Ein künstlerisch-ethnografisches Langzeitprojek 2020-21 Informationen zum Auftakt am Zürcher Theater Spektakel 2020 - Zürcher Theater Spektakel
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Schwarzenbach Ein künstlerisch-ethnografisches Komplex Langzeitprojek 2020–21 – eine andere Zukunft erinnern Informationen zum Auftakt am Zürcher Theater Spektakel 2020 Kontakt Die Arbeitsgemeinschaft [ké*sarà], gegründet vom Sozialanthropologen Rohit info@schwarzenbach-komplex.ch Jain, dem Theaterschaffenden Tim Zulauf und der Historikerin Paola De Martin, nimmt das Gedenkjahr zur Ablehnung der Schwarzenbach-Initiative zum Anlass für ein künstlerisch-ethnografisches Langzeitprojekt. Erinnert wird an die hart- Video-Appell näckige Tradition der Fremdenfeindlichkeit und des strukturellen Rassismus in www.schwarzenbach-komplex.ch der Schweiz. Beispiele dafür lassen sich mit Leichtigkeit finden: Sei es das unmenschliche Saisonnier-Statut, das den Familiennachzug verbot, seien es die ausbeuterischen Arbeitsbedingungen im Baugewerbe, die Baracken, in denen Räume Erinnern, Erinnerungen die «Gast»-Arbeiter*innen untergebracht waren, oder die unverhohlene Ableh- versammeln nung ihrer Lebensart, die in der heute alltäglich gelebten Italianità gerne ver- gessen geht. Das von [ké*sarà] bis Sommer 2021 angelegte Vorhaben macht Sa 15.08. 17:00–18:30 die emotionalen und unaufgearbeiteten Momente der jüngeren Schweizer Ristorante Cooperativo Geschichte sinn- und augenfällig. Dadurch wird – ausgehend von der Kritik am «Schwarzenbach-Komplex» – eine vielstimmige und transformative Erinne- Do 20.08. 18:30–20:00 rungskultur für Gegenwart und Zukunft der Schweiz erprobt. Punto d‘Incontro Sa 22.08. 17:00–18:30 Libreria Italiana Mi 26.08. 20:00 - 21:30 Volkshaus, Blauer Saal Programm www.theaterspektakel.ch/pro- gramm20/produktion/kesara/ Jours Fixes ab Sa 26.09.2020, Theaterhaus Gessnerallee, Zürich 1 Zum Auftakt erscheinen am Zürcher Theater Spektakel 2020 unter dem Titel «Räume erinnern, Erinnerungen versammeln» drei Formate: Gefilmt und mon- tiert wird ein Video-Appell, der vom Zürcher Theater Spektakel, auf der Websei- te www.schwarzenbach-komplex.ch und auf Social Media-Kanälen migranti- scher Communities erscheint. Eine Verdichtung von Archivmaterialien und Berichten von Zeitzeug*innen sowie Fachleuten durchbricht den Mantel des Vergessens und lädt ein, sich am kollektiven Prozess bis ins Jahr 2021 zu betei- ligen. Weiter holen drei Ortsbegehungen persönliche Erinnerungen und Berichte von Menschen mit Migrationserfahrung aus den 1960er- und 1970er-Jahren in die Gegenwart: An geschichts- und emotionsträchtigen Orten, wie dem Risto- rante Cooperativo, dem Punto d’Incontro und der Libreria Italiana, verdichten sich Gespräche zwischen Zeitzeug*innen und Vertreter*innen jüngerer Generati- onen zum Ansatz einer neuen migrantischen Geschichtsschreibung. Und [ké*sarà] schliesslich gipfelt mit der grösser angelegten «Versammlung der Vielen» im
Blauen Saal des Volkshauses der erste Teil des Projekts in einem mehrstimmi- gen Erinnern von Zeitzeug*innen, Betroffenen und Gästen aus Wissenschaft und Kultur. Damit wird die für das Projekt zentrale erinnerungspolitische Frage lanciert, wie historisches Unrecht verhandelt und wieder gut gemacht werden kann – und soll. Hintergrund Die Schwarzenbach-Initiative, die am 7. Juni 1970 nur knapp abgelehnt wurde, schüttelte die Schweiz bis aufs Innerste durch. Ums Haar hätten gut 300‘000 mehrheitlich italienische «Gast»-Arbeiter*innen das Land verlassen müssen. Das Trauma kam aber nicht aus heiterem Himmel. Die Initiative hatte lediglich die rassistische Gewalt des damaligen «Gast»-Arbeiterregimes sichtbar ge- macht: «Gast»-Arbeiter*innen