Poetik, Provokation, Lektüre. Björn Höcke und Rolf-Dieter Sieferle im Kontext

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Markus Steinmayr*

Poetik, Provokation, Lektüre. Björn Höcke
und Rolf-Dieter Sieferle im Kontext

    © 2020 Markus Steinmayr, licensee De Gruyter Open. This work is licensed under the Creative Commons Attribution-NonCommercial-NoDerivatives 3.0 License
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Abstract: Die vorgelegten Überlegungen präsentieren anhand von Sieferles Finis Germania und Höckes
Nie zweimal in denselben Fluss Überlegungen zur kulturellen und politischen Diskursstrategie der Neuen
Rechten. Die Strategie wird anhand der Auseinandersetzung mit den Figuren des Lesens, des Umgangs
mit Büchern und anhand des Umgangs mit Gegenständen und Figuren der Bildung rekonstruiert.

Keywords: Neue Rechte; Bildung; Autodidakt; Autobiographie; Repräsentation; Theatralität der Neu-
rechten

*Markus Steinmayr, Universität Duisburg-Essen - Campus Essen, Essen, Nordrhein-Westfalen GERMANY

„Die wahre Liberalität“, schreibt Goethe, „ist         his Überlegungen ins Gespräch mit anderen Posi-
Anerkennung.“1 Goethe weist damit auf einen            tionen durch das Lesen. Ich lese aber nicht nur
Prozess hin, der für das Verständnis unserer poli-     die Rechten selbst, sondern auch, was und wie
tischen Gegenwart wesentlich ist. Goethe mar-          Rechte lesen oder lesen sollen.
kiert nämlich einen eminent wichtigen Zusam-               So heißt es von Götz Kubitschek, dass die-
menhang zwischen dem, was ein Einzelner denkt          ser „Homer im Original“3 gelesen habe. In seinem
und tut oder tun will, und denjenigen gesell-          Buch Provokation spricht er von einem „Kosmos
schaftlichen Prozessen, die diese Tätigkeit oder       rechten Denkens“4, der vor allem ein Kosmos
dieses Denken zur Kenntnis nehmen, anerkennen          aus Texten und Lektüren ist. Es folgt unmittel-
und ihnen damit Sinn verleihen. Erst so, möchte        bar danach eine Art neurechter Lesedidaktik,
man meinen, macht Liberalität Sinn. Eine Libe-         die „Romane sogar noch besser als theoretische
ralität ohne Anerkennung, also ohne einen zwi-         Schriften“ hält, um die „Suche nach dem rechten
schen Individuum und Gesellschaft vermittelnden        Maß“5 zu ermöglichen. Konsequenterweise erfolgt
Prozess, bleibt resonanzlos. Prozesse dieser Art       dann im gleichen Verlag eine Publikation, die sich
sind im besten Sinne Kommunikation. Dies gilt          mit den „je prägenden Lektüren“6 von einfluss-
in besonderer Weise für den Umgang mit Mei-            reichen Figuren der Neuen Rechten beschäftigt.
nungen, die nicht die eigenen sind oder die die            Um die literarische Sozialisation7 im Sinne der
Grenzen dessen, was man meinen kann, über-             Neurechten zu steuern, entwerfen Ellen Kositza
schreiten. Der Umgang mit dem Anderen der              und Carolin Sommerfeld einen Vorlesekanon für
eigenen Meinung bringt diesen Anerkennungs-            die neurechte Erziehung. Unter dem schlichten
prozess an seine Grenzen. Das gilt insbesondere        Titel „Vorlesen“8 machen die Ehefrauen um Götz
für den Umgang mit der Neuen Rechten. Die              Kubitschek respektive Helmut Lethen recht deut-
Anerkennung setzt einen Raum der Öffentlichkeit        lich, dass „insbesondere durch das Vorlesen der
voraus, in dem die Prozesse stattfinden. Es geht       Eltern“9 die Einübung im Umgang mit Büchern
also darum, die Texte der Neuen Rechten aus            und dem Kanon ermöglicht wird. Dementspre-
ihren Zirkeln zu lösen und sie in die Öffentlich-      chend umfasst das genannte Buch ca. 150 Lese-
keit der Analyse zu bringen. Anerkennung, auch         empfehlungen.
dies wusste Goethe sehr genau, bedeutet gerade             Es gibt Handbücher, die einem vielleicht des-
nicht immer Bestätigung.                               halb zeigen wollen, wie man mit Rechten reden
     Ohne Goethe zu erwähnen, schreibt Armin           soll.10 Es gibt aber nur vereinzelt Handreichun-
Nassehi in Bezug auf seinen Briefwechsel mit
Götz Kubitschek, dass „zu einer solchen Art von        3 Kubitschek 2017, „Über den Autor“.
Liberalität“ auch gehöre „mit Leuten ins Gespräch      4 Kubitschek 2017, S. 46.
zu treten, deren Position man nicht teilt.“2 Als       5 Kubitschek 2017, S. 47.
                                                       6 Kositza/Kubitschek 2020, S. 9.
Nicht-Soziologe trete ich im Anschluss an Nasse-
                                                       7 Vgl. Pieper 2010.
                                                       8 Kositza/Lethen 2019.
1 Goethe 2005 [o. D.], S. 872.                         9 Pieper 2010, S. 108.
2 Nassehi 2015, S. 299.                                10 Leo/Steinbeis/Zorn 2017.
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gen, die darüber Aufschluss geben, wie Rechte         mus oder des Rechtsextremismus. Diese Ausei-
lesen.11 Es gibt aufschlussreiche Dokumentatio-       nandersetzung ist von Detering und von ande-
nen, die über die longue durée rechten Denkens        ren geleistet worden. Gleichwohl hinterlassen die
informieren.12 Angesichts der regen Publikations-     Vorgänger*innen eine gewisse Lücke. Die Ausei-
tätigkeit der Neuen Rechten ist eine Diskrepanz       nandersetzung mit den Gedanken, Figuren, Bil-
zwischen der häufig nur antizipierten Bedeutung       dern und narrativen Strategien, die in den Texten
von Büchern und der tatsächlichen Auseinan-           der Neuen Rechten zirkulieren, fehlt. Aber nur so
dersetzung mit den Texten in der Öffentlichkeit       kann man dem Ziel näherkommen, die Erzähl-
festzustellen. Die Geschichtswissenschaft und         und Darstellungsverfahren der Neuen Rechten
die Literaturwissenschaft haben dieses Diskre-        zumindest in Ansätzen zu beleuchten. Es geht
panzphänomen vor allem an Adolf Hitlers „Mein         also um die Analyse der Wirksamkeit und Wirk-
Kampf“ aufgezeigt.13                                  mächtigkeit von Figuren, Lektüren und Selbstin-
     Die Auseinandersetzung mit den Gedanken,         szenierungen auf textueller Basis.
Figuren, Bildern und narrativen Strategien, die in        So erklärt sich die Auswahl der untersuchten
den Texten zirkulieren, dient dem Ziel, die Texte     Texte. Zum einen ist die Wahl auf Rolf Dieter Sie-
für eine Analyse zu öffnen und sie damit in ihrer     ferles Finis Germania gefallen, erstmals erschie-
Fiktionalität und Rhetorizität zu entlarven. Wenn     nen 2017. Dieser Text offenbart auf exemplari-
man so will, geht es um ein Verfahren der Ent-        sche Art und Weise die Formensprache der Neuen
substanzialisierung jener Substanzen, die die         Rechten. Im Rekurs auf etablierte Formen der
neuen Rechten und ihre Texte wie eine Monstranz       kulturellen und politischen Kommunikation in und
vor sich hertragen: Volk, Heimat, Identität. Bei      mit Büchern wird das Buch Sieferles als Kultbuch
genauerer Analyse erweist sich diese Substanzia-      der Neuen Rechten in Szene gesetzt. Es ist kein
lisierung als Wiederholung altrechter Themen, die     Buch, über das man diskutiert, sondern eines,
unter den Bedingungen der Gegenwart scheinbar         mit dem man lebt. Ferner zeigen sich deutliche
neu entdeckt werden, sich aber nur als Bricolage      Anleihen bei etablierten Mustern der literarischen
von Lektüren erweisen.                                Formensprache (Tragödie) und bei Kritikmustern
     Auf eine gewisse Art und Weise Auslöser für      der rechten Tradition (Moderne als Verlust, ver-
diese Auseinandersetzung mit den mir bislang          meintliche Leere der politischen Repräsentation,
unbekannten Texten von Höcke und von Sieferle         Neujustierung der politischen Sprache).
war die Lektüre von Heinrich Deterings „Was heißt         Der zweite Text ist der Gesprächsband Nie
hier ‚wir‘? Zur Rhetorik der parlamentarischen        zweimal in denselben Fluss. Das Buch ist die
Rechten“.14 Deterings Ausführungen sind insofern      Dokumentation eines Gesprächs, das Björn
Vorbild für die hier vorlegten Überlegungen, als      Höcke mit Sebastian Hennig geführt hat. Es zeigt
dass Deterings schmaler Band zeigt, wie nicht-        wiederum auf eine exemplarische Art und Weise
fiktionale Text- und Redesorten sich literatur-       die Selbstinszenierung neurechter Subjekte und
wissenschaftlich lesen lassen, wenn man Politik       ihres vermeintlichen Wissens. Dabei wird deutlich
und die politische Kommunikation auch als einen       werden, dass dem Medium der Stimme und dem
Umgang mit Texten und Tropen versteht. Sie sind       Nicht-Schriftlichen eine ganz besondere Bedeut-
ganz entscheidend für die Konstitution von Volk       samkeit zukommt. Höckes politische Autobiogra-
und Volksgemeinschaft, also von Fiktionen, die        fie erweist sich vor dem Hintergrund der Differenz
Zugehörigkeiten und Ausschlüsse imaginierbar          Stadt/Land als Wiederkehr der Heimatkunst um
werden lassen und regeln.15                           1900. Ferner spielt die Bildungsfigur des Auto-
     In zustimmender Abgrenzung von Detering          didakten für die Selbstinszenierung Höckes eine
verstehen sich meine Ausführungen daher nicht         prominente Rolle.16
als Beitrag zum Phänomen des Rechtspopulis-

