Neue Diaspora? SVR-Policy Brief 2022-1 - Engagement und transnationale Netzwerke der afghanischen und syrischen Communities in Deutschland ...

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SVR-Policy Brief 2022-1

Neue Diaspora?
Engagement und transnationale Netzwerke der afghanischen
und syrischen Communities in Deutschland
Zitiervorschlag:
Popp, Karoline 2022: Neue Diaspora? Engagement und transnationale Netzwerke der afghanischen und ­syrischen
Communities in Deutschland. SVR-Policy Brief 2022-1, Berlin.
Inhaltsverzeichnis

Zusammenfassung .......................................................................................................................................                  5

1 Verbindungen durch Zeit und Raum: Transnationalismus und das Konzept
  der Diaspora ..............................................................................................................................................            6
    1.1 Begriffsdefinitionen: Transnationalismus und Diaspora . .................................................................                                        6
    1.2 Gesellschaftliche und politische Relevanz der transnationalen Perspektive .................................                                                      8

2 Migration aus Afghanistan und Syrien nach Deutschland: Historische Ursprünge
  und aktuelle Trends ................................................................................................................................                  10
    2.1 Zuwanderung aus Afghanistan ...........................................................................................................                         10
    2.2 Zuwanderung aus Syrien .....................................................................................................................                    11
    2.3 Vergleich der Zuwanderung aus Afghanistan und Syrien . ...............................................................                                          11

3 Transnationales Handeln auf individueller und kollektiver Ebene: Die afghanischen
  und die syrischen Communities in Deutschland ...........................................................................                                              16
    3.1 Finanzielle Rücküberweisungen ........................................................................................................                          17
    3.2 Zivilgesellschaftliches Engagement und Diaspora-Organisationen . ..............................................                                                 18

4 Fazit und Forschungsdesiderate .........................................................................................................                              22

Literatur ...........................................................................................................................................................   24

Anhang .............................................................................................................................................................    29

                                                                                                                                                                             3
         Zusammenfassung

             Das Wichtigste in Kürze
               Die Zahl der Menschen aus Afghanistan und          Beispiel humanitäre Hilfe leisten, zum anderen
               ­Syrien, die in Deutschland leben, hat in den      unterstützen sie ihre in Deutschland lebenden
                letzten zehn Jahren stark zugenommen.             Mitglieder.

               Wie andere Migrantengruppen auch, unterhal-        Die afghanischen und syrischen Communities
               ten afghanische und syrische Zuwanderinnen         in Deutschland sind jung und heterogen. Ihre
               und Zuwanderer individuelle Verbindungen in        Mitglieder werden größtenteils dauerhaft in
               ihre Herkunftsländer und organisieren sich teil-   Deutschland bleiben. Daraus ergibt sich ein ge-
               weise in herkunftsspezifischen Vereinen und        sellschaftliches und wissenschaftliches Interes-
               Selbsthilfegruppen.                                se, ihr zivilgesellschaftliches und transnationa-
                                                                  les Engagement und die daraus entstehenden
               Diese Organisationen setzen sich zum einen für     Chancen und Herausforderungen besser zu ver-
               ihre Herkunftsländer ein, indem sie dort zum       stehen.

     4
Zusammenfassung

Die Zahl der in Deutschland lebenden Menschen aus         schlecht, politischen, sozialen und anderen Zugehö-
Afghanistan und Syrien ist im vergangenen Jahrzehnt       rigkeiten oder in Bezug auf ihren Aufenthaltsstatus
infolge der Fluchtmigration stark gestiegen. Die-         in Deutschland. Zweitens ziehen sich Konfliktlinien
ser aktuellen Zuwanderungsepisode gingen ­frühere         durch die Communities, die diejenigen in ihren Her-
voraus, sodass kleinere afghanische und syrische          kunftsgesellschaften widerspiegeln. Drittens ent­
Communities bereits seit mehreren Jahrzehnten in          wickeln sich ihre Handlungsformen dynamisch: durch
Deutschland leben. Durch Familiennachzug und die          neue Organisationen, neue Handlungsfelder, die
hier geborene neue Generation wachsen die Commu-          Digitalisierung oder ein wachsendes politisches Be-
nities; ein Großteil dieser Menschen wird aufgrund        wusstsein über die Bedeutung der Diaspora. Viertens
der fortgesetzten Konflikt- und Bedrohungslage in         europäisiert sich die Diaspora zunehmend, indem
ihren Herkunftsländern dauerhaft in Deutschland           sich in Deutschland ansässige Gruppen mit Diaspora-
bleiben. Gleichzeitig bestehen weiterhin familiäre,       ­Initiativen in anderen europäischen Ländern ver­
soziale und wirtschaftliche Verbindungen in das Her-       netzen. Der Policy Brief skizziert abschließend wei-
kunftsland. Die persönlichen Beziehungen nehmen            terführende Forschungsfragen, die insbesondere die
teilweise kollektive Handlungsformen an: So sind in        Perspektiven der Mitglieder der beiden Communities
den letzten Jahren afghanische und syrische Diaspo-        und ihr Selbstverständnis berücksichtigen sollten.
ra-Organisationen entstanden, die sich humanitär
oder politisch für das jeweilige Herkunftsland enga-
gieren oder sich für die Belange ihrer Communities
in Deutschland einsetzen. Diese kollektiven, aber
auch die individuellen transnationalen Aktivitäten
der afghanistan- und syrienstämmigen Bevölkerung
in Deutschland sind bislang kaum erforscht. Sie sind
jedoch von erheblicher Bedeutung – für das Leben der
Beteiligten selbst und ihre gesellschaftliche Teilhabe
in Deutschland, aber auch für künftige entwicklungs-
politische und wirtschaftliche Beziehungen Deutsch-
lands zu Afghanistan bzw. Syrien.
    Nach einer konzeptionellen Einführung und einer
kurzen Beschreibung der historischen und aktuellen
Zuwanderungstrends betrachtet der Policy Brief ins-
besondere die kollektiven Handlungsformen der bei-
den Bevölkerungsgruppen. Im Rahmen einer ersten
Recherche wurden 128 afghanische und 84 syrische
Diaspora-Organisationen identifiziert und nach Hand-
lungsfeldern kategorisiert. Es zeigt sich, dass in bei-
den Fällen die Hilfestellung bei der Integration von
Neuzugewanderten sowie die humanitäre Unterstüt-
zung und Entwicklungshilfe für das jeweilige Her-
kunftsland prominente Tätigkeitsbereiche sind.
    Aus der Bestandsaufnahme lassen sich vier weite-
re Kernaussagen ableiten: Erstens sind beide Gruppen
in sich höchst heterogen. Die Lebenswirklichkeiten
ihrer Mitglieder unterscheiden sich je nach Alter, Ge-

                                                                                                                  5
         Verbindungen durch Zeit und Raum: Transnationalismus und das Konzept der Diaspora

              1 Verbindungen durch Zeit und                                       1.1 Begriffsdefinitionen: Transnationalismus
              Raum: Transnationalismus und das                                    und Diaspora

