Poetik, Provokation, Lektüre. Björn Höcke und Rolf-Dieter Sieferle im Kontext
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Artikel Markus Steinmayr* Poetik, Provokation, Lektüre. Björn Höcke und Rolf-Dieter Sieferle im Kontext © 2020 Markus Steinmayr, licensee De Gruyter Open. This work is licensed under the Creative Commons Attribution-NonCommercial-NoDerivatives 3.0 License
38 10.2478/kwg-2020-0079 | 5. Jahrgang 2020 Heft 2: 37–53 Abstract: Die vorgelegten Überlegungen präsentieren anhand von Sieferles Finis Germania und Höckes Nie zweimal in denselben Fluss Überlegungen zur kulturellen und politischen Diskursstrategie der Neuen Rechten. Die Strategie wird anhand der Auseinandersetzung mit den Figuren des Lesens, des Umgangs mit Büchern und anhand des Umgangs mit Gegenständen und Figuren der Bildung rekonstruiert. Keywords: Neue Rechte; Bildung; Autodidakt; Autobiographie; Repräsentation; Theatralität der Neu- rechten *Markus Steinmayr, Universität Duisburg-Essen - Campus Essen, Essen, Nordrhein-Westfalen GERMANY „Die wahre Liberalität“, schreibt Goethe, „ist his Überlegungen ins Gespräch mit anderen Posi- Anerkennung.“1 Goethe weist damit auf einen tionen durch das Lesen. Ich lese aber nicht nur Prozess hin, der für das Verständnis unserer poli- die Rechten selbst, sondern auch, was und wie tischen Gegenwart wesentlich ist. Goethe mar- Rechte lesen oder lesen sollen. kiert nämlich einen eminent wichtigen Zusam- So heißt es von Götz Kubitschek, dass die- menhang zwischen dem, was ein Einzelner denkt ser „Homer im Original“3 gelesen habe. In seinem und tut oder tun will, und denjenigen gesell- Buch Provokation spricht er von einem „Kosmos schaftlichen Prozessen, die diese Tätigkeit oder rechten Denkens“4, der vor allem ein Kosmos dieses Denken zur Kenntnis nehmen, anerkennen aus Texten und Lektüren ist. Es folgt unmittel- und ihnen damit Sinn verleihen. Erst so, möchte bar danach eine Art neurechter Lesedidaktik, man meinen, macht Liberalität Sinn. Eine Libe- die „Romane sogar noch besser als theoretische ralität ohne Anerkennung, also ohne einen zwi- Schriften“ hält, um die „Suche nach dem rechten schen Individuum und Gesellschaft vermittelnden Maß“5 zu ermöglichen. Konsequenterweise erfolgt Prozess, bleibt resonanzlos. Prozesse dieser Art dann im gleichen Verlag eine Publikation, die sich sind im besten Sinne Kommunikation. Dies gilt mit den „je prägenden Lektüren“6 von einfluss- in besonderer Weise für den Umgang mit Mei- reichen Figuren der Neuen Rechten beschäftigt. nungen, die nicht die eigenen sind oder die die Um die literarische Sozialisation7 im Sinne der Grenzen dessen, was man meinen kann, über- Neurechten zu steuern, entwerfen Ellen Kositza schreiten. Der Umgang mit dem Anderen der und Carolin Sommerfeld einen Vorlesekanon für eigenen Meinung bringt diesen Anerkennungs- die neurechte Erziehung. Unter dem schlichten prozess an seine Grenzen. Das gilt insbesondere Titel „Vorlesen“8 machen die Ehefrauen um Götz für den Umgang mit der Neuen Rechten. Die Kubitschek respektive Helmut Lethen recht deut- Anerkennung setzt einen Raum der Öffentlichkeit lich, dass „insbesondere durch das Vorlesen der voraus, in dem die Prozesse stattfinden. Es geht Eltern“9 die Einübung im Umgang mit Büchern also darum, die Texte der Neuen Rechten aus und dem Kanon ermöglicht wird. Dementspre- ihren Zirkeln zu lösen und sie in die Öffentlich- chend umfasst das genannte Buch ca. 150 Lese- keit der Analyse zu bringen. Anerkennung, auch empfehlungen. dies wusste Goethe sehr genau, bedeutet gerade Es gibt Handbücher, die einem vielleicht des- nicht immer Bestätigung. halb zeigen wollen, wie man mit Rechten reden Ohne Goethe zu erwähnen, schreibt Armin soll.10 Es gibt aber nur vereinzelt Handreichun- Nassehi in Bezug auf seinen Briefwechsel mit Götz Kubitschek, dass „zu einer solchen Art von 3 Kubitschek 2017, „Über den Autor“. Liberalität“ auch gehöre „mit Leuten ins Gespräch 4 Kubitschek 2017, S. 46. zu treten, deren Position man nicht teilt.“2 Als 5 Kubitschek 2017, S. 47. 6 Kositza/Kubitschek 2020, S. 9. Nicht-Soziologe trete ich im Anschluss an Nasse- 7 Vgl. Pieper 2010. 8 Kositza/Lethen 2019. 1 Goethe 2005 [o. D.], S. 872. 9 Pieper 2010, S. 108. 2 Nassehi 2015, S. 299. 10 Leo/Steinbeis/Zorn 2017.
Kulturwissenschaftliche Zeitschrift - 2/2020 39 gen, die darüber Aufschluss geben, wie Rechte mus oder des Rechtsextremismus. Diese Ausei- lesen.11 Es gibt aufschlussreiche Dokumentatio- nandersetzung ist von Detering und von ande- nen, die über die longue durée rechten Denkens ren geleistet worden. Gleichwohl hinterlassen die informieren.12 Angesichts der regen Publikations- Vorgänger*innen eine gewisse Lücke. Die Ausei- tätigkeit der Neuen Rechten ist eine Diskrepanz nandersetzung mit den Gedanken, Figuren, Bil- zwischen der häufig nur antizipierten Bedeutung dern und narrativen Strategien, die in den Texten von Büchern und der tatsächlichen Auseinan- der Neuen Rechten zirkulieren, fehlt. Aber nur so dersetzung mit den Texten in der Öffentlichkeit kann man dem Ziel näherkommen, die Erzähl- festzustellen. Die Geschichtswissenschaft und und Darstellungsverfahren der Neuen Rechten die Literaturwissenschaft haben dieses Diskre- zumindest in Ansätzen zu beleuchten. Es geht panzphänomen vor allem an Adolf Hitlers „Mein also um die Analyse der Wirksamkeit und Wirk- Kampf“ aufgezeigt.13 mächtigkeit von Figuren, Lektüren und Selbstin- Die Auseinandersetzung mit den Gedanken, szenierungen auf textueller Basis. Figuren, Bildern und narrativen Strategien, die in So erklärt sich die Auswahl der untersuchten den Texten zirkulieren, dient dem Ziel, die Texte Texte. Zum einen ist die Wahl auf Rolf Dieter Sie- für eine Analyse zu öffnen und sie damit in ihrer ferles Finis Germania gefallen, erstmals erschie- Fiktionalität und Rhetorizität zu entlarven. Wenn nen 2017. Dieser Text offenbart auf exemplari- man so will, geht es um ein Verfahren der Ent- sche Art und Weise die Formensprache der Neuen substanzialisierung jener Substanzen, die die Rechten. Im Rekurs auf etablierte Formen der neuen Rechten und ihre Texte wie eine Monstranz kulturellen und politischen Kommunikation in und vor sich hertragen: Volk, Heimat, Identität. Bei mit Büchern wird das Buch Sieferles als Kultbuch genauerer Analyse erweist sich diese Substanzia- der Neuen Rechten in Szene gesetzt. Es ist kein lisierung als Wiederholung altrechter Themen, die Buch, über das man diskutiert, sondern eines, unter den Bedingungen der Gegenwart scheinbar mit dem man lebt. Ferner zeigen sich deutliche neu entdeckt werden, sich aber nur als Bricolage Anleihen bei etablierten Mustern der literarischen von Lektüren erweisen. Formensprache (Tragödie) und bei Kritikmustern Auf eine gewisse Art und Weise Auslöser für der rechten Tradition (Moderne als Verlust, ver- diese Auseinandersetzung mit den mir bislang meintliche Leere der politischen Repräsentation, unbekannten Texten von Höcke und von Sieferle Neujustierung der politischen Sprache). war die Lektüre von Heinrich Deterings „Was heißt Der zweite Text ist der Gesprächsband Nie hier ‚wir‘? Zur Rhetorik der parlamentarischen zweimal in denselben Fluss. Das Buch ist die Rechten“.14 Deterings Ausführungen sind insofern Dokumentation eines Gesprächs, das Björn Vorbild für die hier vorlegten Überlegungen, als Höcke mit Sebastian Hennig geführt hat. Es zeigt dass Deterings schmaler Band zeigt, wie nicht- wiederum auf eine exemplarische Art und Weise fiktionale Text- und Redesorten sich literatur- die Selbstinszenierung neurechter Subjekte und wissenschaftlich lesen lassen, wenn man Politik ihres vermeintlichen Wissens. Dabei wird deutlich und die politische Kommunikation auch als einen werden, dass dem Medium der Stimme und dem Umgang mit Texten und Tropen versteht. Sie sind Nicht-Schriftlichen eine ganz besondere Bedeut- ganz entscheidend für die Konstitution von Volk samkeit zukommt. Höckes politische Autobiogra- und Volksgemeinschaft, also von Fiktionen, die fie erweist sich vor dem Hintergrund der Differenz Zugehörigkeiten und Ausschlüsse imaginierbar Stadt/Land als Wiederkehr der Heimatkunst um werden lassen und regeln.15 1900. Ferner spielt die Bildungsfigur des Auto- In zustimmender Abgrenzung von Detering didakten für die Selbstinszenierung Höckes eine verstehen sich meine Ausführungen daher nicht prominente Rolle.16 als Beitrag zum Phänomen des Rechtspopulis- 11 Thomalla/Gladić 2021. 12 Fücks/Becker (Hg.) 2020. 13 Kiesel, 2014; Koschorke 2016; Kellerhoff 2015. 14 Detering 2019. 15 Wildt 2019. 16 Steinmayr 2021.