11   Thomalla/Gladić 2021.
12   Fücks/Becker (Hg.) 2020.
13   Kiesel, 2014; Koschorke 2016; Kellerhoff 2015.
14   Detering 2019.
15   Wildt 2019.                                      16 Steinmayr 2021.
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1 Rolf Peter Sieferle: Finis Germania                         unter anderem die schriftstellerische Tätigkeit
                                                               von Despoten und Diktatoren: „[S]elbst ein Sta-
Nimmt man Rolf Peter Sieferles Buch Finis Ger-                 lin schämte sich nicht, seine Traktate und Reden
mania17 zum ersten Mal zur Hand, fällt sofort das              als ‚Gesammelte Werke‘ herausgeben zu lassen.“
Format dieses Buches auf: Ein kleines schma-                   (FG, 49.) Sieferle isoliert somit den Traktat-Stalin
les Bändchen, gerade einmal 125 Seiten inklu-                  vom dichtenden Stalin, also den politischen Akti-
sive des Nachworts von Thomas Hoof. Über dem                   visten vom Autor fiktionaler Texte. Beide kom-
Zur-Hand-Nehmen dieses Buches schwebt der                      men aber, darauf hat die slawistische Forschung
Skandal über das Erscheinen auf und Verschwin-                 hingewiesen, auf eigentümliche Art und Weise
den von Bestsellerlisten. Diese Auseinanderset-                bei Stalin zusammen. Der Zweck wäre dann, den
zung wird auch von Thomas Hoof in seinem Nach-                 politischen Einsatz von Fiktionen in nicht-fiktiona-
wort in voller Gänze ausgewalzt.18 Es handelt sich             ler Literatur genauer zu untersuchen. 21
dabei um das Nachwort einer späteren Auflage                       Hitler, dem Sieferle bescheinigt, „Politiker und
des Sieferle’schen Buches im Landt-Verlag. Das                 Programmatiker in einem“ (FG, 50) gewesen zu
Buch ist erstmals 2017 bei Antaios erschienen.                 sein, sei von dem Wunsch beseelt gewesen, als
    Ein unscheinbares Buch mit einem schwierigen               „Theoretiker zu gelten“ (FG, 50). Die schreiben-
Inhalt muss zunächst einmal in Umlauf gebracht                 den Politiker von heute formulieren dagegen keine
werden. Das Format dieses Buches kommt dem                     ‚Theorien‘, sondern den „dritten Aufguß breitge-
sicherlich entgegen. Es passt in die Innentasche               walzter Akademiethemen“ (FG, 50). Für Sieferle ist
jenes Tweedsakkos, das Vertreter rechtspopulis-                diese Publikationstätigkeit von Politikern Ausdruck
tischer Parteien sommers wie winters gerne tra-                der Theorieunfähigkeit von Politik, die nunmehr
gen. Vom Verlag scheint es als eine Art Vademe-                auf das „Niveau des Kultur-Geschwätzes“ (FG, 50)
cum gedacht zu sein, es soll ein Handbrevier für               herabgesunken ist. Politische Kommunikation, so
den Rechtspopulisten werden, das er bei jeder                  die Zeitdiagnose, ist Verfall eines „prinzipiell-ideo-
Gelegenheit aus der Tasche ziehen kann. Das                    logischen Charakters“ (FG, 50) von Politik.
Format der Kaplaken-Reihe erscheint somit, wie                     Die Frage nach der Funktion von Theorie im
Erika Thomalla und Mladen Gladić gezeigt haben,                Spektrum des Rechtpopulismus legt den Ver-
als Wiederkehr der Merve-Reihe. Beiden gemein-                 gleich mit Adornos Minima Moralia nahe. Die
sam sind die Handlichkeit und die Attraktivität.19             Minima Moralia gelten als Muster gesellschafts-
    Vergleicht man darüber hinaus den minia-                   thematisierenden und -kritisierenden Schreibens.
turistischen Stil des Buches mit einem anderen                 Sie sind damit das Urmuster einer Gattung und
Handbrevier, so liegt die perfide Strategie der                formbildend. Gattungen, so lautet eine einschlä-
Rechtspopulisten auf der Hand: Finis Germania                  gige Definition, sind ein „institutionalisiertes, auf
soll die Minima Moralia der Neuen Rechten wer-                 sozialen Konventionen beruhendes textuelles
den, also als Reflexion des beschädigten Lebens                Ordnungsmuster“.22 Gattungen, aber auch Gen-
in der Migrationsgesellschaft fungieren.                       res bilden also Schnittstellen zwischen Form und
    Philipp Felsch hat die Minima Moralia als                  Gesellschaft.
den Versuch Adornos bezeichnet, eine „neue                         Unter Genre versteht man „eine Gruppe von
Gebrauchsweise von Philosophie“20 zu etablieren.               Texten mit ähnlichen Eigenschaften.“23 Rüdiger
Was Sieferle intendiert, ist eine neue ‚Gebrauchs-             Safranski hat vorgeschlagen, Finis Germania dem
weise‘ von Politik zu etablieren. Unter der Über-              Genre der Nachtgedanken zuzuordnen.24 Die Ähn-
schrift „Politiker und Intellektuelle“ zeichnet                lichkeiten mit Edward Youngs Nachtgedanken in
Sieferle den positiv bewerteten Typus des „intel-              der englischen Literatur liegen tatsächlich auf der
lektuellen Politikers“ (FG, 48). Er beschreibt dann            Hand. Bedeutsam beim Genre ‚Nachtgedanken‘ ist
                                                               die Untersuchung der Sitten, ohne in die morali-
                                                               sche Erziehung zu verfallen. „Gleichwie der Anlaß
17 Sieferle 2019 [2017]. Hinfort wird Sieferles Text nach
dieser Ausgabe mit der Sigle FG + Seitenzahl im Fließtext
zitiert.                                                       21   Dobrenko 2011.
18 Grossarth 2017, Beyer 2017; Seibt et.al. 2017, Nutt 2017.   22   Zymner 2005, S. 261.
19 Thomalla/Gladić 2021.                                       23   Ludwig 2017, S. 275.
20 Felsch 2015, S. 28.                                         24   Safranski 2017.
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zu diesem Gedichte“, heißt es bei Young, „keine           worden sind, um das Buch zu verstehen, schreibt
Erfindung, sondern eine wirkliche Geschichte              Hoof in direkter Ansprache an die imaginierten
war; so ward auch die darinn [sic] gebrauchte             ‚Anderen‘ des Diskurses:
Methode dem Verfasser vielmehr durch das, was
bey dieser Gelegenheit in seiner Seele von selbst             „Die dauernde Unterforderung Eurer Leser ist eine
                                                              einzige Provokation. Und euer Meuteverhalten hat
vorgieng, vorgeschrieben, als überdacht, oder
                                                              sich in eine geradezu brünstige Mitläufigkeit ausge-
entworfen.“25                                                 wachsen, die auch weitergesteckte Ekelgrenzen mit
    Es sind also Selbstexperimente im Denken,                 Karacho überrennt. Eure Leser wenden sich nicht nur
die wir in den Nachtgedanken vorfinden. Im Ver-               ab. Sie tun es mit Grausen. “ (FG, 124.)
gleich zu moralischen Erzählungen, argumentiert
Young, ist „die Erzählung kurz, und die daraus            Die direkte Ansprache der Journalisten ist natür-
entspringenden Sittenlehren machen den größ-              lich ein starkes rhetorisches Signal. Es wieder-
ten Theil des Gedichts aus“.26 Ähnlich verhält es         holt den Code Ihr/wir, Freund/Feind und konser-
sich mit Sieferles Text. Der Text ist der Versuch,        viert die politische Affektlage des Zorns. Wie man
eine Sittenlehre der gegenwärtigen Bundesrepu-            aus der Rezeptionsästhetik lernen kann, rechnet
blik zu schreiben, eine Art neurechte Moralistik          jeder Text mit einem bestimmten/einer bestimm-
in den Untiefen des Liberalismus. Aus diesem              ten Leser*in, der/die durch die Lektüre konstru-
Grunde finden sich bei Sieferle über den Text ver-        iert wird. Der/die Leser*in als Subjekt der Lektüre
streut Bemerkungen zur Politik und zur Kultur,            ist eine, wie Gerhart von Graevenitz gezeigt hat,
deren Beschreibung als Beschreibung der Sitten            Erfindung des Textes selbst.30
erscheint.                                                    Diese Phänomenologie der Lektüre lässt
    Texte wie die genannten bearbeiten die Schnitt-       sich auch an der Konstruktion der imaginierten
stelle von Ästhetik und Gesellschaft. Genau darum         Leser*innenschaft von Rolf Peter Sieferles Finis
könnte es den Rechtspopulisten auch zu tun sein:          Germania verdeutlichen. Der/die Leser*innen,
nämlich mit Finis Germania die Schnittstelle zwi-         wie es das Nachwort insinuiert, ist eine*r, der/die
schen Literatur und Gesellschaft, zwischen der lite-      unterfordert und zornig ist. Im Gegensatz zu den
rarischen Form und ihrer gesellschaftlichen Wahr-         professionellen Schreiber*innen und Leser*innen
nehmung neu und anders zu gestalten und damit             im Journalismus und in den Geistes- und Sozial-
eine ‚neue Gebrauchsweise‘ rechten Denkens zu             wissenschaften, die Komplexität zunächst erzeu-
etablieren. Es sind in Max Czolleks Sinne „Block-         gen, um sie dann zu reduzieren, sehnt sich der/
buster“27, die, breitenwirksam angelegt, dazu die-        die angebliche Sieferle-Leser*in nach Kanälen, in
nen, den „politischen Gegner“28 erkennbar werden          denen er*/sie seinen/ihren Affekten freien Lauf
zu lassen.                                                lassen kann. Die politische Didaktik, die mög-
    Während der Adorno lesende Linksintellektu-           licherweise dahintersteckt, ist, die etablierten
elle, wie Philipp Felsch gezeigt hat, zum Stereo-         Wege der nicht simplifizierenden Komplexitätsre-
typ geworden ist, stellt sich das Bild des Finis-         duktion zu verlassen und durch Affektpolitik bzw.
Germania-Lesenden nicht so schnell ein. Wer soll          durch eine Politik der Affekte zu ersetzen.31 Mir
dieser/diese Leser*in sein? Aufschluss hierüber           scheint, dass hier möglicherweise die kommuni-
gibt hier das Nachwort von Thomas Hoof. Nach-             kative Logik der Sozialen Medien auf die Buch-
dem in einem unerträglichen Ton die Debatte in            kommunikation übertragen wird.32 Die Logik, so
den Qualitätsmedien beschrieben worden ist, die           könnte man sagen, bestünde darin, eine tenden-
geschichtsrevionistischen Teile (Mythos VB) und           ziell ungeregelte Öffentlichkeit zu schaffen, in der
die sieferle-kritisierenden Journalisten Grossarth,       alles gesagt werden darf, aber nichts geregelt
Hintermeier, Beyer als „zu einfältig“29 beschrieben       werden muss. Die Kommunikationsökonomie der

