Neue Diaspora? SVR-Policy Brief 2022-1 - Engagement und transnationale Netzwerke der afghanischen und syrischen Communities in Deutschland ...
←
→
Transkription von Seiteninhalten
Wenn Ihr Browser die Seite nicht korrekt rendert, bitte, lesen Sie den Inhalt der Seite unten
SVR-Policy Brief 2022-1 Neue Diaspora? Engagement und transnationale Netzwerke der afghanischen und syrischen Communities in Deutschland
Zitiervorschlag: Popp, Karoline 2022: Neue Diaspora? Engagement und transnationale Netzwerke der afghanischen und syrischen Communities in Deutschland. SVR-Policy Brief 2022-1, Berlin.
Inhaltsverzeichnis Zusammenfassung ....................................................................................................................................... 5 1 Verbindungen durch Zeit und Raum: Transnationalismus und das Konzept der Diaspora .............................................................................................................................................. 6 1.1 Begriffsdefinitionen: Transnationalismus und Diaspora . ................................................................. 6 1.2 Gesellschaftliche und politische Relevanz der transnationalen Perspektive ................................. 8 2 Migration aus Afghanistan und Syrien nach Deutschland: Historische Ursprünge und aktuelle Trends ................................................................................................................................ 10 2.1 Zuwanderung aus Afghanistan ........................................................................................................... 10 2.2 Zuwanderung aus Syrien ..................................................................................................................... 11 2.3 Vergleich der Zuwanderung aus Afghanistan und Syrien . ............................................................... 11 3 Transnationales Handeln auf individueller und kollektiver Ebene: Die afghanischen und die syrischen Communities in Deutschland ........................................................................... 16 3.1 Finanzielle Rücküberweisungen ........................................................................................................ 17 3.2 Zivilgesellschaftliches Engagement und Diaspora-Organisationen . .............................................. 18 4 Fazit und Forschungsdesiderate ......................................................................................................... 22 Literatur ........................................................................................................................................................... 24 Anhang ............................................................................................................................................................. 29 3
Zusammenfassung Das Wichtigste in Kürze Die Zahl der Menschen aus Afghanistan und Beispiel humanitäre Hilfe leisten, zum anderen Syrien, die in Deutschland leben, hat in den unterstützen sie ihre in Deutschland lebenden letzten zehn Jahren stark zugenommen. Mitglieder. Wie andere Migrantengruppen auch, unterhal- Die afghanischen und syrischen Communities ten afghanische und syrische Zuwanderinnen in Deutschland sind jung und heterogen. Ihre und Zuwanderer individuelle Verbindungen in Mitglieder werden größtenteils dauerhaft in ihre Herkunftsländer und organisieren sich teil- Deutschland bleiben. Daraus ergibt sich ein ge- weise in herkunftsspezifischen Vereinen und sellschaftliches und wissenschaftliches Interes- Selbsthilfegruppen. se, ihr zivilgesellschaftliches und transnationa- les Engagement und die daraus entstehenden Diese Organisationen setzen sich zum einen für Chancen und Herausforderungen besser zu ver- ihre Herkunftsländer ein, indem sie dort zum stehen. 4
Zusammenfassung Die Zahl der in Deutschland lebenden Menschen aus schlecht, politischen, sozialen und anderen Zugehö- Afghanistan und Syrien ist im vergangenen Jahrzehnt rigkeiten oder in Bezug auf ihren Aufenthaltsstatus infolge der Fluchtmigration stark gestiegen. Die- in Deutschland. Zweitens ziehen sich Konfliktlinien ser aktuellen Zuwanderungsepisode gingen frühere durch die Communities, die diejenigen in ihren Her- voraus, sodass kleinere afghanische und syrische kunftsgesellschaften widerspiegeln. Drittens ent Communities bereits seit mehreren Jahrzehnten in wickeln sich ihre Handlungsformen dynamisch: durch Deutschland leben. Durch Familiennachzug und die neue Organisationen, neue Handlungsfelder, die hier geborene neue Generation wachsen die Commu- Digitalisierung oder ein wachsendes politisches Be- nities; ein Großteil dieser Menschen wird aufgrund wusstsein über die Bedeutung der Diaspora. Viertens der fortgesetzten Konflikt- und Bedrohungslage in europäisiert sich die Diaspora zunehmend, indem ihren Herkunftsländern dauerhaft in Deutschland sich in Deutschland ansässige Gruppen mit Diaspora- bleiben. Gleichzeitig bestehen weiterhin familiäre, Initiativen in anderen europäischen Ländern ver soziale und wirtschaftliche Verbindungen in das Her- netzen. Der Policy Brief skizziert abschließend wei- kunftsland. Die persönlichen Beziehungen nehmen terführende Forschungsfragen, die insbesondere die teilweise kollektive Handlungsformen an: So sind in Perspektiven der Mitglieder der beiden Communities den letzten Jahren afghanische und syrische Diaspo- und ihr Selbstverständnis berücksichtigen sollten. ra-Organisationen entstanden, die sich humanitär oder politisch für das jeweilige Herkunftsland enga- gieren oder sich für die Belange ihrer Communities in Deutschland einsetzen. Diese kollektiven, aber auch die individuellen transnationalen Aktivitäten der afghanistan- und syrienstämmigen Bevölkerung in Deutschland sind bislang kaum erforscht. Sie sind jedoch von erheblicher Bedeutung – für das Leben der Beteiligten selbst und ihre gesellschaftliche Teilhabe in Deutschland, aber auch für künftige entwicklungs- politische und wirtschaftliche Beziehungen Deutsch- lands zu Afghanistan bzw. Syrien. Nach einer konzeptionellen Einführung und einer kurzen Beschreibung der historischen und aktuellen Zuwanderungstrends betrachtet der Policy Brief ins- besondere die kollektiven Handlungsformen der bei- den Bevölkerungsgruppen. Im Rahmen einer ersten Recherche wurden 128 afghanische und 84 syrische Diaspora-Organisationen identifiziert und nach Hand- lungsfeldern kategorisiert. Es zeigt sich, dass in bei- den Fällen die Hilfestellung bei der Integration von Neuzugewanderten sowie die humanitäre Unterstüt- zung und Entwicklungshilfe für das jeweilige Her- kunftsland prominente Tätigkeitsbereiche sind. Aus der Bestandsaufnahme lassen sich vier weite- re Kernaussagen ableiten: Erstens sind beide Gruppen in sich höchst heterogen. Die Lebenswirklichkeiten ihrer Mitglieder unterscheiden sich je nach Alter, Ge- 5
