EHRBARER STAAT? POLITIK VERSUS STATISTIK: NARRATIVE IM SPIEGEL ÖKONOMISCHER FAKTEN - UPDATE 2022

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EHRBARER STAAT? POLITIK VERSUS STATISTIK: NARRATIVE IM SPIEGEL ÖKONOMISCHER FAKTEN - UPDATE 2022
Update 2022

 Ehrbarer Staat? Politik versus Statistik:
 Narrative im Spiegel ökonomischer Fakten

 Argumente
 zu Marktwirtschaft
 und Politik

 Nr. 166 | Dezember 2022

 Bernd Raffelhüschen
 Teresa Brinkschmidt
 Philipp Toussaint
 Sebastian Will
Ehrbarer Staat? Politik versus Statistik:
Narrative im Spiegel ökonomischer Fakten

Bernd Raffelhüschen
Teresa Brinkschmidt
Philipp Toussaint
Sebastian Will

Argumente zu Marktwirtschaft und Politik, Nr. 166

Inhaltsverzeichnis

   Vorwort 03

1   Einleitung 04
2   Die Staatsverschuldung explodiert: Die Nachhaltigkeitslücke im Status quo 05
3   Staatsverschuldung und Inflation 09
     3.1    Bestandsaufnahme der gegenwärtigen Preisentwicklung 09
     3.2    Die Geldpolitik der EZB und ihre Auswirkungen auf das Inflationsgeschehen 10
4   Eine „Niedrigzins“-Phase? Die gab es nicht 15
5   Die Mietkostenbelastungsquote ist konstant geblieben 17
     5.1    Die Mietkostenbelastung 17
     5.2    Die Mietpreisentwicklung und ihre Determinanten 18
6   Fazit 21
7   Methodische Grundlagen der Generationenbilanzierung 22
     7.1    Die Methode der Generationenbilanzierung 22
     7.2    Berücksichtigte Rahmenbedingungen 24
     7.3 Verwendete Nachhaltigkeitsindikatoren 24

   Literatur 26

   Executive Summary 28

© 2022

Stiftung Marktwirtschaft (Hrsg.)
Charlottenstraße 60
10117 Berlin
                                                                                 Die Publikation ist auch über den QR-Code
Telefon: +49 (0)30 206057-0
                                                                                 kostenlos abrufbar.
info@stiftung-marktwirtschaft.de
www.stiftung-marktwirtschaft.de

                                                       Diese Studie wurde am Forschungszentrum Generationenverträge der Albert-
                                                       Ludwigs-Universität Freiburg erstellt. Für wertvolle Hinweise und Hilfestellungen
ISSN: 1612 – 7072                                      danken die Autoren Tobias Kohlstruck, Guido Raddatz und Ann Zimmermann. Für
Titelfoto: © Sergej Khackimullin – Fotolia.com         alle verbleibenden Fehler zeigen sich die Autoren verantwortlich.
Narrative im Spiegel ökonomischer Fakten                                                                                          Vorwort

Vorwort

Narrative haben eine enorme Bedeutung für die gesellschaft-            deutlich wird. Von der „neuen Ehrlichkeit“, die den Wählern
liche, aber auch die politische Meinungsbildung – insbeson-            bereits im Bundestagswahlkampf 2013 versprochen wurde,
dere in Krisenzeiten. Ob während der Covid-19-Pandemie,                sind wir zumindest noch ein gutes Stück weit entfernt, wie
im Zusammenhang mit dem russischen Angriffskrieg oder vor              diese Studie aufzeigt.
dem Hintergrund der Energiekrise, letztendlich gewinnt in der               Werden „passende“ Narrative bewusst gestrickt, indem
Öffentlichkeit meistens die Seite mit dem stärksten Narrativ.          unbequeme ökonomische Tatsachen und Zusammenhänge
Dabei spielt insbesondere die Interpretation von Fakten und            nur unvollständig dargestellt oder gar missverständlich inter-
deren Einordnung in den Gesamtkontext eine bedeutende                  pretiert werden, ist es an der Zeit, kritische Fragen zu stel-
Rolle.                                                                 len und die Faktenlage noch einmal genauer unter die Lupe
      Ökonomischen Narrativen ist häufig eine normative Di-            zu nehmen – insbesondere dann, wenn aus ihnen politische
mension inhärent, die sich vor allem dadurch ergibt, dass              Handlungsoptionen abgeleitet werden. Denn eines dürfte klar
Narrativen sowohl vereinfachende Annahmen als auch be-                 sein: Für die öffentliche Meinungsbildung ist kaum etwas so
stimmte Zielvorstellungen zugrunde liegen. Sie helfen dabei,           unabdingbar wie Transparenz und Nachvollziehbarkeit – und
Struktur in die empirische Gemengelage zu bringen, Wissen              das nicht nur in Krisenzeiten.
didaktisch aufzubereiten und schlussendlich Erkenntnisse
in die Welt zu tragen. Dass sich Narrative vor allem im poli-          Wir danken der informedia-Stiftung für die Förderung dieser
tischen Kontext nicht ohne ein gewisses Maß an normativer              Publikation.
Bewertung herausbilden, ist weder überraschend noch an
und für sich problematisch.
      Wenn Narrative jedoch auf einer Interpretation von Zahlen
und Statistiken aufbauen, die weder transparent kommuni-
ziert, noch nachvollziehbar ist, können „gefühlte“ Wahrheiten
entstehen, die mit der Realität nicht unbedingt übereinstim-
men oder sich gar als konstruierte Kausalitäten entpuppen.
Es besteht insofern zuweilen ein Spannungsfeld zwischen                Prof. Dr. Michael Eilfort        Prof. Dr. Bernd Raffelhüschen
ökonomischen Tatsachen und politischer Botschaft, das                  Vorstand                         Vorstand
manchmal – wenn überhaupt – erst bei genauerem Hinsehen                der Stiftung Marktwirtschaft     der Stiftung Marktwirtschaft

                                                                  03
Einleitung                                                                                     Ehrbarer Staat? Politik versus Statistik:

1            Einleitung

Nach zwei langen Jahren, in denen sich die mediale Auf-              das Vorkrisenniveau absinken – die Ära der (viel zu) billigen
merksamkeit hierzulande fast ausschließlich auf die Covid-           Energiebeschaffung scheint auf absehbare Zeit vorbei zu
19-Pandemie beschränkte, stehen seit Beginn des Jahres               sein.
2022 vor allem der Ukrainekrieg, die Energiekrise und die                  Vor dem Hintergrund der aktuellen Entwicklungen the-
steigenden Inflationsraten im Zentrum der öffentlichen De-           matisiert die vorliegende Studie vier in der Öffentlichkeit vor-
batte. Diese teils erschütternden und tragischen Entwick-            herrschende „gefühlte“ Wahrheiten und unterzieht sie einer
lungen prägen nicht nur das politische Tagesgeschehen,               kritischen Analyse. Zu einer dieser gefühlten Wahrheiten ge-
sondern sorgen darüber hinaus ökonomisch wie auch gesell-            hört die vermeintlich höhere Wohnkostenbelastung. Durch
schaftlich für ein hohes Maß an Unsicherheit. Insbesondere           die nominal steigenden Preise und Mieten entsteht der Ein-
die Situation auf den Gasmärkten aufgrund des erheblichen            druck, dass Wohnraum immer teurer wird. Wie hoch die Be-
Angebotsrückgangs durch den Wegfall der Gaslieferungen               lastung durch höhere Mieten jedoch tatsächlich ist, wird erst
aus Russland macht der deutschen Wirtschaft wie auch den             ersichtlich, wenn sie ins Verhältnis zum Haushaltseinkommen
Bürgern zu schaffen. Auf Ebene der Privathaushalte spiegelt          gesetzt werden. Darüber hinaus wird in der vorliegenden Pu-
sich der Anstieg der Verbraucherpreise vor allem in Kauf-            blikation die (coronabedingte) implizite Staatsverschuldung
kraftverlusten wider, die einen Rückgang des Konsums zur             offengelegt, die deutlich größer als die ausgewiesene expli-
Folge haben. Die inflationsbedingt entstehenden Gewinne              zite Staatsschuld ist. Ferner wird die Zinsentwicklung der
bleiben jedoch nicht in Deutschland, da ein Großteil der             letzten Jahre sowie das aktuelle Inflationsgeschehen und die
durch den Preisanstieg hervorgerufenen Mehreinnahmen ins             diesbezügliche Rolle der Europäischen Zentralbank (EZB)
Ausland abfließt. Wenngleich angenommen werden kann,                 genauer unter die Lupe genommen. Der in diesem Zusam-
dass sich die hohen Energie- und Lebensmittelpreise nicht            menhang oft als „Niedrigzinsphase“ bezeichnete Zeitraum
dauerhaft auf ihrem aktuellen Niveau bewegen werden, ist             kann jedoch nur als solcher bezeichnet werden, wenn aus-
dennoch von langfristigen Wohlstandsverlusten auszugehen.            schließlich festverzinsliche Wertpapiere betrachtet werden.
Denn selbst bei einem mittelfristigen Rückgang der Energie-          Werden außerdem Immobilien und Aktien berücksichtigt,
preise ist es äußerst unwahrscheinlich, dass diese wieder auf        wird deutlich, dass sich Sparen trotzdem lohnt.