25 Young 1768, S. 4.
26 Ebd.                                                   30 Graevenitz 1973.
27 Czollek 2020 [2018], S. 12.                            31 Lehmann 2019.
28 Czollek 2020 [2018], S. 13.                            32 Vgl. zur Enthemmungslogik der neurechten Kommuni-
29 Hoof, Thomas: Das ominöse „ominös“ vor einer omi-      kation und der daraus resultierenden Produktion von Halb-
nösen Zahl - und seine Folgen (Im Original in Großbuch-   wahrheiten: Gess 2021, insbesondere S. 86–101 und die
staben). Nachwort (FG, 115–123, hier 123).                Beiträge in Koch (Hg.) 2020.
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Neuen Rechten entspricht in genauer Weise der             Aristoteles hat in seiner „Poetik“ die Tragödie
Kommunikationsökonomie der Sozialen Medien.33         als die Gattung des Endes bestimmt. Bekannt-
Das sorgt im Buch selbst für einen gewissen Irri-     lich ist die Tragödie die Nachahmung einer „in
tationseffekt.                                        sich geschlossenen und ganzen Handlung“.37 Die
    So stiftet man Leser*innengemeinschaften,         „Nachahmung von Handlung“38 heißt es dann
die aber programmatisch die Kommunikation mit         bekanntermaßen, ist der „Mythos“, den er als
divergierenden Meinungen verweigern. Es sind          „Zusammensetzung der Geschehnisse“39 begreift.
enthemmte Leser*innen. Der/die sich von angeb-        Wie aber kann man ‚eine in sich geschlossene und
lich simplifizierenden Wirklichkeitskonstruktionen    ganze Handlung‘ verstehen? Ein Ganzes, heißt es
des ‚Mainstreams‘ abwendende Leser*in soll nun        dementsprechend, ist etwas, „was Anfang, Mitte
das Buch in die Hand nehmen und es als Brevier        und Ende hat“.40 Der Anfang ist da, er folgt „nicht
in der Tasche tragen. Es wird ein geradezu kultar-    mit Notwendigkeit“41 auf etwas anderes, ihm,
tiges Buch in diesem Nachwort konstruiert, das        dem Anfang, folgt aber notwendigerweise alles
mit der Simplifizierung der Verhältnisse endgültig    Andere. Das Ende hingegen folgt immer etwas,
Schluss macht. Der Rechtspopulismus konstitu-         dem Ende aber folgt nichts mehr. Der Mythos des
iert so eine Leser*innengemeinschaft.34 Man kann      Aristoteles ist das Gegenteil von Geschichte, wie
diese Herstellung von Leser*innengemeinschaf-         sie die Historiografie entwickelt. Übertragen auf
ten als ‚metapolitische‘ Strategie bezeichnen. Eine   die verquere Geschichtslogik der Neuen Rechten
„zentrale Aufgabe metapolitischer Arbeit“ besteht     bedeutet dies, dass die Entwicklung von Gesell-
darin, wie es in Thor von Waldsteins Metapolitik      schaften oder die Richtung, die diese nimmt, nur
heißt, „die in der öffentlichen Atmosphäre ständig    als Schicksal erscheint, also als etwas Unabän-
präsenten Emotionen und Subjektivismen zu bün-        derliches, dem man nicht entrinnen kann.
deln und einem sinnvollen Tätigkeitsgebiet zuzu-          Deswegen schreibt Sieferle auch in Bezug auf
führen“.35 Es geht um den Angriff auf die, um es      den Umgang mit dem Holocaust davon, dass der
im Jargon des neurechten Gramsci-Ekkletizismus        „Mythos eine Wahrheit [ist], die jenseits der Dis-
zu sagen, Hegemonie der politischen Emotionen.        kussion steht“ (FG, 73). Es kann hier nicht darum
    Das Zweite, was auffällt, wenn man Rolf Peter     gehen, die unerträgliche Erzählung von den
Sieferles posthum erschienenes Finis Germania         Deutschen als Sündenböcken zu analysieren, die
zur Hand nimmt, ist selbstverständlich der Titel.     zum „immerwährenden Mythos werden, um ihre
Will man den Titel „Finis Germania“ ins Deutsche      Schuld zu sühnen“ (FG, 79). Das ist so aberwit-
übersetzen, so ist die bisherige Rezeption schnell    zig und perfide, weil es gleichsam antisemitische
bei „Das Ende Deutschlands“, ein beliebtes Motiv      Narrative aufnimmt, um diese in ihr Gegenteil
der neurechten Apokalyptiker, das mit Sarrazins       zu verkehren: Früher waren es die ‚Juden‘, die
Deutschland schafft sich ab 2010 wieder in die        die Schuld abtragen mussten und auf Erlösung
Debatte eingeführt worden ist. Es gibt aus meiner     warteten, heute sind es die Deutschen.42 Damit
Sicht zwei Möglichkeiten, den Titel zu lesen. Die     einher geht die Erlösungsphantasie, doch nun
erste Möglichkeit besteht darin, den Titel in den     endlich von der Schuld erlöst zu werden: durch
Modus einer Aussage zu überführen. Finis Ger-         Vergessen bzw. durch Verschiebung oder durch
mania bedeutete dann: Ende, Deutschland. Eine         Inversion von Täter-/Opferrollen. Sieferle perpe-
der Formen, das Ende in Szene zu setzen, ist die      tuiert hier nur den „deutschen Opfermythos“43,
Tragödie. Bekanntlich bildet die Theorie der Tra-     der ja bekanntlich zu den „Gründungsmythen der
gödie das Herzstück der Aristotelischen Poetik.       Bundesrepublik“44 gehört.
Seit Botho Strauß’ Essay „Anschwellender Bocks-
gesang“ kann man die Form der Tragödie mit            37 Aristoteles 1982 S. 25.
guten Gründen als neurechte Form analysieren,         38 Aristoteles 1982, S. 19.
Geschichte und Geschichten zu erzählen.36             39 ebd.
                                                      40 ebd.
                                                      41 ebd.
33   Vogl 2021.                                       42 Vgl. hierzu die Bemerkungen Czolleks (2020 [2018], S.
34   Vgl. nochmals Thomalla/Gladić 2021.              175ff.) zur Funktion der Ashaver-Legende.
35   Von Waldstein 2019, S. 37.                       43 Salzborn 2020, S. 5.
36   Strauß 1993.                                     44 Salzborn 2020, ebd.
Kulturwissenschaftliche Zeitschrift - 2/2020                                                                   43