40 10.2478/kwg-2020-0079 | 5. Jahrgang 2020 Heft 2: 37–53 1 Rolf Peter Sieferle: Finis Germania unter anderem die schriftstellerische Tätigkeit von Despoten und Diktatoren: „[S]elbst ein Sta- Nimmt man Rolf Peter Sieferles Buch Finis Ger- lin schämte sich nicht, seine Traktate und Reden mania17 zum ersten Mal zur Hand, fällt sofort das als ‚Gesammelte Werke‘ herausgeben zu lassen.“ Format dieses Buches auf: Ein kleines schma- (FG, 49.) Sieferle isoliert somit den Traktat-Stalin les Bändchen, gerade einmal 125 Seiten inklu- vom dichtenden Stalin, also den politischen Akti- sive des Nachworts von Thomas Hoof. Über dem visten vom Autor fiktionaler Texte. Beide kom- Zur-Hand-Nehmen dieses Buches schwebt der men aber, darauf hat die slawistische Forschung Skandal über das Erscheinen auf und Verschwin- hingewiesen, auf eigentümliche Art und Weise den von Bestsellerlisten. Diese Auseinanderset- bei Stalin zusammen. Der Zweck wäre dann, den zung wird auch von Thomas Hoof in seinem Nach- politischen Einsatz von Fiktionen in nicht-fiktiona- wort in voller Gänze ausgewalzt.18 Es handelt sich ler Literatur genauer zu untersuchen. 21 dabei um das Nachwort einer späteren Auflage Hitler, dem Sieferle bescheinigt, „Politiker und des Sieferle’schen Buches im Landt-Verlag. Das Programmatiker in einem“ (FG, 50) gewesen zu Buch ist erstmals 2017 bei Antaios erschienen. sein, sei von dem Wunsch beseelt gewesen, als Ein unscheinbares Buch mit einem schwierigen „Theoretiker zu gelten“ (FG, 50). Die schreiben- Inhalt muss zunächst einmal in Umlauf gebracht den Politiker von heute formulieren dagegen keine werden. Das Format dieses Buches kommt dem ‚Theorien‘, sondern den „dritten Aufguß breitge- sicherlich entgegen. Es passt in die Innentasche walzter Akademiethemen“ (FG, 50). Für Sieferle ist jenes Tweedsakkos, das Vertreter rechtspopulis- diese Publikationstätigkeit von Politikern Ausdruck tischer Parteien sommers wie winters gerne tra- der Theorieunfähigkeit von Politik, die nunmehr gen. Vom Verlag scheint es als eine Art Vademe- auf das „Niveau des Kultur-Geschwätzes“ (FG, 50) cum gedacht zu sein, es soll ein Handbrevier für herabgesunken ist. Politische Kommunikation, so den Rechtspopulisten werden, das er bei jeder die Zeitdiagnose, ist Verfall eines „prinzipiell-ideo- Gelegenheit aus der Tasche ziehen kann. Das logischen Charakters“ (FG, 50) von Politik. Format der Kaplaken-Reihe erscheint somit, wie Die Frage nach der Funktion von Theorie im Erika Thomalla und Mladen Gladić gezeigt haben, Spektrum des Rechtpopulismus legt den Ver- als Wiederkehr der Merve-Reihe. Beiden gemein- gleich mit Adornos Minima Moralia nahe. Die sam sind die Handlichkeit und die Attraktivität.19 Minima Moralia gelten als Muster gesellschafts- Vergleicht man darüber hinaus den minia- thematisierenden und -kritisierenden Schreibens. turistischen Stil des Buches mit einem anderen Sie sind damit das Urmuster einer Gattung und Handbrevier, so liegt die perfide Strategie der formbildend. Gattungen, so lautet eine einschlä- Rechtspopulisten auf der Hand: Finis Germania gige Definition, sind ein „institutionalisiertes, auf soll die Minima Moralia der Neuen Rechten wer- sozialen Konventionen beruhendes textuelles den, also als Reflexion des beschädigten Lebens Ordnungsmuster“.22 Gattungen, aber auch Gen- in der Migrationsgesellschaft fungieren. res bilden also Schnittstellen zwischen Form und Philipp Felsch hat die Minima Moralia als Gesellschaft. den Versuch Adornos bezeichnet, eine „neue Unter Genre versteht man „eine Gruppe von Gebrauchsweise von Philosophie“20 zu etablieren. Texten mit ähnlichen Eigenschaften.“23 Rüdiger Was Sieferle intendiert, ist eine neue ‚Gebrauchs- Safranski hat vorgeschlagen, Finis Germania dem weise‘ von Politik zu etablieren. Unter der Über- Genre der Nachtgedanken zuzuordnen.24 Die Ähn- schrift „Politiker und Intellektuelle“ zeichnet lichkeiten mit Edward Youngs Nachtgedanken in Sieferle den positiv bewerteten Typus des „intel- der englischen Literatur liegen tatsächlich auf der lektuellen Politikers“ (FG, 48). Er beschreibt dann Hand. Bedeutsam beim Genre ‚Nachtgedanken‘ ist die Untersuchung der Sitten, ohne in die morali- sche Erziehung zu verfallen. „Gleichwie der Anlaß 17 Sieferle 2019 [2017]. Hinfort wird Sieferles Text nach dieser Ausgabe mit der Sigle FG + Seitenzahl im Fließtext zitiert. 21 Dobrenko 2011. 18 Grossarth 2017, Beyer 2017; Seibt et.al. 2017, Nutt 2017. 22 Zymner 2005, S. 261. 19 Thomalla/Gladić 2021. 23 Ludwig 2017, S. 275. 20 Felsch 2015, S. 28. 24 Safranski 2017.