                                                                04
Narrative im Spiegel ökonomischer Fakten                               Die Staatsverschuldung explodiert: Die Nachhaltigkeitslücke im Status quo

2           Die Staatsverschuldung explodiert:
            Die Nachhaltigkeitslücke im Status quo

Ökonomische Tatsache Nr. 1: Die explizite Staatsschuld                          als er mit Steuern und Beiträgen dauerhaft finanzieren kann.
liegt aktuell bei knapp 2,5 Billionen Euro bzw. 68,7 Prozent                    Ausgangspunkt der Analyse bilden die Daten der Volks-
des BIP. Seit Beginn der Covid-19-Pandemie ist sie um 10                        wirtschaftlichen Gesamtrechnung (VGR), wobei den vorlie-
Prozentpunkte gestiegen. Den weitaus größeren Teil des                          genden Zahlen – im Vergleich zum Sommer-Update 2022 –
Schuldenbergs machen jedoch die sogenannten impliziten                          die endgültigen VGR-Jahresergebnisse zugrunde liegen. Das
Schulden aus, die Leistungsversprechen des Staates gegen-                       bestehende Missverhältnis zwischen der langfristigen Einnah-
über seinen jungen und zukünftigen Bürgern darstellen, die                      men- und Ausgabenentwicklung des Staates spiegelt sich im
durch das heutige Steuer- und Abgabenniveau nicht gedeckt                       Status quo-Szenario des diesjährigen Herbst-Updates der
sind.                                                                           Generationenbilanz in einer impliziten Schuld von 330,2 Pro-
      Die Analyse der fiskalischen Nachhaltigkeit und die                       zent des BIP wider.
Quantifizierung der intertemporalen und intergenerativen                             Im Vergleich zum vorangegangenen Sommer-Update er-
Auswirkungen der Fiskalpolitik erfolgt vor dem Hintergrund                      gibt sich durch die Aktualisierung der VGR-Daten1 ein Anstieg
des Leitbildes der Generationengerechtigkeit und einer zu-                      der impliziten, heute noch unsichtbaren, Schulden von 5,7
kunftsfähigen Entwicklung der öffentlichen Finanzen. Im                         Prozentpunkten. Bei den expliziten, heute bereits sichtbaren,
Sinne einer fiskalischen Nachhaltigkeit ist die dauerhafte Fi-                  Staatsschulden ergibt sich demgegenüber ein geringfügiger
nanzierbarkeit der öffentlichen Haushalte das langfristige Ziel.                Rückgang um 2,3 Prozentpunkte von 71,0 auf 68,7 Prozent-
Implizite Schulden ergeben sich dabei aus zukünftigen Haus-                     punkte des BIP. Dies lässt sich auf das in den endgültigen
haltsdefiziten, d.h. die zukünftigen Staatseinnahmen werden                     VGR-Jahresergebnissen leicht nach oben korrigierte BIP bei
nicht ausreichen, um die zukünftigen Staatsausgaben zu                          gleichzeitig niedrigerem Schuldenstand zurückführen. Die
decken. Der Staat verspricht mehr öffentliche Leistungen,                       Nachhaltigkeitslücke der öffentlichen Haushalte, definiert als

    Abbildung 1:
    Leichter Anstieg der Nachhaltigkeitslücke aufgrund der aktualisierten endgültigen VGR-Jahresergebnisse
    (in Prozent des jeweiligen BIP*)
    Quelle: Eigene Berechnungen.

                               Sommer-Update 2022                      Herbst-Update 2022 (Status quo)

                                       395,4                                        398,9
  Explizite
Staatsschuld                           71,0                                          68,7

  Implizite
Staatsschuld
                                                                                                                             Sommer-Update 2022:
                                                                                                                             Notwendige Einnahmen-
                                       324,5                                         330,2                                 Erhöhung um 16,0%** oder
                                                                                                                          Ausgaben-Senkung um 13,8%

                                                                                                                            Update 2022 (Status quo):
                                                                                                                              Notwendige Einnahmen-
                                   14,1 Billionen                               14,4 Billionen                               Erhöhung um 16,2% oder
                                       Euro                                         Euro                                   Ausgaben-Senkung um 13,9%

* Referenz-BIP für das Sommer-Update 2022 (BIP 2021) = 3,57 Billionen Euro; Herbst-Update 2022 (BIP 2021) = 3,60 Billionen Euro.
** Wert der notwendigen Einnahmen-Erhöhung für das Sommer-Update 2022 wurde korrigiert.

1     Verwendung der endgültigen VGR-Jahresergebnisse (Statistisches Bundesamt, 2022k) im Vergleich zu den vorläufigen VGR-Ergebnissen aus dem Mai 2022
     (Statistisches Bundesamt, 2022j).

                                                                           05
Die Staatsverschuldung explodiert: Die Nachhaltigkeitslücke im Status quo                            Ehrbarer Staat? Politik versus Statistik:

die Summe aus expliziter und impliziter Verschuldung, be-               für beide Jahre nach oben korrigiert. Im Jahr 2020 lagen
läuft sich demnach auf 398,9 Prozent des BIP im Vergleich               diese schlussendlich 4,45 Milliarden Euro und im darauffol-
zu 395,4 Prozent im Sommer-Update dieses Jahres. Umge-                  genden Jahr 2021 3,57 Milliarden Euro über den Werten aus
rechnet entspricht dies einer Staatsschuld von 14,4 Billionen           der vorläufigen VGR. Die Zunahme der impliziten Verschul-
Euro und damit einem durch die Datenaktualisierung indu-                dung lässt sich dementsprechend auf den in der endgültigen
zierten Schuldenanstieg von 0,3 Billionen Euro.                         Version der VGR leicht verschlechterten Finanzierungssaldo
      Die Einnahmen der Gebietskörperschaften fielen gemäß              der Gebietskörperschaften zurückführen. Auf Grundlage der
der endgültigen VGR-Jahresergebnisse für 2020 um 1,93                   endgültigen Jahresergebnisse der VGR ergibt sich für das
Milliarden Euro und im Jahr 2021 um 0,13 Milliarden Euro hö-            Jahr 2021 ein Defizit der Gebietskörperschaften in Höhe von
her aus, als sie in den vorläufigen Ergebnissen aus dem Mai             138,5 Milliarden Euro und damit ein neues Rekordhoch. Im
2022 ausgewiesen wurden (vgl. Tabelle 2). Gleichzeitig wur-             Krisenjahr 2020 lag das Finanzierungsdefizit der Gebietskör-
den jedoch auch die Ausgaben der Gebietskörperschaften                  perschaften noch bei 112,7 Milliarden Euro.

  Tabelle 1:
  Staatsfinanzen unter Druck: Einnahmen, Ausgaben und Finanzierungssalden der Gebietskörperschaften und der Sozial-
  versicherungen gemäß endgültiger VGR
  (in Milliarden Euro)
  Quelle: Statistisches Bundesamt (2022k).

                                                      Einnahmen                          Ausgaben                  Finanzierungssaldo

                                                  2020           2021            2020               2021           2020            2021
  Gebietskörperschaften                          1.003,8        1.116,4         1.116,6         1.255             -112,7          -138,5
  Gesetzliche Rentenversicherung                 339,8           352,7           344,1          352,4              -4,3             0,3
  Gesetzliche Krankenversicherung                273,6           298,8           278,7          298,9              -5,1            -0,1
  Soziale Pflegeversicherung                      51,1           52,4             47,8              52,3            3,2            0,13
  Sonstige Sozialversicherungen                   55,7           82,0             84,4              78,1          -28,7             3,9

     Unter der Prämisse, dass heutige und zukünftige Ge-                     Mit Blick auf die Schuldentransparenz der öffentlichen
nerationen gleichermaßen zur Konsolidierung der öffentlichen            Haushalte ergibt sich im Status quo ein Anteil der impliziten
Haushalte herangezogen werden, ergäben sich im Status                   Verschuldung an den Staatsschulden von 82,8 Prozent, wäh-
quo notwendige Ausgabeneinsparungen im Umfang von                       rend nur 17,2 Prozent der Gesamtverschuldung auf die expli-
13,9 Prozent. Ebenso könnte die bestehende Nachhaltig-                  ziten Staatsschulden fällt. Insofern wird weiterhin weniger als
keitslücke – unter gleichbleibender Prämisse bezüglich der              ein Fünftel der Staatsschulden auch tatsächlich seitens des
Lastenverteilung zwischen heutigen und zukünftigen Gene-                Staates als solche ausgewiesen, während der weitaus größe-
rationen – durch dauerhafte Einnahmenerhöhungen von 16,2                re Teil der Verschuldung für die Öffentlichkeit im Verborgenen
Prozent ausgeglichen werden.                                            bleibt (vgl. Abbildung 2).