    Schicksalsnarrative, die sich daraus ergeben,              bruch Deutschlands in eine bessere, weil friedli-
erscheinen als Allheilmittel gegen die Kontingenz              che Zukunft zum Ausdruck bringt; all diese Bilder
moderner Gesellschaften. „Kontingent“, schreibt                sind am Ende, weil nach Meinung Sieferles die
Niklas Luhmann,                                                Deutschen nicht mehr wissen, wer sie sind oder
                                                               sein wollen. Das Ende von Germania als Gestalt
    „ist etwas, was weder notwendig ist noch unmög-            und als rhetorische Figur firmiert, in durchaus
    lich ist: was also so, wie es ist (war, sein wird), sein
                                                               barockem Sinne, als Emblem des Buches.
    kann, aber anders möglich ist. Der Begriff bezeichnet
    mithin Gegebenes (Erfahrenes, Erwartetes, Gedach-               Die Kritik, die möglicherweise hinter der Rede
    tes, Phantasiertes) im Hinblick auf mögliches Anders-      vom Ende verbindlicher Bilder steckt, ist eine
    sein: er bezeichnet Gegenstände im Horizont mögli-         Kritik an den Formen der staatlichen respektive
    cher Abwandlungen.“45                                      politischen Repräsentation, die im Buch Sieferles
                                                               als „Herrschaftskultur“ (FG, 23) bezeichnet wird.
Realität wird immer unter der Ägide ihres jederzeit            Inkriminiert wird, dass auf die aufwendige und
Anders-Sein-Könnens reflektiert. Sie kann verän-               bildhafte Inszenierung der Fiktionen wie Nation,
dert werden. Ein Schicksal aber kann nicht geän-               Staat, Freiheit oder gar Volk programmatisch
dert werden. Es muss ertragen werden. Genau                    verzichtet wird. Dieses Argument, das ja nahezu
gegen diese, mit Blumenbergs Wort, „Kontingenz-                ein klassisches gegen die politische Moderne ist,
kultur“46 der Moderne wettert die Neue Rechte.                 verfängt aber bei Sieferles Kritik an der Bundes-
    Die zweite Möglichkeit ist, das Ende, das Sie-             republik Deutschland nicht.48 Der „kleinbürgerli-
ferles Text insinuiert, mit der rhetorischen Figur             che Charakter der bundesdeutschen Politikszene“
der Personifikation zusammenzubringen, der soge-               (FG, 24) ist ja bekannt. Sie bedeutet aber keine
nannten fictio personae. ‚Germania‘ ist nämlich                Krise der politischen Repräsentation, sondern
geradezu ein klassischer Fall für dieses rhetorische           fungiert vielmehr als Ausdruck einer veränderten
Verfahren, das Sieferle sich hier zu eigen macht.              Form von Karriere in der Politik. Der Souverän,
Ziel der Personifikation ist es, so lautet die Defini-         das Volk, und seine Macht sind in dieser Form
tion in einem einschlägigen Lexikon, „Unbelebtem               nicht sichtbar. Sie verschwinden im Ikonoklasmus
(z. B. Naturphänomenen), Abstraktem (Affekten,                 des kleinbürgerlichen Milieus.
Tugend/Lastern), Kollektivem (Volk, Land, Kirche)                   Die für die Ikonografie des Politischen funda-
Leben, Bewußtsein und menschliche Gestalt“47 zu                mentale Unterscheidung zwischen symbolischen
verleihen. Sinn der Personifikation ist es also, aus           und realen Personen funktioniert nicht mehr. Aus
dem, was man nicht sehen kann, etwas Sichtbares                diesem Grund können „Konrad Adenauers Wort-
zu machen. Übertragen auf den Titel von Sieferles              schatz, Heinrich Lübkes Rhetorik, Ludwig Erhards
Buch heißt das, dass wir es mit dem Ende des Per-              literarische Bildung, Helmut Schmidts Esssitten,
sonifkationsmusters in der politischen Rhetorik zu             Willy Brandts Trinkgewohnheiten und Helmut
tun haben.                                                     Kohls Physiognomie“ (FG, 24) zur „leichte[n]
    Die Frau, die Deutschland gewesen ist, näm-                Beute“ (ebd.) für Parodisten werden.
lich ‚Germania‘, ist verschwunden oder am Ende.                     Der moderne Staat unterzieht sich in der
Die verbindlichen Bilder, mit und in denen man so              Darstellung dessen, was ihn ausmacht, nämlich
etwas Unsichtbares wie das deutsche Volk ‚sehen‘               der Macht, einer ikonischen Askese. Die meisten
kann, gibt es nicht mehr. Die Zeiten, in denen man             modernen Staaten haben die Steuerung und Pla-
mit einem Blick auf Bilder Fragen der nationalen               nung ihrer Sichtbarkeit, ihrer Repräsentation in
Selbstverständigung klären konnte, sind unwie-                 Bildern, Bauten, Kleidern, Souveränitätszeichen,
derbringlich vorbei. Bilder wie Friedrich Over-                weitgehend aus der Hand gegeben. Repräsentiert
becks „Italia und Germania“, das die deutsche                  werden der Staat und seine Institutionen durch
Identität mit ihrem Hang zum Anderen Italiens                  zumeist zeitlich befristet tätige Amtsträger. Sie-
sehen lässt, ein Gemälde wie Velts „Germania“,                 ferles Kritik an der politischen Repräsentation
das 1848 in der Paulskirche hing und den Auf-                  ist eine Reise in die Vormoderne demokratischer
                                                               Gesellschaften, in denen es, wie Carl Schmitt
45 Luhmann 1993 [1986], S. 152.                                schreibt, funktionierende bzw. scheiternde Bilder
46 Blumenberg 1990, S. 57.
47 Huber 2007, S. 53.                                          48 Vgl. Manow 2008.
44                                                     10.2478/kwg-2020-0079 | 5. Jahrgang 2020 Heft 2: 37–53

