Ein Koffer voller Werkzeuge - Ein Blick in die Zukunft der europäischen Migrationsdebatte - Internationale Politik
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Migration Ein Koffer voller Werkzeuge Ein Blick in die Zukunft der europäischen Migrationsdebatte Roderick Parkes | Unser Autor träumt davon, dass die Diskussionen über Einwanderung in Europa 2014 eine unerwartete Wendung nehmen werden. Gegen einen wachsenden Populismus setzt sich die Einsicht durch, dass die EU ein neues, attraktives Einwanderungsregime braucht, will sie in der Welt bestehen. Skizze einer zukünftigen politischen Debatte. Diskussionen über die Einwande- regionalismus endlich ein verstärkter rungspolitik der EU sind seit jeher Mobilitätsgedanke Einzug in die sehr technische Angelegenheiten. Da Sphäre der höheren P olitik hält. geht es um „Ersatzmigration“, die schrumpfende Gesellschaften auffül- Es begann 2014 in Brüssel len könnte, um einen europäischen Es ist lehrreich, einen Blick zurück in Arbeitsmarkt, der die hellsten Köpfe die Zukunft zu wagen, um herauszu- aus dem Ausland anziehen müsste finden, wie alles begann. Der Anfang? und um gesteigerte Mobilität, die zu Wahrscheinlich jene Debatte, die 2014 einer „Optimierung des Währungsbe- in Brüssel aufkam: Es ging um die reichs“ – also der Euro-Zone – führen Frage, welches Migrationssystem die sollte. Früher oder später wird die EU brauche, um sich für die Zukunft Diskussion zwangsläufig darin enden, zu rüsten. Natürlich ist diese Diskus- dass politische Entscheidungsträger sion nicht wirklich neu – die Zukunft die Frage aufwerfen, welches Migrati- genießt unter Brüssels Technokraten onssystem Europa angesichts einer ja ohnehin einen sehr hohen Stellen- sich neu formierenden globalen Welt- wert. Mit nach vorne gerichteten Ge- ordnung wohl am besten zu Gesicht danken kann man den kurzsichtigen stehe. Kollegen aus der Politik seine Überle- Die folgenden Zeilen malen eine genheit demonstrieren. Zukunft aus, in der traditionelle Ideen Aber zurück zu der angesproche- aus dem Feld der internationalen Be- nen Debatte. Diese entpuppte sich ziehungen auf das Thema Migration eben nicht als die übliche technokrati- angewandt werden. Eine Zeit, in der sche Diskussion über abgegriffene durch die Konzepte des Neomerkanti- Themen wie den desolaten Zustand lismus, Neoterritorialismus und Neo- der europäischen Demografie oder die 62 IP • November / Dezember 2013
Ein Koffer voller Werkzeuge Notwendigkeit von Ersatzmigration. nen Gesellschaftsvisionen sind auf Besser gesagt: Sie entpuppte sich als dem Vormarsch: Ein ungesunder Mix eben so eine Diskussion, griff diesmal aus der Erwerbsbeteiligung von Frau- aber viel weiter. Aus einer provinziel- en, gesundheitspolitischen Durchbrü- len Debatte über das Verhältnis zwi- chen, sozialen Auffangnetzen und of- schen einem nachhaltigen Sozialsys- fenen Grenzen hätten Europa in eine tem und dem Prinzip der Freizügig- bankrotte, überalterte und auf Migra- keit entwickelten sich strategische tion angewiesene Gesellschaft ver- Fragestellungen. Regierungen mach- wandelt, murren sie und behaupten, ten sich plötzlich wirklich Gedanken dass es an der Zeit sei, die Uhren zu- darüber, welches Migrationssystem rückzudrehen. am besten zu Europa passen würde. Und doch stellt sich in der Retro Es ist schwer zu sagen, was letzt- spektive heraus, dass dies nur eine von endlich zur Öffnung dieser eher selbst- vielen Runden in dem jahrzehntealten bezogenen Debatte geführt hat; wo- Tauziehen zwischen Politik und Ge- möglich war es eine Überschneidung sellschaft ist. Die Populisten spielen mehrerer Faktoren. Globalen Umfra- sich als Erben der gen zufolge