Kulturwissenschaftliche Zeitschrift - 2/2020 41 zu diesem Gedichte“, heißt es bei Young, „keine worden sind, um das Buch zu verstehen, schreibt Erfindung, sondern eine wirkliche Geschichte Hoof in direkter Ansprache an die imaginierten war; so ward auch die darinn [sic] gebrauchte ‚Anderen‘ des Diskurses: Methode dem Verfasser vielmehr durch das, was bey dieser Gelegenheit in seiner Seele von selbst „Die dauernde Unterforderung Eurer Leser ist eine einzige Provokation. Und euer Meuteverhalten hat vorgieng, vorgeschrieben, als überdacht, oder sich in eine geradezu brünstige Mitläufigkeit ausge- entworfen.“25 wachsen, die auch weitergesteckte Ekelgrenzen mit Es sind also Selbstexperimente im Denken, Karacho überrennt. Eure Leser wenden sich nicht nur die wir in den Nachtgedanken vorfinden. Im Ver- ab. Sie tun es mit Grausen. “ (FG, 124.) gleich zu moralischen Erzählungen, argumentiert Young, ist „die Erzählung kurz, und die daraus Die direkte Ansprache der Journalisten ist natür- entspringenden Sittenlehren machen den größ- lich ein starkes rhetorisches Signal. Es wieder- ten Theil des Gedichts aus“.26 Ähnlich verhält es holt den Code Ihr/wir, Freund/Feind und konser- sich mit Sieferles Text. Der Text ist der Versuch, viert die politische Affektlage des Zorns. Wie man eine Sittenlehre der gegenwärtigen Bundesrepu- aus der Rezeptionsästhetik lernen kann, rechnet blik zu schreiben, eine Art neurechte Moralistik jeder Text mit einem bestimmten/einer bestimm- in den Untiefen des Liberalismus. Aus diesem ten Leser*in, der/die durch die Lektüre konstru- Grunde finden sich bei Sieferle über den Text ver- iert wird. Der/die Leser*in als Subjekt der Lektüre streut Bemerkungen zur Politik und zur Kultur, ist eine, wie Gerhart von Graevenitz gezeigt hat, deren Beschreibung als Beschreibung der Sitten Erfindung des Textes selbst.30 erscheint. Diese Phänomenologie der Lektüre lässt Texte wie die genannten bearbeiten die Schnitt- sich auch an der Konstruktion der imaginierten stelle von Ästhetik und Gesellschaft. Genau darum Leser*innenschaft von Rolf Peter Sieferles Finis könnte es den Rechtspopulisten auch zu tun sein: Germania verdeutlichen. Der/die Leser*innen, nämlich mit Finis Germania die Schnittstelle zwi- wie es das Nachwort insinuiert, ist eine*r, der/die schen Literatur und Gesellschaft, zwischen der lite- unterfordert und zornig ist. Im Gegensatz zu den rarischen Form und ihrer gesellschaftlichen Wahr- professionellen Schreiber*innen und Leser*innen nehmung neu und anders zu gestalten und damit im Journalismus und in den Geistes- und Sozial- eine ‚neue Gebrauchsweise‘ rechten Denkens zu wissenschaften, die Komplexität zunächst erzeu- etablieren. Es sind in Max Czolleks Sinne „Block- gen, um sie dann zu reduzieren, sehnt sich der/ buster“27, die, breitenwirksam angelegt, dazu die- die angebliche Sieferle-Leser*in nach Kanälen, in nen, den „politischen Gegner“28 erkennbar werden denen er*/sie seinen/ihren Affekten freien Lauf zu lassen. lassen kann. Die politische Didaktik, die mög- Während der Adorno lesende Linksintellektu- licherweise dahintersteckt, ist, die etablierten elle, wie Philipp Felsch gezeigt hat, zum Stereo- Wege der nicht simplifizierenden Komplexitätsre- typ geworden ist, stellt sich das Bild des Finis- duktion zu verlassen und durch Affektpolitik bzw. Germania-Lesenden nicht so schnell ein. Wer soll durch eine Politik der Affekte zu ersetzen.31 Mir dieser/diese Leser*in sein? Aufschluss hierüber scheint, dass hier möglicherweise die kommuni- gibt hier das Nachwort von Thomas Hoof. Nach- kative Logik der Sozialen Medien auf die Buch- dem in einem unerträglichen Ton die Debatte in kommunikation übertragen wird.32 Die Logik, so den Qualitätsmedien beschrieben worden ist, die könnte man sagen, bestünde darin, eine tenden- geschichtsrevionistischen Teile (Mythos VB) und ziell ungeregelte Öffentlichkeit zu schaffen, in der die sieferle-kritisierenden Journalisten Grossarth, alles gesagt werden darf, aber nichts geregelt Hintermeier, Beyer als „zu einfältig“29 beschrieben werden muss. Die Kommunikationsökonomie der 25 Young 1768, S. 4. 26 Ebd. 30 Graevenitz 1973. 27 Czollek 2020 [2018], S. 12. 31 Lehmann 2019. 28 Czollek 2020 [2018], S. 13. 32 Vgl. zur Enthemmungslogik der neurechten Kommuni- 29 Hoof, Thomas: Das ominöse „ominös“ vor einer omi- kation und der daraus resultierenden Produktion von Halb- nösen Zahl - und seine Folgen (Im Original in Großbuch- wahrheiten: Gess 2021, insbesondere S. 86–101 und die staben). Nachwort (FG, 115–123, hier 123). Beiträge in Koch (Hg.) 2020.
42 10.2478/kwg-2020-0079 | 5. Jahrgang 2020 Heft 2: 37–53 Neuen Rechten entspricht in genauer Weise der Aristoteles hat in seiner „Poetik“ die Tragödie Kommunikationsökonomie der Sozialen Medien.33 als die Gattung des Endes bestimmt. Bekannt- Das sorgt im Buch selbst für einen gewissen Irri- lich ist die Tragödie die Nachahmung einer „in tationseffekt. sich geschlossenen und ganzen Handlung“.37 Die So stiftet man Leser*innengemeinschaften, „Nachahmung von Handlung“38 heißt es dann die aber programmatisch die Kommunikation mit bekanntermaßen, ist der „Mythos“, den er als divergierenden Meinungen verweigern. Es sind „Zusammensetzung der Geschehnisse“39 begreift. enthemmte Leser*innen. Der/die sich von angeb- Wie aber kann man ‚eine in sich geschlossene und lich simplifizierenden Wirklichkeitskonstruktionen ganze Handlung‘ verstehen? Ein Ganzes, heißt es des ‚Mainstreams‘ abwendende Leser*in soll nun dementsprechend, ist etwas, „was Anfang, Mitte das Buch in die Hand nehmen und es als Brevier und Ende hat“.40 Der Anfang ist da, er folgt „nicht in der Tasche tragen. Es wird ein geradezu kultar- mit Notwendigkeit“41 auf etwas anderes, ihm, tiges Buch in diesem Nachwort konstruiert, das dem Anfang, folgt aber notwendigerweise alles mit der Simplifizierung der Verhältnisse endgültig Andere. Das Ende hingegen folgt immer etwas, Schluss macht. Der Rechtspopulismus konstitu- dem Ende aber folgt nichts mehr. Der Mythos des iert so eine Leser*innengemeinschaft.34 Man kann Aristoteles ist das Gegenteil von Geschichte, wie diese Herstellung von Leser*innengemeinschaf- sie die Historiografie entwickelt. Übertragen auf ten als ‚metapolitische‘ Strategie bezeichnen. Eine die verquere Geschichtslogik der Neuen Rechten „zentrale Aufgabe metapolitischer Arbeit“ besteht bedeutet dies, dass die Entwicklung von Gesell- darin, wie es in Thor von Waldsteins Metapolitik schaften oder die Richtung, die diese nimmt, nur heißt, „die in der öffentlichen Atmosphäre ständig als Schicksal erscheint, also als etwas Unabän- präsenten Emotionen und Subjektivismen zu bün- derliches, dem man nicht entrinnen kann. deln und einem sinnvollen Tätigkeitsgebiet zuzu- Deswegen schreibt Sieferle auch in Bezug auf führen“.35 Es geht um den Angriff auf die, um es den Umgang mit