Verbindungen durch Zeit und Raum: Transnationalismus und das Konzept der Diaspora 1 Verbindungen durch Zeit und 1.1 Begriffsdefinitionen: Transnationalismus Raum: Transnationalismus und das und Diaspora Konzept der Diaspora1 Transnationalismus beschreibt die Vielzahl der grenz Im Einwanderungsland Deutschland haben große überschreitenden Verbindungen, Aktivitäten und Teile der Bevölkerung aufgrund ihrer eigenen oder Identitäten, die u. a. durch Migration entstehen und familiären Migrationsgeschichte Verbindungen in ein durch sie aufrechterhalten werden (vgl. Vertovec anderes Land. Dies gilt auch für Menschen aus Afgha- 1999; Nowicka 2019).3 Das Konzept beruht auf der Er- nistan und Syrien, die infolge der Fluchtmigration im kenntnis, dass die Räume sozialen und politischen Le- letzten Jahrzehnt verstärkt nach Deutschland zuge- bens einerseits und nationalstaatliche Territorien an- wandert sind. Lebten im Jahr 2010 etwa 51.000 afgha- dererseits nicht zwingend deckungsgleich sind (vgl. nische Staatsangehörige in Deutschland, waren es im Faist 2012: 55). In einem transnationalen Kontext Jahr 2020 knapp 272.000. Die syrische Community fügen sich persönliche Identität, emotionale Zugehö- verzeichnet einen noch stärkeren Zuwachs von 30.000 rigkeit, der praktische Lebensmittelpunkt und die for- auf über 818.000 Personen (Statistisches Bundesamt male Staatsbürgerschaft (oder Staatsbürgerschaften) 2018: 24, 26; Statistisches Bundesamt 2021a: 27, 31; zu einem dynamischen und grenzüberschreitenden s. Kap. 2). Es hat sich inzwischen eine dynamische af- Komplex zusammen. Aus transnationaler Perspekti- ghanische und syrische Zivilgesellschaft herausgebil- ve ist Migration kein linearer und einmaliger Wan- det, deren Engagement sich sowohl auf das jeweilige derungsprozess ‚von A nach B‘ (vgl. SVR 2020: 180). Herkunftsland bezieht als auch auf die Lebenssitua Vielmehr sind Migrantinnen und Migranten gleichzei- tion ihrer Mitglieder in Deutschland. Über den Um- tig in ihren Herkunfts- und Ankunftsgesellschaften fang und die Bedeutung dieser transnationalen Be- verortet. Sie tragen zu Verbindungen über Grenzen ziehungen ist bislang noch wenig bekannt. hinweg bei bzw. verstärken diese durch ihr Handeln. Der vorliegende Policy Brief beschreibt als eine Transnationales Leben zeigt sich ganz unter erste Bestandsaufnahme die syrischen und afgha- schiedlich: Personen handeln auf einer individuell- nischen Communities in Deutschland, ihre Entste- familiären Ebene transnational, wenn enge Bezugs- hungsgeschichte und ihre Organisations- und Hand- personen oder Familienmitglieder über mehrere lungsweisen. Er beruht auf zwei Expertisen, die vom Länder verteilt leben, diese in engem Kontakt mit- wissenschaftlichen Stab des SVR in Auftrag gege- einander stehen und sich gegenseitig materiell ben wurden (s. Literaturverzeichnis), und bildet den oder emotional unterstützen. In diesem Sinne ist Auftakt zu einem breit angelegten Forschungspro- davon auszugehen, dass nahezu alle internationa- jekt.2 len Migrantinnen und Migranten zu einem gewis- 1 Dieser Policy Brief wurde begleitet von Prof. Dr. Sieglinde Rosenberger, Mitglied des Sachverständigenrats für Integration und Migration (SVR). Verantwortlich für diese Veröffentlichung ist der wissenschaftliche Stab der SVR-Geschäftsstelle. Die Argumente und Schlussfolgerungen spiegeln nicht notwendigerweise die Meinung des SVR wider. Dank gilt Yvonne Mukashyaka für ihre Unterstützung in der Datenrecherche. 2 Der wissenschaftliche Stab des SVR untersucht in einem vergleichenden multimethodischen Forschungsprojekt, ob und inwieweit sich in Deutschland eine afghanische bzw. eine syrische Diaspora herausbildet, wie sich diese organisiert und welche Rolle sie in Bezug auf das Leben ihrer jeweiligen Mitglieder in Deutschland und auf das Herkunftsland spielt. Neben den transnationalen Beziehungen und Aktivitäten soll daraus auch ein fundiertes und nuanciertes Bild der afghanistan- und syrienstämmigen Bevöl- kerung hervorgehen, insbesondere mit Blick auf ihre Organisations- und kollektiven Handlungsformen. Der vorliegende Policy Brief bietet eine Einführung in das Thema. Die zugrundeliegenden Expertisen wurden Ende 2021 von Dr. Hannah Pool (für die afghanistanstämmige Bevölkerung) und Dr. Nora Jasmin Ragab (für die syrienstämmige Bevölkerung) verfasst. Die Autorin dankt beiden Expertinnen für die ausgezeichnete Zusammenarbeit. Die Expertisen stehen auf der SVR-Website zum Download zur Ver- fügung. 3 Eine präzisere Unterscheidung erlauben die Begriffe „Transnationalismus“ als eine analytische Perspektive, „Transnationalisie- rung“, um auf den Prozess der Entstehung transnationaler Phänomene zu verweisen, und „Transnationalität“ als Beschreibung einer Lebensrealität, insbesondere der Aktivitäten und Beziehungen von internationalen Migrantinnen und Migranten (vgl. Nowicka 2019: 11–12, 53). 6
sen Grad transnational leben. Transnationale Bezie- nen mit eigener Migrationserfahrung als auch sol- hungen und Aktivitäten können aber auch auf einer che, die nie im Herkunftsland ihrer Vorfahren gelebt kollektiv-organisierten Ebene stattfinden, etwa in haben. Allerdings ist nicht allein von der Staatsan- Form von Migranten(selbst-)organisationen, die sich gehörigkeit, dem Herkunftsland oder dem Zuwan- herkunftsspezifisch definieren und die Interessen dererstatus darauf zu schließen, dass eine Diaspora ihrer Mitglieder im Zielland vertreten. Auf dieser existiert oder dass sich bestimmte Personen einer Di- Ebene stehen Zusammenschlüsse von Migrantinnen aspora zugehörig fühlen. Die Tendenz (insbesondere und Migranten, die aus demselben Herkunftsland im entwicklungspolitischen Diskurs zu beobachten), oder auch derselben Region oder Stadt in diesem alle Migrantinnen und Migranten einer bestimmten Land stammen (sog. Home Town Associations, vgl. Nationalität oder Herkunft pauschal als Diaspora zu Vertovec 2004: 987) und diese finanziell oder an- bezeichnen, führt zu konzeptioneller Unschärfe und derweitig unterstützen. Manche setzen sich auch undifferenzierten praktischen Ansätzen (vgl. Bake- als ‚Exilopposition‘ für einen politischen Wandel in well 2009: 