oder Gestalten (wie z. B. den sprichwörtlichen         (FG, 58) und als „anthropomorphe[n] Raum“
‚Leviathan‘) gegeben habe, in denen man „d[er]         (FG, 58) beschreibt. Eine Kulturlandschaft ist
Einheit des politischen Gemeinwesens“49 ansichtig      „eine unter konkreten lokalen Bedingungen von
werden konnte. Diese Bilder sind verschwunden.         menschlichen Aktivitäten geprägte Landschaft,
    Er inkriminiert im Grunde das, was schon Carl      deren Dimensionen auf die Bewegungen und die
Schmitt in seiner Schrift Römischer Katholizis-        Arbeit des Menschen bezogen waren“ (FG, 58).
mus und politische Form inkriminiert hatte. Poli-          Man hört hier fast den älteren Sieferle spre-
tik muss, wenn sie zur Repräsentation fähig sein       chen. Die Kulturvernichtung durch Industrialisie-
soll, eine Idee verwirklichen.50 Nur so funktioniert   rung kann man, darauf hat Sieferle an anderer
dann die politische Kritik, die es ermöglicht, die     Stelle hingewiesen, nur dann beklagen, wenn
Differenz zwischen der Idee des Politischen und        man Veränderung als Vernichtung und als Bedro-
der Realität politischer Institutionen in den Blick    hung von Identität wahrnimmt.54 Kultur wird hier
zu nehmen. Sieferles Kritik ist somit nur als zwei-    Ort ursprünglicher Heimat. Genau diese Form
ter oder gar dritter Aufguss der bekannten Kritik      von Heimat ist verloren gegangen. Die Übertra-
an der politischen Repräsentation zu interpretie-      gungsleistung zwischen Natur, Kultur, Politik und
ren. Er beklagt die vermeintliche Leere der poli-      Gesellschaft ist also immer durch sprachliche Bil-
tischen Bilder, in denen wir die Einheit eines oder    der konstruiert. Vergleiche, Metaphern und Met-
unseres Gemeinwesens imaginieren.                      onymien ermöglichen so den Übertritt von einem
    Ein beliebtes Muster der Gegenwartskritik ist      zum anderen, also von der Natur zur Kultur.55 Ins-
daher die Erfindung einer Vergangenheit, von der       besondere sind es die Überlegungen Adam Mül-
sich die Gegenwart radikal unterscheidet. Aber         lers, die hier einschlägig sind. In seiner berühm-
welche Gegenwart hat Sieferle überhaupt im             ten Vorlesung „Elemente der Staatskunst“, die
Blick? Weder der Text noch das Nachwort infor-         Müller 1808 und 1809 gehalten hat, heißt es:
mieren darüber, in welcher Gegenwart sich die
Lektüre bewegt. Ist es unsere heutige? Jakob                „[D]er Staat ist nicht eine bloße Manufaktur, Meierei,
                                                            Assekuranzanstalt oder merkantilistische Sozietät: Er
S. Eder hat in der TAZ nachgewiesen, dass es
                                                            ist die innige Verbindung der gesamten physischen
sich bei der Gegenwart, von der Sieferle angeb-             und geistigen Bedürfnisse, des gesamten physischen
lich spricht, um die Gegenwart der 1990er-Jahre             und geistigen Reichtums, des gesamten inneren und
handelt: „Aber Sieferles Ausführungen, die einige           äußeren Lebens einer Nation, zu einem großen energi-
Jahrzehnte auf seiner Festplatte Staub angesetzt            schen, unendlich bewegten und lebendigen Ganzen.“56
hatten, nun als Kritik der heutigen Bundesrepu-
blik zu lesen, ist ein ahistorisches Missverständ-     Dieses Zitat ist oft verwendet worden, nicht
nis.“51 Insgesamt ist der „Geist der neunziger         immer zu seinem Besten. Oft übersehen wird,
Jahre“52 , gerade nicht jener Gegenwart im Jahre       dass die Argumentation, dass der Staat nicht
2018, prägend für dieses Buch. Der Text Siefer-        etwa etwas Künstliches, sei, sondern dass sich
les, der ja aus dem Nachlass stammt und von            aus einem bestimmten Verständnis des Menschen
dem überhaupt nicht klar ist, ob er überhaupt          und seiner Beziehung zur Natur ableitet.
publiziert werden sollte, wird, wenn man so will,          Diese Frage bearbeitet Müller in der dritten
in die Gegenwart und in die in ihr drängenden          Vorlesung. Dort heißt es: „Die Erde wehrt sich
Fragen ‚migriert‘.                                     unaufhörlich gegen diese Angriffe ihrer Kinder
    Die Vergangenheit, die in der Neuen Rechten        [Angriffe auf die Natur durch Recht, Eigentum und
ersonnen wird, erscheint so als negatives Gegen-       Politik, MST].“57 Er schreibt sogar, dass es einen
bild der Gegenwart.53 Sieferle erfindet an diversen    „Krie[g] des Menschen mit der Erde“58 gebe, der
Stellen Vergangenheit, z. B. eine Vergangen-           sich in der Erfindung einer nicht naturgemäßen,
heit der Landschaft, die er als „Kulturlandschaft“     sondern künstlichen „Teilung der Arbeit“59 reprä-

                                                       54   Sieferle 1997, S. 162ff, Steinmayr 2020.
49   Schmitt 1982 [1938], S. 132.                      55   Vgl. Koschorke 2009.
50   Schmitt 1984 [1923], S. 22.                       56   Müller 1936 [1808–1808], S. 27.
51   Eder 2017.                                        57   Müller 1936 [1808–1808], S. 37.
52   Eder 2017.                                        58   Müller 1936 [1808–1808], S. 39.
53   Groebner 2008, S. 123–134.                        59   Ebd.
Kulturwissenschaftliche Zeitschrift - 2/2020                                                                          45

sentiere. Die Vermarktlichung des Gemeinwesens               „Politik“, heißt es bei Sieferle,
führe zum Verlust von Vielfalt:
                                                                 „gehört einer älteren Daseinsschicht an, geordnet in
    „Erst müßt ihr die Erde mit ihren unendlichen Klimaten       Hinblick auf Staat und Gesellschaft, kristallisiert in
    und eigenthümlichen Lokalitäten in eine große gleich-        Staatsmännern, Führern und Ideologen. Es gibt in ihr
    förmige Fläche ausgewalzt haben, erst muß alle Vor-          Programme, Werte und Ziele. Gefordert sind Tugenden
    liebe der Menschen für das Nähere und Angewöhnte             und Einsätze, die sich auf ein übergeordnetes Ganzes
    und für das Besondere, Erworbene ausgerottet sein,           richten. Ultima ratio ist der Krieg; die Bereitschaft zur
    ehe diese unbedingte Gewerbefreiheit, also ehe dieses        Selbsthingabe des Individuums für eine höhere Sache,
    absolut freie Privatvermögen der Einzelnen möglich           für eine Gemeinschaft, zum Opfertod.“ (FG, 46f.)
    wäre.“60
                                                             Man sieht ganz deutlich, dass Sieferle hier nicht
Das Staatswesen darf nicht Ausdruck des ‚Krieges‘            das moderne Funktionssystem der Politik meinen
des Menschen gegen die Natur sein, es muss sich              kann.
gleichsam organisch einfügen in den Kreislauf                    Damit gerät ein Politikverständnis in den Blick,
der Natur. Es ist nicht nur Ausdruck des roman-              das für die von Sieferle selbst untersuchte kon-
tischen Widerstands gegen die Modernisierung                 servative Revolution entscheidend war.61 Was Sie-
von Staat, Recht und Ökonomie. Es ist Ausdruck               ferle hier nämlich als ‚Daseinsschicht‘ beschreibt,
eines gleichsam ‚ökologischen‘ Verständnisses                ist die societas civilis, jene alteuropäische Refe-
von Staatlichkeit, das die Frage nach der Organi-            renz des Konservatismus, in der Staat und Gesell-
sation von Macht anders stellt. Der Bezug auf die            schaft geeint sind und die Trennung von oikos/
Natur ist also eminent politisch.                            polis noch intakt gewesen ist. Stärker als mit dem
    Der neuere Sieferle überträgt diesen Prozess             Ausdruck ‚Bereitschaft zur Selbsthingabe‘ kann
nun auf die „Beziehungsräume der Menschen“                   man die Differenz zur Moderne der bürgerlichen
(FG, 59), denen der „Charakter der Persönlich-               Gesellschaft nicht markieren: Denn in dieser geht
keit abhanden“ (FG, 59) gekommen sei. Diag-                  es um die Selbsterhaltung und Selbstoptimie-
nose ist „Beziehungsunsicherheit“ (FG, 60), die              rung. Sieferle nimmt hier liberalismuskritische
die neue Struktur begründet: nämlich eine solche             Gedanken auf, die für die Traditionsbildung der
des „funktionalen, postanthropomorphen Raums“                neuen Rechten entscheidend sind.
(FG, 60). In einer seltsamen Assonanz an Klages                  Das Gegennarrativ zu diesem alteuropäischen
Theorie der mythischen Urbilder schreibt Sieferle:           Politikverständnis ist nämlich das System. Mit
„In den meisten Menschen schlummert noch                     ‚System‘ beschreibt Sieferle
immer der überkommene anthropo-teleomorphe
Zugang zu einer Welt, die sich diesem Zugang                     „Ordnungen höherer Komplexität, welche die Politik
                                                                 sukzessive verdrängen. Systeme organisieren sich
immer weiter entzieht“ (FG, 60). Ergebnis ist die
                                                                 ohne Fokus, ohne Werte, Ziele und Programme. Ihre
„Konfrontation zweier Daseinsschichten“ (FG,                     einzige Maxime lautet: Freiheit und Emanzipation für
60), die in der Moderne aufeinanderprallen. Die                  die Individuen. Tugend und Opfer sind Anachronis-
Semantik der Kollision des Vergangenen mit dem                   men, Kriege bloße Konfliktkatastrophen, die es durch
Gegenwärtigen zieht sich durch den Text. Sieferle                geschicktes Management zu verhindern gilt. Ordnung
                                                                 wird durch selbsterzeugte Zwänge der Objektivität
erzählt von Figuren der Anomie und der Unter-
                                                                 geschaffen, nicht aber durch normierende Ausrich-
brechung. Es entsteht das Bild der Moderne als                   tung.“ (FG, 47)
eines politischen, anthropologischen und histori-
schen Unfalls.
                                                             Wenn man genau liest, sieht man, dass dem
    Arbeit an der Geschichte ist immer auch Arbeit
                                                             ‚System‘ eine Eigenschaft fehlt, die in der Sphäre
an den Begriffen und begrifflichen Oppositions-
                                                             der Politik eine große Rolle spielt: die der Refor-
paaren, mit denen Geschichte narrativ struktu-
                                                             mierbarkeit. Ein System ist nicht reformier-, nur
riert werden kann. Für Sieferle ist es die Differenz
                                                             ersetzbar. Sieferle setzt hier nur wieder einen
Politik/System, die er für das begriffliche Opposi-
                                                             Diskurs fort, den die konservative Revolution
tionspaar hält, mit dem Gegenwart beschrieben
                                                             bereits in den Zwanzigerjahren eingeführt hat:
werden kann.
                                                             Das, was man ablehnt, nämlich das politische