                                                                  06
Narrative im Spiegel ökonomischer Fakten                                      Die Staatsverschuldung explodiert: Die Nachhaltigkeitslücke im Status quo

  Tabelle 2:
  Abweichungen der Einnahmen, Ausgaben und Finanzierungssalden der Gebietskörperschaften und der Sozialversiche-
  rungen nach endgültiger VGR 2022 im Vergleich zur vorläufigen VGR aus dem Mai 2022
  (in Milliarden Euro)
  Quelle: Statistisches Bundesamt (2022j, 2022k), eigene Berechnungen.

                                                                   Einnahmen                                  Ausgaben                   Finanzierungssaldo

                                                             2020                    2021             2020               2021            2020             2021
   Gebietskörperschaften                                     1,93                    0,13              4,45              3,57            -2,52            -3,34
   Gesetzliche Rentenversicherung                            -0,04                   0,11             -0,03              0,29            0,00             -0,18
   Gesetzliche Krankenversicherung                           0,03                    0,13              0,02              0,53            0,00             -0,40
   Soziale Pflegeversicherung                                0,06                    -0,08             0,33              -0,01           -0,16            -0,07
   Sonstige Sozialversicherungen                             -0,02                   0,14             -0,35              -0,39           0,33             0,54

  Abbildung 2:
  Weiterhin werden nur ein Fünftel der Staatsschulden tatsächlich als solche ausgewiesen
  Expliziter und impliziter Anteil der Staatsschulden im Zeitverlauf (in Prozent der jeweiligen Nachhaltigkeitslücke)

  Quelle: Eigene Berechnungen.

 81,1%      72,9%     63,9%      75,5%    78,8%     73,0%       64,1%       64,6%         66,3%    67,6%       67,5%   68,2%     65,9%    72,3%   84,1%      82,8%

 18,9%      27,1%     36,1%      24,5%    21,2%     27,0%       35,9%       35,4%         33,7%    32,4%       32,5%   31,8%     34,1%    27,7%   15,9%      17,2%

  2006      2007      2008       2009     2010      2011         2012       2013          2014     2015        2016      2017    2018     2019    2020       2021

                                                            Explizite Staatsschuld           Implizite Staatsschuld

                                                                                     07
Die Staatsverschuldung explodiert: Die Nachhaltigkeitslücke im Status quo                                     Ehrbarer Staat? Politik versus Statistik:

     Das kontrafaktische Szenario aus dem Sommer-Update                              Steuerschätzungen (BMF, 2019) aus dem Vorkrisenjahr 2019
2021 stellt die konjunkturelle Entwicklung dar, die zu erwar-                        zugrunde gelegt.2
ten gewesen wäre, hätte es die Covid-19-Pandemie nicht                                    Dieses kontrafaktische Szenario kann als näherungs-
gegeben, und illustriert somit eine hypothetische Situation.                         weises Vergleichsszenario herangezogen werden, um die
Den Berechnungen werden hierfür annahmegemäß die Kon-                                Größenordnung der fiskalischen Auswirkungen der Pandemie
junkturerwartungen (Gemeinschaftsdiagnose, 2019) und                                 greifbar zu machen. Übertragen auf das diesjährige Herbst-
                                                                                     Update ergibt sich auf dieser Grundlage eine ausschließlich
                                                                                     coronabedingte implizite Verschuldung von 179,6 Prozent
                                                                                     des BIP. Dies entspricht umgerechnet 6,5 Billionen Euro. Die
                                                                                     impliziten Schulden ohne Corona-Auswirkungen würden sich
    Abbildung 3:                                                                     hingegen nur auf 150,6 Prozent des BIP oder 5,4 Billionen
    Anstieg der impliziten Staatsschuld auch Covid-19-                               Euro belaufen. Insgesamt läge die Nachhaltigkeitslücke im
    bedingt                                                                          kontrafaktischen Szenario aus dem Sommer-Update 2021
                                                                                     nur bei 208,6 Prozent des BIP im Vergleich zu 398,9 Pro-
    Anteil der expliziten und impliziten Verschuldung an der Nachhaltigkeits­
    lücke (in Prozent des BIP)                                                       zent im Status quo-Szenario. Der starke Anstieg ist auf die
                                                                                     deutlichen Steuermindereinnahmen infolge des Covid-19-
    Quelle: Eigene Berechnungen.
                                                                                     bedingten Wachstumseinbruchs zurückzuführen.
                                                                                          Die bis ins Jahr 2019 durchaus erfreuliche Entwicklung
                                                                                     der öffentlichen Finanzen wird insbesondere vor dem Hinter-
                                    398,9
                                                                                     grund der Pandemiebekämpfung häufig angeführt, um die
                                                                                     massive explizite Neuverschuldung zu relativieren. Fünf Jahre
                                                                                     in Folge konnte der Staat einen Finanzierungsüberschuss er-
                                                                                     wirtschaften. Seit 2010 bis zum Ausbruch von Covid-19 war
                                    179,6
                                                                                     die deutsche Wirtschaft auf einem Wachstumskurs – wenn-
                                                                  Corona-            gleich bereits vor der Pandemie nur noch in abgeschwäch-
  implizite                                                     Auswirkung*          ter Form. Der Anstieg der expliziten Schulden infolge der
Verschuldung
                                                                                     Hilfspakete und Maßnahmen zur Konjunkturstabilisierung sei
                                                               ohne Corona-
                                                               Auswirkung*           deshalb unproblematisch: Man habe ja schließlich zuvor gut
                                    150,6
                                                                                     gewirtschaftet und würde das auch nach Ende der Pandemie
                                                                                     wieder tun. Ignoriert werden dabei jedoch – wie so oft – die
                                                                                     impliziten Staatsschulden, die alle Verbindlichkeiten berück-
                                                                                     sichtigen, die der Staat gegenüber seinen Bürgern eingegan-
  explizite                                                                          gen ist und welche im Vergleich zum Vorkrisenjahr massiv
                                     68,7
Verschuldung
                                                                                     angestiegen sind. Da alle impliziten Schulden irgendwann zu
                                                                                     expliziten Schulden werden, sollten die politisch Verantwort-
* Es handelt sich hier um Abschätzungen auf Basis des kontrafaktischen Sze-
                                                                                     lichen dieser Problematik durch konsolidierende Maßnahmen
narios aus dem Sommer-Update 2021, hierzu Raffelhüschen et al. (2021a).              entgegenwirken.

2    Für eine detaillierte Beschreibung siehe Bahnsen et al. (2020) sowie Raffelhüschen et al. (2021a).

                                                                                08
Narrative im Spiegel ökonomischer Fakten                                                                        Staatsverschuldung und Inflation

3            Staatsverschuldung und Inflation

                                                                             prozess. Verstärkt wurde dieser Prozess zusätzlich durch
3.1           Bestandsaufnahme der gegenwärtigen                             die restriktive Zero-Covid-Strategie Chinas, die sich ebenfalls
              Preisentwicklung                                               preiserhöhend ausgewirkt hat (Horst et al., 2022).
                                                                                  Seit einigen Monaten sorgen vor allem die hohen Ener-
                                                                             giepreise für steigende Inflationsraten bei den gewerblichen
Bereits in der zweiten Hälfte des Jahres 2021 sind die Inflati-              Erzeugerpreisen, die sich mittlerweile auf einem Rekordniveau
onsraten deutlich gestiegen. Hierfür verantwortlich war einer-               befinden (vgl. Abbildung 4). Dabei wirken sich die enor­men
seits der starke Anstieg der aggregierten Nachfrage in Folge                 Preissteigerungen auf den vorgelagerten Wirtschaftsstufen
der expansiven fiskal- und geldpolitischen Maßnahmen sowie                   wiederum preiserhöhend auf die Verbraucherpreise aus. Im
des Wegfalls vieler Einschränkungen zur Pandemiebekämp-                      Vergleich zum Vorjahresmonat fielen die gewerblichen Erzeu-
fung. Andererseits ergaben sich erhebliche Lieferengpässe,                   ger- sowie die Verbraucherpreise im September 2022 um
insbesondere bei Rohstoffen, als Folge der globalen Über-                    45,8 Prozent bzw. 10 Prozent höher aus (Statistisches Bun-
lastung der Logistik durch den wirtschaftlichen Erholungs-                   desamt, 2022b, 2022h).