dem Holocaust davon, dass der im Jargon des neurechten Gramsci-Ekkletizismus „Mythos eine Wahrheit [ist], die jenseits der Dis- zu sagen, Hegemonie der politischen Emotionen. kussion steht“ (FG, 73). Es kann hier nicht darum Das Zweite, was auffällt, wenn man Rolf Peter gehen, die unerträgliche Erzählung von den Sieferles posthum erschienenes Finis Germania Deutschen als Sündenböcken zu analysieren, die zur Hand nimmt, ist selbstverständlich der Titel. zum „immerwährenden Mythos werden, um ihre Will man den Titel „Finis Germania“ ins Deutsche Schuld zu sühnen“ (FG, 79). Das ist so aberwit- übersetzen, so ist die bisherige Rezeption schnell zig und perfide, weil es gleichsam antisemitische bei „Das Ende Deutschlands“, ein beliebtes Motiv Narrative aufnimmt, um diese in ihr Gegenteil der neurechten Apokalyptiker, das mit Sarrazins zu verkehren: Früher waren es die ‚Juden‘, die Deutschland schafft sich ab 2010 wieder in die die Schuld abtragen mussten und auf Erlösung Debatte eingeführt worden ist. Es gibt aus meiner warteten, heute sind es die Deutschen.42 Damit Sicht zwei Möglichkeiten, den Titel zu lesen. Die einher geht die Erlösungsphantasie, doch nun erste Möglichkeit besteht darin, den Titel in den endlich von der Schuld erlöst zu werden: durch Modus einer Aussage zu überführen. Finis Ger- Vergessen bzw. durch Verschiebung oder durch mania bedeutete dann: Ende, Deutschland. Eine Inversion von Täter-/Opferrollen. Sieferle perpe- der Formen, das Ende in Szene zu setzen, ist die tuiert hier nur den „deutschen Opfermythos“43, Tragödie. Bekanntlich bildet die Theorie der Tra- der ja bekanntlich zu den „Gründungsmythen der gödie das Herzstück der Aristotelischen Poetik. Bundesrepublik“44 gehört. Seit Botho Strauß’ Essay „Anschwellender Bocks- gesang“ kann man die Form der Tragödie mit 37 Aristoteles 1982 S. 25. guten Gründen als neurechte Form analysieren, 38 Aristoteles 1982, S. 19. Geschichte und Geschichten zu erzählen.36 39 ebd. 40 ebd. 41 ebd. 33 Vogl 2021. 42 Vgl. hierzu die Bemerkungen Czolleks (2020 [2018], S. 34 Vgl. nochmals Thomalla/Gladić 2021. 175ff.) zur Funktion der Ashaver-Legende. 35 Von Waldstein 2019, S. 37. 43 Salzborn 2020, S. 5. 36 Strauß 1993. 44 Salzborn 2020, ebd.
Kulturwissenschaftliche Zeitschrift - 2/2020 43 Schicksalsnarrative, die sich daraus ergeben, bruch Deutschlands in eine bessere, weil friedli- erscheinen als Allheilmittel gegen die Kontingenz che Zukunft zum Ausdruck bringt; all diese Bilder moderner Gesellschaften. „Kontingent“, schreibt sind am Ende, weil nach Meinung Sieferles die Niklas Luhmann, Deutschen nicht mehr wissen, wer sie sind oder sein wollen. Das Ende von Germania als Gestalt „ist etwas, was weder notwendig ist noch unmög- und als rhetorische Figur firmiert, in durchaus lich ist: was also so, wie es ist (war, sein wird), sein barockem Sinne, als Emblem des Buches. kann, aber anders möglich ist. Der Begriff bezeichnet mithin Gegebenes (Erfahrenes, Erwartetes, Gedach- Die Kritik, die möglicherweise hinter der Rede tes, Phantasiertes) im Hinblick auf mögliches Anders- vom Ende verbindlicher Bilder steckt, ist eine sein: er bezeichnet Gegenstände im Horizont mögli- Kritik an den Formen der staatlichen respektive cher Abwandlungen.“45 politischen Repräsentation, die im Buch Sieferles als „Herrschaftskultur“ (FG, 23) bezeichnet wird. Realität wird immer unter der Ägide ihres jederzeit Inkriminiert wird, dass auf die aufwendige und Anders-Sein-Könnens reflektiert. Sie kann verän- bildhafte Inszenierung der Fiktionen wie Nation, dert werden. Ein Schicksal aber kann nicht geän- Staat, Freiheit oder gar Volk programmatisch dert werden. Es muss ertragen werden. Genau verzichtet wird. Dieses Argument, das ja nahezu gegen diese, mit Blumenbergs Wort, „Kontingenz- ein klassisches gegen die politische Moderne ist, kultur“46 der Moderne wettert die Neue Rechte. verfängt aber bei Sieferles Kritik an der Bundes- Die zweite Möglichkeit ist, das Ende, das Sie- republik Deutschland nicht.48 Der „kleinbürgerli- ferles Text insinuiert, mit der rhetorischen Figur che Charakter der bundesdeutschen Politikszene“ der Personifikation zusammenzubringen, der soge- (FG, 24) ist ja bekannt. Sie bedeutet aber keine nannten fictio personae. ‚Germania‘ ist nämlich Krise der politischen Repräsentation, sondern geradezu ein klassischer Fall für dieses rhetorische fungiert vielmehr als Ausdruck einer veränderten Verfahren, das Sieferle sich hier zu eigen macht. Form von Karriere in der Politik. Der Souverän, Ziel der Personifikation ist es, so lautet die Defini- das Volk, und seine Macht sind in dieser Form tion in einem einschlägigen Lexikon, „Unbelebtem nicht sichtbar. Sie verschwinden im Ikonoklasmus (z. B. Naturphänomenen), Abstraktem (Affekten, des kleinbürgerlichen Milieus. Tugend/Lastern), Kollektivem (Volk, Land, Kirche) Die für die Ikonografie des Politischen funda- Leben, Bewußtsein und menschliche Gestalt“47 zu mentale Unterscheidung zwischen symbolischen verleihen. Sinn der Personifikation ist es also, aus und realen Personen funktioniert nicht mehr. Aus dem, was man nicht sehen kann, etwas Sichtbares diesem Grund können „Konrad Adenauers Wort- zu machen. Übertragen auf den Titel von Sieferles schatz, Heinrich Lübkes Rhetorik, Ludwig Erhards Buch heißt das, dass wir es mit dem Ende des Per- literarische Bildung, Helmut Schmidts Esssitten, sonifkationsmusters in der politischen Rhetorik zu Willy Brandts Trinkgewohnheiten und Helmut tun haben. Kohls Physiognomie“ (FG, 24) zur „leichte[n] Die Frau, die Deutschland gewesen ist, näm- Beute“ (ebd.) für Parodisten werden. lich ‚Germania‘, ist verschwunden oder am Ende. Der moderne Staat unterzieht sich in der Die verbindlichen Bilder, mit und in denen man so Darstellung dessen, was ihn ausmacht, nämlich etwas Unsichtbares wie das deutsche Volk ‚sehen‘ der Macht, einer ikonischen Askese. Die meisten kann, gibt es nicht mehr. Die Zeiten, in denen man modernen Staaten haben die Steuerung und Pla- mit einem Blick auf Bilder Fragen der nationalen nung ihrer Sichtbarkeit, ihrer Repräsentation in Selbstverständigung klären konnte, sind unwie- Bildern, Bauten, Kleidern, Souveränitätszeichen, derbringlich vorbei. Bilder wie Friedrich Over- weitgehend aus der Hand gegeben. Repräsentiert becks „Italia und Germania“, das die deutsche werden der Staat und seine Institutionen durch Identität mit ihrem Hang zum Anderen Italiens zumeist zeitlich befristet tätige Amtsträger. Sie- sehen lässt, ein Gemälde wie Velts „Germania“, ferles Kritik an der politischen Repräsentation das 1848 in der Paulskirche hing und den Auf- ist eine Reise in die Vormoderne demokratischer Gesellschaften, in denen es, wie Carl Schmitt 45 Luhmann 1993 [1986], S. 152. schreibt, funktionierende bzw. scheiternde Bilder 46 Blumenberg 1990, S. 57. 47 Huber 2007, S. 53. 48 Vgl. Manow 2008.
