (vgl. Abbildung 6). Das entspricht nahezu einer Versiebenfachung (EZB, 2022a). Als Begründung für Ökonomische Tatsache Nr. 2: Der gegenwärtig zu beob diese expansive Geldpolitik der EZB wurde damals zunächst achtenden Inflation hat die EZB bereits vor Jahren die Basis die Erhöhung der zu diesem Zeitpunkt sehr niedrigen – von bereitet. Die Covid-19-Pandemie und der Ukrainekrieg sind manchen Beobachtern als an der Grenze zur Deflation lie- lediglich Auslöser und Verstärker, aber keine originären Verur- gend interpretierten – Inflation angeführt. sacher des aktuellen Inflationsgeschehens. Ein erstes wichtiges Programm, mit dem die EZB den Zwar kann die EZB selbstverständlich weder für die Ankauf von Staatsanleihen forcierte, war das Securities Mar- Covid-19-Pandemie noch für den russischen Angriffskrieg kets Programme (SMP), welches im Mai 2010 von der EZB und seine Folgen verantwortlich gemacht werden. Dennoch eingeführt wurde und unter dessen Namen die Notenbanken trägt sie in Bezug auf die steigenden Staatsschulden und das des Eurosystems Staatsanleihen der Euro-Länder im Wert derzeitige Inflationsgeschehen im Euroraum eine Mitverant- von insgesamt 223 Milliarden Euro erwarben. Dabei wurden wortung. Durch ihre Niedrigzinspolitik und die großflächigen großflächig die Staatspapiere jener Länder gekauft, die sich Ankaufprogramme von Staatsanleihen hat die EZB die Zen- aufgrund ihrer finanziellen Situation am Kapitalmarkt mit ho- tralbankgeldmenge im Euroraum massiv aufgebläht. Das Zen- hen Risikoaufschlägen konfrontiert sahen, wie Griechenland, tralbankgeld (M0) umfasst sämtliches von der Zentralbank in Irland, Italien, Portugal und Spanien. So kam es ab Mitte des Umlauf gebrachtes Bargeld sowie Sichteinlagen von Dritten, Jahres 2011 bis Mitte des Jahres 2012 – also während dro- insbesondere den Geschäftsbanken3, die bei der Zentralbank hender Staatspleiten und dem griechischen Schuldenschnitt unterhalten werden (Deutsche Bundesbank, 2022b). – zu einem rapiden Anstieg der Zentralbankgeldmenge. 3 Die Sichteinlagen der Geschäftsbanken dienen dabei nicht nur der Abwicklung des Zahlungsverkehrs, sondern sind auch Ausdruck der bindenden Mindest- reserve, die die Geschäftsbanken bei der Zentralbank halten müssen. 10
Narrative im Spiegel ökonomischer Fakten Staatsverschuldung und Inflation 7.000 Abbildung 6: 6.500 Starker Anstieg der Zentralbankgeldmenge 6.000 seit 2015 5.500 Die Entwicklung der Zentral 5.000 bankgeldmenge M0 (in Milliarden 4.500 Euro) 4.000 Quelle: EZB (2022a). 3.500 3.000 2.500 2.000 1.500 1.000 500 0 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 2013 2014 2015 2016 2017 2018 2019 2020 2021 2022 Anschließend entfalteten die großflächigen EZB-Rettungs- rend der Wertpapierkauf immer weiter ausgeweitet wurde. schirme EFSF und ESM, deren Gesamtvolumen sich auf 990 Eingeführt wurden die Wertpapierkäufe 2015 in erster Linie, Milliarden Euro belief, ihre Wirkung (Sinn, 2021). Ferner er- da zu diesem Zeitpunkt die Zinsuntergrenze von Null erreicht klärte die EZB im Rahmen ihrer sogenannten Outright Mone- worden war und insofern die Absenkung des Zinssatzes für tary Transactions (OMT), dass sie im Falle drohender Staats- die EZB als geldpolitisches Instrument ausschied (Horst et schuldenkrisen nahezu unbegrenzt die Staatsanleihen des al., 2022). Das monatliche Volumen der Staatspapierkäufe betroffenen Mitgliedstaates aufkaufen würde, sodass eine belief sich auf 60 bis zeitweise 80 Milliarden Euro (Deutsche Phase der Entspannung auf den Kapitalmärkten einsetzte Bundesbank, 2022a) – eine Größenordnung, die das Volu- (Kronberger Kreis, 2021). men des SMP bei weitem in den Schatten stellte. Die Käufe Mit dem Beschluss der Quantitative Easing-Strategie im der nationalen Notenbanken waren dabei an den EZB-Kapi- Januar 2015 begann der erneute – nahezu explosionsartige talschlüssel gebunden, der sich hälftig aus