50
                                                                                                 45,8%             Abbildung 4:
                                                                                                                   Die Preise steigen wie
                 Inflationsrate gewerbliche Erzeugerpreise                                                         noch nie
40               Inflationsrate Verbraucherpreise
                                                                                                                   Entwicklung der jährlichen
                                                                                                                   Inflationsrate der gewerblichen
                                                                                                                   Erzeugerpreise (Erzeugerpreisin-
30                                                                                                                 dex) und der Verbraucherpreise
                                                                                                                   (Verbraucherpreisindex) seit
                                                                                                                   Januar 2020
                                                                                                                   (in Prozent)
20
                                                                                                                   Quelle: Statistisches Bundesamt
                                                                                                                   (2022b, 2022h).
10                                                                                                 10,0%

    0
        01/20 03/20 05/20 07/20 09/20 11/20 01/21 03/21 05/21 07/21 09/21 11/21 01/22 03/22 05/22 07/22 09/22

-10

     Getrieben wird die gegenwärtige Inflationsdynamik von                   individuellen Verbrauch gegenübersehen, sondern die Unter-
nach wie vor gestörten Lieferketten infolge der Covid-19-Pan-                nehmen teilweise ihre energiebedingten Mehrkosten außer-
demie und des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine, der                 dem in Form von Preiserhöhungen ihrerseits an die privaten
insbesondere auf den Energiemärkten für eine Gasknappheit                    Verbraucher weitergeben. Bei hohen Lohnabschlüssen, die
sorgt und die Preise für Energie in ungeahnte Höhen schie-                   wiederum die Nachfrage erhöhen, droht außerdem eine
ßen lässt. So lagen die Energiepreise im Oktober 2022 um                     Lohn-Preis-Spirale, die die Inflation weiter anheizt.
43 Prozent höher als im Vorjahresmonat – und das, obwohl                           Die Rekordinflation kann als eines der drängendsten ge-
sich im Oktober die Mehrwertsteuersenkung auf Erdgaslie-                     sellschaftspolitischen Probleme der Gegenwart verstanden
ferungen und Fernwärme preisdämpfend ausgewirkt haben                        werden, das seitens der Politik schnellstmöglich an der Wur-
dürfte (Statistisches Bundesamt, 2022g).                                     zel angegangen werden sollte. Denn wie Sinn (2021) treffend
     Für die privaten Haushalte resultiert aus den stark ge-                 feststellt: Wenn die Stabilität des Geldes infolge einer ausu-
stiegenen Energiepreisen eine Doppelbelastung, da sie sich                   fernden Inflation nicht mehr gesichert ist, bricht ein Grund-
nicht nur einer Verteuerung von Gas und Elektrizität für ihren               pfeiler unserer marktwirtschaftlichen Ordnung weg.

                                                                        09
Staatsverschuldung und Inflation                                                                                  Ehrbarer Staat? Politik versus Statistik:

    50                                                                                                                      Abbildung 5:
                                                                                                                            Hohe Inflationsdynamik
                                                                                                                            im Energiesektor
    40                                                                                                                      Entwicklung der Kerninflations-
                                                                                                                            rate, des Verbraucherpreisindex
                                                                                                                            (Gesamtindex) und der Energie-
                                                                                                                            preise (Teilindex) in den letzten
                                                                                                                            12 Monaten (in Prozent)
    30
                                                                                                                            Quelle: Statistisches Bundesamt
                                                                                                                            (2022d, 2022e, 2022f, 2022g).

    20

    10
                                                                                                                                 Energie (Teilindex)
                                                                                                                                 VPI (Gesamtindex)
     0                                                                                                                           Kerninflationsrate
           10/21    11/21   12/21   01/22   02/22   03/22    04/22   05/22   06/22     07/22   08/22   09/22   10/22

                                                                                          Konkret heißt das: Zwischen dem Ausbruch der Finanz-
3.2             Die Geldpolitik der EZB und ihre Aus-                                krise im Sommer 2008 und September 2021 stieg die Zen-
                wirkungen auf das Inflationsgeschehen                                tralbankgeldmenge im Euroraum von 880 Milliarden auf etwa
                                                                                     6 Billionen Euro (vgl. Abbildung 6). Das entspricht nahezu
                                                                                     einer Versiebenfachung (EZB, 2022a). Als Begründung für
Ökonomische Tatsache Nr. 2: Der gegenwärtig zu beob­                                 diese expansive Geldpolitik der EZB wurde damals zunächst
achtenden Inflation hat die EZB bereits vor Jahren die Basis                         die Erhöhung der zu diesem Zeitpunkt sehr niedrigen – von
bereitet. Die Covid-19-Pandemie und der Ukrainekrieg sind                            manchen Beobachtern als an der Grenze zur Deflation lie-
lediglich Auslöser und Verstärker, aber keine originären Verur-                      gend interpretierten – Inflation angeführt.
sacher des aktuellen Inflationsgeschehens.                                                Ein erstes wichtiges Programm, mit dem die EZB den
     Zwar kann die EZB selbstverständlich weder für die                              Ankauf von Staatsanleihen forcierte, war das Securities Mar-
Covid-19-Pandemie noch für den russischen Angriffskrieg                              kets Programme (SMP), welches im Mai 2010 von der EZB
und seine Folgen verantwortlich gemacht werden. Dennoch                              eingeführt wurde und unter dessen Namen die Notenbanken
trägt sie in Bezug auf die steigenden Staatsschulden und das                         des Eurosystems Staatsanleihen der Euro-Länder im Wert
derzeitige Inflationsgeschehen im Euroraum eine Mitverant-                           von insgesamt 223 Milliarden Euro erwarben. Dabei wurden
wortung. Durch ihre Niedrigzinspolitik und die großflächigen                         großflächig die Staatspapiere jener Länder gekauft, die sich
Ankaufprogramme von Staatsanleihen hat die EZB die Zen-                              aufgrund ihrer finanziellen Situation am Kapitalmarkt mit ho-
tralbankgeldmenge im Euroraum massiv aufgebläht. Das Zen-                            hen Risikoaufschlägen konfrontiert sahen, wie Griechenland,
tralbankgeld (M0) umfasst sämtliches von der Zentralbank in                          Irland, Italien, Portugal und Spanien. So kam es ab Mitte des
Umlauf gebrachtes Bargeld sowie Sichteinlagen von Dritten,                           Jahres 2011 bis Mitte des Jahres 2012 – also während dro-
insbesondere den Geschäftsbanken3, die bei der Zentralbank                           hender Staatspleiten und dem griechischen Schuldenschnitt
unterhalten werden (Deutsche Bundesbank, 2022b).                                     – zu einem rapiden Anstieg der Zentralbankgeldmenge.

3        Die Sichteinlagen der Geschäftsbanken dienen dabei nicht nur der Abwicklung des Zahlungsverkehrs, sondern sind auch Ausdruck der bindenden Mindest-
         reserve, die die Geschäftsbanken bei der Zentralbank halten müssen.

                                                                              10
Narrative im Spiegel ökonomischer Fakten                                                             Staatsverschuldung und Inflation

7.000                                                                                                   Abbildung 6:
6.500                                                                                                   Starker Anstieg der
                                                                                                        Zentralbankgeldmenge
6.000
                                                                                                        seit 2015
5.500
                                                                                                        Die Entwicklung der Zentral­
5.000
                                                                                                        bankgeldmenge M0 (in Milliarden
4.500                                                                                                   Euro)

4.000                                                                                                   Quelle: EZB (2022a).
3.500
3.000
2.500
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        2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 2013 2014 2015 2016 2017 2018 2019 2020 2021 2022

Anschließend entfalteten die großflächigen EZB-Rettungs-             rend der Wertpapierkauf immer weiter ausgeweitet wurde.
schirme EFSF und ESM, deren Gesamtvolumen sich auf 990               Eingeführt wurden die Wertpapierkäufe 2015 in erster Linie,
Milliarden Euro belief, ihre Wirkung (Sinn, 2021). Ferner er-        da zu diesem Zeitpunkt die Zinsuntergrenze von Null erreicht
klärte die EZB im Rahmen ihrer sogenannten Outright Mone-            worden war und insofern die Absenkung des Zinssatzes für
tary Transactions (OMT), dass sie im Falle drohender Staats-         die EZB als geldpolitisches Instrument ausschied (Horst et
schuldenkrisen nahezu unbegrenzt die Staatsanleihen des              al., 2022). Das monatliche Volumen der Staatspapierkäufe
betroffenen Mitgliedstaates aufkaufen würde, sodass eine             belief sich auf 60 bis zeitweise 80 Milliarden Euro (Deutsche
Phase der Entspannung auf den Kapitalmärkten einsetzte               Bundesbank, 2022a) – eine Größenordnung, die das Volu-
(Kronberger Kreis, 2021).                                            men des SMP bei weitem in den Schatten stellte. Die Käufe
      Mit dem Beschluss der Quantitative Easing-Strategie im         der nationalen Notenbanken waren dabei an den EZB-Kapi-
Januar 2015 begann der erneute – nahezu explosionsartige             talschlüssel gebunden, der sich hälftig aus BIP- und Bevöl-
– Anstieg der Zentralbankgeldmenge. Die quantitative Lo-             kerungsanteil errechnet. Durch diese Art der Berechnung re-
ckerung dient als geldpolitisches Instrument, wenn die Zins­         sultiert eine Begünstigung im Rahmen des PSPP der weniger
untergrenze erreicht ist. Durch den Ankauf von Wertpapieren          wohlhabenden Euroländer, deren Bevölkerungsgewicht grö-
kommt es zu einer beträchtlichen Ausweitung der Noten-               ßer als ihr BIP-Gewicht ist (Hansen und Meyer, 2020). Jedoch
bankbilanz, ohne dass der Notenbankzinssatz verändert wird           wurde dieser Verteilungsschlüssel in der Praxis nur begrenzt
(Wieland, 2020). Die quantitative Lockerung führt dabei ins-         eingehalten. Stattdessen erwarben die nationalen Noten-
besondere zu einer erhöhten Risikobereitschaft bei Banken            banken vermehrt Staatspapiere der finanziell geschwächten
und Anlegern und hat darüber hinaus steigende Vermögens­             Euro-Länder (Heinemann, 2017). Problematisch ist dies vor
preise zur Folge (Kronberger Kreis, 2021). Der Löwenanteil           allem deswegen, weil die EZB damit im Grunde eine indirekte
des Programms entfiel auf das Public Sector Purchase Pro-            Staats- bzw. Schuldenfinanzierung der Mitgliedstaaten des
gramme (PSPP): Allein zwischen März 2015 und Dezember                Euroraums betreibt und ihr Mandat der Preisniveaustabilität
2018 wurden Staatsanleihen in Höhe von 2,17 Billionen Euro           zugunsten (unerlaubter) fiskalpolitischer Eingriffe vernachläs-
(Nennwert) erworben (Afflatet, 2019).                                sigt. Auch das Bundesverfassungsgericht stufte die Errich-
      Mit dem PSPP weitete die EZB ihre Staatspapierkäufe            tung und Durchführung des PSPP durch die EZB zunächst
massiv aus und begab sich in neues geldpolitisches Fahr-             als Überschreitung ihrer „primärrechtlich eingeräumten Kom-
wasser, da kurzfristige Kredite an Bedeutung verloren, wäh-          petenzen“ ein (BVerfG, 2020).