44 10.2478/kwg-2020-0079 | 5. Jahrgang 2020 Heft 2: 37–53 oder Gestalten (wie z. B. den sprichwörtlichen (FG, 58) und als „anthropomorphe[n] Raum“ ‚Leviathan‘) gegeben habe, in denen man „d[er] (FG, 58) beschreibt. Eine Kulturlandschaft ist Einheit des politischen Gemeinwesens“49 ansichtig „eine unter konkreten lokalen Bedingungen von werden konnte. Diese Bilder sind verschwunden. menschlichen Aktivitäten geprägte Landschaft, Er inkriminiert im Grunde das, was schon Carl deren Dimensionen auf die Bewegungen und die Schmitt in seiner Schrift Römischer Katholizis- Arbeit des Menschen bezogen waren“ (FG, 58). mus und politische Form inkriminiert hatte. Poli- Man hört hier fast den älteren Sieferle spre- tik muss, wenn sie zur Repräsentation fähig sein chen. Die Kulturvernichtung durch Industrialisie- soll, eine Idee verwirklichen.50 Nur so funktioniert rung kann man, darauf hat Sieferle an anderer dann die politische Kritik, die es ermöglicht, die Stelle hingewiesen, nur dann beklagen, wenn Differenz zwischen der Idee des Politischen und man Veränderung als Vernichtung und als Bedro- der Realität politischer Institutionen in den Blick hung von Identität wahrnimmt.54 Kultur wird hier zu nehmen. Sieferles Kritik ist somit nur als zwei- Ort ursprünglicher Heimat. Genau diese Form ter oder gar dritter Aufguss der bekannten Kritik von Heimat ist verloren gegangen. Die Übertra- an der politischen Repräsentation zu interpretie- gungsleistung zwischen Natur, Kultur, Politik und ren. Er beklagt die vermeintliche Leere der poli- Gesellschaft ist also immer durch sprachliche Bil- tischen Bilder, in denen wir die Einheit eines oder der konstruiert. Vergleiche, Metaphern und Met- unseres Gemeinwesens imaginieren. onymien ermöglichen so den Übertritt von einem Ein beliebtes Muster der Gegenwartskritik ist zum anderen, also von der Natur zur Kultur.55 Ins- daher die Erfindung einer Vergangenheit, von der besondere sind es die Überlegungen Adam Mül- sich die Gegenwart radikal unterscheidet. Aber lers, die hier einschlägig sind. In seiner berühm- welche Gegenwart hat Sieferle überhaupt im ten Vorlesung „Elemente der Staatskunst“, die Blick? Weder der Text noch das Nachwort infor- Müller 1808 und 1809 gehalten hat, heißt es: mieren darüber, in welcher Gegenwart sich die Lektüre bewegt. Ist es unsere heutige? Jakob „[D]er Staat ist nicht eine bloße Manufaktur, Meierei, Assekuranzanstalt oder merkantilistische Sozietät: Er S. Eder hat in der TAZ nachgewiesen, dass es ist die innige Verbindung der gesamten physischen sich bei der Gegenwart, von der Sieferle angeb- und geistigen Bedürfnisse, des gesamten physischen lich spricht, um die Gegenwart der 1990er-Jahre und geistigen Reichtums, des gesamten inneren und handelt: „Aber Sieferles Ausführungen, die einige äußeren Lebens einer Nation, zu einem großen energi- Jahrzehnte auf seiner Festplatte Staub angesetzt schen, unendlich bewegten und lebendigen Ganzen.“56 hatten, nun als Kritik der heutigen Bundesrepu- blik zu lesen, ist ein ahistorisches Missverständ- Dieses Zitat ist oft verwendet worden, nicht nis.“51 Insgesamt ist der „Geist der neunziger immer zu seinem Besten. Oft übersehen wird, Jahre“52 , gerade nicht jener Gegenwart im Jahre dass die Argumentation, dass der Staat nicht 2018, prägend für dieses Buch. Der Text Siefer- etwa etwas Künstliches, sei, sondern dass sich les, der ja aus dem Nachlass stammt und von aus einem bestimmten Verständnis des Menschen dem überhaupt nicht klar ist, ob er überhaupt und seiner Beziehung zur Natur ableitet. publiziert werden sollte, wird, wenn man so will, Diese Frage bearbeitet Müller in der dritten in die Gegenwart und in die in ihr drängenden Vorlesung. Dort heißt es: „Die Erde wehrt sich Fragen ‚migriert‘. unaufhörlich gegen diese Angriffe ihrer Kinder Die Vergangenheit, die in der Neuen Rechten [Angriffe auf die Natur durch Recht, Eigentum und ersonnen wird, erscheint so als negatives Gegen- Politik, MST].“57 Er schreibt sogar, dass es einen bild der Gegenwart.53 Sieferle erfindet an diversen „Krie[g] des Menschen mit der Erde“58 gebe, der Stellen Vergangenheit, z. B. eine Vergangen- sich in der Erfindung einer nicht naturgemäßen, heit der Landschaft, die er als „Kulturlandschaft“ sondern künstlichen „Teilung der Arbeit“59 reprä- 54 Sieferle 1997, S. 162ff, Steinmayr 2020. 49 Schmitt 1982 [1938], S. 132. 55 Vgl. Koschorke 2009. 50 Schmitt 1984 [1923], S. 22. 56 Müller 1936 [1808–1808], S. 27. 51 Eder 2017. 57 Müller 1936 [1808–1808], S. 37. 52 Eder 2017. 58 Müller 1936 [1808–1808], S. 39. 53 Groebner 2008, S. 123–134. 59 Ebd.
Kulturwissenschaftliche Zeitschrift - 2/2020 45 sentiere. Die Vermarktlichung des Gemeinwesens „Politik“, heißt es bei Sieferle, führe zum Verlust von Vielfalt: „gehört einer älteren Daseinsschicht an, geordnet in „Erst müßt ihr die Erde mit ihren unendlichen Klimaten Hinblick auf Staat und Gesellschaft, kristallisiert in und eigenthümlichen Lokalitäten in eine große gleich- Staatsmännern, Führern und Ideologen. Es gibt in ihr förmige Fläche ausgewalzt haben, erst muß alle Vor- Programme, Werte und Ziele. Gefordert sind Tugenden liebe der Menschen für das Nähere und Angewöhnte und Einsätze, die sich auf ein übergeordnetes Ganzes und für das Besondere, Erworbene ausgerottet sein, richten. Ultima ratio ist der Krieg; die Bereitschaft zur ehe diese unbedingte Gewerbefreiheit, also ehe dieses Selbsthingabe des Individuums für eine höhere Sache, absolut freie Privatvermögen der Einzelnen möglich für eine Gemeinschaft, zum Opfertod.“ (FG, 46f.) wäre.“60 Man sieht ganz deutlich, dass Sieferle hier nicht Das Staatswesen darf nicht Ausdruck des ‚Krieges‘ das moderne Funktionssystem der Politik meinen des Menschen gegen die Natur sein, es muss sich kann. gleichsam organisch einfügen in den Kreislauf Damit gerät ein Politikverständnis in den Blick, der Natur. Es ist nicht nur Ausdruck des roman- das für die von Sieferle selbst untersuchte kon- tischen Widerstands gegen die Modernisierung servative Revolution entscheidend war.61 Was Sie- von Staat, Recht und Ökonomie. Es ist Ausdruck ferle hier nämlich als ‚Daseinsschicht‘ beschreibt, eines gleichsam ‚ökologischen‘ Verständnisses ist die societas civilis, jene alteuropäische Refe- von Staatlichkeit, das die Frage nach der Organi- renz des Konservatismus, in der Staat und Gesell- sation von Macht anders stellt. Der Bezug auf die schaft geeint sind und die Trennung von oikos/ Natur ist also eminent politisch. polis noch intakt gewesen ist. Stärker als mit dem Der neuere Sieferle überträgt diesen Prozess Ausdruck ‚Bereitschaft zur Selbsthingabe‘ kann nun auf die „Beziehungsräume der Menschen“ man die Differenz zur Moderne der bürgerlichen (FG, 59), denen der „Charakter der Persönlich- Gesellschaft nicht markieren: Denn in dieser geht keit abhanden“ (FG, 59) gekommen sei. Diag- es um die Selbsterhaltung und Selbstoptimie- nose ist „Beziehungsunsicherheit“ (FG, 60), die rung. Sieferle nimmt hier liberalismuskritische die neue Struktur begründet: nämlich eine solche Gedanken auf, die für die Traditionsbildung der des „funktionalen, postanthropomorphen Raums“ neuen Rechten entscheidend sind. (FG, 60). In einer seltsamen Assonanz an Klages Das Gegennarrativ zu diesem alteuropäischen Theorie der mythischen Urbilder schreibt Sieferle: Politikverständnis ist nämlich das System. Mit „In den meisten Menschen schlummert noch ‚System‘ beschreibt Sieferle immer der überkommene anthropo-teleomorphe Zugang zu einer Welt, die sich diesem Zugang „Ordnungen höherer Komplexität, welche die Politik sukzessive verdrängen. Systeme organisieren sich immer weiter entzieht“ (FG, 60). Ergebnis ist die ohne Fokus, ohne Werte, Ziele und Programme. Ihre „Konfrontation zweier Daseinsschichten“ (FG, einzige Maxime lautet: Freiheit und Emanzipation für 60), die in der Moderne aufeinanderprallen. Die die Individuen. Tugend und Opfer sind Anachronis- Semantik der Kollision des Vergangenen mit dem men, Kriege bloße Konfliktkatastrophen, die es durch Gegenwärtigen zieht sich durch den Text. Sieferle geschicktes Management zu verhindern gilt. Ordnung wird durch selbsterzeugte Zwänge der Objektivität erzählt von Figuren der Anomie und der Unter- geschaffen, nicht aber durch normierende Ausrich- brechung. Es entsteht das Bild der Moderne als tung.“ (FG, 47) eines politischen, anthropologischen und histori- schen Unfalls. Wenn man genau liest, sieht man, dass dem Arbeit an der Geschichte ist immer auch Arbeit ‚System‘ eine Eigenschaft fehlt, die in der Sphäre an den Begriffen und begrifflichen Oppositions- der Politik eine große Rolle spielt: die der Refor- paaren, mit denen Geschichte narrativ struktu- mierbarkeit. Ein System ist nicht reformier-, nur riert werden kann. Für Sieferle ist es die Differenz ersetzbar. Sieferle setzt hier nur wieder einen Politik/System, die er für das begriffliche Opposi- Diskurs fort, den die konservative Revolution tionspaar hält, mit dem Gegenwart beschrieben bereits in den Zwanzigerjahren eingeführt hat: werden kann. Das, was man ablehnt, nämlich das politische 60 Müller 1810 [1921], S. 34. 61 Sieferle 1995.
46 10.2478/kwg-2020-0079 | 5. Jahrgang 2020 Heft 2: 37–53 System der Weimarer Republik sollte nicht refor- Windelband beschreibt in seiner Rede den „völli- miert, sondern „ruiniert“62 werden. So erscheint gen Zusammenbruch“65 der vertrauten bildungs- im Anschluss an das bereits Gesagte das System bürgerlichen Welt. Was Windelband und Sieferle als Schicksal, dem man nicht entkommen kann. miteinander verbindet, ist die vermeintliche Mit ‚System‘ beschreibt Sieferle Gesellschaft Erfahrung kultureller Enteignung. Das Interes- und Politik der liberalen Moderne, in deren Zen- sante an der Rhetorik der Neuen Rechten ist aber, trum der moderne Individualismus steht. Dieses dass sie nicht nur der bildungsbürgerlichen Klasse Individuum ist zerfallen in Rollen und Funktio- Eigentumsrechte zuschreibt, sondern einem Volk. nen, die Steuerung der Verhältnisse entzieht sich Die Strategie ist also eine der Übertragung von ihm. Atomisierung, Selbstverlust anstatt Selbst- althergebrachten Narrativen und Symbolstruktu- opfer, Diskontinuität der Erfahrung, all dies sind ren: Aus den historischen Verlusten an Repräsen- bekannte Topoi der modernen Anti-Moderne. tation, Leser*innenschaft, Geschichte, Identität Schon Armin Mohler schreibt in seiner Kampf- und Verbindlichkeit wird das Recht eines Volkes schrift Gegen die Liberalen, in der nicht die Linke, auf Aneignung eben dieses vermeintlich ‚Entwen- sondern der Liberalismus als Hauptgegner im deten‘. Es geht um Restitution des Gewesenen, Politischen ausgemacht wird: nicht um Reform des Gegenwärtigen. Dieses Nar- rativ, das die Neue Rechte als ihr Ureigenes feiert, „[D]as Individuum gibt es gar nicht. Es ist eine Erfin- entpuppt sich bei genauer Betrachtung als eine dung. Die Vorstellung eines autonomen Individuums, Wiederholung, als geistes- und sozialgeschichtli- wie sie dem Liberalen so am Herzen liegt, ist die schlimmste aller Abstraktionen. Es ist geradezu banal, che Redundanz. Das ‚Neue‘ an der Neuen Rechten das festzustellen: jeder Mensch steht in einem Lebens- erweist sich als geistesgeschichtliche Diskurspa- zusammenhang, von dem aus er denkt und reagiert.“63 tina. Somit ist Sieferles Text nicht anderes als das Lamento einer ehemals bürgerlichen Klasse, Sieferle inszeniert sein Schreiben als medita- die sich mit dem Volk verwechselt. Das Lamento tive Fundamentalopposition zur gesellschaftlichen kommt als politischer Schwulst daher. Modernisierung. Diese Modernisierung ist für ihn gleichsam das Fatum. Ihm ist nicht zu entrinnen. Wilhelm Windelband hatte bereits 1878 das Skript 2 B jörn Höcke: Nie zweimal in dazu geliefert. In seinem Hölderlin-Vortrag heißt es: denselben Fluss „Die Kultur ist zu breit geworden, um vom Standpunkt des Individuum aus übersehen zu werden [...] Das Nimmt man Björn Höckes Nie zweimal in den- Bewußtsein des einheitlichen Zusammenhanges, der selben Fluss zur Hand, so fällt zunächst die alles Kulturleben beherrschen soll, geht Schritt für Gestaltung des Umschlags auf. Der/die Leser*in Schritt verloren und die Gesellschaft droht in Gruppen sieht ein Rednerpult mit einem Mikrofonkranz. und Atome zu zerfallen, zwischen denen es nicht mehr das Bindemittel des geistigen Verständnisses, sondern Das nicht gleichschenklige Dreieck beginnt am nur noch dasjenige der äußeren Not und Notwendig- linken Rand des Buchrückens und zieht sich über keit gibt. So wird die moderne Gesellschaft mehr und die Frontseite, um dann außerhalb des Buches mehr zu einem Bild der Zerrissenheit, und je schnel- zu enden. Die strengen geometrischen Formen ler dieser Prozeß mit natürlicher Notwendigkeit fort- lehnen sich an die faschistische Formensprache schreitet, um so geringer wird selbstverständlich die Kraft der gesellschaftlichen Ordnung, deren festeste an. Bevor der/die Leser*in das Buch aufschlägt, Stütze die Gleichheit des Kulturbewußtseins in den um zu lesen, ist seine Phantasie mit einem Spre- Individuen bildet.“64 chenden besetzt. Dazu passt auch der Reihenti- tel: „Politische Bühne. Originalton“, der sich fett gedruckt auf dem Broschurumschlag findet. Der hier in Szene gesetzte Gegensatz liegt auf der Hand: Ein Buch, das man lesen soll, wird durch 62 Ottmann 2010, Bd. 4/1, S. 144. die Rolle des Protagonisten als Redner im öffent- 63 Mohler 2010, S. 14. lichen Raum verstärkt oder ergänzt. Der Verlag 64 Windelband, Wilhelm: Über Friedrich Hölderlin und sein Geschick (1878). In: W. W.: Präludien I, 9. Aufl. Tübingen 1924, S. 254f. Zitiert in: Breuer 1993, S. 20. 65 Breuer 1993, S. 20.