              Konzept der Diaspora1
                                                                                  Transnationalismus beschreibt die Vielzahl der grenz­
               Im Einwanderungsland Deutschland haben große                       überschreitenden Verbindungen, Aktivitäten und
               Teile der Bevölkerung aufgrund ihrer eigenen oder                  Identitäten, die u. a. durch Migration entstehen und
               familiären Migrationsgeschichte Verbindungen in ein                durch sie aufrechterhalten werden (vgl. Vertovec
               anderes Land. Dies gilt auch für Menschen aus Afgha-               1999; Nowicka 2019).3 Das Konzept beruht auf der Er-
               nistan und Syrien, die infolge der Fluchtmigration im              kenntnis, dass die Räume sozialen und politischen Le-
               letzten Jahrzehnt verstärkt nach Deutschland zuge-                 bens einerseits und nationalstaatliche Territorien an-
               wandert sind. Lebten im Jahr 2010 etwa 51.000 afgha-               dererseits nicht zwingend deckungsgleich sind (vgl.
               nische Staatsangehörige in Deutschland, waren es im                Faist 2012: 55). In einem transnationalen Kontext
               Jahr 2020 knapp 272.000. Die syrische Community                    fügen sich persönliche Identität, emotionale Zugehö-
               verzeichnet einen noch stärkeren Zuwachs von 30.000                rigkeit, der praktische Lebensmittelpunkt und die for-
               auf über 818.000 Personen (Statistisches Bundesamt                 male Staatsbürgerschaft (oder Staatsbürgerschaften)
               2018: 24, 26; Statistisches Bundesamt 2021a: 27, 31;               zu einem dynamischen und grenzüberschreitenden
              s. Kap. 2). Es hat sich inzwischen eine dynamische af-              Komplex zusammen. Aus transnationaler Perspekti-
              ghanische und syrische Zivilgesellschaft herausgebil-               ve ist Migration kein linearer und einmaliger Wan-
              det, deren Engagement sich sowohl auf das jeweilige                 derungsprozess ‚von A nach B‘ (vgl. SVR 2020: 180).
              Herkunftsland bezieht als auch auf die Lebenssitua­                 Vielmehr sind Migrantinnen und Migranten gleichzei-
              tion ihrer Mitglieder in Deutschland. Über den Um-                  tig in ihren Herkunfts- und Ankunftsgesellschaften
              fang und die Bedeutung dieser transnationalen Be-                   verortet. Sie tragen zu Verbindungen über Grenzen
              ziehungen ist bislang noch wenig bekannt.                           hinweg bei bzw. verstärken diese durch ihr Handeln.
                   Der vorliegende Policy Brief beschreibt als eine                   Transnationales Leben zeigt sich ganz unter­
              erste Bestandsaufnahme die syrischen und afgha-                     schiedlich: Personen handeln auf einer individuell-­
              nischen Communities in Deutschland, ihre Entste-                    familiären Ebene transnational, wenn enge Bezugs-
              hungsgeschichte und ihre Organisations- und Hand-                   personen oder Familienmitglieder über mehrere
              lungsweisen. Er beruht auf zwei Expertisen, die vom                 Länder verteilt leben, diese in engem Kontakt mit-
              wissenschaftlichen Stab des SVR in Auftrag gege-                    einander stehen und sich gegenseitig materiell
              ben wurden (s. Literaturverzeichnis), und bildet den                oder emotional unterstützen. In diesem Sinne ist
              ­Auftakt zu einem breit angelegten Forschungspro-                   davon auszugehen, dass nahezu alle internationa-
               jekt.2                                                             len Migrantinnen und Migranten zu einem gewis-

              1   Dieser Policy Brief wurde begleitet von Prof. Dr. Sieglinde Rosenberger, Mitglied des Sachverständigenrats für Integration und
                  Migration (SVR). Verantwortlich für diese Veröffentlichung ist der wissenschaftliche Stab der SVR-Geschäftsstelle. Die Argumente
                  und Schlussfolgerungen spiegeln nicht notwendigerweise die Meinung des SVR wider. Dank gilt Yvonne Mukashyaka für ihre
                  Unterstützung in der Datenrecherche.
              2   Der wissenschaftliche Stab des SVR untersucht in einem vergleichenden multimethodischen Forschungsprojekt, ob und inwieweit
                  sich in Deutschland eine afghanische bzw. eine syrische Diaspora herausbildet, wie sich diese organisiert und welche Rolle sie
                  in Bezug auf das Leben ihrer jeweiligen Mitglieder in Deutschland und auf das Herkunftsland spielt. Neben den transnationalen
                  Beziehungen und Aktivitäten soll daraus auch ein fundiertes und nuanciertes Bild der afghanistan- und syrienstämmigen Bevöl-
                  kerung hervorgehen, insbesondere mit Blick auf ihre Organisations- und kollektiven Handlungsformen. Der vorliegende Policy
                  Brief bietet eine Einführung in das Thema. Die zugrundeliegenden Expertisen wurden Ende 2021 von Dr. Hannah Pool (für die
                  afghanistanstämmige Bevölkerung) und Dr. Nora Jasmin Ragab (für die syrienstämmige Bevölkerung) verfasst. Die Autorin dankt
                  beiden Expertinnen für die ausgezeichnete Zusammenarbeit. Die Expertisen stehen auf der SVR-Website zum Download zur Ver-
                  fügung.
              3   Eine präzisere Unterscheidung erlauben die Begriffe „Transnationalismus“ als eine analytische Perspektive, „Transnationalisie-
                  rung“, um auf den Prozess der Entstehung transnationaler Phänomene zu verweisen, und „Transnationalität“ als Beschreibung
                  einer Lebensrealität, insbesondere der Aktivitäten und Beziehungen von internationalen Migrantinnen und Migranten (vgl.
                  ­Nowicka 2019: 11–12, 53).

       6
sen Grad transnational leben. Transnationale Bezie-               nen mit eigener Migrationserfahrung als auch sol-
hungen und Aktivitäten können aber auch auf einer                 che, die nie im Herkunftsland ihrer Vorfahren gelebt
kollektiv-organisierten Ebene stattfinden, etwa in                haben. Allerdings ist nicht allein von der Staatsan-
Form von Migranten(selbst-)organisationen, die sich               gehörigkeit, dem Herkunftsland oder dem Zuwan-
herkunftsspezifisch definieren und die Interessen                 dererstatus darauf zu schließen, dass eine Diaspora
ihrer Mitglieder im Zielland vertreten. Auf dieser                existiert oder dass sich bestimmte Personen einer Di-
Ebene stehen Zusammenschlüsse von Migrantinnen                    aspora zugehörig fühlen. Die Tendenz (insbesondere
und Migranten, die aus demselben Herkunftsland                    im entwicklungspolitischen Diskurs zu beobachten),
oder auch derselben Region oder Stadt in diesem                   alle Migrantinnen und Migranten einer bestimmten
Land stammen (sog. Home Town Associations, vgl.                   Nationalität oder Herkunft pauschal als Diaspora zu
Vertovec 2004: 987) und diese finanziell oder an-                 bezeichnen, führt zu konzeptioneller Unschärfe und
derweitig unterstützen. Manche setzen sich auch                   undifferenzierten praktischen Ansätzen (vgl. Bake-
als ‚Exilopposition‘ für einen politischen Wandel in              well 2009: 1; Faist 2012: 56; Mixed Migration Centre
ihrem Herkunftsland ein. Transnationalismus hat so-               2018: 5). Vielmehr sind nicht alle Migrantinnen und
mit emotionale und identitätsbezogene, soziale, kul-              Migranten Mitglieder einer Diaspora und nicht alle
turelle, wirtschaftliche und politische Dimensionen,              Mitglieder einer Diaspora sind selbst migriert (Verto-
er kann sowohl informell existieren als auch forma-               vec 2005: 2; Bakewell 2009: 2; Castles/De Haas/Mil-
lisierte Formen annehmen. Eine (regelmäßige) tat-                 ler 2014: 42; vgl. Ragab/Rahmeier/Siegel 2017: 7).
sächliche Rückkehr in das Herkunftsland kann (muss                So sind nicht alle afghanischen Staatsangehörigen,
aber nicht) Teil dieser transnationalen Verbindungen              die außerhalb Afghanistans leben, automatisch Teil
sein.                                                             einer ‚afghanischen Diaspora‘. Umgekehrt können
     Steht die Beziehung einer migrantischen Gruppe               Menschen ohne syrische Staatsbürgerschaft einer sy-
zu ihrem historischen Ursprungsland im Fokus, spricht             rischen Diaspora angehören, wenn sie sich mit Syrien
man oft von der Diaspora. Eine Diaspora geht auf frei-            als ihrem Geburtsland oder dem Herkunftsland ihrer
willige Auswanderung oder Vertreibung aus dem Her-                Eltern oder Großeltern verbunden fühlen.
kunftsland in meist mehrere Zielländer zurück, wobei                  Die afghanische bzw. syrische Diaspora umfasst
die Auswanderungsepisoden von der Vergangenheit                   somit grundsätzlich in Deutschland lebende Staats-
bis in die Gegenwart reichen können. Eine Diaspora                angehörige beider Länder sowie Personen mit fami-
hält eine gemeinsame, auf das Ursprungsland bezo-                 liärer Zuwanderungsgeschichte aus diesen Ländern,
gene Identität aufrecht, oft gestützt durch eine ge-              die aber selbst – ob durch Geburt oder Einbürgerung –
meinsame Geschichte, Kultur, Religion oder ethnische              deutsche Staatsbürger sind (vgl. Daxner/Nicola
Zugehörigkeit bis hin zu einem kollektiven Heimat-                2017: 10). Dabei beruht die Zugehörigkeit zu oder das
mythos. Sie stellt ein nachhaltiges Netzwerk sozia-               Bestehen einer Diaspora in erster Linie auf dem sub-
ler Beziehungen zwischen ihren Mitgliedern dar, die               jektiven Empfinden der Mitglieder und ist nur bedingt
über verschiedene Zielländer verteilt leben (Bakewell             objektiv messbar. Als selbstgewählte Bezeichnung
2009: 2, Übersetzung: SVR; vgl. Nieswand 2018; IOM                kann der Begriff ein kollektives Selbstverständnis
2019: 49; SVR 2020: 180).4                                        signalisieren. Beispielsweise haben in Deutschland
     Auf Grundlage dieser Definition umfasst eine Di­             lebende Menschen und Gruppierungen mit Bezügen
aspora meist mehrere Generationen: sowohl Perso-                  zu Afghanistan in den letzten Jahren zunehmend den