wurden in engen staatlichen Bewilligungs-Syste- men verwaltet, waren oft in Baracken unter unmenschlichen Bedingungen untergebracht, durften ihre Familien nicht nachziehen, wurden aus Geschäften und öffentlichen Räumen verwiesen und tagtäglich als «unzivilisiert» oder als «Tschinggen» beleidigt. «Wir haben Arbeiter gerufen und es sind Menschen gekommen», schrieb Max Frisch nüchtern. Er formulierte aber auch, es stecke kein Rassismus hinter dem «Gast»-Arbeiterregime, sondern lediglich ein aus Neid geborener, verständlicher «Fremdenhass», der zur Ablehnung der Migrant*innen führe. Diese Ambivalenz bei Max Frisch wirkt bis heute in der Erinnerungspolitik, das Unrecht schwingt nach. Trotzdem ist die Gewalt von damals nie gesamtgesellschaftlich aufgearbeitet worden. Im Gegenteil: Sie wiederholt sich, wechselnden migrantischen Gemeinschaften gegenüber, im- mer wieder neu. In den 1980er und 1990er Jahre wurden tamilische und ex-ju- goslawische Geflüchtete zum Feindbild, und auch sie arbeiteten schliesslich nur allzu oft in dequalifizierten Stellen des Schweizer Arbeitsmarkts. Das soge- nannte «Dreikreisemodell» wurde etwa mit der europäischen Freizügigkeit zum «Zweikreisemodell», durch das Geflüchtete und Sans-Papiers aus nicht-europä- ischen Drittstaaten indirekt in die Arbeit in Billiglohnsektoren gedrängt werden. Die regelmässigen rechtspopulistischen Kampagnen und Initiativen wiederho- len zwar den Geist von Schwarzenbach. Sie lenken aber auch von den breit abgestützten staatlichen und wirtschaftlichen Mechanismen ab, die systema- tisch Wohlstand für privilegierte Einheimische schaffen und den politischen Ausschluss von Migrant*innen legitimieren. Kollektives Langzeitprojekt Ziel von «Schwarzenbach-Komplex» ist die Stärkung einer hierzulande wenig bekannten Erinnerungskultur, die nachhaltig die versehrten Beziehungen zwi- schen «Uns» und «den Anderen» zu reparieren versucht. Dazu möchte das Projekt bewusst das Community-Building zwischen Zeitzeug*innen, Alltagsex- pert*innen, Aktivist*innen, Kulturschaffenden, Forschenden und der breiten Öffentlichkeit stärken, um Räume, Sprachen und Beziehungen eines kollekti- ven Erinnerns und Aufarbeitens zu erproben. Gerade eine über verschiedene Rassismuserfahrungen hinweg verknüpfte breite Solidarität und wechselseitige Anerkennung scheint im Kontext aktueller Bewegungen rund um koloniale Schuld und Entschädigung notwendig. Dabei soll ein psychologischer Effekt nicht aus den Augen verloren gehen: Derjenige der Scham der Mehrheitsgesell- schaft über ihre Schuld. Die Verdrängung, dass es zu so etwas wie der Schwar- zenbach-Initiative unter den Vorzeichen der direkten Demokratie überhaupt hatte kommen können, führte zur immer neuen Wiederholung der Rede von der Überfremdung und zur stetigen Verschärfung im Ausländergesetz. Mit einer ersten Zusammenkunft am 26. September 2020 im Theaterhaus Gessnerallee beginnt eine Reihe von Jours Fixes: In monatlichen Treffen werden Erinnerungen und Erfahrungen ausgetauscht, Wissen gebündelt, ein Archiv aufgebaut und Ideen für einen grösseren, kollektiven Auftritt des «Schwarzen- bach-Komplex» im Sommer 2021 gesammelt. Zusammen mit konkreten Bei- spielen aus Kunst, Literatur und Forschung werden folgende und ähnliche Fragen untersucht: Wie hat die Gewalt des «Gast»-Arbeiterregimes Migrant*in- nen, ihre Nachkommen sowie die Dominanzgesellschaft geprägt? Wirkt diese gewaltvolle Geschichte bis heute in den inter-ethnischen Beziehungen und in der Migrationspolitik weiter – und wenn ja, wie? Und wie liessen sich histori- sche Schuld und Rassismus im Hinblick auf ein demokratisches Zusammenle- ben in der postmigrantischen Schweiz in einem kollektiven Prozess «von unten» aufarbeiten?