BIP- und Bevöl- – Anstieg der Zentralbankgeldmenge. Die quantitative Lo- kerungsanteil errechnet. Durch diese Art der Berechnung re- ckerung dient als geldpolitisches Instrument, wenn die Zins sultiert eine Begünstigung im Rahmen des PSPP der weniger untergrenze erreicht ist. Durch den Ankauf von Wertpapieren wohlhabenden Euroländer, deren Bevölkerungsgewicht grö- kommt es zu einer beträchtlichen Ausweitung der Noten- ßer als ihr BIP-Gewicht ist (Hansen und Meyer, 2020). Jedoch bankbilanz, ohne dass der Notenbankzinssatz verändert wird wurde dieser Verteilungsschlüssel in der Praxis nur begrenzt (Wieland, 2020). Die quantitative Lockerung führt dabei ins- eingehalten. Stattdessen erwarben die nationalen Noten- besondere zu einer erhöhten Risikobereitschaft bei Banken banken vermehrt Staatspapiere der finanziell geschwächten und Anlegern und hat darüber hinaus steigende Vermögens Euro-Länder (Heinemann, 2017). Problematisch ist dies vor preise zur Folge (Kronberger Kreis, 2021). Der Löwenanteil allem deswegen, weil die EZB damit im Grunde eine indirekte des Programms entfiel auf das Public Sector Purchase Pro- Staats- bzw. Schuldenfinanzierung der Mitgliedstaaten des gramme (PSPP): Allein zwischen März 2015 und Dezember Euroraums betreibt und ihr Mandat der Preisniveaustabilität 2018 wurden Staatsanleihen in Höhe von 2,17 Billionen Euro zugunsten (unerlaubter) fiskalpolitischer Eingriffe vernachläs- (Nennwert) erworben (Afflatet, 2019). sigt. Auch das Bundesverfassungsgericht stufte die Errich- Mit dem PSPP weitete die EZB ihre Staatspapierkäufe tung und Durchführung des PSPP durch die EZB zunächst massiv aus und begab sich in neues geldpolitisches Fahr- als Überschreitung ihrer „primärrechtlich eingeräumten Kom- wasser, da kurzfristige Kredite an Bedeutung verloren, wäh- petenzen“ ein (BVerfG, 2020). 11
Staatsverschuldung und Inflation Ehrbarer Staat? Politik versus Statistik: Durch das PSPP verbesserten sich die Refinanzierungs- Mit dem als Reaktion auf die Covid-19-Pandemie ins Le- bedingungen für die Mitgliedstaaten, da sie sich nun zu deutlich ben gerufenen Pandemic Emergency Purchase Programme günstigeren Konditionen am Kapitalmarkt mit Krediten versor- (PEPP) führte die EZB den Kurs der massiven Bilanzauswei- gen konnten (BVerfG, 2020). Indem die EZB mehr Anleihen tung weiter fort. Das ursprüngliche Volumen von 750 Milliar- kaufte als von den Staaten neu ausgegeben wurden, finan- den Euro wurde im Juni 2020 um 600 Milliarden Euro und zierte sie indirekt die Neuverschuldung (Fuest, 2022). Während im November 2020 erneut um 500 Milliarden Euro erweitert der Krisenjahre seit 2008 wurden 75 Prozent des Schulden- (EZB, 2022d). zuwachses der Euro-Länder indirekt über die EZB und die na- Die jahrelange expansive Geldpolitik der EZB führte zu tionalen Notenbanken finanziert – wenngleich die Abwicklung einer Entkopplung des Wachstums von Zentralbankgeldmen- über die zwischengeschalteten Geschäftsbanken stattfand ge und BIP und verursachte damit inflationäre Tendenzen (Sinn, 2021). Vor diesem Hintergrund erstaunt es wenig, dass (vgl. Box 1). Vergleicht man die Zentralbankgeldmenge im Sinn (2021, S. 110) das Eurosystem als „fiskalische Rettungsin- September 2021 (6 Billionen Euro) mit jener Geldmenge, die stitution, ja fast schon eine Bad Bank“ bezeichnet. sich im Verhältnis zur Wirtschaftsleistung der Eurozone vor Die quantitative Lockerung wurde zum Jahresende 2018 2008 als ausreichend bewährt hatte (1,1 Billionen Euro), er- bei einem Stand von circa 40 Prozent des BIP des Euroraums gibt sich ein Überhang von 4,9 Billionen Euro. Dieser Geld- (4500 Milliarden Euro) vorerst beendet, bevor im September überhang lässt sich zu etwa 80 Prozent durch die diversen des darauffolgenden Jahres erneut mit monatlichen Netto- Ankaufprogramme von Staatspapieren erklären (Sinn, 2021). Anleihekäufen in Höhe von 20 Milliarden Euro begonnen