4   Der Begriff „Diaspora“ stammt aus dem Altgriechischen und bedeutet „Verstreutheit“. Er wurde traditionell mit historischen
    Fällen von Vertreibung in Verbindung gebracht: z. B. die jüdische Diaspora nach der Zerstörung des Tempels in Jerusalem im
    sechsten Jahrhundert v. Chr., die im 15. bis 19. Jahrhundert durch Verschleppung und Versklavung entstandene afrikanische Di-
    aspora sowie die armenische Diaspora infolge von Vertreibung im frühen 20. Jahrhundert (Vertovec 2005: 1–2; Nieswand 2018;
    SVR 2020: 181).

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         Verbindungen durch Zeit und Raum: Transnationalismus und das Konzept der Diaspora

              Begriff „afghanische Diaspora“ als Eigenbezeichnung                    Diese Analyse transnationaler und Eigengruppen-
              verwendet.5                                                       beziehungen soll keinesfalls den Eindruck erwecken,
                  Transnationale Verbindungen und Diaspora sind                 es finde ein ‚Rückzug in die eigenen Communities‘
              somit zwar verwandte Begriffe, aber keine Synony­                 statt. Die große Mehrheit der hier lebenden Menschen
              me. Beiden Phänomenen liegen zwar die Migra­                      afghanischer und syrischer Herkunft hat regelmäßig
              tionserfahrung und grenzüberschreitende Bezüge zu                 Kontakt zur deutschen Bevölkerung. Laut einer Erhe-
              einem Herkunftsland (oder zu Menschen gleicher                    bung stehen 36 Prozent der afghanischen Befragten,
              Herkunft, die in anderen Zielländern leben) zugrun-               die seit mindestens drei Jahren in Deutschland leben,
              de. Auch können beide in unterschiedliche Richtun-                täglich in Kontakt mit deutschen Mitbürgerinnen und
              gen wirken: Entweder in Richtung Herkunftsort (z. B.              Mitbürgern, 66 Prozent mindestens einmal pro Woche
              durch privaten Geldtransfer oder ideelle Einflüsse –              (Brücker et al. 2021: 47). In einer Befragung aus dem
              sog. finanzielle oder soziale remittances) oder in                Jahr 2017 gaben 50 Prozent der afghanischen und
              Richtung Ankunftsgesellschaft (z. B. durch die Grün-              knapp 45 Prozent der syrischen Schutzsuchenden an,
              dung von herkunftsspezifischen kulturellen Vereinen,              mehrmals pro Woche bis täglich Zeit mit Deutschen
              Selbsthilfeorganisationen oder Interessensvertretun-              zu verbringen (Siegert 2019: 3). Die Studie Forced
              gen). Während aber transnationale Beziehungen und                 Migration and Transnational Family Arrangements:
              Aktivitäten sowohl auf der individuellen als auch auf             Eritrean and Syrian Refugees in Germany (TransFAR)
              der kollektiven Ebene gelebt werden können, im-                   ergab, dass die engen Bezugspersonen der syrischen
              pliziert eine Diaspora stets nur den Bezug zu einer               Befragten überwiegend in Deutschland leben, und
              Gruppe (vgl. Bakewell 2009: 2). In einer Diaspora ma-             dass transnationale Familienkonstellationen in der
              nifestieren sich transnationale Verbindungen in Form              Kernfamilie selten, im erweiterten Familienkreis je-
              einer andauernden, verbindenden Identität sowie                   doch häufiger zu finden sind (Sauer et al. 2021: 23;
              kollektiver Handlungsformen.                                      vgl. Christ et al. 2021: 33, 35). In beiden Gruppen sind
                  Das vorliegende Papier wählt den Begriff „Com-                jedoch alters- und geschlechtsbedingte Unterschiede
              munities“, um die afghanistan- und syrienstämmige                 hinsichtlich des Kontaktradius zu beobachten.
              Bevölkerung6 in Deutschland zu bezeichnen. Dadurch
              wird den Gruppen nicht automatisch Homogenität,                   1.2 Gesellschaftliche und politische Relevanz
              kollektive Identität oder ein Zusammengehörigkeits-               der transnationalen Perspektive
              gefühl zugeschrieben. Die Bezeichnung „Diaspora-­
              Organisationen“ wird dagegen verwendet, wo sich                   Das transnationale Netz aus familiären, wirtschaftli-
              Mitglieder dieser Gruppen mit ausdrücklichem Bezug                chen und politischen Beziehungen, das migrantisch
              auf ihre gemeinsame Herkunft organisieren, insbe-                 geprägte Bevölkerungsgruppen mit ihren Ursprungs-
              sondere um sich gegenseitig zu unterstützen, um                   ländern verbindet, ist auch für die deutsche Politik
              ihre Interessen zu vertreten oder um sich für ihr Her-            und Gesellschaft von Bedeutung: Beispielsweise kann
              kunftsland zu engagieren.7                                        Zuwanderung wirtschaftliche Verbindungen zwischen

              5   Siehe z. B. „Wer ist eigentlich die afghanische Diaspora in Deutschland?“ auf der Homepage des Verbandes Afghanischer Organi-
                  sationen in Deutschland (http://www.vaoid.de/startseite/afghanische-diaspora/, 17.05.2022) oder die Initiative Afghanische
                  Diaspora in Europa (s. Info-Box 1).
              6   Diese umfasst in Deutschland lebende afghanische bzw. syrische Staatsangehörige und deutsche Staatsangehörige mit afghani-
                  schem oder syrischem Migrationshintergrund. Zu letzterer Gruppe zählen auch Menschen, die sowohl die deutsche als auch die
                  afghanische bzw. syrische Staatsangehörigkeit besitzen.
              7   Genauso wenig wie jede Migrantin oder jeder Migrant automatisch Mitglied einer Diaspora ist, ist jede Migrantenorganisation
                  notwendigerweise eine Diaspora-Organisation. Diaspora-Organisationen stellen eine Unterkategorie von Migrantenorganisati-
                  onen dar: Bei ihnen steht der Herkunftslandbezug ausdrücklich im Zentrum ihres Selbstverständnisses und ihrer Aktivitäten.
                  Migrantenorganisationen können sich dagegen auch ohne den Bezug auf ein bestimmtes Herkunftsland definieren – denkbare
                  Beispiele wären Organisationen, die sich an Menschen mit Zuwanderungsgeschichte allgemein richten, ein Verein migrantischer
                  Frauen oder eine Organisation für Gesundheitsfachkräfte mit Migrationserfahrung (vgl. SVR-Forschungsbereich 2020: 9, 24–25).