                                                                11
Staatsverschuldung und Inflation                                                                 Ehrbarer Staat? Politik versus Statistik:

      Durch das PSPP verbesserten sich die Refinanzierungs-                   Mit dem als Reaktion auf die Covid-19-Pandemie ins Le-
bedingungen für die Mitgliedstaaten, da sie sich nun zu deutlich        ben gerufenen Pandemic Emergency Purchase Programme
günstigeren Konditionen am Kapitalmarkt mit Krediten versor-            (PEPP) führte die EZB den Kurs der massiven Bilanzauswei-
gen konnten (BVerfG, 2020). Indem die EZB mehr Anleihen                 tung weiter fort. Das ursprüngliche Volumen von 750 Milliar-
kaufte als von den Staaten neu ausgegeben wurden, finan-                den Euro wurde im Juni 2020 um 600 Milliarden Euro und
zierte sie indirekt die Neuverschuldung (Fuest, 2022). Während          im November 2020 erneut um 500 Milliarden Euro erweitert
der Krisenjahre seit 2008 wurden 75 Prozent des Schulden-               (EZB, 2022d).
zuwachses der Euro-Länder indirekt über die EZB und die na-                   Die jahrelange expansive Geldpolitik der EZB führte zu
tionalen Notenbanken finanziert – wenngleich die Abwicklung             einer Entkopplung des Wachstums von Zentralbankgeldmen-
über die zwischengeschalteten Geschäftsbanken stattfand                 ge und BIP und verursachte damit inflationäre Tendenzen
(Sinn, 2021). Vor diesem Hintergrund erstaunt es wenig, dass            (vgl. Box 1). Vergleicht man die Zentralbankgeldmenge im
Sinn (2021, S. 110) das Eurosystem als „fiskalische Rettungsin-         September 2021 (6 Billionen Euro) mit jener Geldmenge, die
stitution, ja fast schon eine Bad Bank“ bezeichnet.                     sich im Verhältnis zur Wirtschaftsleistung der Eurozone vor
      Die quantitative Lockerung wurde zum Jahresende 2018              2008 als ausreichend bewährt hatte (1,1 Billionen Euro), er-
bei einem Stand von circa 40 Prozent des BIP des Euroraums              gibt sich ein Überhang von 4,9 Billionen Euro. Dieser Geld-
(4500 Milliarden Euro) vorerst beendet, bevor im September              überhang lässt sich zu etwa 80 Prozent durch die diversen
des darauffolgenden Jahres erneut mit monatlichen Netto-                Ankaufprogramme von Staatspapieren erklären (Sinn, 2021).
Anleihekäufen in Höhe von 20 Milliarden Euro begonnen wur-                    Aus ökonomischer Perspektive zunächst erstaunlich ist
de (Kronberger Kreis, 2021).                                            im Hinblick auf die genannten Entwicklungen, dass die Infla-

   Infobox zur Quantitätsgleichung                                                                                             Box 1

   Die Quantitätsgleichung (Einkommensversion) lautet: M * VY = Y * P

   M         Geldmenge: Diese kann über die Geldmengenaggregate (M0-M3) genau definiert und gemessen werden.
   VY        Einkommensgeschwindigkeit des Geldes: Diese bemisst ausschließlich die Zahlungshäufigkeit („Umlauf-
             geschwindigkeit“) der Transaktionen, die im realen BIP gemessen werden.
   P         Preisniveau: Es bezeichnet den durchschnittlichen Preis aller Transaktionen, die mittels der als Geld
             definierten Größe durchgeführt wurden.
   Y         Reales BIP

   Bei der obigen Quantitätsgleichung handelt es sich um eine Identität, sie ist also per Definition und Konstruktion immer
   wahr und somit einer kausalen Interpretation der Variablen nicht zugänglich.

   Zur Quantitätstheorie wird die Quantitätsgleichung durch zusätzliche Annahmen über einzelne Variablen und eine unter-
   stellte Wirkungsrichtung von der Geldmenge zum Preisniveau: Es wird dabei angenommen, dass
   (1)       die Einkommensgeschwindigkeit („Umlaufgeschwindigkeit“) relativ konstant bleibt und
   (2)       sich eine Preisniveauänderung als Folge einer Geldmengenveränderung ergibt.

   Die Menge des Geldes bestimmt somit das Preisniveau, wenn Y und VY konstant sind (bzw. sich nur geringfügig ändern).
                                                                                                                   Quelle: Issing (2011).

                                                                   12
Narrative im Spiegel ökonomischer Fakten                                                                                    Staatsverschuldung und Inflation

tionsrate in der Eurozone trotz der jahrelangen expansiven                          Angebotsrückgang kam, sondern gleichzeitig die gesamt-
Geldpolitik lange unter dem Zielwert von 2 Prozent lag. Eine                        wirtschaftliche Nachfrage seitens der Politik massiv von
Erklärung hierfür ist die Tatsache, dass das von der Zentral-                       den schuldenfinanzierten Maßnahmen zur Bekämpfung der
bank neu in Umlauf gebrachte Geld zu großen Teilen von                              ökonomischen Auswirkungen der Pandemie gestützt wurde.
den Banken (und anderen Marktteilnehmern) gehortet wur-                             Die Pandemie kann insofern nicht als originärer Verursacher
de (Sinn, 2021). Zu steigenden Inflationsraten kam es erst,                         angeführt werden, sondern ist vielmehr als ein Auslöser der
als es im Zuge von Covid-19 und den damit einhergehenden                            gegenwärtigen Inflationsdynamik zu begreifen.
massiven Einschränkungen der wirtschaftlichen Aktivität in-                              Im Juli 2022 entschied sich die EZB für einen Kurswech-
folge von Lieferengpässen nicht nur zu einem drastischen                            sel und hob nach 11 Jahren erstmals die Leitzinsen im Euro-

    Infobox zu Zinsspreads                                                                                                                           Box 2
    Zinsdifferenzen zwischen den Anleihen der Euroländer sind als Risikoprämien zu verstehen, die einen Indikator für die
    relative Stabilität der jeweiligen Volkswirtschaften darstellen und indirekt Informationen über ihre Wirtschaftspolitik liefern.
    Sind diese Zinsunterschiede groß, deutet das auf sehr unterschiedliche (wirtschaftliche) Entwicklungen in den Ländern
    des Euroraums hin und lässt deutliche strukturelle Divergenzen vermuten (Menkhoff, 2011).

    Unter anderem das OMT und PSPP der EZB sorgten dafür, dass sich die Zinsunterschiede für zehnjährige Staatsanlei-
    hen, die sich im Vergleich zum vorherigen Jahrzehnt seit 2008 bedeutend vergrößert hatten, ab dem Jahr 2012 wieder
    verkleinerten.