ist Europa aus der Liste Physiokraten, der Populisten mit vormoder- der beliebtesten Migrationsziele her- Malthusianer und nen Vorstellungen wollen ausgefallen. Rivalisierende regionale der Sozialdarwi- Grenzsysteme reagieren mit Protektio- nisten auf. Natio- die Uhr zurückdrehen nismus, als die Mitglieder der Schang- nale Ressourcen haier Organisation für Zusammenar- seien begrenzt, sagen sie, und dass der beit eine Kooperation mit Staaten des Staat im Begriff sei zu scheitern. Es sei neo-osmanischen und russisch-eurasi- wohl am besten, die Bevölkerung ruhig schen Raumes beginnen. Die BRICS- zu stellen und die Verwässerung der Staaten führen eine 90-tägige Befrei- Gesellschaft durch die Unterschichten ung von der Visapflicht und ein kultu- und Zuwanderer zu verhindern. relles Austauschprogramm ein. Die Die Volksparteien hingegen ent- syrische Regierung droht den Staaten puppen sich als Erben der Merkanti- mit einer Flüchtlingswelle, die sich auf listen, der Utopisten und der Marxis- die innenpolitische Lage auswirken ten. Ihre Vertreter gehen damit hau- würde. Moskau erklärt, dass es seine sieren, dass eine große, offene Gesell- Exilbevölkerung einsetzen wird, um schaft für den internationalen Einfluss die Annäherung der EU an Osteuropa eines Landes und Europas wichtig sei. zu untergraben. Das schrittweise Her- Und sie vertrauen darauf, dass der unterkühlen der transatlantischen Be- Staat die Mittel hat, solch eine Gesell- ziehungen wird auf den demografi- schaft zu verwalten. schen Wandel in den USA geschoben. So entwickelt sich im Vorfeld der Europawahl 2014 ein neuer politi- Grabenkämpfe vor der Europawahl scher Grabenkampf. Die verlogene Das erste Zeichen des Wandels ist Auseinandersetzung zwischen Links eine Neuformulierung progressiver und Rechts, zwischen Wachstum und Politik. Es geschieht unerwartet, denn Sparpolitik, weicht einem fundamen- populistische Parteien mit vormoder- taleren Streit. Anstatt sich mit ober- IP • November / Dezember 2013 63
Migration flächlichen Debatten über den Wohl- Großbritannien bedeutet das eine fahrtsstaat aufzuhalten, entbrennt willkommene Schwächung der inner- eine kompromisslose Diskussion über europäischen Zuwanderung, da sie die Wiederbelebung des Fortschritts- nicht länger als Sprungbrett für be- gedankens der Aufklärung. Veraltete liebtere Migrationsziele genutzt wer- progressive Ideen zu Migration wer- den. Auch ein neuerliches Engage- den auf den neuesten Stand gebracht. ment für die europäische Politik des So distanziert sich die Linke von freien Personenverkehrs steht auf der ihrer früheren Politik des auf Migra Agenda der Rechten. Das liegt vor- tion fußenden Wirtschaftswachstums. nehmlich an ihrer Bereitschaft, wirt- Schlecht bezahlte Zuwanderer för- schaftliche Ungleichheiten in der EU dern prekäre Arbeitsverhältnisse, die zu akzeptieren. Im Einklang mit im Endeffekt wenig zur Wirtschaft neuen technokratischen Taktiken, die beitragen; letztlich Ungleichheiten in Dänemark, Groß- Die politische Rechte können diese Ar- britannien und den Niederlanden för- beitsplätze nur dern, soll die Arbeitskräftemobilität ist verunsichert – durch neue Ein- soziale Kosten senken. von der eigenen Agenda wanderungswellen Doch die politische Rechte ist ver- besetzt werden, unsichert – von der eigenen Agenda. sagen sie. Die neue Migrationspolitik Obwohl sich die Konservativen darü- der Linken ist in vielerlei Hinsicht gar ber im Klaren sind, dass Migranten keine. Vielmehr geht es um die Stär- eine unerschlossene Wählerschaft kung des Wirtschaftswachstums, des sein könnten, fühlen sie sich nicht sozialen Zusammenhalts und eine Re- ganz wohl mit ihrer Neuentdeckung