       8
Deutschland und dem jeweiligen Herkunftsland ver-                Hunger/Stiller/Kröger 2017: 7; SVR-Forschungsbe-
stärken oder verändern (z. B. durch remittances, Han-            reich 2020: 8, 25, 29–33; Mratschkowski/Dursun/
del oder Investitionen). Eine aktive Diaspora kann               Sauer 2021: 161). Zudem kann der Wille, sich politisch
Potenziale, aber auch Risiken für die außen- und ent-            und sozial für das Herkunftsland einzusetzen, sich
wicklungspolitischen Beziehungen Deutschlands zu                 auch auf die Aufnahmegesellschaft übertragen und
dem jeweiligen Ursprungsland bergen. Zudem kön-                  umgekehrt. Viele Diaspora-Organisationen der hier
nen transnationale Verbindungen andere Formen der                untersuchten afghanischen und syrischen Bevölke-
Mobilität nach sich ziehen (z. B. zirkuläre Mobilität,           rungsgruppen in Deutschland engagieren sich sowohl
Tourismus, Rückkehr oder Familiennachzug). Darüber               für ihr Herkunftsland als auch für die Integration und
hinaus stellt sich die Frage, was aktive transnationale          Belange ihrer Mitglieder in Deutschland (s. Kap. 3.2).
Verbindungen für Identitäten und Zugehörigkeitsge-               Eine Befragung unter afghanischen und syrischen
fühle bedeuten, welche Rolle Diaspora-Organisatio­               Flüchtlingen ergab, dass die meisten, die in ihrer
nen für das Leben ihrer Mitglieder in Deutschland                Heimat politisch aktiv waren, dieses Engagement in
spielen und wie sie sich auf Integration und Teilhabe            Deutschland fortsetzen. Gleichzeitig ist den Befragten
in Deutschland auswirken.                                        wichtig, sich am politischen Leben in Deutschland zu
    Die Migrationsforschung betrachtet (Migranten-)              beteiligen. Dadurch wollen sie negativen stereoty-
Netzwerke als einen Faktor, der Art, Richtung und                pen Wahrnehmungen von Flüchtlingen in der deut-
Größe von Migrationsbewegungen beeinflussen                      schen Gesellschaft entgegensteuern (Ragab/Antara
kann: Sie stellen für potenzielle Migrantinnen und               2018: 18–19; vgl. auch Christ et al. 2021: 41).
Migranten eine Ressource- und Informationsquelle                     Außenpolitisch betrachtet stellt sich die Frage
dar, durch die sich die Kosten und Risiken einer Migra-          nach Wechselwirkungen zwischen Deutschlands in-
tion senken lassen (vgl. Crisp 1999: 5–7; Mixed Migra-           ternationalen Beziehungen und der Präsenz und den
tion Centre 2018: 8; SVR 2020: 63). Eine auf ­Europa             Aktivitäten migrantischer Gruppen aus dem jewei-
bezogene Studie ergab, dass sich Diaspora- und an-               ligen Land. Für die afghanischen und syrischen Be-
dere transnationale Netzwerke auf die Migrationsbe-              völkerungsgruppen kommen besondere Herausfor-
wegungen von syrischen Flüchtlingen nach Europa                  derungen hinzu: Zum einen ist für die allermeisten
ausgewirkt haben. Die Tatsache, dass Familienange-               Personen eine Rückkehr aufgrund der anhaltenden
hörige und Freunde bereits in Europa lebten, hat bei             Bedrohungslage zumindest mittelfristig ausgeschlos-
manchen die Entscheidung befördert, ebenfalls aus-               sen.8 Zum anderen unterhält Deutschland aufgrund
zuwandern (Mixed Migration Centre 2018: 9).                      des Konflikts in Syrien und seit der Machtergreifung
    Gerade mit Blick auf neu zugewanderte Gruppen                der Taliban in Afghanistan keine diplomatischen und
steht die Förderung ihrer Teilhabe und Integration               wirtschaftlichen Beziehungen in diese Länder. Die
im Mittelpunkt. Dabei können auch sog. eigenethni-               traditionell auf Entwicklungszusammenarbeit und auf
sche Communities und Organisationen eine wichtige                temporäre oder langfristige Rückkehr ausgerichtete
Vermittlerfunktion spielen, indem sie Brücken in die             deutsche Diaspora-Politik, die eine enge Koopera-
Ankunftsgesellschaft bauen und Informationen und                 tion mit staatlichen Partnern in den Herkunftslän-
Unterstützung bereitstellen (vgl. Halm 2015: 51–52;              dern voraussetzt, ist daher im Falle dieser beiden

8   Auch die Politik des Herkunftslandes gegenüber seinen im Ausland lebenden Bürgerinnen und Bürgern ist von Bedeutung; diese
    ist aber nicht Gegenstand des vorliegenden Papiers. Besonders problematisch ist die Beziehung zum Herkunftsland, wenn die
    Auswanderung durch Bürgerkrieg und Verfolgung erzwungen war. Sowohl rhetorisch als auch praktisch (z. B. durch Enteignun-
    gen) hat die syrische Regierung in der Vergangenheit deutlich gemacht, dass eine Rückkehr der Flüchtlinge unerwünscht ist
    ­(Buchen/Tadmory 2021). In Afghanistan hatte bis 2021 das Ministry of Refugees and Repatriation ein Mandat für Afghaninnen
     und Afghanen im Ausland. Außerdem bestand ein Auslandswahlrecht, dessen Umsetzung in der Vergangenheit jedoch an prak-
     tischen und politischen Hürden scheiterte (Ragab/Antara 2018: 23–24).

                                                                                                                                 9
         Verbindungen durch Zeit und Raum: Transnationalismus und das Konzept der Diaspora

              ­ ruppen kaum anwendbar (vgl. BMZ 2021: 17–18; GIZ
              G                                                                     anderen Gütern widmeten, bildete sich eine afgha-
              2021: 1).9 Andererseits ist ein ‚politischerer‘ Ansatz,               nische Gemeinde. Heute leben über 15 Prozent aller
              der Diaspora-Gruppen in Demokratisierungsbemü-                        Menschen mit afghanischem Migrationshintergrund
              hungen, Friedensverhandlungen und Wiederaufbau-                       in Deutschland in Hamburg (Stichtag 31.12.2020,
              pläne einbezieht, in der deutschen Diaspora-Politik                   Müller i. E.). Die erste große Fluchtmigration aus Af-
              bislang nicht erkennbar (vgl. Helberg 2021: 119).                     ghanistan im 20. Jahrhundert setzte 1979 mit dem
                                                                                    Einmarsch der sowjetischen Truppen in Afghanistan
                                                                                    ein. Insbesondere die politische und gesellschaftliche
              2 Migration aus Afghanistan und                                       Elite sah sich gezwungen, das Land zu verlassen. Sie
              Syrien nach Deutschland: Historische                                  fand auch in (West-)Deutschland Zuflucht, allerdings
                                                                                    blieb ihre Zahl über Jahrzehnte auf einem niedrigen
              Ursprünge und aktuelle Trends
                                                                                    Niveau.
              Ende 2020 waren syrische Staatsangehörige die dritt-                       2001 lag die Zahl der Personen mit afghanischer
              größte Gruppe der in Deutschland lebenden auslän-                     Staatsangehörigkeit in Deutschland bei 72.000 (Sta-
              dischen Bevölkerung, nach Menschen aus der Türkei                     tistisches Bundesamt 2022b). Nach dem Sturz der
              und Polen. Afghanistan stand auf Platz 9 der häufigs-                 Taliban im selben Jahr kehrten viele im Ausland le-
              ten Herkunftsländer (Stichtag 31.12.2020, BMI/BAMF                    bende Afghaninnen und Afghanen zunächst in ihr
              2021: 207). Werden auch deutsche Staatsangehörige                     Herkunftsland zurück. Dieser Trend änderte sich ab
              berücksichtigt, leben heute 337.000 Menschen mit                      2010: Seitdem steigt die Zahl der Menschen aus Af-
              afghanischem und 1.052.000 Menschen mit syri-                         ghanistan, die in anderen Ländern Zuflucht suchen. Die
              schem Migrationshintergrund in Deutschland (Stich-                    große Mehrheit der insgesamt 2,6 Millionen Afgha­
              tag 31.12.2021, Statistisches Bundesamt 2022d: 69;                    ninnen und Afghanen, die aus ihrem Land geflohen
              Abb. 3; Tab. 1 im Anhang). In beiden Herkunftsgrup-                   sind, befindet sich in Pakistan und im Iran (UNHCR
              pen ist die Mehrzahl selbst zugewandert und hat in                    2021: 3, 18). In Deutschland kamen insbesondere
              Deutschland Schutz gesucht bzw. erhalten (vgl. Brü-                   seit 2014 verstärkt afghanische Schutzsuchende an
              cker et al. 2021: 29). Innerhalb der Europäischen Uni-                (Abb. 1).
              on ist Deutschland das größte Aufnahmeland sowohl                          Der Abzug der internationalen Truppen aus Af-
              für afghanische als auch für syrische Schutzsuchen-                   ghanistan im Sommer 2021 und die anschließende
              de. Im Folgenden werden die historischen Ursprünge                    Machtübernahme durch die Taliban verschärfte die
              der afghanischen und syrischen Zuwanderung nach                       humanitäre, menschenrechtliche und wirtschaftliche
              Deutschland, die wichtigsten Trends der letzten Jahre                 Lage in Afghanistan. Verschiedene westliche Staaten
              sowie Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen                       evakuierten besonders gefährdete Afghaninnen und
              den beiden Bevölkerungsgruppen beschrieben.                           Afghanen, vor allem solche, die als Ortskräfte für das
                                                                                    Militär oder westliche Hilfsorganisationen gearbeitet
              2.1 Zuwanderung aus Afghanistan                                       hatten und nun Bedrohungen und Repressalien durch
                                                                                    die Taliban ausgesetzt waren. Im Rahmen eines be-
              Bereits vor 1979 hielten sich afghanische Zuwande-                    stehenden Programms zur Evakuierung afghanischer
              rinnen und Zuwanderer zu Studien- oder Erwerbs-                       Ortskräfte (nach § 22 Abs. 2 AufenthG) nimmt auch
              zwecken in Deutschland auf. Besonders in Hamburg,                     Deutschland afghanische Ortskräfte und weitere be-
              wo afghanische Geschäftsleute sich seit den 1960er                    sonders gefährdete Afghaninnen und Afghanen zu-
              Jahren insbesondere dem Import von Teppichen und                      sammen mit ihren Familienmitgliedern auf, zwischen