    Die Nivellierung der Zinsspreads in Folge der endgültigen Entscheidung über die Euro-Einführung 1998 hatte zuvor zu
    einer Entlastung der hoch verschuldeten Staaten, allen voran Italiens, geführt und resultierte in einer deutlichen Ver-
    besserung ihrer Leistungsbilanzen. Wenngleich der Zinsvorteil zunächst dafür genutzt wurde, die hohe Verschuldung
    abzubauen, führte die Situation insgesamt dazu, dass sich die finanziell schwachen Länder des Mittelmeerraumes zu
    extrem güns­tigen Konditionen mit Krediten versorgen konnten, was letzlich in einer deutlichen Ausweitung der Staats-
    verschuldung resultierte (Sinn, 2021).4 Welche Gefahren von ausufernden Staatsschulden ausgehen können, insbeson-
    dere in Verbindung mit weiteren ökonomischen Fehlentwicklungen, hat uns die Eurokrise schmerzlich vor Augen geführt
    (Raffelhüschen et al., 2021b).

    Mittlerweile dienen die Zinsaufschläge für die Staatsanleihen der hoch verschuldeten Mitgliedstaaten offiziell als Legi-
    timationsgrundlage für das Eingreifen der EZB, da diese die Wirksamkeit der Geldpolitik einschränken oder gar ver-
    hindern würden. Schlussendlich resultiert diese Argumentationslogik in der Zusicherung der EZB, jedes noch so hohe
    Staatsdefizit der Mitgliedstaaten zu finanzieren (Fuest, 2022).

raum um 0,75 Prozentpunkte an, im September und Oktober                             da die Kosten der Rückführung hoher Inflationsraten umso
erfolgten weitere Zinserhöhungen. Damit liegt der Zinssatz                          kostspieliger sind, je länger man diese hinauszögert.
für Hauptrefinanzierungsgeschäfte mit Wirkung zum 2. No-                                Die US-Notenbank hat im Vergleich dazu deutlich früher
vember 2022 bei 2,0 Prozent (Stand: Oktober 2022).5 Das                             und stärker reagiert. Der Leitzins wurde im Oktober bereits
zögerliche Verhalten der EZB ist dabei kritisch zu beurteilen,                      zum vierten Mal um 0,75 Prozentpunkte erhöht. Gegenwärtig

4   Für eine detaillierte Auseinandersetzung mit dem europäischen Schuldenproblem siehe König (2022).
5   Die beiden anderen Leitzinsen der EZB, der Zinssatz für die Spitzenrefinanzierungsfazilität sowie der Zinssatz für die Einlagefazilität, wurden mit Wirkung zum
    2. November 2022 auf 2,25 Prozent bzw. 1,50 Prozent erhöht.

                                                                               13
Staatsverschuldung und Inflation                                                                  Ehrbarer Staat? Politik versus Statistik:

liegt er damit bei einer Spanne von 3,75 bis 4 Prozent (Federal         Staatsanleihen einzelner Mitglieder des Eurosystems auf-
Reserve Bank of New York, 2022). Durch die kontraktiven                 kauft, also beim Kauf von Anleihen von ihrem in der Regel
Maßnahmen der US-Notenbank besteht hierzulande grund-                   angewandten Kapitalschlüssel abweicht. Die EZB begründet
sätzlich die Gefahr von zusätzlichen importierten Preisstei-            ihr Vorgehen dabei mit einem möglichen – auf Grundlage der
gerungen, denn durch die stärkeren Erhöhungen des ame-                  makroökonomischen Fundamentaldaten ungerechtfertigten –
rikanischen Zinses kommt es zu einer Abwertung des Euro                 Anstieg der Risikoprämien einiger Euro-Länder in Folge der
im Vergleich zum amerikanischen Dollar, was wiederum die                Zinserhöhungen. Dies könnte dazu führen, dass aufgrund
Nachfrage nach Produkten in der Eurozone ankurbelt (Horst               der pessimistischen Erwartungshaltung unter Investoren die
et al., 2022). Ferner steigen die Kosten für Importe, was zu-           Zinsen massiv ansteigen, sodass letztendlich die Zahlungsfä-
sätzlich für einen preistreibenden Effekt sorgt.                        higkeit der betroffenen Staaten gefährdet sein könnte. Dabei
      Zeitgleich mit der Anhebung des Leitzinses führte die             handelt es sich weniger um eine geldpolitische als vielmehr
EZB außerdem ein neues geldpolitisches Rettungsinstrument               um eine fiskalpolitische Maßnahme, hat sie doch letztendlich
ein, das sogenannte Transmission Protection Instrument                  das Ziel, die Solvenz der Mitgliedstaaten zu sichern (Fuest,
(TPI). Aktiviert werden kann das TPI „[…], um ungerechtfer-             2022). Anstatt ein Instrument zur zielgerichteten Inflationsbe-
tigten, ungeordneten Marktdynamiken entgegenzuwirken,                   kämpfung zu sein, lässt das TPI vielmehr unerwünschte fiska-
die eine ernsthafte Bedrohung für die Transmission der Geld-            lische Umverteilungseffekte befürchten. Darüber hinaus wer-
politik im Euroraum darstellen“ (EZB, 2022b).                           den durch die anhaltende Krisenpolitik der EZB kaum Anreize
      Ziel des TPI ist es, Zinsdifferenzen (vgl. Box 2) zwischen        für die Euro-Länder geschaffen, die so dringend notwendige
den Mitgliedstaaten zu begrenzen, indem die EZB gezielt                 Konsolidierung ihrer Haushaltspolitik anzugehen.

                                                                   14
Narrative im Spiegel ökonomischer Fakten                                                                                                                                                                                                                                                                                             Eine „Niedrigzins“-Phase? Die gab es nicht

4                    Eine „Niedrigzins“-Phase? Die gab es nicht

Ökonomische Tatsache Nr. 3: Obwohl in der Öffentlichkeit                                                                                                                                                                                   se der festverzinslichen Finanzprodukte und stellt deutsche
oft von der sogenannten Niedrigzinsphase der letzten Jahre                                                                                                                                                                                 „Sparer“ vor eine große Herausforderung. Der „Studie zur
gesprochen wird, lässt sich die durchschnittliche Rendite über                                                                                                                                                                             wirtschaftlichen Lage privater Haushalte“ der Deutschen
ein breites Spektrum an Assetklassen nicht mit dem Attribut                                                                                                                                                                                Bundesbank zufolge, sind rund 80 Prozent des Geldvermö-
„Niedrigzins“ beschreiben.                                                                                                                                                                                                                 gens privater Haushalte in Deutschland in Anlageformen in-
     Als Reaktion auf die globale Finanzkrise in den Jahren                                                                                                                                                                                vestiert, welche maßgeblich durch festverzinsliche Anleihen
2007/2008 senkte die EZB den wichtigsten Leitzins, den der                                                                                                                                                                                 geprägt sind – hauptsächlich Versicherungen, Termin- und
Hauptrefinanzierungsfazilität, auf ein Prozent. Dieses Niveau                                                                                                                                                                              Spareinlagen, Bargeld sowie Sichteinlagen (Deutsche Bun-
wurde nach einer 5-jährigen Nullzinsphase seitdem erstmals                                                                                                                                                                                 desbank, 2022d). Die tatsächliche jährliche Verzinsung dieser
wieder mit der Erhöhung der Leitzinsen auf 1,25 Prozent am                                                                                                                                                                                 Anlageprodukte ist direkt von der Niedrigzinspolitik der EZB
14. September 2022 überschritten (EZB, 2022c). Der dau-                                                                                                                                                                                    betroffen und lag im Durchschnitt der letzten 10 Jahre bei
erhaft niedrige Leitzins betrifft hauptsächlich die Anlageklas-                                                                                                                                                                            lediglich 0,43 Prozent nominal.

    3%                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                        Abbildung 7:
                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                              Geldpolitischer
2,5%                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                          Kurswechsel

    2%                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                        Höhe des Zinssatzes für das
                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                              Hauptrefinanzierungsgeschäft
                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                              der EZB im Zeitverlauf (in
1,5%                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                          Prozent)

                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                              Quelle: EZB (2022c), eigene
    1%
                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                              Darstellung.