wur- Aus ökonomischer Perspektive zunächst erstaunlich ist de (Kronberger Kreis, 2021). im Hinblick auf die genannten Entwicklungen, dass die Infla- Infobox zur Quantitätsgleichung Box 1 Die Quantitätsgleichung (Einkommensversion) lautet: M * VY = Y * P M Geldmenge: Diese kann über die Geldmengenaggregate (M0-M3) genau definiert und gemessen werden. VY Einkommensgeschwindigkeit des Geldes: Diese bemisst ausschließlich die Zahlungshäufigkeit („Umlauf- geschwindigkeit“) der Transaktionen, die im realen BIP gemessen werden. P Preisniveau: Es bezeichnet den durchschnittlichen Preis aller Transaktionen, die mittels der als Geld definierten Größe durchgeführt wurden. Y Reales BIP Bei der obigen Quantitätsgleichung handelt es sich um eine Identität, sie ist also per Definition und Konstruktion immer wahr und somit einer kausalen Interpretation der Variablen nicht zugänglich. Zur Quantitätstheorie wird die Quantitätsgleichung durch zusätzliche Annahmen über einzelne Variablen und eine unter- stellte Wirkungsrichtung von der Geldmenge zum Preisniveau: Es wird dabei angenommen, dass (1) die Einkommensgeschwindigkeit („Umlaufgeschwindigkeit“) relativ konstant bleibt und (2) sich eine Preisniveauänderung als Folge einer Geldmengenveränderung ergibt. Die Menge des Geldes bestimmt somit das Preisniveau, wenn Y und VY konstant sind (bzw. sich nur geringfügig ändern). Quelle: Issing (2011). 12
Narrative im Spiegel ökonomischer Fakten Staatsverschuldung und Inflation tionsrate in der Eurozone trotz der jahrelangen expansiven Angebotsrückgang kam, sondern gleichzeitig die gesamt- Geldpolitik lange unter dem Zielwert von 2 Prozent lag. Eine wirtschaftliche Nachfrage seitens der Politik massiv von Erklärung hierfür ist die Tatsache, dass das von der Zentral- den schuldenfinanzierten Maßnahmen zur Bekämpfung der bank neu in Umlauf gebrachte Geld zu großen Teilen von ökonomischen Auswirkungen der Pandemie gestützt wurde. den Banken (und anderen Marktteilnehmern) gehortet wur- Die Pandemie kann insofern nicht als originärer Verursacher de (Sinn, 2021). Zu steigenden Inflationsraten kam es erst, angeführt werden, sondern ist vielmehr als ein Auslöser der als es im Zuge von Covid-19 und den damit einhergehenden gegenwärtigen Inflationsdynamik zu begreifen. massiven Einschränkungen der wirtschaftlichen Aktivität in- Im Juli 2022 entschied sich die EZB für einen Kurswech- folge von Lieferengpässen nicht nur zu einem drastischen sel und hob nach 11 Jahren erstmals die Leitzinsen im Euro- Infobox zu Zinsspreads Box 2 Zinsdifferenzen zwischen den Anleihen der Euroländer sind als Risikoprämien zu verstehen, die einen Indikator für die relative Stabilität der jeweiligen Volkswirtschaften darstellen und indirekt Informationen über ihre Wirtschaftspolitik liefern. Sind diese Zinsunterschiede groß, deutet das auf sehr unterschiedliche (wirtschaftliche) Entwicklungen in den Ländern des Euroraums hin und lässt deutliche strukturelle Divergenzen vermuten (Menkhoff, 2011). Unter anderem das OMT und PSPP der EZB sorgten dafür, dass sich die Zinsunterschiede für zehnjährige Staatsanlei- hen, die sich im Vergleich zum vorherigen Jahrzehnt seit 2008 bedeutend vergrößert hatten, ab dem Jahr 2012 wieder verkleinerten. Die Nivellierung der Zinsspreads in Folge der endgültigen Entscheidung über die Euro-Einführung 1998 hatte zuvor zu einer Entlastung der hoch verschuldeten Staaten, allen voran Italiens, geführt und resultierte in einer deutlichen Ver- besserung ihrer Leistungsbilanzen. Wenngleich der Zinsvorteil zunächst dafür genutzt wurde, die hohe Verschuldung abzubauen, führte die Situation insgesamt dazu, dass sich die finanziell schwachen Länder des Mittelmeerraumes zu extrem günstigen Konditionen mit Krediten versorgen konnten, was letzlich in einer deutlichen Ausweitung der Staats- verschuldung resultierte (Sinn, 2021).4 Welche Gefahren von ausufernden