              9   Weder Afghanistan noch Syrien sind gegenwärtig Teil des Programms „Migration und Diaspora“, das von der Deutschen Gesell-
                  schaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) durchgeführt und vom Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit
                  und Entwicklung (BMZ) gefördert wird. Die Dachverbände afghanischer bzw. syrischer Vereine in Deutschland werden hingegen
                  u. a. durch die GIZ gefördert (s. Kap. 3). Ebenso hat die GIZ bereits Studien zur afghanischen und syrischen Diaspora in Deutschland
                  in Auftrag gegeben (s. Daxner/Nicola 2017; Ragab/Rahmeier/Siegel 2017).

      10
Abb. 1 Zuzüge, Fortzüge und Wanderungssaldo afghanischer Staatsangehöriger 2010–2020
                                                                                                                              M
 100.000
                                                                                                                              Sc
                                                                                                                              H
                                                                    79.572
  80.000                                                                                                                      A
                                                                                                                              W
                                                                                                                              (d
  60.000                                                                       56.062                                         B
                                                                                                                              d
                                                                                                                              D
  40.000

  20.000                                             10.865                                                                   H
                                                                                        3.640   4.950   5.924   8.357
              5.928     7.868       6.649    7.228
                                                                                                                              H
       0                                                                                                                      A

 –20.000

 –40.000
             2010       2011       2012      2013        2014    2015        2016       2017    2018    2019    2020

              Zuzüge            Fortzüge         Saldo
           Quelle: BMI/BAMF 2021: 236, 237; Darstellung: Wissenschaftlicher Stab des SVR.

 Mitte Mai 2021 und Mitte April 2022 insgesamt knapp             rem Land geflohen, insbesondere in die Türkei, nach
 19.800 Personen (BT-Drs. 20/1786: 12).                          Jordanien und in den Libanon (UNHCR 2021: 3, 17).
                                                                 Außerhalb dieser Region wurde Deutschland ab ca.
 2.2 Zuwanderung aus Syrien                                      2014 zu einem der wichtigsten Zielländer für syrische
                                                                 Schutzsuchende (Abb. 2). Während vor Ausbruch des
 Auch die Zuwanderung aus Syrien geschah aus unter-              Bürgerkriegs vor allem Angehörige der kurdischen
 schiedlichen Motiven. In den 1970er Jahren förderten            Minderheit aus Syrien Asylanträge stellten, machten
 sowohl die Bundesrepublik Deutschland als auch die              im Jahr 2020 Personen mit arabischer Volkszugehö-
 Deutsche Demokratische Republik (DDR) u. a. durch               rigkeit die größte Gruppe aus (vgl. Hunger/Stiller/
 Sprachkurse und Stipendien die Zuwanderung aus Sy-              Kröger 2017: 2).
 rien zu Studienzwecken, insbesondere in den Berei-
 chen Medizin und Ingenieurswissenschaften. Die DDR              2.3 Vergleich der Zuwanderung aus Afghanistan
 schloss zu diesem Zweck ein bilaterales Abkommen                und Syrien
 mit Syrien (vgl. Helberg 2009; Worbs/Rother/Kreien-
 brink 2019: 2). Aber auch schon in den 1980er Jahren            Sowohl die afghanische als auch die syrische Bevöl-
 kamen syrische Schutzsuchende nach Deutschland,                 kerung in Deutschland kann also auf eine Zuwande-
 insbesondere nach der gewaltsamen Niederschla-                  rungsgeschichte zurückblicken, die etliche Jahrzehn-
 gung der Aufstände in der syrischen Stadt Hama durch            te zurückreicht. Die Zahlen bewegten sich für beide
 das syrische Regime unter Präsident H­ afez al-Assad.           Gruppen allerdings lange auf einem niedrigen Ni-
     Seit Ausbruch des Bürgerkriegs im Jahr 2011                 veau, bis diese sich ab etwa 2012 binnen weniger
 sind rund 6,7 Millionen Syrerinnen und Syrer aus ih-            Jahre zu wichtigen Zuwanderergruppen entwickelten.
100000
80000
60000                                                                                                                    11

40000
         Migration aus Afghanistan und Syrien nach Deutschland: Historische Ursprünge und aktuelle Trends

               Abb. 2 Zuzüge, Fortzüge und Wanderungssaldo syrischer Staatsangehöriger 2010–2020

                350.000

                                                                                     298.483
                300.000

                                                                                                                                                Mustergrafi
                250.000
                                                                                                                                                Schmale, ve
                                                                                                                                                Höhe: 3 mm
                200.000                                                                                                                         Abstand: 15
                                                                                                                                                Wenn die Z
                                                                                                145.823
                                                                                                                                                (die Origina
                150.000                                                                                                                         Balken auf
                                                                                                                                                die Grafikbe
                                                                                                                                                Die zusätzli
                100.000
                                                                     65.921
                                                                                                            59.935
                                                                                                                     34.350   31.290   21.094
                 50.000                                                                                                                         Höhere, ver
                                                            17.057                                                                              Höhe: 5 mm
                            1.769      3.500      7.286
                      0                                                                                                                         Abstand: 8

                –50.000

               –100.000
                            2010      2011        2012       2013          2014   2015         2016       2017       2018     2019     2020

                             Zuzüge            Fortzüge            Saldo
                          Quelle: BMI/BAMF 2021: 236, 237; Darstellung: Wissenschaftlicher Stab des SVR.

               Rein quantitativ betrachtet ist die aus Syrien stam-               Schutzquote (der Anteil der positiven Asylentschei-
               mende Bevölkerung weitaus bedeutender als die af-                  dungen) seit 2010 (mit Ausnahme von 2016) bei un-
               ghanistanstämmige (Abb. 3; Tab. 1 im Anhang).                      ter 50 Prozent lag (Abb. 5). Zudem forcierte die Bun-
                   Insgesamt stellten zwischen 2010 und 2021                      desregierung Rückführungen nach Afghanistan und
               mehr als 265.000 afghanische und 710.000 syrische                  versuchte, die Zahl der freiwilligen Ausreisen zu er-
               Staatsangehörige einen Asylerstantrag (eigene Be-                  höhen. Zwischen 2014 und 2021 wurden rund 1.200
               rechnung; Abb. 4). Zusammengenommen ist das ein                    Menschen direkt nach Afghanistan abgeschoben;10
               Großteil aller Asylanträge in Deutschland. Allerdings              hinzu kamen freiwillige Ausreisen, beispielsweise im
               unterscheiden sich die beiden Gruppen hinsichtlich                 Rahmen des REAG/GARP Programms, sowie Rückfüh-
               der Erfolgschancen ihrer Anträge sowie der Integra-                rungen in andere Länder. Aufgrund dieser geringeren
               tionsmaßnahmen, die ihnen offenstehen. Bis Ende                    Bleibechancen waren Afghaninnen und Afghanen im
               2021 hatten afghanische Asylantragstellende nur ei-                laufenden Verfahren – anders als syrische Asylsu-
               ne sog. geringe Bleibeperspektive, da die jährliche                chende – von Integrationsleistungen wie Sprachkur-

               10 Eigene Berechnung (BT-Drs. 18/4025: 4; 18/7588: 3; 18/11112: 3; 19/800: 3; 19/8021: 3; 19/18201: 3; 19/27007: 3;
                  20/890: 3).