Die Formate zum Auftakt am Zürcher Theater Spektakel 2020 Video-Appell Der Video-Apell beginnt mit historischem Bildmaterial aus der Zeit der Schwar- zenbach-Initiative. Ausgehend von einer Schilderung der 1970er Jahren führt eine rasante, maschinelle Montage in die Gegenwart: Sie zeigt Arbeitsverhält- nisse unterschiedlicher arbeitsmigrantischer Communities auf. Wie Körper von Migrant*innen beim Landeseintritt geröntgt und auf volle Funktion geprüft wer- den. Wie sie in Baracken-Lagern minimalversorgt wurden. Ob Italiener*innen im Tunnel- und Strassenbau oder in der Gastronomie, Tamilen in den Grossküchen des Gastro- und Tourismus-Gewerbes oder als Erntehelfer, Deutsche oder Asylbewerber*innen in der Pflege oder Osteuropäerinnen in der 24-Stunden Altenbetreuung … migrantische Arbeitskräfte werden nur zu oft in das unterste Lohnsegment der Schweiz kanalisiert. In den Bilder-Strom eingewoben und ihn vorantreibend sind Stimmen von Fachleuten und Zeitzeug*innen: Die Erinnerungen und Aussagen von Fatima Moumouni, Salvatore Di Concilio, Catia Porri, Samir, Melinda Nadj Abonji und Kijan Espahangizi durchbrechen den Mantel des Vergessens und machen das gesellschaftliche Trauma der Schwarzenbach-Initiative und des unaufgearbeite- ten «Gast»-Arbeiterregimes spürbar. Der Video-Appell fordert auf und lädt ein: Macht mit an einer anderen Erinnerungspolitik! Konkret wird das möglich zu den monatlichen Jours Fixes, die ab 26. September 2020 bis Juli 2021 zur grossen Archiv- und Bühnenarbeit am Zürcher Theater Spektakel 2021 führen. 2 «Räume erinnern, Erinnerungen versammeln» Den Erinnerungs-Anstoss zum «Schwarzenbach Komplex» geben drei Treffen. Zusammen mit Migrant*innen, die während der 1960er und 1970er Jahre in die Schweiz einwanderten und damals aktiv waren, werden wichtige Orte der Ar- beitsmigration besucht. Zeitzeug*innen teilen ihrer Erinnerungen, verdichten sie im Gespräch mit dem Publikum und reichern sie an: Mit dazu eingeladen sind eine zweite und dritte Person, die diese Erinnerungsschichten aus ihrer Situati- on heraus ergänzen – aus den Erfahrungen jüngere Migrationsbewegungen oder vom Gesichtspunkt anderer gesellschaftlicher Positionen aus. Über den Dialog mit dem Publikum entsteht ein dichtes Geflecht von Erfahrungen und Empfindungen. Ob die Kinder von Arbeitsmigrant*innen als «Schrankkinder» versteckt aufwachsen mussten, oder ob Industriearbeiter ihr politisches En- gagement zu verheimlichen hatten – es geht darum, den «Mut zur eigenen Erinnerung» anzuregen und Raum zu schaffen für die Relevanz der eigenen Erfahrungen. Was so im kleinen, intimeren Rahmen angeregt wird, ist ein proto- typisch Versuch für die folgende Arbeit am «Schwarzenbach-Komplex»: Aus der Verknüpfung verdrängter biographischer Erzählungen wird eine neue, migranti- sche Geschichtsschreibung entworfen. Sie schreibt sich in die offizielle Schwei- zer Historie ein, fordert Wiedergutmachung für die Folgen rassistischer Fremdarbeitspolitik und knüpft neue, solidarische Bündnisse.