1; Faist 2012: 56; Mixed Migration Centre ihrem Herkunftsland ein. Transnationalismus hat so- 2018: 5). Vielmehr sind nicht alle Migrantinnen und mit emotionale und identitätsbezogene, soziale, kul- Migranten Mitglieder einer Diaspora und nicht alle turelle, wirtschaftliche und politische Dimensionen, Mitglieder einer Diaspora sind selbst migriert (Verto- er kann sowohl informell existieren als auch forma- vec 2005: 2; Bakewell 2009: 2; Castles/De Haas/Mil- lisierte Formen annehmen. Eine (regelmäßige) tat- ler 2014: 42; vgl. Ragab/Rahmeier/Siegel 2017: 7). sächliche Rückkehr in das Herkunftsland kann (muss So sind nicht alle afghanischen Staatsangehörigen, aber nicht) Teil dieser transnationalen Verbindungen die außerhalb Afghanistans leben, automatisch Teil sein. einer ‚afghanischen Diaspora‘. Umgekehrt können Steht die Beziehung einer migrantischen Gruppe Menschen ohne syrische Staatsbürgerschaft einer sy- zu ihrem historischen Ursprungsland im Fokus, spricht rischen Diaspora angehören, wenn sie sich mit Syrien man oft von der Diaspora. Eine Diaspora geht auf frei- als ihrem Geburtsland oder dem Herkunftsland ihrer willige Auswanderung oder Vertreibung aus dem Her- Eltern oder Großeltern verbunden fühlen. kunftsland in meist mehrere Zielländer zurück, wobei Die afghanische bzw. syrische Diaspora umfasst die Auswanderungsepisoden von der Vergangenheit somit grundsätzlich in Deutschland lebende Staats- bis in die Gegenwart reichen können. Eine Diaspora angehörige beider Länder sowie Personen mit fami- hält eine gemeinsame, auf das Ursprungsland bezo- liärer Zuwanderungsgeschichte aus diesen Ländern, gene Identität aufrecht, oft gestützt durch eine ge- die aber selbst – ob durch Geburt oder Einbürgerung – meinsame Geschichte, Kultur, Religion oder ethnische deutsche Staatsbürger sind (vgl. Daxner/Nicola Zugehörigkeit bis hin zu einem kollektiven Heimat- 2017: 10). Dabei beruht die Zugehörigkeit zu oder das mythos. Sie stellt ein nachhaltiges Netzwerk sozia- Bestehen einer Diaspora in erster Linie auf dem sub- ler Beziehungen zwischen ihren Mitgliedern dar, die jektiven Empfinden der Mitglieder und ist nur bedingt über verschiedene Zielländer verteilt leben (Bakewell objektiv messbar. Als selbstgewählte Bezeichnung 2009: 2, Übersetzung: SVR; vgl. Nieswand 2018; IOM kann der Begriff ein kollektives Selbstverständnis 2019: 49; SVR 2020: 180).4 signalisieren. Beispielsweise haben in Deutschland Auf Grundlage dieser Definition umfasst eine Di lebende Menschen und Gruppierungen mit Bezügen aspora meist mehrere Generationen: sowohl Perso- zu Afghanistan in den letzten Jahren zunehmend den 4 Der Begriff „Diaspora“ stammt aus dem Altgriechischen und bedeutet „Verstreutheit“. Er wurde traditionell mit historischen Fällen von Vertreibung in Verbindung gebracht: z. B. die jüdische Diaspora nach der Zerstörung des Tempels in Jerusalem im sechsten Jahrhundert v. Chr., die im 15. bis 19. Jahrhundert durch Verschleppung und Versklavung entstandene afrikanische Di- aspora sowie die armenische Diaspora infolge von Vertreibung im frühen 20. Jahrhundert (Vertovec 2005: 1–2; Nieswand 2018; SVR 2020: 181). 7
Verbindungen durch Zeit und Raum: Transnationalismus und das Konzept der Diaspora Begriff „afghanische Diaspora“ als Eigenbezeichnung Diese Analyse transnationaler und Eigengruppen- verwendet.5 beziehungen soll keinesfalls den Eindruck erwecken, Transnationale Verbindungen und Diaspora sind es finde ein ‚Rückzug in die eigenen Communities‘ somit zwar verwandte Begriffe, aber keine Synony statt. Die große Mehrheit der hier lebenden Menschen me. Beiden Phänomenen liegen zwar die Migra afghanischer und syrischer Herkunft hat regelmäßig tionserfahrung und grenzüberschreitende Bezüge zu Kontakt zur deutschen Bevölkerung. Laut einer Erhe- einem Herkunftsland (oder zu Menschen gleicher bung stehen 36 Prozent der afghanischen Befragten, Herkunft, die in anderen Zielländern leben) zugrun- die seit mindestens drei Jahren in Deutschland leben, de. Auch können beide in unterschiedliche Richtun- täglich in Kontakt mit deutschen Mitbürgerinnen und gen wirken: Entweder in Richtung Herkunftsort (z. B. Mitbürgern, 66 Prozent mindestens einmal pro Woche durch privaten Geldtransfer oder ideelle Einflüsse – (Brücker et al. 2021: 47). In einer Befragung aus dem sog. finanzielle oder soziale remittances) oder in Jahr 2017 gaben 50 Prozent der afghanischen und Richtung Ankunftsgesellschaft (z. B. durch die Grün- knapp 45 Prozent der syrischen Schutzsuchenden an, dung von herkunftsspezifischen kulturellen Vereinen, mehrmals pro Woche bis täglich Zeit mit Deutschen Selbsthilfeorganisationen oder Interessensvertretun- zu verbringen (Siegert 2019: 3). Die Studie Forced gen). Während aber transnationale Beziehungen und Migration and Transnational Family Arrangements: Aktivitäten sowohl auf der individuellen als auch auf Eritrean and Syrian Refugees in Germany (TransFAR) der kollektiven Ebene gelebt werden können, im- ergab, dass die engen Bezugspersonen der syrischen pliziert eine Diaspora stets nur den Bezug zu einer Befragten überwiegend in Deutschland leben, und Gruppe (vgl. Bakewell 2009: 2). In einer Diaspora ma- dass transnationale Familienkonstellationen in der nifestieren sich transnationale Verbindungen in Form Kernfamilie selten, im erweiterten Familienkreis je- einer andauernden, verbindenden Identität sowie doch häufiger zu finden sind (Sauer et al. 2021: 23; kollektiver Handlungsformen. vgl. Christ et al. 2021: 33, 35). In beiden Gruppen sind Das vorliegende Papier wählt den Begriff „Com- jedoch alters- und geschlechtsbedingte Unterschiede munities“, um die afghanistan- und syrienstämmige hinsichtlich des Kontaktradius zu beobachten. Bevölkerung6 in Deutschland zu bezeichnen. Dadurch wird den Gruppen nicht automatisch Homogenität, 1.2 Gesellschaftliche und politische Relevanz kollektive Identität oder ein Zusammengehörigkeits- der transnationalen Perspektive gefühl zugeschrieben. Die Bezeichnung „Diaspora- Organisationen“ wird dagegen verwendet, wo sich Das transnationale Netz aus familiären, wirtschaftli- Mitglieder dieser Gruppen mit ausdrücklichem Bezug chen und politischen Beziehungen, das migrantisch auf ihre gemeinsame Herkunft organisieren, insbe- geprägte Bevölkerungsgruppen mit ihren Ursprungs- sondere um sich gegenseitig zu unterstützen, um ländern verbindet, ist auch für die deutsche Politik ihre Interessen zu vertreten oder um sich für ihr Her- und Gesellschaft von Bedeutung: Beispielsweise kann kunftsland zu engagieren.7 Zuwanderung wirtschaftliche Verbindungen zwischen 5 Siehe z. B. „Wer ist eigentlich die afghanische Diaspora in Deutschland?