      12
             350000
             300000
Abb. 3 Bevölkerung mit afghanischem und syrischem Migrationshintergrund, 2010–202111
 1.200.000

 1.000.000

   800.000

   600.000

   400.000

   200.000

           0
                 2010      2011      2012      2013      2014       2015      2016      2017      2018      2019      2020      2021

                  Afghanischer Migrationshintergrund                Syrischer Migrationshintergrund
               Quelle: Statistisches Bundesamt 2017a: 128, 131; 2017b: 117, 120; 2017c: 128, 131; 2017d: 128, 131; 2017e: 128, 131;
               2017f: 128, 131; 2017g: 129, 132; 2019a: 131, 134; 2019b: 132, 135; 2020: 137, 140; 2022a: 127, 130; 2022d: 69;
               Darstellung: Wissenschaftlicher Stab des SVR.

  sen ausgeschlossen (vgl. Brücker et al. 2021: 33).11                 Abschiebeverbot für Syrien in Kraft und die jährlichen
  Dies änderte sich erst im Januar 2022, als die Bedro­                Schutzquoten lagen in den Jahren 2014 bis 2021 bei
  hung der Menschen in Afghanistan nach der Macht­                     durchschnittlich 86,5 Prozent (eigene Berechnung,
  übernahme durch die Taliban zunahm. Nun wurde                        Abb. 5).12
  auch afghanischen Schutzsuchenden ein schnellerer                        Für syrische Schutzsuchende gab es in den letzten
  Zugang zu Integrationskursen gewährt (BMI 2022).                     Jahren verschiedene staatlich organisierte Aufnahme­
  Im Gegensatz zu Afghanistan galt Syrien in den letz­                 programme: Im Rahmen von Resettlement-Program­
  ten Jahren durchgängig als Herkunftsland mit „guter                  men (nach § 23 Abs. 4 AufenthG) reisten z. B. zwi­
  Bleibeperspektive“, mit entsprechend großzügigen                     schen 2012 und 2020 3.212 syrische Staatsangehörige
  Regularien für den Zugang zu Arbeitsmarkt und Inte­                  aus Drittstaaten wie dem Libanon, Jordanien und der
  grationsangeboten. Bis Ende 2020 war ein generelles                  Türkei nach Deutschland ein (BMI/BAMF 2021: 132).

  11 Eine Person hat einen Migrationshintergrund, wenn sie selbst oder mindestens ein Elternteil nicht mit deutscher Staatsange­
     hörigkeit geboren wurde. Zahlen zur Bevölkerung mit Migrationshintergrund basieren auf dem Mikrozensus. Dieser neigt dazu,
     Flüchtlinge weniger gut zu erfassen, da nur Personen befragt werden, die in Privathaushalten leben. Da in den Jahren 2014 bis
     2017 viele Flüchtlinge noch in staatlichen Aufnahmeeinrichtungen o. Ä. untergebracht waren, gingen sie nicht in die Erhebung
     ein (Statistisches Bundesamt 2017g: 7; vgl. BMI/BAMF 2021: 205). Offensichtlich wird diese Untererfassung beim Vergleich mit
     den Zahlen des Ausländerzentralregisters für ausländische Staatsangehörige. In den betreffenden Jahren ist die Zahl der afghani­
     schen und syrischen ausländischen Staatsangehörigen höher als die der Menschen mit entsprechendem Migrationshintergrund.
     Da letztere nicht nur die ausländischen Staatsangehörigen, sondern auch Deutsche erfasst, müsste dies eigentlich die höhere
     Zahl sein (vgl. Statistisches Bundesamt 2018; 2021a). Es ist daher anzunehmen, dass die tatsächliche Zahl der Menschen mit
     afghanischem bzw. syrischem Migrationshintergrund in den Jahren 2014–17 deutlich höher war als hier dargestellt.
  12 Mit 62,6 Prozent im Jahr 2021 ist die Schutzquote für syrische Asylanträge deutlich niedriger als in den Vorjahren. Dies ist auf die
     außergewöhnlich hohe Zahl formeller Entscheidungen zurückzuführen, die 2021 37,2 Prozent aller Entscheidungen darstellten.
     Der Anteil der abgelehnten Anträge betrug (wie auch schon in den Vorjahren) 0,1 Prozent (BAMF 2022: 41; Tab. 1 im Anhang).

1200000
1000000                                                                                                                                     13

800000
         Migration aus Afghanistan und Syrien nach Deutschland: Historische Ursprünge und aktuelle Trends

               Abb. 4 Asylerstanträge afghanischer (AFG) und syrischer (SYR) Schutzsuchender, 2010–2020
               300.000

                                                                                                                                            Mustergrafi
               250.000
                                                                                                                                            Schmale, ve
                                                                                                                                            Höhe: 3 mm
               200.000                                                                                                                      Abstand: 15
                                                                                                                                            Wenn die Z
                                                                                                                                            (die Origina
               150.000                                                                                                                      Balken auf
                                                                                                                                            die Grafikbe
                                                                                                                                            Die zusätzli
               100.000

                50.000                                                                                                                      Höhere, ver
                                                                                                                                            Höhe: 5 mm
                     0                                                                                                                      Abstand: 8
                           2010     2011     2012      2013     2014     2015     2016      2017     2018     2019     2020      2021

                            Asylerstanträge AFG          Asylerstanträge SYR
                         Quelle: BAMF 2011: 26; 2012: 23; 2013: 22; 2014: 22; 2015: 22; 2016: 19; 2017: 22; 2018: 20; 2019: 25; 2020: 21;
                         2021: 21; 2022: 21; Darstellung: Wissenschaftlicher Stab des SVR.

               Hinzu kamen ca. 20.000 Syrerinnen und Syrer, die im           Schleswig-Holstein und Thüringen (Deutscher Caritas-
               Zuge von drei humanitären Aufnahmeprogrammen                  verband 2022). Aus transnationaler Perspektive sind
               zwischen 2013 und 2014 nach Deutschland kamen                 diese Programme besonders interessant, da hier be-
               (nach § 23 Abs. 2 AufenthG) (BT-Drs. 19/20694: 3),            stehende (familiäre) Netzwerke zum Migrationsge-
               sowie ca. 10.000 syrische Flüchtlinge aus der Türkei in       schehen beigetragen haben bzw. aktiv dafür genutzt
               den Jahren 2016 bis 2020 (BT-Drs. 19/20694: 3, 17–            wurden.
               19). Zusätzlich ermöglichten Landesaufnahmepro-                   Im Zusammenhang mit der Fluchtzuwanderung
               gramme (nach § 23 Abs. 1 AufenthG) syrischen                  nahm auch der Familiennachzug zu, für die syrische
               Flüchtlingen, zu bereits in Deutschland lebenden Ver-         Bevölkerung allerdings sehr viel deutlicher als für
               wandten einzureisen: Seit 2013 wurden über 25.000             die afghanische: Während im Jahr 2010 493 syrische
               Visa zu diesem Zweck vergeben (Welfens/Lehmann/               Staatsangehörige eine Aufenthaltserlaubnis aus fami-
               Wagner 2021: 28). Bedingung für diesen ‚erweiterten           liären Gründen erhielten, waren es zum Höchststand
               Familiennachzug‘ war, dass die bereits in Deutschland         im Jahr 2017 über 33.000. Insgesamt zogen von 2014
               ansässigen Personen für einen gewissen Zeitraum               bis 2020 über 115.000 syrische Familienangehörige
               für den Lebensunterhalt der einreisenden Angehö-              zu; seit 2018 nimmt ihre Zahl allerdings deutlich ab.
               rigen aufkommen (SVR-Forschungsbereich 2015: 17;              Im Vergleich dazu kamen im selben Zeitraum ledig-
               SVR-Forschungsbereich 2018: 17). In den Jahren 2013           lich gut 7.000 Afghaninnen und Afghanen über den
               bis 2015 legten alle Bundesländer mit Ausnahme                Familiennachzug nach Deutschland (Worbs/Rother/
               Bayerns derartige Programme auf. Die meisten wur-             Kreienbrink 2019: 3; BMI/BAMF 2021: 139, 271; ei-
               den sukzessive wieder eingestellt; derzeit bestehen           gene Berechnung).
               solche Aufnahmeprogramme für Syrerinnen und Sy-                   Aus dem Verlauf der afghanischen und syrischen
               rer noch in Berlin, Brandenburg, Bremen, Hamburg,             Zuwanderung nach Deutschland folgt, dass die gro-