Staatsschulden ausgehen können, insbeson- dere in Verbindung mit weiteren ökonomischen Fehlentwicklungen, hat uns die Eurokrise schmerzlich vor Augen geführt (Raffelhüschen et al., 2021b). Mittlerweile dienen die Zinsaufschläge für die Staatsanleihen der hoch verschuldeten Mitgliedstaaten offiziell als Legi- timationsgrundlage für das Eingreifen der EZB, da diese die Wirksamkeit der Geldpolitik einschränken oder gar ver- hindern würden. Schlussendlich resultiert diese Argumentationslogik in der Zusicherung der EZB, jedes noch so hohe Staatsdefizit der Mitgliedstaaten zu finanzieren (Fuest, 2022). raum um 0,75 Prozentpunkte an, im September und Oktober da die Kosten der Rückführung hoher Inflationsraten umso erfolgten weitere Zinserhöhungen. Damit liegt der Zinssatz kostspieliger sind, je länger man diese hinauszögert. für Hauptrefinanzierungsgeschäfte mit Wirkung zum 2. No- Die US-Notenbank hat im Vergleich dazu deutlich früher vember 2022 bei 2,0 Prozent (Stand: Oktober 2022).5 Das und stärker reagiert. Der Leitzins wurde im Oktober bereits zögerliche Verhalten der EZB ist dabei kritisch zu beurteilen, zum vierten Mal um 0,75 Prozentpunkte erhöht. Gegenwärtig 4 Für eine detaillierte Auseinandersetzung mit dem europäischen Schuldenproblem siehe König (2022). 5 Die beiden anderen Leitzinsen der EZB, der Zinssatz für die Spitzenrefinanzierungsfazilität sowie der Zinssatz für die Einlagefazilität, wurden mit Wirkung zum 2. November 2022 auf 2,25 Prozent bzw. 1,50 Prozent erhöht. 13
Staatsverschuldung und Inflation Ehrbarer Staat? Politik versus Statistik: liegt er damit bei einer Spanne von 3,75 bis 4 Prozent (Federal Staatsanleihen einzelner Mitglieder des Eurosystems auf- Reserve Bank of New York, 2022). Durch die kontraktiven kauft, also beim Kauf von Anleihen von ihrem in der Regel Maßnahmen der US-Notenbank besteht hierzulande grund- angewandten Kapitalschlüssel abweicht. Die EZB begründet sätzlich die Gefahr von zusätzlichen importierten Preisstei- ihr Vorgehen dabei mit einem möglichen – auf Grundlage der gerungen, denn durch die stärkeren Erhöhungen des ame- makroökonomischen Fundamentaldaten ungerechtfertigten – rikanischen Zinses kommt es zu einer Abwertung des Euro Anstieg der Risikoprämien einiger Euro-Länder in Folge der im Vergleich zum amerikanischen Dollar, was wiederum die Zinserhöhungen. Dies könnte dazu führen, dass aufgrund Nachfrage nach Produkten in der Eurozone ankurbelt (Horst der pessimistischen Erwartungshaltung unter Investoren die et al., 2022). Ferner steigen die Kosten für Importe, was zu- Zinsen massiv ansteigen, sodass letztendlich die Zahlungsfä- sätzlich für einen preistreibenden Effekt sorgt. higkeit der betroffenen Staaten gefährdet sein könnte. Dabei Zeitgleich mit der Anhebung des Leitzinses führte die handelt es sich weniger um eine geldpolitische als vielmehr EZB außerdem ein neues geldpolitisches Rettungsinstrument um eine fiskalpolitische Maßnahme, hat sie doch letztendlich ein, das sogenannte Transmission Protection Instrument das Ziel, die Solvenz der Mitgliedstaaten zu sichern (Fuest, (TPI). Aktiviert werden kann das TPI „[…], um ungerechtfer- 2022). Anstatt ein Instrument zur zielgerichteten Inflationsbe- tigten, ungeordneten Marktdynamiken entgegenzuwirken, kämpfung zu sein, lässt das TPI vielmehr unerwünschte fiska- die eine ernsthafte Bedrohung für die Transmission der Geld- lische Umverteilungseffekte befürchten. Darüber hinaus wer- politik im Euroraum darstellen“ (EZB, 2022b). den durch die anhaltende Krisenpolitik der EZB kaum Anreize Ziel des TPI ist es, Zinsdifferenzen (vgl. Box 2) zwischen für die Euro-Länder geschaffen, die so dringend notwendige den Mitgliedstaaten zu begrenzen, indem die EZB gezielt Konsolidierung ihrer Haushaltspolitik anzugehen. 14