“ auf der Homepage des Verbandes Afghanischer Organi- sationen in Deutschland (http://www.vaoid.de/startseite/afghanische-diaspora/, 17.05.2022) oder die Initiative Afghanische Diaspora in Europa (s. Info-Box 1). 6 Diese umfasst in Deutschland lebende afghanische bzw. syrische Staatsangehörige und deutsche Staatsangehörige mit afghani- schem oder syrischem Migrationshintergrund. Zu letzterer Gruppe zählen auch Menschen, die sowohl die deutsche als auch die afghanische bzw. syrische Staatsangehörigkeit besitzen. 7 Genauso wenig wie jede Migrantin oder jeder Migrant automatisch Mitglied einer Diaspora ist, ist jede Migrantenorganisation notwendigerweise eine Diaspora-Organisation. Diaspora-Organisationen stellen eine Unterkategorie von Migrantenorganisati- onen dar: Bei ihnen steht der Herkunftslandbezug ausdrücklich im Zentrum ihres Selbstverständnisses und ihrer Aktivitäten. Migrantenorganisationen können sich dagegen auch ohne den Bezug auf ein bestimmtes Herkunftsland definieren – denkbare Beispiele wären Organisationen, die sich an Menschen mit Zuwanderungsgeschichte allgemein richten, ein Verein migrantischer Frauen oder eine Organisation für Gesundheitsfachkräfte mit Migrationserfahrung (vgl. SVR-Forschungsbereich 2020: 9, 24–25). 8
Deutschland und dem jeweiligen Herkunftsland ver- Hunger/Stiller/Kröger 2017: 7; SVR-Forschungsbe- stärken oder verändern (z. B. durch remittances, Han- reich 2020: 8, 25, 29–33; Mratschkowski/Dursun/ del oder Investitionen). Eine aktive Diaspora kann Sauer 2021: 161). Zudem kann der Wille, sich politisch Potenziale, aber auch Risiken für die außen- und ent- und sozial für das Herkunftsland einzusetzen, sich wicklungspolitischen Beziehungen Deutschlands zu auch auf die Aufnahmegesellschaft übertragen und dem jeweiligen Ursprungsland bergen. Zudem kön- umgekehrt. Viele Diaspora-Organisationen der hier nen transnationale Verbindungen andere Formen der untersuchten afghanischen und syrischen Bevölke- Mobilität nach sich ziehen (z. B. zirkuläre Mobilität, rungsgruppen in Deutschland engagieren sich sowohl Tourismus, Rückkehr oder Familiennachzug). Darüber für ihr Herkunftsland als auch für die Integration und hinaus stellt sich die Frage, was aktive transnationale Belange ihrer Mitglieder in Deutschland (s. Kap. 3.2). Verbindungen für Identitäten und Zugehörigkeitsge- Eine Befragung unter afghanischen und syrischen fühle bedeuten, welche Rolle Diaspora-Organisatio Flüchtlingen ergab, dass die meisten, die in ihrer nen für das Leben ihrer Mitglieder in Deutschland Heimat politisch aktiv waren, dieses Engagement in spielen und wie sie sich auf Integration und Teilhabe Deutschland fortsetzen. Gleichzeitig ist den Befragten in Deutschland auswirken. wichtig, sich am politischen Leben in Deutschland zu Die Migrationsforschung betrachtet (Migranten-) beteiligen. Dadurch wollen sie negativen stereoty- Netzwerke als einen Faktor, der Art, Richtung und pen Wahrnehmungen von Flüchtlingen in der deut- Größe von Migrationsbewegungen beeinflussen schen Gesellschaft entgegensteuern (Ragab/Antara kann: Sie stellen für potenzielle Migrantinnen und 2018: 18–19; vgl. auch Christ et al. 2021: 41). Migranten eine Ressource- und Informationsquelle Außenpolitisch betrachtet stellt sich die Frage dar, durch die sich die Kosten und Risiken einer Migra- nach Wechselwirkungen zwischen Deutschlands in- tion senken lassen (vgl. Crisp 1999: 5–7; Mixed Migra- ternationalen Beziehungen und der Präsenz und den tion Centre 2018: 8; SVR 2020: 63). Eine auf Europa Aktivitäten migrantischer Gruppen aus dem jewei- bezogene Studie ergab, dass sich Diaspora- und an- ligen Land. Für die afghanischen und syrischen Be- dere transnationale Netzwerke auf die Migrationsbe- völkerungsgruppen kommen besondere Herausfor- wegungen von syrischen Flüchtlingen nach Europa derungen hinzu: Zum einen ist für die allermeisten ausgewirkt haben. Die Tatsache, dass Familienange- Personen eine Rückkehr aufgrund der anhaltenden hörige und Freunde bereits in Europa lebten, hat bei Bedrohungslage zumindest mittelfristig ausgeschlos- manchen die Entscheidung befördert, ebenfalls aus- sen.8 Zum anderen unterhält Deutschland aufgrund zuwandern (Mixed Migration Centre 2018: 9). des Konflikts in Syrien und seit der Machtergreifung Gerade mit Blick auf neu zugewanderte Gruppen der Taliban in Afghanistan keine diplomatischen und steht die Förderung ihrer Teilhabe und Integration wirtschaftlichen Beziehungen in diese Länder. Die im Mittelpunkt. Dabei können auch sog. eigenethni- traditionell auf Entwicklungszusammenarbeit und auf sche Communities und Organisationen eine wichtige temporäre oder langfristige Rückkehr ausgerichtete Vermittlerfunktion spielen, indem sie Brücken in die deutsche Diaspora-Politik, die eine enge Koopera- Ankunftsgesellschaft bauen und Informationen und tion mit staatlichen Partnern in den Herkunftslän- Unterstützung bereitstellen (vgl. Halm 2015: 51–52; dern voraussetzt, ist daher im Falle dieser beiden 8 Auch die Politik des Herkunftslandes gegenüber seinen im Ausland lebenden Bürgerinnen und Bürgern ist von Bedeutung; diese ist aber nicht Gegenstand des vorliegenden Papiers. Besonders problematisch ist die Beziehung zum Herkunftsland, wenn die Auswanderung durch Bürgerkrieg und Verfolgung erzwungen war. Sowohl rhetorisch als auch praktisch (z. B. durch Enteignun- gen) hat die syrische Regierung in der Vergangenheit deutlich gemacht, dass eine Rückkehr der Flüchtlinge unerwünscht ist (Buchen/Tadmory 2021). In Afghanistan hatte bis 2021 das Ministry of Refugees and Repatriation ein Mandat für Afghaninnen und Afghanen im Ausland. Außerdem bestand ein Auslandswahlrecht, dessen Umsetzung in der Vergangenheit jedoch an prak- tischen und politischen Hürden scheiterte (Ragab/Antara 2018: 23–24). 9