      14        300000
                250000
Abb. 5 Schutzquoten afghanischer (AFG) und syrischer (SYR) Schutzsuchender, 2010–2021, in Prozent
100                                                         96,0      98,0
                            95,7       94,3
                                                 89,3                            91,5                          89,1
                                                                                           81,9      83,7

 80

 60                                                                   55,8                                               62,6
                                       47,9      46,7       47,6
         43,9                                                                    44,3
                                                                                                               42,5      42,9
                 41,1
                                                                                           37,5      38,0
 40
                             39,0
                   34,3

 20
         17,9

  0
        2010      2011      2012      2013       2014      2015      2016      2017       2018      2019      2020      2021

             Schutzquote AFG            Schutzquote SYR

      Quelle: BAMF 2011: 52, 53; 2012: 49, 50; 2013: 48, 49; 2014: 48; 2015: 50; 2016: 37, 38; 2017: 51; 2018: 39; 2019:
      55, 56; 2020: 40, 41; 2021: 41; 2022: 41; Darstellung: Wissenschaftlicher Stab des SVR.

ße Mehrheit erst seit wenigen Jahren in Deutschland                ausländischen Personen die Staatsbürgerschaft (Sta-
lebt. Aktuell sind afghanische Staatsangehörige im                 tistisches Bundesamt 2021c: 14),13 der Wert für Af­
Durchschnitt seit 6,3 Jahren in Deutschland; syri-                 ghaninnen und Afghanen lag dagegen bei 13,2 Pro-
sche Staatsangehörige seit 4,8 Jahren (BMI/BAMF                    zent, für Syrerinnen und Syrer sogar bei 38,4 Prozent
2021: 298). Zum Stichtag 31. Dezember 2020 lebten                  (Courtman/Schneider 2021: 15; Gülzau/Schneider/
67,4 Prozent der afghanischen und 68,5 Prozent der                 Courtman 2022).14 Von 2010 bis 2020 wurden knapp
syrischen Staatsangehörigen zwischen vier und acht                 31.000 Menschen afghanischer Herkunft und fast
Jahren in Deutschland (BMI/BAMF 2021: 298, eigene                  28.000 Menschen syrischer Herkunft eingebürgert,
Berechnung). Sie können eine Niederlassungserlaub-                 insbesondere bei letzteren steigt die Zahl der Einbür-
nis oder ihre Einbürgerung beantragen, sofern sie die              gerungen seit 2019 stark an (BMI/BAMF 2021: 301).
Voraussetzungen erfüllen (vgl. Fußnote 13). Men-                   Die hohe Einbürgerungsbereitschaft erklärt sich ver-
schen afghanischer und syrischer Herkunft zeigen da-               mutlich durch die Tatsache, dass die meisten Betrof-
bei eine deutlich höhere Bereitschaft, sich in Deutsch-            fenen ihr Land unter Zwang verlassen haben und kei-
land einbürgern zu lassen, als der Durchschnitt der                ne Perspektive für eine Rückkehr sehen. Erleichternd
ausländischen Bevölkerung. So beantragten im Jahr                  dürfte zudem wirken, dass afghanische und syrische
2020 nur 2,15 Prozent der in Frage kommenden                       Staatsangehörige aufgrund einer Ausnahmeregelung

13 Hierbei wird das sog. ausgeschöpfte Einbürgerungspotenzial herangezogen. Es setzt die Zahl der Einbürgerungen eines Jahres
   ins Verhältnis zu der Zahl der ausländischen Staatsangehörigen, die seit mindestens zehn Jahren in Deutschland leben. Dabei
   wird ausgehend von der Aufenthaltsdauer angenommen, dass die meisten dieser Personen die gesetzlichen Voraussetzungen
   für eine Einbürgerung nach § 10 StAG erfüllen. Bei der Abschätzung des Einbürgerungspotenzials ist die Aufenthaltsdauer aber
   nur eines von zahlreichen weiteren Kriterien, darunter ein gesicherter Lebensunterhalt, ausreichende Deutschkenntnisse und ein
   bestandener Einbürgerungstest (vgl. Courtman/Schneider 2021; Gülzau/Schneider/Courtman 2022).
14 Im Falle der Syrerinnen und Syrer ist das sehr hohe ausgeschöpfte Einbürgerungspotenzial vermutlich einer statistischen Ver-
   zerrung geschuldet: Zu Jahresbeginn 2020 erreichte eine erhebliche Zahl der syrischen Kriegsflüchtlinge die zur Einbürgerung
   benötigte Mindestaufenthaltsdauer von sechs Jahren. Die tatsächlich vollzogenen Einbürgerungen im Jahr 2020 werden jedoch
   mit der relativ kleinen Zahl der Syrerinnen und Syrer ins Verhältnis gesetzt, die bereits mindestens zehn Jahre in Deutschland
   leben (vgl. Gülzau/Schneider/Courtman 2022).