Narrative im Spiegel ökonomischer Fakten Eine „Niedrigzins“-Phase? Die gab es nicht 4 Eine „Niedrigzins“-Phase? Die gab es nicht Ökonomische Tatsache Nr. 3: Obwohl in der Öffentlichkeit se der festverzinslichen Finanzprodukte und stellt deutsche oft von der sogenannten Niedrigzinsphase der letzten Jahre „Sparer“ vor eine große Herausforderung. Der „Studie zur gesprochen wird, lässt sich die durchschnittliche Rendite über wirtschaftlichen Lage privater Haushalte“ der Deutschen ein breites Spektrum an Assetklassen nicht mit dem Attribut Bundesbank zufolge, sind rund 80 Prozent des Geldvermö- „Niedrigzins“ beschreiben. gens privater Haushalte in Deutschland in Anlageformen in- Als Reaktion auf die globale Finanzkrise in den Jahren vestiert, welche maßgeblich durch festverzinsliche Anleihen 2007/2008 senkte die EZB den wichtigsten Leitzins, den der geprägt sind – hauptsächlich Versicherungen, Termin- und Hauptrefinanzierungsfazilität, auf ein Prozent. Dieses Niveau Spareinlagen, Bargeld sowie Sichteinlagen (Deutsche Bun- wurde nach einer 5-jährigen Nullzinsphase seitdem erstmals desbank, 2022d). Die tatsächliche jährliche Verzinsung dieser wieder mit der Erhöhung der Leitzinsen auf 1,25 Prozent am Anlageprodukte ist direkt von der Niedrigzinspolitik der EZB 14. September 2022 überschritten (EZB, 2022c). Der dau- betroffen und lag im Durchschnitt der letzten 10 Jahre bei erhaft niedrige Leitzins betrifft hauptsächlich die Anlageklas- lediglich 0,43 Prozent nominal. 3% Abbildung 7: Geldpolitischer 2,5% Kurswechsel 2% Höhe des Zinssatzes für das Hauptrefinanzierungsgeschäft der EZB im Zeitverlauf (in 1,5% Prozent) Quelle: EZB (2022c), eigene 1% Darstellung. 0,5% 0% 10. Dezember 2008 21. Januar 2009 11. März 2009 08. April 2009 13. Mai 2009 13. April 2011 13. Juli 2011 09. November 2011 14. Dezember 2011 11. Juli 2012 08. Mai 2013 13. November 2013 11. Juni 2014 10. September 2014 09. Dezember 2015 16. März 2016 27. Juli 2022 14. September 2022 02. November 2022 Nur 17 Prozent der in Deutschland lebenden Bevölke- rigere Quote auf (Eurostat, 2022). Die Rendite des Realka- rung besitzt Aktien und nur ca. 15 Prozent des Geldvermö- pitals (Immobilien und Aktien) wird nicht unmittelbar von der gens sind in Investmentfonds oder Aktien angelegt. Insgesamt (Niedrig-)Zinspolitik der EZB beeinflusst, woraus die Frage stellte die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht resultiert, auf welchem Niveau die Rendite im Jahr 2022 liegt. (BaFin) ein sehr konservatives Anlagebild auch während der Die betrachtete Kennziffer, die durationsgewichtete Rendite, Niedrigzinsphase fest (BaFin, 2020). Betrachtet man die setzt Zahlungsströme eines Jahres ins Verhältnis zu Anschaf- Wohneigentumsquote im Jahr 2021 lässt sich feststellen, fungskosten unter Berücksichtigung der Dauer (Duration) der dass rund 50 Prozent der in Deutschland lebenden Bevöl- Kapitalstockbildung. Zur Berechnung werden die im Jahre kerung Wohneigentum besitzt – im Europäischen Vergleich 2022 erhaltenen Kupons in Relation zu den durchschnitt- weist nur die Schweiz mit 41 Prozent Eigentümern eine nied- lichen Anschaffungskosten der letzten 10 bzw. 25 Jahre ge- 15
Eine „Niedrigzins“-Phase? Die gab es nicht Ehrbarer Staat? Politik versus Statistik: setzt. Die Renditen sind jeweils in nominalen sowie in realen Dividenden 2022 ergibt sich somit eine durationsgewichtete Werten6 angegeben. Rendite von 5,96 Prozent nominal sowie 4,96 Prozent real. Anleihen: Immobilien: Die Renditekennzahl der Anleihen wird aus den durchschnitt- Die Rentabilität von Wohneigentum wird aus dem Verhält- lichen Umlaufrenditen inländischer Inhaberschuldverschrei- nis der durchschnittlichen Nettokaltmiete pro Quadratmeter bungen der letzten 10 Jahre gebildet (Deutsche Bundesbank, des Jahres 2022 zum durchschnittlichen Anschaffungspreis 2022e). Für diesen Zeitraum ergibt sich eine nominale Rendi- der letzten 25 Jahre gebildet, wobei sowohl Häuser als auch te von 0,43 Prozent und eine reale Rendite von 0,27 