60 Müller 1810 [1921], S. 34.                                61 Sieferle 1995.
46                                                             10.2478/kwg-2020-0079 | 5. Jahrgang 2020 Heft 2: 37–53

System der Weimarer Republik sollte nicht refor-               Windelband beschreibt in seiner Rede den „völli-
miert, sondern „ruiniert“62 werden. So erscheint               gen Zusammenbruch“65 der vertrauten bildungs-
im Anschluss an das bereits Gesagte das System                 bürgerlichen Welt. Was Windelband und Sieferle
als Schicksal, dem man nicht entkommen kann.                   miteinander verbindet, ist die vermeintliche
    Mit ‚System‘ beschreibt Sieferle Gesellschaft              Erfahrung kultureller Enteignung. Das Interes-
und Politik der liberalen Moderne, in deren Zen-               sante an der Rhetorik der Neuen Rechten ist aber,
trum der moderne Individualismus steht. Dieses                 dass sie nicht nur der bildungsbürgerlichen Klasse
Individuum ist zerfallen in Rollen und Funktio-                Eigentumsrechte zuschreibt, sondern einem Volk.
nen, die Steuerung der Verhältnisse entzieht sich              Die Strategie ist also eine der Übertragung von
ihm. Atomisierung, Selbstverlust anstatt Selbst-               althergebrachten Narrativen und Symbolstruktu-
opfer, Diskontinuität der Erfahrung, all dies sind             ren: Aus den historischen Verlusten an Repräsen-
bekannte Topoi der modernen Anti-Moderne.                      tation, Leser*innenschaft, Geschichte, Identität
Schon Armin Mohler schreibt in seiner Kampf-                   und Verbindlichkeit wird das Recht eines Volkes
schrift Gegen die Liberalen, in der nicht die Linke,           auf Aneignung eben dieses vermeintlich ‚Entwen-
sondern der Liberalismus als Hauptgegner im                    deten‘. Es geht um Restitution des Gewesenen,
Politischen ausgemacht wird:                                   nicht um Reform des Gegenwärtigen. Dieses Nar-
                                                               rativ, das die Neue Rechte als ihr Ureigenes feiert,
     „[D]as Individuum gibt es gar nicht. Es ist eine Erfin-   entpuppt sich bei genauer Betrachtung als eine
     dung. Die Vorstellung eines autonomen Individuums,
                                                               Wiederholung, als geistes- und sozialgeschichtli-
     wie sie dem Liberalen so am Herzen liegt, ist die
     schlimmste aller Abstraktionen. Es ist geradezu banal,    che Redundanz. Das ‚Neue‘ an der Neuen Rechten
     das festzustellen: jeder Mensch steht in einem Lebens-    erweist sich als geistesgeschichtliche Diskurspa-
     zusammenhang, von dem aus er denkt und reagiert.“63       tina. Somit ist Sieferles Text nicht anderes als
                                                               das Lamento einer ehemals bürgerlichen Klasse,
Sieferle inszeniert sein Schreiben als medita-                 die sich mit dem Volk verwechselt. Das Lamento
tive Fundamentalopposition zur gesellschaftlichen              kommt als politischer Schwulst daher.
Modernisierung. Diese Modernisierung ist für ihn
gleichsam das Fatum. Ihm ist nicht zu entrinnen.
Wilhelm Windelband hatte bereits 1878 das Skript               2 B
                                                                  jörn Höcke: Nie zweimal in
dazu geliefert. In seinem Hölderlin-Vortrag heißt es:            denselben Fluss
     „Die Kultur ist zu breit geworden, um vom Standpunkt
     des Individuum aus übersehen zu werden [...] Das          Nimmt man Björn Höckes Nie zweimal in den-
     Bewußtsein des einheitlichen Zusammenhanges, der          selben Fluss zur Hand, so fällt zunächst die
     alles Kulturleben beherrschen soll, geht Schritt für      Gestaltung des Umschlags auf. Der/die Leser*in
     Schritt verloren und die Gesellschaft droht in Gruppen
                                                               sieht ein Rednerpult mit einem Mikrofonkranz.
     und Atome zu zerfallen, zwischen denen es nicht mehr
     das Bindemittel des geistigen Verständnisses, sondern     Das nicht gleichschenklige Dreieck beginnt am
     nur noch dasjenige der äußeren Not und Notwendig-         linken Rand des Buchrückens und zieht sich über
     keit gibt. So wird die moderne Gesellschaft mehr und      die Frontseite, um dann außerhalb des Buches
     mehr zu einem Bild der Zerrissenheit, und je schnel-      zu enden. Die strengen geometrischen Formen
     ler dieser Prozeß mit natürlicher Notwendigkeit fort-
                                                               lehnen sich an die faschistische Formensprache
     schreitet, um so geringer wird selbstverständlich die
     Kraft der gesellschaftlichen Ordnung, deren festeste
                                                               an. Bevor der/die Leser*in das Buch aufschlägt,
     Stütze die Gleichheit des Kulturbewußtseins in den        um zu lesen, ist seine Phantasie mit einem Spre-
     Individuen bildet.“64                                     chenden besetzt. Dazu passt auch der Reihenti-
                                                               tel: „Politische Bühne. Originalton“, der sich fett
                                                               gedruckt auf dem Broschurumschlag findet.
                                                                   Der hier in Szene gesetzte Gegensatz liegt auf
                                                               der Hand: Ein Buch, das man lesen soll, wird durch
62 Ottmann 2010, Bd. 4/1, S. 144.                              die Rolle des Protagonisten als Redner im öffent-
63 Mohler 2010, S. 14.                                         lichen Raum verstärkt oder ergänzt. Der Verlag
64 Windelband, Wilhelm: Über Friedrich Hölderlin und sein
Geschick (1878). In: W. W.: Präludien I, 9. Aufl. Tübingen
1924, S. 254f. Zitiert in: Breuer 1993, S. 20.                 65 Breuer 1993, S. 20.
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scheint zu wissen, was schon Adolf Hitler gewusst           ter, „die die großen historischen Lawinen religi-
hat. Im Vorwort von Mein Kampf heißt es:                    öser und politischer Art ins Rollen brachte, war
                                                            seit urewig nur die Zauberkraft des gesproche-
     „Ich weiß, daß man Menschen weniger durch das          nen Wortes“.70 Der Antiintellektualismus lässt sich
     geschriebene Wort als vielmehr durch das gespro-
                                                            also jetzt genauer einordnen. Er erscheint als
     chene Wort zu gewinnen vermag, daß jede große
     Bewegung auf dieser Erde ihren Wachsen den großen      Opposition gegen die Buch- und Textwelten der
     Rednern und nicht den großen Schreibern verdankt.“66   Intellektuellen, gegen den Dialog der Meinungen,
                                                            der in ihnen ausgefochten wird. Bekenntnisse
Björn Höcke ist nämlich bisher nicht als ‚großer            und Authentizitätswahn ersetzen Argumente. Die
Schreiber‘ hervorgetreten. Vielmehr ist seine Rolle         verlorene Nahwelt der oralen Gemeinschaft wird
in der AfD die des Redners. In diesem Medium                zum neurechten Kommunikationsideal.
kann er die Menschen ‚gewinnen‘. Welchen Zweck                  Die Andeutungen zur Medienstrategie in
hat also die Verschriftlichung? Zunächst muss               Höckes Buch führen unmittelbar zu einer ande-
man sehen, dass es sich um einen Interview-                 ren gewichtigen Frage. Wie kann man das Buch
band handelt. Björn Höcke tritt hier wieder als             gattungsmäßig einordnen? Das Inhaltsverzeich-
Sprecher in Erscheinung, dem es durch Sebastian             nis umfasst sechs Abschnitte. Begonnen wird mit
Hennig ermöglicht wird, im Medium des gespro-               „Frühe Jahre“, dann geht es über zu „Im Schul-
chenen Wortes zu reüssieren. Es wird eine orale             dienst“, worauf der Abschnitt „Der Weg in die