Kulturwissenschaftliche Zeitschrift - 2/2020 47 scheint zu wissen, was schon Adolf Hitler gewusst ter, „die die großen historischen Lawinen religi- hat. Im Vorwort von Mein Kampf heißt es: öser und politischer Art ins Rollen brachte, war seit urewig nur die Zauberkraft des gesproche- „Ich weiß, daß man Menschen weniger durch das nen Wortes“.70 Der Antiintellektualismus lässt sich geschriebene Wort als vielmehr durch das gespro- also jetzt genauer einordnen. Er erscheint als chene Wort zu gewinnen vermag, daß jede große Bewegung auf dieser Erde ihren Wachsen den großen Opposition gegen die Buch- und Textwelten der Rednern und nicht den großen Schreibern verdankt.“66 Intellektuellen, gegen den Dialog der Meinungen, der in ihnen ausgefochten wird. Bekenntnisse Björn Höcke ist nämlich bisher nicht als ‚großer und Authentizitätswahn ersetzen Argumente. Die Schreiber‘ hervorgetreten. Vielmehr ist seine Rolle verlorene Nahwelt der oralen Gemeinschaft wird in der AfD die des Redners. In diesem Medium zum neurechten Kommunikationsideal. kann er die Menschen ‚gewinnen‘. Welchen Zweck Die Andeutungen zur Medienstrategie in hat also die Verschriftlichung? Zunächst muss Höckes Buch führen unmittelbar zu einer ande- man sehen, dass es sich um einen Interview- ren gewichtigen Frage. Wie kann man das Buch band handelt. Björn Höcke tritt hier wieder als gattungsmäßig einordnen? Das Inhaltsverzeich- Sprecher in Erscheinung, dem es durch Sebastian nis umfasst sechs Abschnitte. Begonnen wird mit Hennig ermöglicht wird, im Medium des gespro- „Frühe Jahre“, dann geht es über zu „Im Schul- chenen Wortes zu reüssieren. Es wird eine orale dienst“, worauf der Abschnitt „Der Weg in die Gemeinschaft adressiert. Oralität bezeichnet hier Politik“ folgt, um daran anschließend „Partei und den Status einer Kultur, in der die Kommunikation Fraktion in Thüringen“ in den Blick zu nehmen. und das sie tragende Medium des gesprochenen Abschließend folgen zwei Kapitel, die nicht zwin- Wortes Tradition speichert und weitergibt. Die gend dem Lebensweg folgen, sondern mit den Worte sind in einer oralen Kultur keine Zeichen, Titeln „Volksopposition gegen das Establishment“ sondern, wie Walter J. Ong wusste, „Klänge, [...] und „Krise und Renovation“ sich vom Lebensbe- sie hinterlassen keine Spur, sie sind Erscheinun- richt trennen.71 Der Hauptteil des Buches ist somit gen, Ereignisse“.67 Die Wissensübermittlung ver- als autobiografisch anzusehen, wobei die Erzäh- läuft über das Gespräch oder die gehörte Rede, lung vom eigenen Leben mit dem Eintritt in die das oder die bestimmten mnemotechnischen Politik endet. Mustern folgt, um die Weitergabe des Wissens Das Buch übernimmt hier teilweise den Aufbau zu gewährleisten: Iteration, Alliteration und von Hitlers Mein Kampf.72 Die eigentlichen auto- Assonanz, Epitetha sind mithin die bevorzugten biografischen Kapitel in Hitlers einzigem Buch sind Mittel, um die Memorierbarkeit von gesprochener die Kapitel „Im Elternhaus“ und „Wiener Lehr- und Sprache zu gewährleisten. Wesentliche Merkmale Leidensjahre“, ferner sind in „Allgemeine poli- eines der Oralität verpflichteten Denkens sind, so tische Betrachtungen aus meiner Wiener Zeit“, Ong, ein eher auf konkrete Situationen sich kap- „Sonstiges“ und in anderen Abschnitten autobio- rizierendes als nach abstrakten Theoremen ver- grafische Splitter zu erkennen, die aber dann mit fahrendes Denken.68 Die AfD ist also eine Partei der Geschichte der nationalsozialistischen Bewe- der Oralität. Der emphatische Bezug auf das gung verwoben werden.73 Wichtig ist hier das gesprochene Wort und die Macht der Rede, der Schema des autobiografischen Umschlags, der in in der AfD und speziell bei Höcke notorisch ist, die Politik führt. hat eine lange Tradition im rechten Denken, in die Bei Höcke, ähnlich wie bei Hitler, handelt es Höcke und die AfD sich einschreiben. sich, um hier Annie Ernaux’ Begriff zu verwenden, Aus diesem Grunde heißt es auch in Mein Kampf, dass die „größten Umwälzungen auf die- 70 Ebd. ser Welt [...] nie durch einen Gänsekiel geleitet 71 Höcke 2020. Hinfort wird Höckes Buch mit der Sigle worden“69 seien. „Die Macht aber“, heißt es wei- H+Seitenzahl zitiert. 72 In der bisherigen Rezeption des Höcke’schen Textes sind die Parallelen zu Hitlers Mein Kampf bisher nur an- 66 Hitler 2016 [1924], S. 89. satzweise thematisiert worden. Vgl. Bittner 2017. 67 Ong 1987, S. 37. 73 Vgl. hierzu die Einleitung der Herausgeber von Hitlers 68 Ong 1987, S. 42–61. Mein Kampf, Abschnitt „Entwurf einer Lebensgeschichte“, 69 Hitler 2016 [1924], S. 327. S. 30–34.
48 10.2478/kwg-2020-0079 | 5. Jahrgang 2020 Heft 2: 37–53 um „Autosoziobiografien“74. Autosoziobiografien 1900 um 2018. Der „anti-städtische Affekt“77 die- unterscheiden sich von Selbsterlebensbeschrei- ser Literatur besteht gerade in ihrer Opposition bungen durch eine Vermischung von Gesell- zur Stadt. Die Stadt gilt als Ort, als Raum der schaftsanalyse mit der Arbeit am Selbst. Sie las- Vergesellschaftung, in dem es unmöglich ist, eine sen sich als Narrativierung von sozialen Prozessen Identität jenseits der gesellschaftlichen Rolle aus- und ihrer Interpretation, wie etwa Bildungsauf- zubilden. Wenn Julius Langbehn schreibt, dass stieg oder -abstieg, Logik der sozialen Reproduk- der „Gelehrte seinem Wesen nach internatio- tion bzw. Widerstand gegen diese, beschreiben. nal, der Künstler national“78 sei, dann wird auch Autosoziobiografien sind also Selbst- und Zeitdia- der Antiintellektualismus als politische Strategie gnostik in einem. Insbesondere an der Inszenie- deutlich. Der „Geist der Individualität“, heißt es rung von Bildungserlebnissen bzw. vom Scheitern bei Langbehn, ist der „Geist der Scholle“.79 Nur in etablierten Bildungsinstitutionen lässt sich das auf dieser kann der Deutsche sich verwirklichen Funktionieren von Autosoziobiografien zeigen. und eine Identität ausbilden. International sind Gleichzeitig offenbart sich in der Autosozio- immer nur die anderen. biografie auch eine Politik der Lebensgeschich- Die verschütteten „kulturellen Quellen“ te.75 Eine Politik der Lebensgeschichte organisiert (H, 30) der deutschen Identität, wie Dichtung, Oppositionen und Schematismen, die das auto- Preußen usw., sollen wieder sprudeln. Deutsch- biografische Subjekt als Figur überhaupt erst im land ist für Höcke vor allem Natur und ein Netz Diskurs relevant werden lassen. Eine Opposition, aus Autorennamen, die so etwas wie die Walhalla die Adorno für die neurechte Politik der Lebens- der Neurechten bilden. In der Mitte sitzen Nietz- geschichte vorgeschlagen hat, ist die zwischen sche (H, 57), Heidegger (H, 59 und passim), Kant Provinz und Land. Adorno sagt in seinem jüngst (H, 60), die „deutsche Mystik“ (H, 72), Adelbert editierten Vortrag „Aspekte des neuen Rechtsra- von Chamisso (H, 131) Martin Buber (H, 83f.) dikalismus“, dass es in „diesen [den rechtsradi- und einige andere Geistesgrößen wie Edmund kalen Bewegungen, MST] insgesamt so etwas wie Burke (H, 70), Macchiavelli (H, 153 und passim). einen sich verschärfenden Gegensatz der Provinz Im Verlauf des Buches entspinnt sich für den/die gegen die Stadt“76 gebe. Höcke macht aus dieser Leser*in ein Netzwerk von alt- und neurechten Opposition ein Programm, das er auch noch päd- Autoren: Wolfgang Caspart (H, 105), Joachim agogisch verklärt: „Es gibt pädagogisch nichts Fernau (H, 112), Arnold Gehlen (H, 128), Jordis Wertvolleres, als das Aufwachsen auf dem freien von Lohausen (H, 182), Manfred Kleine-Hartlage Land, mit Tieren, mit Abenteuern und der Mög- (H, 186) und, natürlich, Spengler (H, 263). Von lichkeit, unter überschaubaren eigenen Grenzen Sebastian Hennig kommt der unvermeidliche zu lernen.