Verbindungen durch Zeit und Raum: Transnationalismus und das Konzept der Diaspora ruppen kaum anwendbar (vgl. BMZ 2021: 17–18; GIZ G anderen Gütern widmeten, bildete sich eine afgha- 2021: 1).9 Andererseits ist ein ‚politischerer‘ Ansatz, nische Gemeinde. Heute leben über 15 Prozent aller der Diaspora-Gruppen in Demokratisierungsbemü- Menschen mit afghanischem Migrationshintergrund hungen, Friedensverhandlungen und Wiederaufbau- in Deutschland in Hamburg (Stichtag 31.12.2020, pläne einbezieht, in der deutschen Diaspora-Politik Müller i. E.). Die erste große Fluchtmigration aus Af- bislang nicht erkennbar (vgl. Helberg 2021: 119). ghanistan im 20. Jahrhundert setzte 1979 mit dem Einmarsch der sowjetischen Truppen in Afghanistan ein. Insbesondere die politische und gesellschaftliche 2 Migration aus Afghanistan und Elite sah sich gezwungen, das Land zu verlassen. Sie Syrien nach Deutschland: Historische fand auch in (West-)Deutschland Zuflucht, allerdings blieb ihre Zahl über Jahrzehnte auf einem niedrigen Ursprünge und aktuelle Trends Niveau. Ende 2020 waren syrische Staatsangehörige die dritt- 2001 lag die Zahl der Personen mit afghanischer größte Gruppe der in Deutschland lebenden auslän- Staatsangehörigkeit in Deutschland bei 72.000 (Sta- dischen Bevölkerung, nach Menschen aus der Türkei tistisches Bundesamt 2022b). Nach dem Sturz der und Polen. Afghanistan stand auf Platz 9 der häufigs- Taliban im selben Jahr kehrten viele im Ausland le- ten Herkunftsländer (Stichtag 31.12.2020, BMI/BAMF bende Afghaninnen und Afghanen zunächst in ihr 2021: 207). Werden auch deutsche Staatsangehörige Herkunftsland zurück. Dieser Trend änderte sich ab berücksichtigt, leben heute 337.000 Menschen mit 2010: Seitdem steigt die Zahl der Menschen aus Af- afghanischem und 1.052.000 Menschen mit syri- ghanistan, die in anderen Ländern Zuflucht suchen. Die schem Migrationshintergrund in Deutschland (Stich- große Mehrheit der insgesamt 2,6 Millionen Afgha tag 31.12.2021, Statistisches Bundesamt 2022d: 69; ninnen und Afghanen, die aus ihrem Land geflohen Abb. 3; Tab. 1 im Anhang). In beiden Herkunftsgrup- sind, befindet sich in Pakistan und im Iran (UNHCR pen ist die Mehrzahl selbst zugewandert und hat in 2021: 3, 18). In Deutschland kamen insbesondere Deutschland Schutz gesucht bzw. erhalten (vgl. Brü- seit 2014 verstärkt afghanische Schutzsuchende an cker et al. 2021: 29). Innerhalb der Europäischen Uni- (Abb. 1). on ist Deutschland das größte Aufnahmeland sowohl Der Abzug der internationalen Truppen aus Af- für afghanische als auch für syrische Schutzsuchen- ghanistan im Sommer 2021 und die anschließende de. Im Folgenden werden die historischen Ursprünge Machtübernahme durch die Taliban verschärfte die der afghanischen und syrischen Zuwanderung nach humanitäre, menschenrechtliche und wirtschaftliche Deutschland, die wichtigsten Trends der letzten Jahre Lage in Afghanistan. Verschiedene westliche Staaten sowie Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen evakuierten besonders gefährdete Afghaninnen und den beiden Bevölkerungsgruppen beschrieben. Afghanen, vor allem solche, die als Ortskräfte für das Militär oder westliche Hilfsorganisationen gearbeitet 2.1 Zuwanderung aus Afghanistan hatten und nun Bedrohungen und Repressalien durch die Taliban ausgesetzt waren. Im Rahmen eines be- Bereits vor 1979 hielten sich afghanische Zuwande- stehenden Programms zur Evakuierung afghanischer rinnen und Zuwanderer zu Studien- oder Erwerbs- Ortskräfte (nach § 22 Abs. 2 AufenthG) nimmt auch zwecken in Deutschland auf. Besonders in Hamburg, Deutschland afghanische Ortskräfte und weitere be- wo afghanische Geschäftsleute sich seit den 1960er sonders gefährdete Afghaninnen und Afghanen zu- Jahren insbesondere dem Import von Teppichen und sammen mit ihren Familienmitgliedern auf, zwischen 9 Weder Afghanistan noch Syrien sind gegenwärtig Teil des Programms „Migration und Diaspora“, das von der Deutschen Gesell- schaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) durchgeführt und vom Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) gefördert wird. Die Dachverbände afghanischer bzw. syrischer Vereine in Deutschland werden hingegen u. a. durch die GIZ gefördert (s. Kap. 3). Ebenso hat die GIZ bereits Studien zur afghanischen und syrischen Diaspora in Deutschland in Auftrag gegeben (s. Daxner/Nicola 2017; Ragab/Rahmeier/Siegel 2017). 10
Abb. 1 Zuzüge, Fortzüge und Wanderungssaldo afghanischer Staatsangehöriger 2010–2020 M 100.000 Sc H 79.572 80.000 A W (d 60.000 56.062 B d D 40.000 20.000 10.865 H 3.640 4.950 5.924 8.357 5.928 7.868 6.649 7.228 H 0 A –20.000 –40.000 2010 2011 2012 2013 2014 2015 2016 2017 2018 2019 2020 Zuzüge Fortzüge Saldo Quelle: BMI/BAMF 2021: 236, 237; Darstellung: Wissenschaftlicher Stab des SVR. Mitte Mai 2021 und Mitte April 2022 insgesamt knapp rem Land geflohen, insbesondere in die Türkei, nach 19.800 Personen (BT-Drs. 20/1786: 12). Jordanien und in den Libanon (UNHCR 2021: 3, 17). Außerhalb dieser Region wurde Deutschland ab ca. 2.2 Zuwanderung aus Syrien 2014 zu einem der wichtigsten Zielländer für syrische Schutzsuchende (Abb. 2). Während vor Ausbruch des Auch die Zuwanderung aus Syrien geschah aus unter- Bürgerkriegs vor allem Angehörige der kurdischen schiedlichen Motiven. In den 1970er Jahren förderten Minderheit aus Syrien Asylanträge stellten, machten sowohl die Bundesrepublik Deutschland als auch die im Jahr 2020 Personen mit arabischer Volkszugehö- Deutsche Demokratische Republik (DDR) u. a. durch rigkeit die größte Gruppe aus (vgl. Hunger/Stiller/ Sprachkurse und Stipendien die Zuwanderung aus Sy- Kröger 2017: 2). rien zu Studienzwecken, insbesondere in den Berei- chen Medizin und Ingenieurswissenschaften. Die DDR 2.3 Vergleich der Zuwanderung aus Afghanistan schloss zu diesem Zweck ein bilaterales Abkommen und Syrien mit Syrien (vgl. Helberg 2009; Worbs/Rother/Kreien- brink 2019: 2). Aber auch schon in den 1980er Jahren Sowohl die afghanische als auch die syrische Bevöl- kamen syrische Schutzsuchende nach Deutschland, kerung in Deutschland kann also auf eine Zuwande- insbesondere nach der gewaltsamen Niederschla- rungsgeschichte zurückblicken, die etliche Jahrzehn- gung der Aufstände in der syrischen Stadt Hama durch te zurückreicht. Die Zahlen bewegten sich für beide das syrische Regime unter Präsident H afez al-Assad. Gruppen allerdings lange auf einem niedrigen Ni- Seit Ausbruch des Bürgerkriegs im Jahr 2011 veau, bis diese sich ab etwa 2012 binnen weniger sind rund 6,7 Millionen Syrerinnen und Syrer aus ih- Jahre zu wichtigen Zuwanderergruppen entwickelten. 100000 80000 60000 11 40000