0,5%

    0%
         10. Dezember 2008

                             21. Januar 2009

                                               11. März 2009

                                                               08. April 2009

                                                                                13. Mai 2009

                                                                                               13. April 2011

                                                                                                                13. Juli 2011

                                                                                                                                09. November 2011

                                                                                                                                                    14. Dezember 2011

                                                                                                                                                                        11. Juli 2012

                                                                                                                                                                                        08. Mai 2013

                                                                                                                                                                                                       13. November 2013

                                                                                                                                                                                                                           11. Juni 2014

                                                                                                                                                                                                                                            10. September 2014

                                                                                                                                                                                                                                                                 09. Dezember 2015

                                                                                                                                                                                                                                                                                     16. März 2016

                                                                                                                                                                                                                                                                                                     27. Juli 2022

                                                                                                                                                                                                                                                                                                                     14. September 2022

                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                          02. November 2022

      Nur 17 Prozent der in Deutschland lebenden Bevölke-                                                                                                                                                                                  rigere Quote auf (Eurostat, 2022). Die Rendite des Realka-
rung besitzt Aktien und nur ca. 15 Prozent des Geldvermö-                                                                                                                                                                                  pitals (Immobilien und Aktien) wird nicht unmittelbar von der
gens sind in Investmentfonds oder Aktien angelegt. Insgesamt                                                                                                                                                                               (Niedrig-)Zinspolitik der EZB beeinflusst, woraus die Frage
stellte die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht                                                                                                                                                                                resultiert, auf welchem Niveau die Rendite im Jahr 2022 liegt.
(BaFin) ein sehr konservatives Anlagebild auch während der                                                                                                                                                                                 Die betrachtete Kennziffer, die durationsgewichtete Rendite,
Niedrigzinsphase fest (BaFin, 2020). Betrachtet man die                                                                                                                                                                                    setzt Zahlungsströme eines Jahres ins Verhältnis zu Anschaf-
Wohneigentumsquote im Jahr 2021 lässt sich feststellen,                                                                                                                                                                                    fungskosten unter Berücksichtigung der Dauer (Duration) der
dass rund 50 Prozent der in Deutschland lebenden Bevöl-                                                                                                                                                                                    Kapitalstockbildung. Zur Berechnung werden die im Jahre
kerung Wohneigentum besitzt – im Europäischen Vergleich                                                                                                                                                                                    2022 erhaltenen Kupons in Relation zu den durchschnitt-
weist nur die Schweiz mit 41 Prozent Eigentümern eine nied-                                                                                                                                                                                lichen Anschaffungskosten der letzten 10 bzw. 25 Jahre ge-

                                                                                                                                                                                                                           15
Eine „Niedrigzins“-Phase? Die gab es nicht                                                                       Ehrbarer Staat? Politik versus Statistik:

setzt. Die Renditen sind jeweils in nominalen sowie in realen                     Dividenden 2022 ergibt sich somit eine durationsgewichtete
Werten6 angegeben.                                                                Rendite von 5,96 Prozent nominal sowie 4,96 Prozent real.

Anleihen:                                                                         Immobilien:

Die Renditekennzahl der Anleihen wird aus den durchschnitt-                       Die Rentabilität von Wohneigentum wird aus dem Verhält-
lichen Umlaufrenditen inländischer Inhaberschuldverschrei-                        nis der durchschnittlichen Nettokaltmiete pro Quadratmeter
bungen der letzten 10 Jahre gebildet (Deutsche Bundesbank,                        des Jahres 2022 zum durchschnittlichen Anschaffungspreis
2022e). Für diesen Zeitraum ergibt sich eine nominale Rendi-                      der letzten 25 Jahre gebildet, wobei sowohl Häuser als auch
te von 0,43 Prozent und eine reale Rendite von 0,27 Prozent.                      Wohnungen berücksichtigt werden. Als Datengrundlage
                                                                                  diente der Scientific-Use-File „RWI-GEO-RED“ v6.1 des RWI
Aktien:                                                                           Essen (RWI und ImmobilienScout24, 2022). Die Anschaf-
                                                                                  fungskosten werden mittels Kaufpreisindex der OECD (2021)
Die Rentabilität von Aktien wird aus dem Verhältnis der                           angepasst. Die Rendite der Mieteinnahmen des Jahres 2022
durchschnittlichen Dividende 2022 pro Aktie zum durch-                            aus Immobilien liegt bei 5,50 Prozent nominal bzw. 4,74 Pro-
schnittlichen Anschaffungspreis pro Aktie der letzten 25 Jah-                     zent real.
re hergeleitet. Hierbei werden alle dividendenausschüttenden
Titel aus dem deutschen Aktienindex (DAX) sowie dem Mid-                          Durchschnittliche durationsgewichtete Rendite
Cap-DAX (MDAX) berücksichtigt (Deutsche Börse, 2022). Die                         aller Anlageklassen:
Rendite wurde ebenfalls nach Indexierungsdauer tagesgenau
gewichtet. Sollte ein Titel kürzer als 25 Jahre im Index ver-                     Der Durchschnitt dieser drei Anlageformen liegt bei 3,96
treten sein, wird die maximale Laufzeit verwendet. Für die                        Prozent nominal und 3,32 Prozent real. Mit einem Portfolio,

8%                                                                                                                         Abbildung 8:
                                                                                                                           Die durchschnittliche
7%                      Durchschnittliche Inflationsrate 2022                                                              durationsgewichtete
                                                                                                                           Rendite 2022 liegt bei
6%                                                                                                                         3,3 Prozent real
                                                                                                                           Renditen der Assetklassen
5%                                                                                                                         Anleihen, Aktien und Immobilien
                                                                                                                           (real und nominal)

4%                      Durchschnittliche Rendite nominal                                                                  Quelle: Eigene Berechnungen.
                        Durchschnittliche Rendite real
3%

2%
                        Durchschnittliche jährliche
                        Inflationsrate 1997-2022
1%
                                                                                                                               Rendite nominal
0%                                                                                                                             Rendite real
               Anleihen (10 Jahre)                       Aktien (25 Jahre)               Immobilien (25 Jahre)

6    Berechnet anhand des Verbraucherpreisindex des Statistischen Bundesamtes (2022i).

                                                                             16
Narrative im Spiegel ökonomischer Fakten                                                         Die Mietkostenbelastungsquote ist konstant geblieben

welches diese Assetklassen zu gleichen Teilen halten würde,                       die in Lebensversicherungen, private Rentenversicherungen,
ließe sich heute also eine zu Anleihen vergleichsweise hohe                       Betriebsrenten oder ähnliche Produkte investieren. Es gibt
laufende Rendite erwirtschaften.                                                  jedoch auch einen Profiteur der niedrigen Verzinsung: den
      Die Rendite im Durchschnitt aller dargestellten Asset-                      Emittenten – also den Staat. Deutschland konnte sich aus-
klassen lässt sich kaum als „Niedrigzins“ bewerten – haupt-                       gesprochen günstig am Kapitalmarkt verschulden. Dadurch,
verantwortlich dafür ist das Realkapital. Die omnipräsente                        dass viele Anleger aufgrund der EU-Richtline in deutsche
„Niedrigzinsphase“ ist lediglich im Bereich festverzinslicher                     Staatsanleihen investieren mussten, trug dies zur Vergüns­
Wertpapiere existent. Der deutsche „Sparer“ wird jedoch auf-                      tigung der Konditionen bei. Was für den Staat ein gutes Ge-
grund seiner beschriebenen Anlagetätigkeit von einer nied-                        schäft war, mussten die Sparer mit niedrigen Erträgen be-
rigen Rendite heimgesucht. Durch die EU-Richtlinie „Solven-                       zahlen. Wer sich auf maßgeblich staatlich regulierte Produkte
cy II“ sind Versicherer und Rückversicherer dazu verpflichtet,                    verlassen hat oder wie im Beispiel von Betriebsrenten gar
zu großen Teilen in festverzinsliche Wertpapiere zu investie-                     keine Wahl hatte, finanziert bis heute mit seinen niedrigen Er-
ren. Dies bedeutet eine schlechte Rendite für private Anleger,                    lösen den deutschen Staat.

5          Die Mietkostenbelastungsquote ist konstant geblieben

                                                                                  ein Individuum oder Haushalt für seine Mietwohnung arbeiten
5.1         Die Mietkostenbelastung                                               muss. Hierfür sollte ein Erschwinglichkeitsindikator herange-
                                                                                  zogen werden, der die Bezahlbarkeit des Wohnens misst.
                                                                                  Der meistgenutzte Indikator ist in diesem Fall die Mietkosten-
Ökonomische Tatsache Nr. 4: Die Erschwinglichkeit von                             belastungsquote, die als das Verhältnis der Bruttokaltmiete
Mietwohnungen hat sich nicht verringert, wenn man neben                           zum Haushaltsnettoeinkommen definiert ist.
den durchschnittlichen Bestandsmieten auch die Entwick-                                 Für die vorliegenden Berechnungen wurden die Ein-
lung der Nettoeinkommen berücksichtigt. Zwar suggeriert                           kommens- und Verbraucherstichproben (EVS) der Jahre
die öffentliche Diskussion, dass für eine überwiegende Zahl                       2003, 2008, 2013 sowie 2018 herangezogen. Die EVS ist
der Menschen die Mietpreise nicht mehr bezahlbar seien,                           eine amtliche Statistik, für die alle 5 Jahre ca. 60.000 private
allerdings liegt dieser Aussage eine verkürzte Analyse zu-                        Haushalte zu ihrer Einkommens- und Vermögenssituation
grunde.                                                                           sowie ihren Konsumausgaben befragt werden. Für die nach-
      Der Fokus der Debatte um bezahlbares Wohnen liegt                           stehenden Berechnungen erfolgte eine Gewichtung, sodass
in erster Linie auf den als allgemein zu hoch empfundenen                         die Stichproben repräsentativ für die deutsche Bevölkerung
Mieten. Eine differenzierte Betrachtung, beispielsweise um                        stehen.
welche Mieten es sich handelt oder was „zu hoch“ bedeu-                                 Zunächst wurde die durchschnittliche Bruttokaltmiete
tet, findet oftmals nicht statt. Die nominale Höhe der Mie-                       ermittelt, die sich aus der Subtraktion der Strom- und Heiz-
ten sowie deren Veränderungsrate sind nicht dazu geeignet,                        kosten von der Warmmiete ergibt.7 Die Steigerung der Brut-
die Belastung durch die Mietzahlungen zu erfassen. Wie für                        tokaltmiete um rund 20 Prozent zwischen 2008 und 2018
alle anderen Güter auch, gilt es zu bestimmen, wie sich der                       (siehe Abbildung 9) liegt in etwa in der gleichen Größenord-
Preis in Relation zum Einkommen entwickelt bzw. wie lange                         nung wie die Steigerung im Rahmen des Bestandsmieten-