form der Sozialsysteme im Sinne der der transnationalen Bevölkerung. heimischen Bevölkerung. Diese Refor- Stimmen aus den USA, nach denen men werden die Migration schon das europäische Grundprinzip die steuern. Aufhebung der Verbindung zwischen Die Rechte konzentriert sich in Regierung und Territorium und ihr der Zwischenzeit darauf, europäische Ziel die Transformation ihrer Mit- Migranten zur Rückkehr zu bewegen. gliedstaaten in Migrationsstaaten sei, Man wird sich langsam bewusst, dass verärgern die Rechten.1 Sie entgeg- Europa an akutem Braindrain leidet. nen, dass auch die Postterritorialität Infolgedessen verspricht Brüssel, eine Art der Territorialität sei und Mobilitätspartnerschaften (wie es sie sich das Kernproblem wie folgt defi- auch mit Moldau und Georgien gibt) niere: Die Herausforderung für eine mit den USA, Australien und Kanada auf globaler Ebene selbstbewusst agie- zu schließen. Dies würde EU-Bürgern rende EU ist es, Mobilität und Territo- helfen, Zeit im hochentwickelten rialität wieder in Einklang zu bringen. Ausland zu verbringen, bevor sie den Erstaunlicherweise gelingt jedoch Nachhauseweg antreten. ausgerechnet einer sozialistischen Re- Für einige Mitgliedstaaten wie gierung in dieser Frage der Durch- 1 Siehe zum Beispiel James F. Hollifield: Ten years on: has the European migration state finally emerged?, International Migration Review, 3/2014, S. 885–912. 64 IP • November / Dezember 2013
Ein Koffer voller Werkzeuge bruch: Anfang 2014 betreibt man in lich anwendungsorientierten Ergeb- Paris Effekthascherei bei der Zuwan- nisse kurbeln den von Sprachbarrie- derung aus Mitteleuropa. Dann ren geplagten europäischen Arbeits- kommt die Überraschung: Einwande- markt umgehend an und etablieren rer regen an, dass man Lehren aus eine visuelle Umgangssprache der po- ihren eigenen geschichtlichen Erfah- litischen Macht und des Symbolismus. rungen, der Diskrepanz zwischen na- Als diesen hervorragenden Ideen tionaler und staatlicher Identität, zie- allerdings ein Aufschrei aus der Bevöl- hen könne.2 Noch überraschender ist kerung entgegenschlägt, richten kon- es, dass jemand in Paris auf sie hört. servative Politiker ihre ganze Auf- merksamkeit auf einen vernachlässig- Eine Politik des „terroir“ ten Teil der Gesellschaft – diejenigen, Also bringen die Franzosen die Deut- die sie abfällig die „abgeschnittene schen dazu, eine neue europäische Bevölkerung“ nen- Raumwahrnehmung, ein neues Ge- nen: die Immobi- Ein „System intelligenter fühl der Vertrautheit zu sponsern – len. Unter Politi- Grenzen“ macht eine Politik des „terroir“ für ein neues kern, die Immig- Migrationszeitalter. Autobahnen, Zug ranten bis dahin Reisen angenehmer gleise und Flugrouten verschmelzen entweder für ar- im geopolitischen Raum mit Öl-Pipe- beitslose Sozialstaatsschmarotzer oder lines, als Regierungen ihre Bevölke- hilflose Flüchtlinge hielten, reift lang- rung mit einer neuen europäischen sam die Erkenntnis, dass es in Wirk- Geografie innerhalb eines neuen euro- lichkeit die weniger mobilen Men- päischen Raummanagements vertraut schen sind, die sozioökonomischen machen. Ein bis zu diesem Zeitpunkt Veränderungen zum Opfer fallen, und unbekannter niederländischer Desig- nicht ihre mobilen Gegenüber, die ner macht sich einen Namen mit der sich an eben diese Situationen ange- „Ästhetik des europäischen Reisens“, passt haben. die See- und Flughäfen zusammen- Als populistische Parteien versu- bringt, um das neue europäische „Sys- chen, sich bei den „Territorialverwur- tem intelligenter Grenzen“ zu einer zelten“ anzubiedern, müssen die angenehmen Erfahrung für alle Betei- Konservativen handeln. Ein teures ligten zu