“ (H, 33.) Das klingt nach pädagogi- Verweis auf die konservative politische Roman- scher Lust auf gesellschaftliche Einfachheit. Aber, tik mit der Nennung von Achim von Armins Die spricht Höcke zu Hennig, „[w]enn Sie sich die Kronenwächter und Bettina von Arnims Dies Buch Biographien der deutschen Dichter und Denker gehört dem König (H, 157). anschauen, werden Sie feststellen, daß nahezu Übernimmt man hier Hugo von Hofmanns- alle auf dem Land oder in den kleinen Ortschaften thals Ausdruck, so entsteht das Deutschland aufwuchsen, auch wenn später ihre Namen mit der Neurechten aus Schriften, die den geistigen großen Städten verbunden wurden.“ (H, 33.) Die Raum dessen bilden, was die Neurechte in ihren Provinz sorgt für die Herkunft, ja für Heimat und Schriften als Nation erfindet. Das von Hofmanns- ein Heimatgefühl, der gesellschaftliche Aufstieg thal so genannte „geistig[e] Anhangen“80 bezieht aber findet in den Städten oder in der Metropole sich aber nicht auf die großen Werke, sondern, statt. Aber eine Identität stiften die Städte nicht. wie Hofmannsthal schreibt, auf Höckes Begeisterung für die heimatliche Scholle ist die Wiederkehr der Heimatkunst von 77 Rossbacher 2000, S. 304. 74 Spoerhase 2017, S. 27–37. 78 Langbehn 1890, S. 9. 75 Vgl. Schneider 1999. 79 Langbehn 1890, S. 40. 76 Adorno 2019 [1968], S. 15. 80 Hofmannsthal 1955 [1927], S. 390.
Kulturwissenschaftliche Zeitschrift - 2/2020 49 „Aufzeichnungen aller Art, wie sie zwischen den Menschen hin und her gehen, den nur für einen oder ken ist ‚halbe Bildung‘, weil ihr die institutionelle wenige bestimmten Brief, die Denkschrift, desgleichen Kontrolle oder die gesellschaftliche Resonanz auch die Anekdote, das Schlagwort, das politische oder bzw. Anerkennung fehlt. geistige Glaubensbekenntnis, wie es das Zeitungsblatt Adorno hat den Halbgebildeten „Drang nach bringt, lauter Formen, die ja zuzeiten sehr wirksam Höherem“85 attestiert und „Verwirrung und Obs- werden können.“81 kurantismus“86 im Denken als Kennzeichen von Halbbildung destilliert. Von Adornos Theorie der Die oben genannten Autoren, die jeweils ganz Halbbildung zur Bildungsfigur des Autodidakten unterschiedliche Textsorten produziert haben, ist es nicht weit. „Der Autodidakt“, heißt es bei haben gemeinsam, dass sie in neurechten Georg Stanitzek, „hat zwar an Studium und Pro- Kreisen offenbar alleine durch die Tatsache, dass duktion des Wissens teil, aber nicht, oder wenigs- sie gelesen werden, eine Wirksamkeit entfalten. tens nicht im Vollsinn, an dessen sozialer Orga- Für den/die Leser*in entsteht so etwas wie ein nisation.“87 Man muss sich den Autodidakten als Kanon neurechten Denkens, der manche Über- einsamen Leser vorstellen, der sich idiosynkra- raschung aufweist und an dem in anderen Pub- tisch eine Textwelt zusammenbastelt, die nicht likationen weitergearbeitet wird. Es wird insze- durch eine Organisation kontrolliert wird. Genau niert, was Umberto Eco „Kult der Überlieferung“82 in diesem Jenseits der Institutionen scheint er genannt und als Merkmal des Faschismus identi- für die Neue Rechte interessant zu sein. „Heute“, fiziert hat. Es geht also um den Kult, nicht um die gesteht Höcke zunächst, komme ihm das zwar Überlieferung an sich. recht abenteuerlich vor, aber Der Kanon bekommt unter Rechten Funktion. Das entstandene „Corpus von Texten, das eine „ich hatte mir in den Kopf gesetzt, Sein und Zeit zu lesen – Gesellschaft oder eine Gruppe für wertvoll hält ohne jede Sekundärliteratur und jede Anleitung durch und an dessen Überlieferung sie interessiert ist“,83 einen Lehrer. Ich glaube, das schwierige Unterfangen wird enthistorisiert. Der Kanon stellt also immer hat sich gelohnt, auch wenn es mir schwerfällt, kon- krete Früchte vorzuweisen. Schon der Mut Heideggers, einen Selektionsprozess dar, dessen Ziel darin das Sein gegenüber dem Seienden ins Recht zu setzen, besteht, einen alternativen oder anderen Über- ist ein Erlebnis.“ (H, 77, Kursivierung im Original) lieferungsprozess zu initiieren. Genau um diesen Überlieferungsprozess geht es hier. In diesem Dieses Heidegger-Erlebnis, das ja kein Erlebnis Prozess fungiert der Kanon als „Prägewerk der einer Analyse ist, sondern ein 'Erleben der onto- Identität“84, dessen Ergebnis unterschiedlich sein logischen Differenz, verbindet ihn von der Struk- muss. Ein Kanon ist weder zeit- noch geschichts- tur her mit den zahlreichen Autodidakten der los, er kann nicht, wie die neuen und alten Rech- Bildungsgeschichte. Denn diese sind, so heißt es ten es tun, in einer kultischen Verehrung über- bereits 1835, „sich selbst Bildende“.88 Im weite- liefert werden. ren Verlauf der entwickelten Beschreibung des All diese Strategien sind also bekannt. Die Autodidakten spricht Wolff davon, dass „[g]ute neue Rechte liest gerne und viel, erfindet einen Exempel und zufällige gute Bücher allerdings oft Kanon zur kulturellen Selbstverständigung. Was mehr, als Lehrer [bilden]“.89 Bereits Armin Mohler aber bisher in der Rezeption untergegangen attestiert sich „maßlos[e] Lesewut“90 jenseits der ist, ist die Frage nach der Inszenierung von Bil- etablierten disziplinären Wege. Die Dissidenz des dungsfiguren in der Literatur der nationalsozia- Bildungszugangs und die Ablehnung von wissen- listischen und neuen Rechten. Mit dieser Frage schaftlicher Kommunikation ist für das Verständ- ist ein wesentlicher Punkt in der Selbstinszenie- rung genannt: die Inszenierung von Bildung jen- seits von Institutionen oder von institutioneller 85 Adorno 1998 [1962], S. 112. Kommunikation. Bildung außerhalb der Kontrolle 86 ebd. durch institutionelle Curricula und Wissenstechni- 87 Stanitzek 1999, S. 327. 88 Wolf 1835, S. 14. 81 Hofmannsthal 1955 [1927], S. 390f. 89 Wolf 1835, S. 14. 82 Eco 2020, S. 11. 90 Mohler, Armin: Der Nasenring. Vergangenheitsbewälti- 83 Winko 1996, S. 585. gung vor und nach dem Fall der Mauer. München 1991, S. 84 Assmann 1988, S. 59. 32ff. Zitiert nach: Maas 2013, S. 43.
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