Prozent. Wohnungen berücksichtigt werden. Als Datengrundlage diente der Scientific-Use-File „RWI-GEO-RED“ v6.1 des RWI Aktien: Essen (RWI und ImmobilienScout24, 2022). Die Anschaf- fungskosten werden mittels Kaufpreisindex der OECD (2021) Die Rentabilität von Aktien wird aus dem Verhältnis der angepasst. Die Rendite der Mieteinnahmen des Jahres 2022 durchschnittlichen Dividende 2022 pro Aktie zum durch- aus Immobilien liegt bei 5,50 Prozent nominal bzw. 4,74 Pro- schnittlichen Anschaffungspreis pro Aktie der letzten 25 Jah- zent real. re hergeleitet. Hierbei werden alle dividendenausschüttenden Titel aus dem deutschen Aktienindex (DAX) sowie dem Mid- Durchschnittliche durationsgewichtete Rendite Cap-DAX (MDAX) berücksichtigt (Deutsche Börse, 2022). Die aller Anlageklassen: Rendite wurde ebenfalls nach Indexierungsdauer tagesgenau gewichtet. Sollte ein Titel kürzer als 25 Jahre im Index ver- Der Durchschnitt dieser drei Anlageformen liegt bei 3,96 treten sein, wird die maximale Laufzeit verwendet. Für die Prozent nominal und 3,32 Prozent real. Mit einem Portfolio, 8% Abbildung 8: Die durchschnittliche 7% Durchschnittliche Inflationsrate 2022 durationsgewichtete Rendite 2022 liegt bei 6% 3,3 Prozent real Renditen der Assetklassen 5% Anleihen, Aktien und Immobilien (real und nominal) 4% Durchschnittliche Rendite nominal Quelle: Eigene Berechnungen. Durchschnittliche Rendite real 3% 2% Durchschnittliche jährliche Inflationsrate 1997-2022 1% Rendite nominal 0% Rendite real Anleihen (10 Jahre) Aktien (25 Jahre) Immobilien (25 Jahre) 6 Berechnet anhand des Verbraucherpreisindex des Statistischen Bundesamtes (2022i). 16
Narrative im Spiegel ökonomischer Fakten Die Mietkostenbelastungsquote ist konstant geblieben welches diese Assetklassen zu gleichen Teilen halten würde, die in Lebensversicherungen, private Rentenversicherungen, ließe sich heute also eine zu Anleihen vergleichsweise hohe Betriebsrenten oder ähnliche Produkte investieren. Es gibt laufende Rendite erwirtschaften. jedoch auch einen Profiteur der niedrigen Verzinsung: den Die Rendite im Durchschnitt aller dargestellten Asset- Emittenten – also den Staat. Deutschland konnte sich aus- klassen lässt sich kaum als „Niedrigzins“ bewerten – haupt- gesprochen günstig am Kapitalmarkt verschulden. Dadurch, verantwortlich dafür ist das Realkapital. Die omnipräsente dass viele Anleger aufgrund der EU-Richtline in deutsche „Niedrigzinsphase“ ist lediglich im Bereich festverzinslicher Staatsanleihen investieren mussten, trug dies zur Vergüns Wertpapiere existent. Der deutsche „Sparer“ wird jedoch auf- tigung der Konditionen bei. Was für den Staat ein gutes Ge- grund seiner beschriebenen Anlagetätigkeit von einer nied- schäft war, mussten die Sparer mit niedrigen Erträgen be- rigen Rendite heimgesucht. Durch die EU-Richtlinie „Solven- zahlen. Wer sich auf maßgeblich staatlich regulierte Produkte cy II“ sind Versicherer und Rückversicherer dazu verpflichtet, verlassen hat oder wie im Beispiel von Betriebsrenten gar zu großen Teilen in festverzinsliche Wertpapiere zu investie- keine Wahl hatte, finanziert bis heute mit seinen niedrigen Er- ren. Dies bedeutet eine schlechte Rendite für private Anleger, lösen den deutschen Staat. 5 Die Mietkostenbelastungsquote ist konstant geblieben ein Individuum oder Haushalt für seine Mietwohnung arbeiten 5.1 Die Mietkostenbelastung muss. Hierfür sollte ein Erschwinglichkeitsindikator herange- zogen werden, der die Bezahlbarkeit des Wohnens misst. Der meistgenutzte Indikator ist in diesem Fall die Mietkosten- Ökonomische Tatsache Nr. 4: Die Erschwinglichkeit von belastungsquote, die als das Verhältnis der Bruttokaltmiete Mietwohnungen hat sich nicht verringert, wenn man neben zum Haushaltsnettoeinkommen definiert ist. den durchschnittlichen Bestandsmieten auch die Entwick- Für die vorliegenden Berechnungen wurden die Ein- lung der Nettoeinkommen