Migration aus Afghanistan und Syrien nach Deutschland: Historische Ursprünge und aktuelle Trends Abb. 2 Zuzüge, Fortzüge und Wanderungssaldo syrischer Staatsangehöriger 2010–2020 350.000 298.483 300.000 Mustergrafi 250.000 Schmale, ve Höhe: 3 mm 200.000 Abstand: 15 Wenn die Z 145.823 (die Origina 150.000 Balken auf die Grafikbe Die zusätzli 100.000 65.921 59.935 34.350 31.290 21.094 50.000 Höhere, ver 17.057 Höhe: 5 mm 1.769 3.500 7.286 0 Abstand: 8 –50.000 –100.000 2010 2011 2012 2013 2014 2015 2016 2017 2018 2019 2020 Zuzüge Fortzüge Saldo Quelle: BMI/BAMF 2021: 236, 237; Darstellung: Wissenschaftlicher Stab des SVR. Rein quantitativ betrachtet ist die aus Syrien stam- Schutzquote (der Anteil der positiven Asylentschei- mende Bevölkerung weitaus bedeutender als die af- dungen) seit 2010 (mit Ausnahme von 2016) bei un- ghanistanstämmige (Abb. 3; Tab. 1 im Anhang). ter 50 Prozent lag (Abb. 5). Zudem forcierte die Bun- Insgesamt stellten zwischen 2010 und 2021 desregierung Rückführungen nach Afghanistan und mehr als 265.000 afghanische und 710.000 syrische versuchte, die Zahl der freiwilligen Ausreisen zu er- Staatsangehörige einen Asylerstantrag (eigene Be- höhen. Zwischen 2014 und 2021 wurden rund 1.200 rechnung; Abb. 4). Zusammengenommen ist das ein Menschen direkt nach Afghanistan abgeschoben;10 Großteil aller Asylanträge in Deutschland. Allerdings hinzu kamen freiwillige Ausreisen, beispielsweise im unterscheiden sich die beiden Gruppen hinsichtlich Rahmen des REAG/GARP Programms, sowie Rückfüh- der Erfolgschancen ihrer Anträge sowie der Integra- rungen in andere Länder. Aufgrund dieser geringeren tionsmaßnahmen, die ihnen offenstehen. Bis Ende Bleibechancen waren Afghaninnen und Afghanen im 2021 hatten afghanische Asylantragstellende nur ei- laufenden Verfahren – anders als syrische Asylsu- ne sog. geringe Bleibeperspektive, da die jährliche chende – von Integrationsleistungen wie Sprachkur- 10 Eigene Berechnung (BT-Drs. 18/4025: 4; 18/7588: 3; 18/11112: 3; 19/800: 3; 19/8021: 3; 19/18201: 3; 19/27007: 3; 20/890: 3). 12 350000 300000
Abb. 3 Bevölkerung mit afghanischem und syrischem Migrationshintergrund, 2010–202111 1.200.000 1.000.000 800.000 600.000 400.000 200.000 0 2010 2011 2012 2013 2014 2015 2016 2017 2018 2019 2020 2021 Afghanischer Migrationshintergrund Syrischer Migrationshintergrund Quelle: Statistisches Bundesamt 2017a: 128, 131; 2017b: 117, 120; 2017c: 128, 131; 2017d: 128, 131; 2017e: 128, 131; 2017f: 128, 131; 2017g: 129, 132; 2019a: 131, 134; 2019b: 132, 135; 2020: 137, 140; 2022a: 127, 130; 2022d: 69; Darstellung: Wissenschaftlicher Stab des SVR. sen ausgeschlossen (vgl. Brücker et al. 2021: 33).11 Abschiebeverbot für Syrien in Kraft und die jährlichen Dies änderte sich erst im Januar 2022, als die Bedro Schutzquoten lagen in den Jahren 2014 bis 2021 bei hung der Menschen in Afghanistan nach der Macht durchschnittlich 86,5 Prozent (eigene Berechnung, übernahme durch die Taliban zunahm. Nun wurde Abb. 5).12 auch afghanischen Schutzsuchenden ein schnellerer Für syrische Schutzsuchende gab es in den letzten Zugang zu Integrationskursen gewährt (BMI 2022). Jahren verschiedene staatlich organisierte Aufnahme Im Gegensatz zu Afghanistan galt Syrien in den letz programme: Im Rahmen von Resettlement-Program ten Jahren durchgängig als Herkunftsland mit „guter men (nach § 23 Abs. 4 AufenthG) reisten z. B. zwi Bleibeperspektive“, mit entsprechend großzügigen schen 2012 und 2020 3.212 syrische Staatsangehörige Regularien für den Zugang zu Arbeitsmarkt und Inte aus Drittstaaten wie dem Libanon, Jordanien und der grationsangeboten. Bis Ende 2020 war ein generelles Türkei nach Deutschland ein (BMI/BAMF 2021: 132). 11 Eine Person hat einen Migrationshintergrund, wenn sie selbst oder mindestens ein Elternteil nicht mit deutscher Staatsange hörigkeit geboren wurde. Zahlen zur Bevölkerung mit Migrationshintergrund basieren auf dem Mikrozensus. Dieser neigt dazu, Flüchtlinge weniger gut zu erfassen, da nur Personen befragt werden, die in Privathaushalten leben. Da in den Jahren 2014 bis 2017 viele Flüchtlinge noch in staatlichen Aufnahmeeinrichtungen o. Ä. untergebracht waren, gingen sie nicht in die Erhebung ein (Statistisches Bundesamt 2017g: 7; vgl. BMI/BAMF 2021: 205). Offensichtlich wird diese Untererfassung beim Vergleich mit den Zahlen des Ausländerzentralregisters für ausländische Staatsangehörige. In den betreffenden Jahren ist die Zahl der afghani schen und syrischen ausländischen Staatsangehörigen höher als die der Menschen mit entsprechendem Migrationshintergrund. Da letztere nicht nur die ausländischen Staatsangehörigen, sondern auch Deutsche erfasst, müsste dies eigentlich die höhere Zahl sein (vgl. Statistisches Bundesamt 2018; 2021a). Es ist daher anzunehmen, dass die tatsächliche Zahl der Menschen mit afghanischem bzw. syrischem Migrationshintergrund in den Jahren 2014–17 deutlich höher war als hier dargestellt. 12 Mit 62,6 Prozent im Jahr 2021 ist die Schutzquote für syrische Asylanträge deutlich niedriger als in den Vorjahren. Dies ist auf die außergewöhnlich hohe Zahl formeller Entscheidungen zurückzuführen, die 2021 37,2 Prozent aller Entscheidungen darstellten. Der Anteil der abgelehnten Anträge betrug (wie auch schon in den Vorjahren) 0,1 Prozent (BAMF 2022: 41; Tab. 1 im Anhang). 1200000 1000000 13 800000
Migration aus Afghanistan und Syrien nach Deutschland: Historische Ursprünge und aktuelle Trends Abb. 4 Asylerstanträge afghanischer (AFG) und syrischer (SYR) Schutzsuchender, 2010–2020 300.000 Mustergrafi 250.000 Schmale, ve Höhe: 3 mm 200.000 Abstand: 15 Wenn die Z (die Origina 150.000 Balken auf die Grafikbe Die zusätzli 100.000 50.000 Höhere, ver Höhe: 5 mm 0 Abstand: 8 2010 2011 2012 2013 2014 2015 2016 2017 2018 2019 2020 2021 Asylerstanträge AFG Asylerstanträge SYR Quelle: BAMF 2011: 26; 2012: 23; 2013: 22; 2014: 22; 2015: 22; 2016: 19; 2017: 22; 2018: 20; 2019: 25; 2020: 21; 2021: 21; 2022: 21; Darstellung: Wissenschaftlicher Stab des SVR. Hinzu kamen ca. 20.000 Syrerinnen und Syrer, die im Schleswig-Holstein und Thüringen (Deutscher Caritas- Zuge von drei humanitären Aufnahmeprogrammen verband 2022). Aus transnationaler Perspektive sind zwischen 2013 und 2014 nach Deutschland kamen diese Programme besonders interessant, da hier be- (nach § 23 Abs. 2 AufenthG) (BT-Drs. 19/20694: 3), stehende (familiäre) Netzwerke zum Migrationsge- sowie ca. 10.000 syrische Flüchtlinge aus der Türkei in schehen beigetragen haben bzw. aktiv dafür genutzt den Jahren 2016 bis 2020 (BT-Drs. 19/20694: 3, 17– wurden. 