machen. „virtuelles Mobilitätsprogramm“, ba- Vor dem Hintergrund dieses Wir- sierend auf der neuesten Konferenz- bels um eine neue raumbezogene und technologie, wird aufgesetzt, ist je- ästhetische Art der Kommunikation doch nur bedingt erfolgreich. Arbeit- ist niemand überrascht, als der polni- geber ziehen es vor, dass ihre Ange- sche EU-Kommissar vorschlägt, eine stellten im Büro präsent sind, egal wie gemeinsame visuelle Sprache inner- ausgereift die Technologie auch sein halb Europas einzuführen. Zu diesem mag. Diese einfache Lösung erweist Zweck wird ein Forschungszentrum sich als Hindernis der europäischen in Bialystok gegründet. Die erstaun- Freizügigkeitsstrategie, deren büro- 2 George Schopflin: Nationhood and state legitimation in the European Union, Nations and Nati- onalism, 1/2014, S. 81–91. IP • November / Dezember 2013 65
Migration kratischer Rattenschwanz die Schul- Die Liberalen befürworten – ver- abgänger und Geringqualifizierten of- gleichbar mit den neuen Handelsab- fensichtlich abschreckt. kommen der EU – eine Reihe von bila- teralen Migrationsabkommen mit an- Der Nationalstaat ist nicht effektiv deren Großmächten und Regionen. Die plötzliche politische Präsenz der Die eigentliche Lösung geht aber über Themen Bevölkerung und Territoria- die „TTIP-ifizierung der Migration“ lität verunsichert wiederum die Libe- hinaus. Als Antwort auf die neue zwi- ralen – für sie gehört dieses Gerede ins schen- und innerstaatliche Machtver- 19. Jahrhundert. Warum überhaupt teilung entwirft die EU subregionale dieser ganze Auf- Migrationssysteme, die urbane und Zukünftig entwirft wand einer Natio- ländliche Gegenden verbinden. Die nenbildung auf eu- entstehende Kette aus städtisch-ländli- die EU subregionale ropäischer Ebene, chen Ballungsgebieten bewältigt einer- Migrationssysteme fragen sie. Wenn seits die Unstimmigkeiten zwischen eines klar ist, dann Stadt- und Landgebieten beim Thema dass der Nationalstaat, unabhängig Migration und ist andererseits ein at- von seiner Größe, seine Effektivität traktives Angebot für nichteuropäi- auf der internationalen Bühne längst sche Migranten. Eine südländische, eingebüßt hat. eine nordische und eine Visegrád- Der Schlüssel zur internationalen Gruppe haben ihre eigenen, relativ Politik ist der Interregionalismus, den charakteristischen Arbeitsmarktbe- die EU, das exemplarische und ur- dürfnisse und nutzen ihre wirtschaft- sprünglichste regionale Gebilde, ja lichen, historischen, kulturellen und schon vorlebt – nicht zuletzt beim sprachlichen Hintergründe, um die Thema Migration. Immerhin wurde besten nichteuropäischen Arbeiter für das regionale EU-Migrationsregime sich zu gewinnen. entworfen, um die Bedürfnisse des Im Nachgang der Euro-Krise besit- Arbeitsmarkts zur Zeit des Kalten zen Europas Politiker nun einen gan- Krieges zu bedienen. Mit der europäi- zen Koffer voller Werkzeuge, um die schen Erweiterung expandierte es „Ersatzmigration“ anzukurbeln, die nach Mitteleuropa. Mittlerweile wirkt EU in einen „optimierten Währungs- das Regime als Puffer gegenüber Ost- bereich“ zu verwandeln und einen europa, während die EU sich mit den Binnenarbeitsmarkt zu schaffen. zweifelhaften Vorteilen der westlich geführten Globalisierung auseinan- Roderick Parkes dersetzt. Wie kann das Migrationsre- leitet das EU-Programm gime, das den EU-Mitgliedstaaten in des Polnischen Instituts für Internationale der Vergangenheit half, mit globaler Beziehungen (PISM) Bipolarität, Tripolarität und danach in Warschau. Unipolarität umzugehen, also an eine multipolare Weltordnung angepasst werden? 66 IP • November / Dezember 2013
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