berücksichtigt. Zwar suggeriert kommens- und Verbraucherstichproben (EVS) der Jahre die öffentliche Diskussion, dass für eine überwiegende Zahl 2003, 2008, 2013 sowie 2018 herangezogen. Die EVS ist der Menschen die Mietpreise nicht mehr bezahlbar seien, eine amtliche Statistik, für die alle 5 Jahre ca. 60.000 private allerdings liegt dieser Aussage eine verkürzte Analyse zu- Haushalte zu ihrer Einkommens- und Vermögenssituation grunde. sowie ihren Konsumausgaben befragt werden. Für die nach- Der Fokus der Debatte um bezahlbares Wohnen liegt stehenden Berechnungen erfolgte eine Gewichtung, sodass in erster Linie auf den als allgemein zu hoch empfundenen die Stichproben repräsentativ für die deutsche Bevölkerung Mieten. Eine differenzierte Betrachtung, beispielsweise um stehen. welche Mieten es sich handelt oder was „zu hoch“ bedeu- Zunächst wurde die durchschnittliche Bruttokaltmiete tet, findet oftmals nicht statt. Die nominale Höhe der Mie- ermittelt, die sich aus der Subtraktion der Strom- und Heiz- ten sowie deren Veränderungsrate sind nicht dazu geeignet, kosten von der Warmmiete ergibt.7 Die Steigerung der Brut- die Belastung durch die Mietzahlungen zu erfassen. Wie für tokaltmiete um rund 20 Prozent zwischen 2008 und 2018 alle anderen Güter auch, gilt es zu bestimmen, wie sich der (siehe Abbildung 9) liegt in etwa in der gleichen Größenord- Preis in Relation zum Einkommen entwickelt bzw. wie lange nung wie die Steigerung im Rahmen des Bestandsmieten- 7 Der Wahl der Bruttokaltmiete liegt die Ratio zugrunde, dass diese den Anteil der Fixkosten an den Wohnkosten darstellt. Umlagekosten wie die Grundsteuer oder Hausmeisterkosten sind für den einzelnen Miethaushalt fix, sodass diese Kosten in der Bruttokaltmiete enthalten sind. Dagegen sind die Kosten für beispielsweise Elektrizität oder Heizung zumindest zu einem Teil variabel und unterliegen einer höheren Volatilität. Die Verwendung der Bruttokaltmiete zur Errechnung der Belastungsquote erleichtert daher sowohl die temporale Vergleichbarkeit als auch die zwischen Miet- und Eigentümerhaushalten, da beispiels- weise freistehende Einfamilienhäuser, die höhere variable Nebenkosten pro Quadratmeter haben als Mietwohnungen in Mehrfamilienhäusern, hauptsächlich selbstgenutzt werden. 17
Die Mietkostenbelastungsquote ist konstant geblieben Ehrbarer Staat? Politik versus Statistik: 140 30% Abbildung 9: Die Mietkostenbelas tungsquote ist im Ver- 130 25% gleich zu 2008 gesunken Indices der Bruttokaltmiete, des Haushaltsnettoeinkommens 120 20% von Miethaushalten und die Mietkostenbelastung (linke Skala: Index 100 = 2008; rechte Skala: Mietkosten 110 15% belastungsquote in Prozent) Quelle: Eigene Berechnungen auf 100 10% Grundlage der EVS 2003, 2008, 2013, 2018. Haushaltsnettoeinkommen Deutschland* 90 5% Bruttokaltmiete Deutschland Mietkostenbelastung Deutschland (rechte Skala) * Es handelt sich hier um das 80 0% Haushaltsnettoeinkommen von 2003 2008 2013 2018 Miethaushalten in Deutschland. indexes des Statistischen Bundesamts (siehe Abbildung 10) und erscheint somit plausibel. Als Haushaltsnettoeinkommen 5.2 Die Mietpreisentwicklung und ihre werden alle Einnahmen eines Haushalts aus Erwerbstätigkeit, Determinanten Vermögen, Transferzahlungen und Untervermietung nach Steuern und Sozialabgaben bezeichnet. Da sich diese Analy- se nur auf Miethaushalte beschränkt, flossen die Einkommen Für eine differenzierte Betrachtung der Mietpreisentwicklung der Eigentümer von selbstgenutztem Wohnraum nicht mit in muss zwischen Neuvertrags- und Bestandsmieten unterschie- die Berechnung ein. den werden. Die Bestandsmieten werden im Rahmen der Ver- Ausgehend von einer Mietkostenbelastungsquote in braucherpreiserhebung mittels Umfragen des Statistischen Höhe von rund 23 Prozent im Jahr 2003 stieg diese auf 25,8 Bundesamts erhoben, während die Neuvertragsmieten häufig Prozent im Jahr 2008 und weiter