19). Zusätzlich ermöglichten Landesaufnahmepro- Im Zusammenhang mit der Fluchtzuwanderung gramme (nach § 23 Abs. 1 AufenthG) syrischen nahm auch der Familiennachzug zu, für die syrische Flüchtlingen, zu bereits in Deutschland lebenden Ver- Bevölkerung allerdings sehr viel deutlicher als für wandten einzureisen: Seit 2013 wurden über 25.000 die afghanische: Während im Jahr 2010 493 syrische Visa zu diesem Zweck vergeben (Welfens/Lehmann/ Staatsangehörige eine Aufenthaltserlaubnis aus fami- Wagner 2021: 28). Bedingung für diesen ‚erweiterten liären Gründen erhielten, waren es zum Höchststand Familiennachzug‘ war, dass die bereits in Deutschland im Jahr 2017 über 33.000. Insgesamt zogen von 2014 ansässigen Personen für einen gewissen Zeitraum bis 2020 über 115.000 syrische Familienangehörige für den Lebensunterhalt der einreisenden Angehö- zu; seit 2018 nimmt ihre Zahl allerdings deutlich ab. rigen aufkommen (SVR-Forschungsbereich 2015: 17; Im Vergleich dazu kamen im selben Zeitraum ledig- SVR-Forschungsbereich 2018: 17). In den Jahren 2013 lich gut 7.000 Afghaninnen und Afghanen über den bis 2015 legten alle Bundesländer mit Ausnahme Familiennachzug nach Deutschland (Worbs/Rother/ Bayerns derartige Programme auf. Die meisten wur- Kreienbrink 2019: 3; BMI/BAMF 2021: 139, 271; ei- den sukzessive wieder eingestellt; derzeit bestehen gene Berechnung). solche Aufnahmeprogramme für Syrerinnen und Sy- Aus dem Verlauf der afghanischen und syrischen rer noch in Berlin, Brandenburg, Bremen, Hamburg, Zuwanderung nach Deutschland folgt, dass die gro- 14 300000 250000
Abb. 5 Schutzquoten afghanischer (AFG) und syrischer (SYR) Schutzsuchender, 2010–2021, in Prozent 100 96,0 98,0 95,7 94,3 89,3 91,5 89,1 81,9 83,7 80 60 55,8 62,6 47,9 46,7 47,6 43,9 44,3 42,5 42,9 41,1 37,5 38,0 40 39,0 34,3 20 17,9 0 2010 2011 2012 2013 2014 2015 2016 2017 2018 2019 2020 2021 Schutzquote AFG Schutzquote SYR Quelle: BAMF 2011: 52, 53; 2012: 49, 50; 2013: 48, 49; 2014: 48; 2015: 50; 2016: 37, 38; 2017: 51; 2018: 39; 2019: 55, 56; 2020: 40, 41; 2021: 41; 2022: 41; Darstellung: Wissenschaftlicher Stab des SVR. ße Mehrheit erst seit wenigen Jahren in Deutschland ausländischen Personen die Staatsbürgerschaft (Sta- lebt. Aktuell sind afghanische Staatsangehörige im tistisches Bundesamt 2021c: 14),13 der Wert für Af Durchschnitt seit 6,3 Jahren in Deutschland; syri- ghaninnen und Afghanen lag dagegen bei 13,2 Pro- sche Staatsangehörige seit 4,8 Jahren (BMI/BAMF zent, für Syrerinnen und Syrer sogar bei 38,4 Prozent 2021: 298). Zum Stichtag 31. Dezember 2020 lebten (Courtman/Schneider 2021: 15; Gülzau/Schneider/ 67,4 Prozent der afghanischen und 68,5 Prozent der Courtman 2022).14 Von 2010 bis 2020 wurden knapp syrischen Staatsangehörigen zwischen vier und acht 31.000 Menschen afghanischer Herkunft und fast Jahren in Deutschland (BMI/BAMF 2021: 298, eigene 28.000 Menschen syrischer Herkunft eingebürgert, Berechnung). Sie können eine Niederlassungserlaub- insbesondere bei letzteren steigt die Zahl der Einbür- nis oder ihre Einbürgerung beantragen, sofern sie die gerungen seit 2019 stark an (BMI/BAMF 2021: 301). Voraussetzungen erfüllen (vgl. Fußnote 13). Men- Die hohe Einbürgerungsbereitschaft erklärt sich ver- schen afghanischer und syrischer Herkunft zeigen da- mutlich durch die Tatsache, dass die meisten Betrof- bei eine deutlich höhere Bereitschaft, sich in Deutsch- fenen ihr Land unter Zwang verlassen haben und kei- land einbürgern zu lassen, als der Durchschnitt der ne Perspektive für eine Rückkehr sehen. Erleichternd ausländischen Bevölkerung. So beantragten im Jahr dürfte zudem wirken, dass afghanische und syrische 2020 nur 2,15 Prozent der in Frage kommenden Staatsangehörige aufgrund einer Ausnahmeregelung 13 Hierbei wird das sog. ausgeschöpfte Einbürgerungspotenzial herangezogen. Es setzt die Zahl der Einbürgerungen eines Jahres ins Verhältnis zu der Zahl der ausländischen Staatsangehörigen, die seit mindestens zehn Jahren in Deutschland leben. Dabei wird ausgehend von der Aufenthaltsdauer angenommen, dass die meisten dieser Personen die gesetzlichen Voraussetzungen für eine Einbürgerung nach § 10 StAG erfüllen. Bei der Abschätzung des Einbürgerungspotenzials ist die Aufenthaltsdauer aber nur eines von zahlreichen weiteren Kriterien, darunter ein gesicherter Lebensunterhalt, ausreichende Deutschkenntnisse und ein bestandener Einbürgerungstest (vgl. Courtman/Schneider 2021; Gülzau/Schneider/Courtman 2022). 14 Im Falle der Syrerinnen und Syrer ist das sehr hohe ausgeschöpfte Einbürgerungspotenzial vermutlich einer statistischen Ver- zerrung geschuldet: Zu Jahresbeginn 2020 erreichte eine erhebliche Zahl der syrischen Kriegsflüchtlinge die zur Einbürgerung benötigte Mindestaufenthaltsdauer von sechs Jahren. Die tatsächlich vollzogenen Einbürgerungen im Jahr 2020 werden jedoch mit der relativ kleinen Zahl der Syrerinnen und Syrer ins Verhältnis gesetzt, die bereits mindestens zehn Jahre in Deutschland leben (vgl. Gülzau/Schneider/Courtman 2022). 15
Migration aus Afghanistan und Syrien nach Deutschland: Historische Ursprünge und aktuelle Trends ihre ursprüngliche Staatsbürgerschaft behalten kön- noch in den Anfängen (vgl. Ragab/Rahmeier/Siegel nen, wenn sie sich in Deutschland einbürgern lassen 2017: 5, 25; Hunger/Stiller/Kröger 2017: 2; vgl. bezo- (Bundesregierung 2022).15 gen auf Flüchtlinge allgemein SVR-Forschungsbereich Zu demografischen und sozioökonomischen In- 2020: 29). Erste europäische Initiativen bemühen dikatoren sowie dem Integrationsverlauf beider Be- sich, afghanische und syrische Diaspora-Organisatio völkerungsgruppen liegen verschiedene Erhebungen nen aus verschiedenen Ländern zu kartieren, mit und Analysen vor. Diese nehmen vorrangig Flücht- einander zu vernetzen und zu stärken (vgl. DRC 2017; linge in den Blick (vgl. insb. Brücker et al. 2018; ARI/DRC 2018; DRC 2019). In diesem Kapitel werden Brücker et al. 2020); über afghanische und syrische zunächst Informationen über Rücküberweisungen Zuwanderinnen und Zuwanderer, die sich aus ande- nach Afghanistan bzw. Syrien zusammengetragen ren Gründen in Deutschland aufhalten, ist weniger (s. Kap. 3.1). Diese remittances sind eine Form indivi- bekannt. An dieser Stelle soll nur kurz auf die wich- duellen, transnationalen Handelns; andere (z. B. wie tigsten Daten hingewiesen werden. Beide Bevölke- sich die Verbundenheit zu mehreren Orten im tägli- rungsgruppen sind sehr jung; im Durchschnitt ca. 25 chen Leben ausdrückt oder was sie für politische Ein- Jahre alt (Statistisches Bundesamt 2021a: 58). Zum stellungen oder emotionale Identifikationsprozesse Vergleich: 2019 betrug das Durchschnittsalter der Be- bedeutet) sind bisher kaum erforscht (vgl. aber Christ völkerung mit deutscher Staatsbürgerschaft 45,6 Jah- et al. 2021; Sauer et al. 2021). Danach werden die re. Im Jahr 2020 waren 31 Prozent der afghanischen kollektiven Handlungsformen der beiden Communi- Bevölkerung und knapp 38 Prozent der syrischen