«Ristorante Cooperativo: Gegenkultur, Genossenschaft und Gewerkschaft» Samstag 15.8. 17–18:30 Uhr / St. Jakobstrasse 6, 8004 Zürich Mit: Letizia Fiorenza und David Sautter (Musik), Salvatore Di Concilio, Maria Satta und Raffy Spilimbergo. Moderation: Tim Zulauf Salvatore Di Concilio, ehemaliger Gemeinderat, Schreiner und langjähriger Gewerkschaftssekretär beim Schweizerischen Metall- und Uhrenarbeiter-Ver- band unterhält sich mit dem Drucker und Aktivisten des 1. Mai-Komitees Raffy Spilimbergo. Die Einwirkungen der italienischen Arbeiter*innen auf die konser- vative und durchaus problematische Schweizer Gewerkschaftspolitik werden angesprochen und die von ihnen bewirkten Veränderungen dargelegt. Dabei fliessen die persönlichen Erfahrungen am Arbeitsplatz ein. Lebendig lässt sich nachvollziehen, wie selbst das positiv klingende Instrument «Gesamtarbeitsver- trag» noch bis in die 1980er Jahre zur Diskriminierung von Ausländer*innen benutzt wurde. Was hat die Billiglohnarbeit der Italiener*innen den Schwei- zer*innen an sozialem Aufstieg ermöglicht? Wie sahen die Beziehungen am Arbeitsplatz und in Arbeiterbaracken aus? Das Publikum ist eingeladen, sich an diesem assoziativen Prozess des Erinnerns zu beteiligen. Zum Einstieg stellt Maria Satta, Mitglied des Vorstands der Genossenschaft Società Cooperativa Italiana, die bewegte Geschichte des Lokals vor: Ob Lenin und Angelica Balabanova oder, zu Schwarzenbach Zeiten, der Gewerkschafts- führer Ezio Canonica: Das «Coopi» war Treffpunkt des Antifaschismus und der Arbeiter*innen-Solidarität. Zwischen den Sprech-Beiträgen schafft das Duo Letizia Fiorenza und David Sautter mit italienischen und albanischen Gitar- ren-Balladen Räume, in denen verschlungene europäische Migrationswege hörbar werden, aber auch Gewalt an italienischen Arbeitsigrant*innen, wie etwa der Mord an Alfredo Zardini an der Brauerstrasse, 1971. Ristorante Cooperativo: www.cooperativo.ch/pages/100jahre.htm Letizia Fiorenza: www.letizia-fiorenza.com David Sautter: www.david-sautter.com 1. Mai Komitee: www.1mai.ch 3 «Punto d’Incontro: Der Widerstandsraum» Donnerstag 20.8. 18:30–20 Uhr / Josephstrasse 102, 8005 Zürich Mit: Maria-Angeles Tinari-Cueto, Victor Tinari und Pino Esposito Moderation: Tim Zulauf Maria-Angeles Tinari-Cueto, genannt «Kuki», hat die bewegte Geschichte des Treffpunkts «Promoción Cultural Española» miterlebt: 1974 gegründet im ersten Stock an der Josephstrasse 102, als Versammlungsort spanischer, anti-frankis- tischer Kommunist*innen, hat sich der Raum als «Punto d‘Incontro» den italieni- schen Einwander*innen geöffnet und ist heute ein wesentlicher Bezugspunkt für migrantische Gemeinschaften. Im Gespräch berichten Kuki und ihr Sohn, der Touristiker Victor Tinari, von den persönlichen und politischen Bedeutungen des Orts, der lange Zeit auch massgeblich von Angelo Tinari – dem Mann von Kuki und Vater von Victor – mitgestaltet worden war.