Gemeinschaft adressiert. Oralität bezeichnet hier           Politik“ folgt, um daran anschließend „Partei und
den Status einer Kultur, in der die Kommunikation           Fraktion in Thüringen“ in den Blick zu nehmen.
und das sie tragende Medium des gesprochenen                Abschließend folgen zwei Kapitel, die nicht zwin-
Wortes Tradition speichert und weitergibt. Die              gend dem Lebensweg folgen, sondern mit den
Worte sind in einer oralen Kultur keine Zeichen,            Titeln „Volksopposition gegen das Establishment“
sondern, wie Walter J. Ong wusste, „Klänge, [...]           und „Krise und Renovation“ sich vom Lebensbe-
sie hinterlassen keine Spur, sie sind Erscheinun-           richt trennen.71 Der Hauptteil des Buches ist somit
gen, Ereignisse“.67 Die Wissensübermittlung ver-            als autobiografisch anzusehen, wobei die Erzäh-
läuft über das Gespräch oder die gehörte Rede,              lung vom eigenen Leben mit dem Eintritt in die
das oder die bestimmten mnemotechnischen                    Politik endet.
Mustern folgt, um die Weitergabe des Wissens                    Das Buch übernimmt hier teilweise den Aufbau
zu gewährleisten: Iteration, Alliteration und               von Hitlers Mein Kampf.72 Die eigentlichen auto-
Assonanz, Epitetha sind mithin die bevorzugten              biografischen Kapitel in Hitlers einzigem Buch sind
Mittel, um die Memorierbarkeit von gesprochener             die Kapitel „Im Elternhaus“ und „Wiener Lehr- und
Sprache zu gewährleisten. Wesentliche Merkmale              Leidensjahre“, ferner sind in „Allgemeine poli-
eines der Oralität verpflichteten Denkens sind, so          tische Betrachtungen aus meiner Wiener Zeit“,
Ong, ein eher auf konkrete Situationen sich kap-            „Sonstiges“ und in anderen Abschnitten autobio-
rizierendes als nach abstrakten Theoremen ver-              grafische Splitter zu erkennen, die aber dann mit
fahrendes Denken.68 Die AfD ist also eine Partei            der Geschichte der nationalsozialistischen Bewe-
der Oralität. Der emphatische Bezug auf das                 gung verwoben werden.73 Wichtig ist hier das
gesprochene Wort und die Macht der Rede, der                Schema des autobiografischen Umschlags, der in
in der AfD und speziell bei Höcke notorisch ist,            die Politik führt.
hat eine lange Tradition im rechten Denken, in die              Bei Höcke, ähnlich wie bei Hitler, handelt es
Höcke und die AfD sich einschreiben.                        sich, um hier Annie Ernaux’ Begriff zu verwenden,
    Aus diesem Grunde heißt es auch in Mein
Kampf, dass die „größten Umwälzungen auf die-               70 Ebd.
ser Welt [...] nie durch einen Gänsekiel geleitet           71 Höcke 2020. Hinfort wird Höckes Buch mit der Sigle
worden“69 seien. „Die Macht aber“, heißt es wei-            H+Seitenzahl zitiert.
                                                            72 In der bisherigen Rezeption des Höcke’schen Textes
                                                            sind die Parallelen zu Hitlers Mein Kampf bisher nur an-
66   Hitler 2016 [1924], S. 89.                             satzweise thematisiert worden. Vgl. Bittner 2017.
67   Ong 1987, S. 37.                                       73 Vgl. hierzu die Einleitung der Herausgeber von Hitlers
68   Ong 1987, S. 42–61.                                    Mein Kampf, Abschnitt „Entwurf einer Lebensgeschichte“,
69   Hitler 2016 [1924], S. 327.                            S. 30–34.
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um „Autosoziobiografien“74. Autosoziobiografien        1900 um 2018. Der „anti-städtische Affekt“77 die-
unterscheiden sich von Selbsterlebensbeschrei-         ser Literatur besteht gerade in ihrer Opposition
bungen durch eine Vermischung von Gesell-              zur Stadt. Die Stadt gilt als Ort, als Raum der
schaftsanalyse mit der Arbeit am Selbst. Sie las-      Vergesellschaftung, in dem es unmöglich ist, eine
sen sich als Narrativierung von sozialen Prozessen     Identität jenseits der gesellschaftlichen Rolle aus-
und ihrer Interpretation, wie etwa Bildungsauf-        zubilden. Wenn Julius Langbehn schreibt, dass
stieg oder -abstieg, Logik der sozialen Reproduk-      der „Gelehrte seinem Wesen nach internatio-
tion bzw. Widerstand gegen diese, beschreiben.         nal, der Künstler national“78 sei, dann wird auch
Autosoziobiografien sind also Selbst- und Zeitdia-     der Antiintellektualismus als politische Strategie
gnostik in einem. Insbesondere an der Inszenie-        deutlich. Der „Geist der Individualität“, heißt es
rung von Bildungserlebnissen bzw. vom Scheitern        bei Langbehn, ist der „Geist der Scholle“.79 Nur
in etablierten Bildungsinstitutionen lässt sich das    auf dieser kann der Deutsche sich verwirklichen
Funktionieren von Autosoziobiografien zeigen.          und eine Identität ausbilden. International sind
     Gleichzeitig offenbart sich in der Autosozio-     immer nur die anderen.
biografie auch eine Politik der Lebensgeschich-            Die verschütteten „kulturellen Quellen“
te.75 Eine Politik der Lebensgeschichte organisiert    (H, 30) der deutschen Identität, wie Dichtung,
Oppositionen und Schematismen, die das auto-           Preußen usw., sollen wieder sprudeln. Deutsch-
biografische Subjekt als Figur überhaupt erst im       land ist für Höcke vor allem Natur und ein Netz
Diskurs relevant werden lassen. Eine Opposition,       aus Autorennamen, die so etwas wie die Walhalla
die Adorno für die neurechte Politik der Lebens-       der Neurechten bilden. In der Mitte sitzen Nietz-
geschichte vorgeschlagen hat, ist die zwischen         sche (H, 57), Heidegger (H, 59 und passim), Kant
Provinz und Land. Adorno sagt in seinem jüngst         (H, 60), die „deutsche Mystik“ (H, 72), Adelbert
editierten Vortrag „Aspekte des neuen Rechtsra-        von Chamisso (H, 131) Martin Buber (H, 83f.)
dikalismus“, dass es in „diesen [den rechtsradi-       und einige andere Geistesgrößen wie Edmund
kalen Bewegungen, MST] insgesamt so etwas wie          Burke (H, 70), Macchiavelli (H, 153 und passim).
einen sich verschärfenden Gegensatz der Provinz        Im Verlauf des Buches entspinnt sich für den/die
gegen die Stadt“76 gebe. Höcke macht aus dieser        Leser*in ein Netzwerk von alt- und neurechten
Opposition ein Programm, das er auch noch päd-         Autoren: Wolfgang Caspart (H, 105), Joachim
agogisch verklärt: „Es gibt pädagogisch nichts         Fernau (H, 112), Arnold Gehlen (H, 128), Jordis
Wertvolleres, als das Aufwachsen auf dem freien        von Lohausen (H, 182), Manfred Kleine-Hartlage
Land, mit Tieren, mit Abenteuern und der Mög-          (H, 186) und, natürlich, Spengler (H, 263). Von
lichkeit, unter überschaubaren eigenen Grenzen         Sebastian Hennig kommt der unvermeidliche
zu lernen.“ (H, 33.) Das klingt nach pädagogi-         Verweis auf die konservative politische Roman-
scher Lust auf gesellschaftliche Einfachheit. Aber,    tik mit der Nennung von Achim von Armins Die
spricht Höcke zu Hennig, „[w]enn Sie sich die          Kronenwächter und Bettina von Arnims Dies Buch
Biographien der deutschen Dichter und Denker           gehört dem König (H, 157).
anschauen, werden Sie feststellen, daß nahezu              Übernimmt man hier Hugo von Hofmanns-
alle auf dem Land oder in den kleinen Ortschaften      thals Ausdruck, so entsteht das Deutschland
aufwuchsen, auch wenn später ihre Namen mit            der Neurechten aus Schriften, die den geistigen
großen Städten verbunden wurden.“ (H, 33.) Die         Raum dessen bilden, was die Neurechte in ihren
Provinz sorgt für die Herkunft, ja für Heimat und      Schriften als Nation erfindet. Das von Hofmanns-
ein Heimatgefühl, der gesellschaftliche Aufstieg       thal so genannte „geistig[e] Anhangen“80 bezieht
aber findet in den Städten oder in der Metropole       sich aber nicht auf die großen Werke, sondern,
statt. Aber eine Identität stiften die Städte nicht.   wie Hofmannsthal schreibt, auf
     Höckes Begeisterung für die heimatliche
Scholle ist die Wiederkehr der Heimatkunst von