auf 26,8 Prozent im Jahr durch Transaktionsdaten oder Inserate von privaten Anbietern 2013. Im Jahr 2018, zum Zeitpunkt der letzten Erhebung der erfasst werden. Für diese Analyse wird auf das sogenannte EVS, betrug die Mietbelastung hingegen nur noch 25,2 Pro- Indikatorensystem zum Wohnimmobilienmarkt der Deutschen zent. Getrieben durch die starken Einkommenszuwächse der Bundesbank zurückgegriffen, das auf Transaktionsdaten letzten Jahre liegt sie nun sogar unter dem Niveau des Jahres der Bulwiengesa AG fußt. Beim Bestandsmietenindex ist zu 2008. Trotz der Mietpreissteigerungen im letzten Jahrzehnt beachten, dass dieser auch Neuvertragsmieten beinhaltet, ist die relative Kostenbelastung deutscher Miethaushalte so- da das Statistische Bundesamt eine vollständige Erhebung mit nicht gestiegen, sondern vielmehr gesunken.8 des Preisniveaus der Mieten intendiert. Der Anteil der Neu- 8 Nicht berücksichtigt sind hier die gestiegenen Strom- und Heizkosten im Jahr 2022, einerseits, weil die Daten der EVS nur bis 2018 verfügbar sind, und anderer- seits, weil die Berechnungsgrundlage für die Belastungsquote die Bruttokaltmiete ist (siehe vorherige Fußnote). 18
Narrative im Spiegel ökonomischer Fakten Die Mietkostenbelastungsquote ist konstant geblieben 170 Abbildung 10: 165 Die Neuvertragsmieten Neuvertragsmieten: 7 Großstädte* sind stark gestiegen – 160 155 Neuvertragsmieten: 127 Städte die Bestandsmieten 150 Neuvertragsmieten: Stadt- und Landkreise dagegen nur moderat 145 Bestandsmieten Neuvertrags- und Bestands 140 mietenindices (Index 100 = 2010) 135 130 Quelle: Deutsche Bundesbank (2022c). 125 120 115 110 105 100 95 * Berlin, Düsseldorf, Frankfurt am 90 Main, Hamburg, Köln, München, 2004 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 2013 2014 2015 2016 2017 2018 2019 2020 2021 Stuttgart. vertragsmieten ist jedoch so gering, dass wir – wie auch die Zuzug von überwiegend jungen Menschen, zu einem stei- Deutsche Bundesbank – vereinfachend vom Bestandsmie- genden Wohnraumbedarf (Göddecke-Stellmann et al., 2018). tenindex sprechen. Aus Abbildung 10 wird ersichtlich, dass Andererseits führen Trends wie eine zunehmende Singulari- die Neuvertragsmieten in Deutschland seit dem Jahr 2010 sierung sowie das lange Verharren von älteren Menschen in durchschnittlich um über 50 Prozent gestiegen sind. Dieser für sie zu groß gewordenen Wohnungen (Remanenzeffekt) zu Anstieg ist in den Städten, insbesondere in den sieben größ- einer steigenden Pro-Kopf-Quadratmeter-Nachfrage. Betrug ten des Landes (Berlin, Hamburg, München, Köln, Frankfurt diese im Jahr 1991 noch 34,9 Quadratmeter pro Einwohner, am Main, Stuttgart, Düsseldorf), überdurchschnittlich stark ist sie bis zum Jahr 2021 kontinuierlich auf 47,7 Quadratme- ausgeprägt. Demgegenüber sind die Bestandsmieten nur um ter pro Einwohner um ca. 37 Prozent gestiegen (Statistisches etwa 17 Prozent gestiegen. Das entspricht moderaten Stei- Bundesamt, 2022c). gerungsraten von durchschnittlich rund 1,4 Prozent pro Jahr. Die Angebotsseite trägt zumindest in Ballungsgebieten Auffällig ist, dass sich die beiden Zeitreihen vor 2010 mit nur wenig dazu bei, die Preissteigerungen zu dämpfen. Am einer ähnlichen Dynamik entwickelten und erst seit 2010 di- Beispiel Berlins lässt sich dies besonders eindrucksvoll aufzei- vergierende Trends zu erkennen sind. gen: Zwischen 2012 und 2020 wurden in Berlin rund 100.000 Die stark steigenden Neuvertragsmieten in Ballungs- Wohnungen mehr gebaut als abgerissen (Amt für Statistik räumen sind hauptsächlich auf soziodemografische Ent- Berlin-Brandenburg, 2021). Demgegenüber steht im gleichen wicklungen zurückzuführen. Einerseits kommt es dort durch Zeitraum ein Zuwachs der Nachfrage um etwa 240.000 Haus- wachsende Bevölkerungszahlen, insbesondere durch den halte (Amt für Statistik Berlin-Brandenburg, 2020). 19
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