Be- ties beleuchtet, gestützt auf die vom wissenschaftli- völkerung in Deutschland minderjährig (Statistisches chen Stab des SVR in Auftrag gegebenen Expertisen Bundesamt 2021a: 58; Tab. 2 im Anhang). Fragen (s. Kap. 3.2). der Bildungs- und Arbeitsmarktteilhabe, aber auch Werden die afghanischen und syrischen Commu- der Teilhabe am sozialen und politischen Leben in nities in Deutschland beschrieben und analysiert, Deutschland sind daher von besonderer Bedeutung. sind folgende Gesichtspunkte zu berücksichtigen, wie So hat beispielsweise die Zahl der Studierenden aus die gesichtete Literatur und die Expertisen deutlich Afghanistan und Syrien an deutschen Hochschulen machen: stark zugenommen – von 2017 bis 2020 um 61 Pro- Heterogenität: Von ‚der‘ afghanischen oder ‚der‘ zent für afghanische und um 233 Prozent für syrische syrischen Community zu sprechen, ist eine starke Studierende (DAAD 2021: 49). Vereinfachung. Beide Bevölkerungsgruppen sind sehr vielfältig: Sie unterscheiden sich in Alter, Ge- schlecht und Bildungsgrad sowie in ethnischer, 3 Transnationales Handeln auf sprachlicher, religiöser, politischer und sozialer individueller und kollektiver Ebene: Zugehörigkeit. Daneben bestimmen Faktoren wie Zeitpunkt und Umstände der Ankunft in Deutsch- Die afghanischen und die syrischen land, Aufenthaltstitel und -dauer sowie die famili- Communities in Deutschland äre und wirtschaftliche Situation die individuellen Lebenswirklichkeiten. Bisher ist kaum erforscht, wie von Deutschland aus- Fragmentierung: Konflikte in den Herkunftsländern gehende transnationale Aktivitäten beider Commu- können sich leicht auf die Diaspora übertragen. So nities auf individueller Ebene aussehen. Auch Unter- spiegeln sich auch in der afghanischen und der sy- suchungen zu gemeinsamen Handlungsformen und rischen Community die Trennlinien wider, die den der Selbstorganisation der afghanischen und der sy- Konflikt im Herkunftsland bestimmen (vgl. Ragab/ rischen Bevölkerungsgruppen in Deutschland stecken Antara 2018: 20; Helberg 2021: 116–117). Am Bei- 15 Die Bundesregierung plant derzeit, die Mehrfachstaatsangehörigkeit nicht nur in Ausnahmefällen, sondern generell zu ermög lichen (SPD/Bündnis 90, Die Grünen/FDP 2021: 118). 16
spiel der syrischen Community wird dies beson- ra-Akteure in Europa zunehmend untereinander.17 ders deutlich: Obwohl aus Syrien Geflohene das Soziale Medien spielen dabei eine wichtige Rolle Assad-Regime weitgehend ablehnen, gehen die (Info-Box 1). Gerade neuere afghanische Organisa- politischen Ansichten über die Zukunft Syriens aus- tionen verstehen ihren Auftrag zunehmend trans- einander. Im Extremfall begegnen sich in Deutsch- national: Der Fokus richtet sich nicht (ausschließ- land Täter und Opfer des Konflikts wieder – deutlich lich) auf die Integration in die Ankunftsgesellschaft, wurde dies in den Gerichtsprozessen um Folter und sondern auch darauf, Teil einer globalen afghani- Verbrechen gegen die Menschlichkeit, die von mitt- schen Diaspora zu werden. lerweile in Deutschland lebenden Syrern begangen wurden und in denen syrische Flüchtlinge als Zeu- 3.1 Finanzielle Rücküberweisungen gen auftraten (s. Kap. 3.2.2). Dynamik: Organisationen und kollektive Hand- Remittances – also private finanzielle Rücküberwei- lungsformen befinden sich im steten Wandel. Sie sungen von Migrantinnen und Migranten an Perso- ändern sich in ihrer Anzahl und Art, aber auch in nen in ihren Herkunftsländern – zählen zu den be- der Verschiebung ihrer inhaltlichen Prioritäten: kanntesten und messbarsten Formen transnationaler Während ursprünglich Entwicklungszusammenar- Beziehungen. Es ist anzunehmen, dass private Geld- beit und humanitäre Hilfe für das Herkunftsland im ströme aus dem Ausland für das Überleben der Zivil- Vordergrund standen, legen afghanische und syri- gesellschaften in Afghanistan und Syrien überlebens- sche Diaspora-Organisationen in den letzten Jahren wichtig sind (vgl. Dean 2015; Ross/Barratt 2021). Die verstärkt ihren Schwerpunkt auf Unterstützungs- Weltbank schätzt, dass internationale remittances im angebote für ihre neu angekommenen Mitbürge- Jahr 2020 3,9 Prozent des afghanischen Bruttoinland- rinnen und Mitbürger (vgl. SVR-Forschungsbereich produkts darstellten (World Bank 2022). Die Datenla- 2020: 29). Auch eine zunehmende Politisierung ist ge ist jedoch lückenhaft, u. a. da Überweisungen, die zu beobachten – einerseits in Bezug auf den Ver- am formalen Bankensystem oder an kommerziellen lauf der Konflikte in den beiden Herkunftsländern, Dienstleistern (wie Western Union oder Money Gram) andererseits mit Blick auf die Rechte und Teilhabe- vorbeigehen, nicht erfasst werden. Außerdem funk- chancen der Communities in Deutschland.16 Wäh- tioniert gerade in Kriegsländern das Bankensystem rend es vielen Diaspora-Organisationen an kontinu- selten flächendeckend bzw. es wird durch internatio- ierlicher Finanzierung und nachhaltigen Strukturen nale Sanktionen, auch im Zusammenhang mit Terro- fehlt, ist es anderen gelungen, sich zu professiona- rismusbekämpfung, gehemmt. Des Weiteren ist ins- lisieren und institutionalisieren. Ein Beispiel hierfür besondere für Afghanistan und Syrien das informelle ist die Gründung von Dachverbänden im Jahr 2013 Hawala-System traditionell von großer Bedeutung: Es für syrische Vereine und im Jahr 2020 für afghani- ermöglicht den Transfer von Bargeld über eine Serie sche Organisationen (s. Kap. 3.2). von Mittler-Instanzen. Darüber hinaus werden Über- Europäisierung bzw. Globalisierung der Diaspora: weisungen nicht nur an Menschen im Herkunftsland Wechselseitige transnationale Beziehungen beste- selbst geleistet, sondern auch an Verwandte in Dritt- hen nicht nur zwischen Personen und Organisatio- ländern entlang der Fluchtrouten. nen in Deutschland und im jeweiligen Herkunfts- Zu den bilateralen remittance-Strömen zwischen land, sondern auch zwischen Deutschland und Deutschland und Afghanistan schätzt die Deutsche afghanischen bzw. syrischen Communities, die in Bundesbank, dass im Jahr 2016 31 Millionen Euro anderen Ländern entstanden sind. So vernetzen nach Afghanistan geflossen sind. 2020 waren es be- sich syrische und insbesondere afghanische Diaspo- reits 109 Millionen Euro. Von Deutschland ausgehende 16 Ein Beispiel ist der Verein YAAR, der sich u. a. als Interessenvertretung afghanischer Flüchtlinge begreift und sich gegen Abschie- bungen einsetzt. 17 Exemplarisch hierfür stehen die Diaspora Network Alliance oder die Afghan Diaspora Initiative. 17
Sie können auch lesen