                                                       77   Rossbacher 2000, S. 304.
74 Spoerhase 2017, S. 27–37.                           78   Langbehn 1890, S. 9.
75 Vgl. Schneider 1999.                                79   Langbehn 1890, S. 40.
76 Adorno 2019 [1968], S. 15.                          80   Hofmannsthal 1955 [1927], S. 390.
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      „Aufzeichnungen aller Art, wie sie zwischen den
     Menschen hin und her gehen, den nur für einen oder       ken ist ‚halbe Bildung‘, weil ihr die institutionelle
     wenige bestimmten Brief, die Denkschrift, desgleichen    Kontrolle oder die gesellschaftliche Resonanz
     auch die Anekdote, das Schlagwort, das politische oder   bzw. Anerkennung fehlt.
     geistige Glaubensbekenntnis, wie es das Zeitungsblatt        Adorno hat den Halbgebildeten „Drang nach
     bringt, lauter Formen, die ja zuzeiten sehr wirksam
                                                              Höherem“85 attestiert und „Verwirrung und Obs-
     werden können.“81
                                                              kurantismus“86 im Denken als Kennzeichen von
                                                              Halbbildung destilliert. Von Adornos Theorie der
Die oben genannten Autoren, die jeweils ganz
                                                              Halbbildung zur Bildungsfigur des Autodidakten
unterschiedliche Textsorten produziert haben,
                                                              ist es nicht weit. „Der Autodidakt“, heißt es bei
haben gemeinsam, dass sie in neurechten
                                                              Georg Stanitzek, „hat zwar an Studium und Pro-
Kreisen offenbar alleine durch die Tatsache, dass
                                                              duktion des Wissens teil, aber nicht, oder wenigs-
sie gelesen werden, eine Wirksamkeit entfalten.
                                                              tens nicht im Vollsinn, an dessen sozialer Orga-
Für den/die Leser*in entsteht so etwas wie ein
                                                              nisation.“87 Man muss sich den Autodidakten als
Kanon neurechten Denkens, der manche Über-
                                                              einsamen Leser vorstellen, der sich idiosynkra-
raschung aufweist und an dem in anderen Pub-
                                                              tisch eine Textwelt zusammenbastelt, die nicht
likationen weitergearbeitet wird. Es wird insze-
                                                              durch eine Organisation kontrolliert wird. Genau
niert, was Umberto Eco „Kult der Überlieferung“82
                                                              in diesem Jenseits der Institutionen scheint er
genannt und als Merkmal des Faschismus identi-
                                                              für die Neue Rechte interessant zu sein. „Heute“,
fiziert hat. Es geht also um den Kult, nicht um die
                                                              gesteht Höcke zunächst, komme ihm das zwar
Überlieferung an sich.
                                                              recht abenteuerlich vor, aber
     Der Kanon bekommt unter Rechten Funktion.
Das entstandene „Corpus von Texten, das eine                     „ich hatte mir in den Kopf gesetzt, Sein und Zeit zu lesen –
Gesellschaft oder eine Gruppe für wertvoll hält                  ohne jede Sekundärliteratur und jede Anleitung durch
und an dessen Überlieferung sie interessiert ist“,83             einen Lehrer. Ich glaube, das schwierige Unterfangen
wird enthistorisiert. Der Kanon stellt also immer                hat sich gelohnt, auch wenn es mir schwerfällt, kon-
                                                                 krete Früchte vorzuweisen. Schon der Mut Heideggers,
einen Selektionsprozess dar, dessen Ziel darin
                                                                 das Sein gegenüber dem Seienden ins Recht zu setzen,
besteht, einen alternativen oder anderen Über-                   ist ein Erlebnis.“ (H, 77, Kursivierung im Original)
lieferungsprozess zu initiieren. Genau um diesen
Überlieferungsprozess geht es hier. In diesem
                                                              Dieses Heidegger-Erlebnis, das ja kein Erlebnis
Prozess fungiert der Kanon als „Prägewerk der
                                                              einer Analyse ist, sondern ein 'Erleben der onto-
Identität“84, dessen Ergebnis unterschiedlich sein
                                                              logischen Differenz, verbindet ihn von der Struk-
muss. Ein Kanon ist weder zeit- noch geschichts-
                                                              tur her mit den zahlreichen Autodidakten der
los, er kann nicht, wie die neuen und alten Rech-
                                                              Bildungsgeschichte. Denn diese sind, so heißt es
ten es tun, in einer kultischen Verehrung über-
                                                              bereits 1835, „sich selbst Bildende“.88 Im weite-
liefert werden.
                                                              ren Verlauf der entwickelten Beschreibung des
     All diese Strategien sind also bekannt. Die
                                                              Autodidakten spricht Wolff davon, dass „[g]ute
neue Rechte liest gerne und viel, erfindet einen
                                                              Exempel und zufällige gute Bücher allerdings oft
Kanon zur kulturellen Selbstverständigung. Was
                                                              mehr, als Lehrer [bilden]“.89 Bereits Armin Mohler
aber bisher in der Rezeption untergegangen
                                                              attestiert sich „maßlos[e] Lesewut“90 jenseits der
ist, ist die Frage nach der Inszenierung von Bil-
                                                              etablierten disziplinären Wege. Die Dissidenz des
dungsfiguren in der Literatur der nationalsozia-
                                                              Bildungszugangs und die Ablehnung von wissen-
listischen und neuen Rechten. Mit dieser Frage
                                                              schaftlicher Kommunikation ist für das Verständ-
ist ein wesentlicher Punkt in der Selbstinszenie-
rung genannt: die Inszenierung von Bildung jen-
seits von Institutionen oder von institutioneller
                                                              85 Adorno 1998 [1962], S. 112.
Kommunikation. Bildung außerhalb der Kontrolle
                                                              86 ebd.
durch institutionelle Curricula und Wissenstechni-            87 Stanitzek 1999, S. 327.
                                                              88 Wolf 1835, S. 14.
81   Hofmannsthal 1955 [1927], S. 390f.                       89 Wolf 1835, S. 14.
82   Eco 2020, S. 11.                                         90 Mohler, Armin: Der Nasenring. Vergangenheitsbewälti-
83   Winko 1996, S. 585.                                      gung vor und nach dem Fall der Mauer. München 1991, S.
84   Assmann 1988, S. 59.                                     32ff. Zitiert nach: Maas 2013, S. 43.
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