                                                                                                                                    15
         Migration aus Afghanistan und Syrien nach Deutschland: Historische Ursprünge und aktuelle Trends

               ihre ursprüngliche Staatsbürgerschaft behalten kön-             noch in den Anfängen (vgl. Ragab/Rahmeier/Siegel
               nen, wenn sie sich in Deutschland einbürgern lassen             2017: 5, 25; Hunger/Stiller/Kröger 2017: 2; vgl. bezo-
               (Bundesregierung 2022).15                                       gen auf Flüchtlinge allgemein SVR-Forschungsbereich
                   Zu demografischen und sozioökonomischen In-                 2020: 29). Erste europäische Initiativen bemühen
               dikatoren sowie dem Integrationsverlauf beider Be-              sich, afghanische und syrische Diaspora-Organisatio­
               völkerungsgruppen liegen verschiedene Erhebungen                nen aus verschiedenen Ländern zu kartieren, mit­
               und Analysen vor. Diese nehmen vorrangig Flücht-                einander zu vernetzen und zu stärken (vgl. DRC 2017;
               linge in den Blick (vgl. insb. Brücker et al. 2018;             ARI/DRC 2018; DRC 2019). In diesem Kapitel werden
               Brücker et al. 2020); über afghanische und syrische             zunächst Informationen über Rücküberweisungen
               Zuwanderinnen und Zuwanderer, die sich aus ande-                nach Afghanistan bzw. Syrien zusammengetragen
               ren Gründen in Deutschland aufhalten, ist weniger               (s. Kap. 3.1). Diese remittances sind eine Form indivi-
               bekannt. An dieser Stelle soll nur kurz auf die wich-           duellen, transnationalen Handelns; andere (z. B. wie
               tigsten Daten hingewiesen werden. Beide Bevölke-                sich die Verbundenheit zu mehreren Orten im tägli-
               rungsgruppen sind sehr jung; im Durchschnitt ca. 25             chen Leben ausdrückt oder was sie für politische Ein-
               Jahre alt (Statistisches Bundesamt 2021a: 58). Zum              stellungen oder emotionale Identifikationsprozesse
               Vergleich: 2019 betrug das Durchschnittsalter der Be-           bedeutet) sind bisher kaum erforscht (vgl. aber Christ
               völkerung mit deutscher Staatsbürgerschaft 45,6 Jah-            et al. 2021; Sauer et al. 2021). Danach werden die
               re. Im Jahr 2020 waren 31 Prozent der afghanischen              kollektiven Handlungsformen der beiden Communi-
               Bevölkerung und knapp 38 Prozent der syrischen Be-              ties beleuchtet, gestützt auf die vom wissenschaftli-
               völkerung in Deutschland minderjährig (Statistisches            chen Stab des SVR in Auftrag gegebenen Expertisen
               Bundesamt 2021a: 58; Tab. 2 im Anhang). Fragen                  (s. Kap. 3.2).
               der Bildungs- und Arbeitsmarktteilhabe, aber auch                    Werden die afghanischen und syrischen Commu-
               der Teilhabe am sozialen und politischen Leben in               nities in Deutschland beschrieben und analysiert,
               Deutschland sind daher von besonderer Bedeutung.                sind folgende Gesichtspunkte zu berücksichtigen, wie
               So hat beispielsweise die Zahl der Studierenden aus             die gesichtete Literatur und die Expertisen deutlich
               Afghanistan und Syrien an deutschen Hochschulen                 machen:
               stark zugenommen – von 2017 bis 2020 um 61 Pro-                    Heterogenität: Von ‚der‘ afghanischen oder ‚der‘
               zent für afghanische und um 233 Prozent für syrische               syrischen Community zu sprechen, ist eine starke
               Studierende (DAAD 2021: 49).                                       Vereinfachung. Beide Bevölkerungsgruppen sind
                                                                                  sehr vielfältig: Sie unterscheiden sich in Alter, Ge-
                                                                                  schlecht und Bildungsgrad sowie in ethnischer,
               3 Transnationales Handeln auf                                      sprachlicher, religiöser, politischer und sozialer
               ­individueller und kollektiver Ebene:                              Zugehörigkeit. Daneben bestimmen Faktoren wie
                                                                                  Zeitpunkt und Umstände der Ankunft in Deutsch-
                Die afghanischen und die syrischen
                                                                                  land, Aufenthaltstitel und -dauer sowie die famili-
                Communities in Deutschland                                        äre und wirtschaftliche Situation die individuellen
                                                                                  Lebenswirklichkeiten.
               Bisher ist kaum erforscht, wie von Deutschland aus-                Fragmentierung: Konflikte in den Herkunftsländern
               gehende transnationale Aktivitäten beider Commu-                   können sich leicht auf die Diaspora übertragen. So
               nities auf individueller Ebene aussehen. Auch Unter-               spiegeln sich auch in der afghanischen und der sy-
               suchungen zu gemeinsamen Handlungsformen und                       rischen Community die Trennlinien wider, die den
               der Selbstorganisation der afghanischen und der sy-                Konflikt im Herkunftsland bestimmen (vgl. Ragab/
               rischen Bevölkerungsgruppen in Deutschland stecken                 Antara 2018: 20; Helberg 2021: 116–117). Am Bei-

               15 Die Bundesregierung plant derzeit, die Mehrfachstaatsangehörigkeit nicht nur in Ausnahmefällen, sondern generell zu ermög­
                  lichen (SPD/Bündnis 90, Die Grünen/FDP 2021: 118).

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spiel der syrischen Community wird dies beson-                       ra-Akteure in Europa zunehmend untereinander.17
  ders deutlich: Obwohl aus Syrien Geflohene das                       Soziale Medien spielen dabei eine wichtige Rolle
  Assad-Regime weitgehend ablehnen, gehen die                          (Info-Box 1). Gerade neuere afghanische Organisa-
  politischen Ansichten über die Zukunft Syriens aus-                  tionen verstehen ihren Auftrag zunehmend trans-
  einander. Im Extremfall begegnen sich in Deutsch-                    national: Der Fokus richtet sich nicht (ausschließ-
  land Täter und Opfer des Konflikts wieder – deutlich                 lich) auf die Integration in die Ankunftsgesellschaft,
  wurde dies in den Gerichtsprozessen um Folter und                    sondern auch darauf, Teil einer globalen afghani-
  Verbrechen gegen die Menschlichkeit, die von mitt-                   schen Diaspora zu werden.
  lerweile in Deutschland lebenden Syrern begangen
  wurden und in denen syrische Flüchtlinge als Zeu-                  3.1 Finanzielle Rücküberweisungen
  gen auftraten (s. Kap. 3.2.2).
  Dynamik: Organisationen und kollektive Hand-                       Remittances – also private finanzielle Rücküberwei-
  lungsformen befinden sich im steten Wandel. Sie                    sungen von Migrantinnen und Migranten an Perso-
  ändern sich in ihrer Anzahl und Art, aber auch in                  nen in ihren Herkunftsländern – zählen zu den be-
  der Verschiebung ihrer inhaltlichen Prioritäten:                   kanntesten und messbarsten Formen transnationaler
  Während ursprünglich Entwicklungszusammenar-                       Beziehungen. Es ist anzunehmen, dass private Geld-
  beit und humanitäre Hilfe für das Herkunftsland im                 ströme aus dem Ausland für das Überleben der Zivil-
  Vordergrund standen, legen afghanische und syri-                   gesellschaften in Afghanistan und Syrien überlebens-
  sche Diaspora-Organisationen in den letzten Jahren                 wichtig sind (vgl. Dean 2015; Ross/Barratt 2021). Die
  verstärkt ihren Schwerpunkt auf Unterstützungs-                    Weltbank schätzt, dass internationale remittances im
  angebote für ihre neu angekommenen Mitbürge-                       Jahr 2020 3,9 Prozent des afghanischen Bruttoinland-
  rinnen und Mitbürger (vgl. SVR-Forschungsbereich                   produkts darstellten (World Bank 2022). Die Datenla-
  2020: 29). Auch eine zunehmende Politisierung ist                  ge ist jedoch lückenhaft, u. a. da Überweisungen, die
  zu beobachten – einerseits in Bezug auf den Ver-                   am formalen Bankensystem oder an kommerziellen
  lauf der Konflikte in den beiden Herkunftsländern,                 Dienstleistern (wie Western Union oder Money Gram)
  andererseits mit Blick auf die Rechte und Teilhabe-                vorbeigehen, nicht erfasst werden. Außerdem funk-
  chancen der Communities in Deutschland.16 Wäh-                     tioniert gerade in Kriegsländern das Bankensystem
  rend es vielen Diaspora-Organisationen an kontinu-                 selten flächendeckend bzw. es wird durch internatio-
  ierlicher Finanzierung und nachhaltigen Strukturen                 nale Sanktionen, auch im Zusammenhang mit Terro-
  fehlt, ist es anderen gelungen, sich zu professiona-               rismusbekämpfung, gehemmt. Des Weiteren ist ins-
  lisieren und institutionalisieren. Ein Beispiel hierfür            besondere für Afghanistan und Syrien das informelle
  ist die Gründung von Dachverbänden im Jahr 2013                    Hawala-System traditionell von großer Bedeutung: Es
  für syrische Vereine und im Jahr 2020 für afghani-                 ermöglicht den Transfer von Bargeld über eine Serie
  sche Organisationen (s. Kap. 3.2).                                 von Mittler-Instanzen. Darüber hinaus werden Über-
  Europäisierung bzw. Globalisierung der ­Diaspora:                  weisungen nicht nur an Menschen im Herkunftsland
  Wechselseitige transnationale Beziehungen beste-                   selbst geleistet, sondern auch an Verwandte in Dritt-
  hen nicht nur zwischen Personen und Organisatio-                   ländern entlang der Fluchtrouten.
  nen in Deutschland und im jeweiligen Herkunfts-                        Zu den bilateralen remittance-Strömen zwischen
  land, sondern auch zwischen Deutschland und                        Deutschland und Afghanistan schätzt die Deutsche
  afghanischen bzw. syrischen Communities, die in                    Bundesbank, dass im Jahr 2016 31 Millionen E­­uro
  anderen Ländern entstanden sind. So vernetzen                      nach Afghanistan geflossen sind. 2020 waren es be-
  sich syrische und insbesondere afghanische Diaspo-                 reits 109 Millionen Euro. Von Deutschland ausgehende

16 Ein Beispiel ist der Verein YAAR, der sich u. a. als Interessenvertretung afghanischer Flüchtlinge begreift und sich gegen Abschie-
   bungen einsetzt.
17 Exemplarisch hierfür stehen die Diaspora Network Alliance oder die Afghan Diaspora Initiative.

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