7   Der Wahl der Bruttokaltmiete liegt die Ratio zugrunde, dass diese den Anteil der Fixkosten an den Wohnkosten darstellt. Umlagekosten wie die Grundsteuer
    oder Hausmeisterkosten sind für den einzelnen Miethaushalt fix, sodass diese Kosten in der Bruttokaltmiete enthalten sind. Dagegen sind die Kosten für
    beispielsweise Elektrizität oder Heizung zumindest zu einem Teil variabel und unterliegen einer höheren Volatilität. Die Verwendung der Bruttokaltmiete zur
    Errechnung der Belastungsquote erleichtert daher sowohl die temporale Vergleichbarkeit als auch die zwischen Miet- und Eigentümerhaushalten, da beispiels-
    weise freistehende Einfamilienhäuser, die höhere variable Nebenkosten pro Quadratmeter haben als Mietwohnungen in Mehrfamilienhäusern, hauptsächlich
    selbstgenutzt werden.

                                                                             17
Die Mietkostenbelastungsquote ist konstant geblieben                                                                      Ehrbarer Staat? Politik versus Statistik:

140                                                                                                                      30%         Abbildung 9:
                                                                                                                                     Die Mietkostenbelas­
                                                                                                                                     tungsquote ist im Ver-
130                                                                                                                      25%         gleich zu 2008 gesunken
                                                                                                                                     Indices der Bruttokaltmiete,
                                                                                                                                     des Haushaltsnettoeinkommens
120                                                                                                                      20%
                                                                                                                                     von Miethaushalten und die
                                                                                                                                     Mietkostenbelastung
                                                                                                                                     (linke Skala: Index 100 = 2008;
                                                                                                                                     rechte Skala: Mietkosten­
110                                                                                                                      15%
                                                                                                                                     belastungsquote in Prozent)

                                                                                                                                     Quelle: Eigene Berechnungen auf
100                                                                                                                      10%         Grundlage der EVS 2003, 2008,
                                                                                                                                     2013, 2018.

                                                                    Haushaltsnettoeinkommen Deutschland*
    90                                                                                                                   5%
                                                                    Bruttokaltmiete Deutschland
                                                                    Mietkostenbelastung Deutschland (rechte Skala)
                                                                                                                                   * Es handelt sich hier um das
    80                                                                                                                   0%        Haushaltsnettoeinkommen von
                      2003                       2008                      2013                       2018                         Miethaushalten in Deutschland.

indexes des Statistischen Bundesamts (siehe Abbildung 10)
und erscheint somit plausibel. Als Haushaltsnettoeinkommen                               5.2         Die Mietpreisentwicklung und ihre
werden alle Einnahmen eines Haushalts aus Erwerbstätigkeit,                                          Determinanten
Vermögen, Transferzahlungen und Untervermietung nach
Steuern und Sozialabgaben bezeichnet. Da sich diese Analy-
se nur auf Miethaushalte beschränkt, flossen die Einkommen                               Für eine differenzierte Betrachtung der Mietpreisentwicklung
der Eigentümer von selbstgenutztem Wohnraum nicht mit in                                 muss zwischen Neuvertrags- und Bestandsmieten unterschie-
die Berechnung ein.                                                                      den werden. Die Bestandsmieten werden im Rahmen der Ver-
      Ausgehend von einer Mietkostenbelastungsquote in                                   braucherpreiserhebung mittels Umfragen des Statistischen
Höhe von rund 23 Prozent im Jahr 2003 stieg diese auf 25,8                               Bundesamts erhoben, während die Neuvertragsmieten häufig
Prozent im Jahr 2008 und weiter auf 26,8 Prozent im Jahr                                 durch Transaktionsdaten oder Inserate von privaten Anbietern
2013. Im Jahr 2018, zum Zeitpunkt der letzten Erhebung der                               erfasst werden. Für diese Analyse wird auf das sogenannte
EVS, betrug die Mietbelastung hingegen nur noch 25,2 Pro-                                Indikatorensystem zum Wohnimmobilienmarkt der Deutschen
zent. Getrieben durch die starken Einkommenszuwächse der                                 Bundesbank zurückgegriffen, das auf Transaktionsdaten
letzten Jahre liegt sie nun sogar unter dem Niveau des Jahres                            der Bulwiengesa AG fußt. Beim Bestandsmietenindex ist zu
2008. Trotz der Mietpreissteigerungen im letzten Jahrzehnt                               beachten, dass dieser auch Neuvertragsmieten beinhaltet,
ist die relative Kostenbelastung deutscher Miethaushalte so-                             da das Statistische Bundesamt eine vollständige Erhebung
mit nicht gestiegen, sondern vielmehr gesunken.8                                         des Preisniveaus der Mieten intendiert. Der Anteil der Neu-

8        Nicht berücksichtigt sind hier die gestiegenen Strom- und Heizkosten im Jahr 2022, einerseits, weil die Daten der EVS nur bis 2018 verfügbar sind, und anderer-
         seits, weil die Berechnungsgrundlage für die Belastungsquote die Bruttokaltmiete ist (siehe vorherige Fußnote).

                                                                                    18
Narrative im Spiegel ökonomischer Fakten                                            Die Mietkostenbelastungsquote ist konstant geblieben

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             Neuvertragsmieten: 7 Großstädte*                                                               sind stark gestiegen –
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             Neuvertragsmieten: 127 Städte                                                                  die Bestandsmieten
150          Neuvertragsmieten: Stadt- und Landkreise                                                       dagegen nur moderat
145          Bestandsmieten                                                                                 Neuvertrags- und Bestands­
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                                                                                                            (Index 100 = 2010)
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                                                                                                            (2022c).
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      2004 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 2013 2014 2015 2016 2017 2018 2019 2020 2021           Stuttgart.

vertragsmieten ist jedoch so gering, dass wir – wie auch die            Zuzug von überwiegend jungen Menschen, zu einem stei-
Deutsche Bundesbank – vereinfachend vom Bestandsmie-                    genden Wohnraumbedarf (Göddecke-Stellmann et al., 2018).
tenindex sprechen. Aus Abbildung 10 wird ersichtlich, dass              Andererseits führen Trends wie eine zunehmende Singulari-
die Neuvertragsmieten in Deutschland seit dem Jahr 2010                 sierung sowie das lange Verharren von älteren Menschen in
durchschnittlich um über 50 Prozent gestiegen sind. Dieser              für sie zu groß gewordenen Wohnungen (Remanenzeffekt) zu
Anstieg ist in den Städten, insbesondere in den sieben größ-            einer steigenden Pro-Kopf-Quadratmeter-Nachfrage. Betrug
ten des Landes (Berlin, Hamburg, München, Köln, Frankfurt               diese im Jahr 1991 noch 34,9 Quadratmeter pro Einwohner,
am Main, Stuttgart, Düsseldorf), überdurchschnittlich stark             ist sie bis zum Jahr 2021 kontinuierlich auf 47,7 Quadratme-
ausgeprägt. Demgegenüber sind die Bestandsmieten nur um                 ter pro Einwohner um ca. 37 Prozent gestiegen (Statistisches
etwa 17 Prozent gestiegen. Das entspricht moderaten Stei-               Bundesamt, 2022c).
gerungsraten von durchschnittlich rund 1,4 Prozent pro Jahr.                  Die Angebotsseite trägt zumindest in Ballungsgebieten
     Auffällig ist, dass sich die beiden Zeitreihen vor 2010 mit        nur wenig dazu bei, die Preissteigerungen zu dämpfen. Am
einer ähnlichen Dynamik entwickelten und erst seit 2010 di-             Beispiel Berlins lässt sich dies besonders eindrucksvoll aufzei-
vergierende Trends zu erkennen sind.                                    gen: Zwischen 2012 und 2020 wurden in Berlin rund 100.000
     Die stark steigenden Neuvertragsmieten in Ballungs-                Wohnungen mehr gebaut als abgerissen (Amt für Statistik
räumen sind hauptsächlich auf soziodemografische Ent-                   Berlin-Brandenburg, 2021). Demgegenüber steht im gleichen
wicklungen zurückzuführen. Einerseits kommt es dort durch               Zeitraum ein Zuwachs der Nachfrage um etwa 240.000 Haus-
wachsende Bevölkerungszahlen, insbesondere durch den                    halte (Amt für Statistik Berlin-Brandenburg, 2020).

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