In einem Einschub stellt der Filmemacher Pino Esposito Szenen aus seinem noch unveröffentlichten Dokumentarfilm zu Angelo Tinari und dessen Wirken für die politisch Linke in Zürich vor: «Gast»-Arbeiter*innen erscheinen in Espositos dichtem Porträt nicht als Opfer der Verhältnisse, sondern als wesentliche Ak- teur*innen zur Öffnung einer gefährlich verhockten Schweiz. So hat Angelo Tinari nicht nur das Leben in den Baracken festgehalten und Arbeiter*innen poli- tisiert, sondern auch an der Gründung von Radio LoRa und dem 1.Mai-Komitee mitgewirkt. Anhand von Fotos aus Angelo Tinaris Nachlass gehen Kuki, Victor Tinari und Pino Esposito schliesslich konkreten Stationen in der Geschichte des Kampfes um politische Teilhabe und Anerkennung nach. Das Publikum ist mit eingeladen, sich an der Bereicherung des Erinnerungsstroms zu beteiligen. Pino Esposito: www.teatro-oziosazio.ch 4 «Libreria Italiana: Im Bauch der Sprache» Samstag 22.8. 17–18:30 Uhr / Hohlstrasse 30, 8004 Zürich Mit: Lisetta Rodoni, Melinda Nadj Abonji und Catia Porri. Moderation: Tim Zulauf Lisetta Rodoni und ihr inzwischen verstorbener Mann Sandro gründeten die Libreria Italiana 1961. Der NZZ berichtete Lisetta Rodoni «Damals galt die Eröffnung einer italienischen Buchhandlung als Provokation, dabei war es ein Bedürfnis der Anwohner. Jemand sagte uns, wir hätten Mut, das Schild ‹Libreria Italiana› aufzuhängen.» Nach dem ersten Standort an der Militärstrasse im Kreis 4 befindet sich das Geschäft seit 1976 an der Kurzgasse und ist Insel und Institution im Rotlicht-Milieu. Als Treffpunkt italienischer Intellektueller stand das Geschäft unter ständiger polizeilicher Beobachtung: Die Fichen zu den alltäglichen Vorgängen in der Buchhandlung sprechen Bände von einem Anti- kommunismus, der sich in den 1970er und 1980er Jahren, gemischt mit Auslän- der*innenfeindlichkeit, zur inoffiziellen Staatsideologie der Schweiz geweitet hatte. Ein Audiowalk führt das Publikum durch die Geschichte des Ladens und weiter vor den an der Brauerstrasse gelegenen «Brauerhof» – der ehemaligen Bier- schänke «Grüezi wohl, Frau Stirnimaa». Dort wurde 1971 der Arbeiter Angelo Zardini totgeschlagen – ein fremdenfeindlicher Mord, der zu kaum nennenswer- ten Haftstrafen führte. Im Gemeindezentrum Bäckeranlage knüpfen die Schrift- stellerin Melinda Nadj Abondij und die Fotografin Catia Porri dann die Fäden aus ihren Biographien zusammen mit einer ureigenen Geschichte der Literatur: Beide haben mit ihren Familien unter dem Regime des Saisonnierstatutes Leid erlitten. Beide fanden eine Sprache und arbeiten weiter an Wegen, um diese Geschichte neu zu ordnen und zu verstehen. Lisetta Rodoni wiederum kennt die Bücher dazu. Libreria Italiana: www.libreriaitaliana.ch
«Schwarzenbach Komplex – Die Versammlung der Vielen» Volkshaus, Blauer Saal, Stauffacherstrasse 60, 8004 Zürich Mittwoch 26.8. 20–22.15 Uhr Mit: Rosanna Ambrosi, Francesca Falk, Marina Frigerio, Melinda Nadj Abonji, Catia Porri, Samir, Victor Tinari, Henri-Michel Yéré Moderation: Rohit Jain und Catia Porri Offizielle Archive schweigen nur zu oft über die Geschichte der Andere: Wie lässt sich eine eigene, befreiende Sprache finden, um das Unrecht von damals auszudrücken, fragt etwa die Autorin Melinda Nadj Abonji im Video-Appell zum «Schwarzenbach-Komplex». Gewisse illegalisierte Kinder haben ihre Erlebnisse jahrzehntelange verdrängt, wie die Betroffene Catia Porri berichtet. Wie kann und soll historisches Unrecht aus Zeiten des «Gast»-Arbeiterregimes erinnert und aufgearbeitet werden? Wie kann dieser Prozess zu einer wahrhaft vielstim- migen demokratischen Öffentlichkeit führen? Die «Versammlung der Vielen» stellt sich den zutiefst emotionalen Herausforderungen mit diesen Leitfragen. In einem diskursiv-performativen Setting treffen unterschiedliche Geschichten, Affekte, Erinnerungen und erinnerungspolitische Ansätze aufeinander. In einem ersten, inneren Gesprächskreis tauschen sich Zeitzeug*innen aus, um die Empfindungen von Damals ins Heute zu holen und zu reflektieren: Der Touristiker Victor Tinari wuchs in politisiertem Elternhaus rund um das Punto d‘Incontro auf. Die Psychologin Marina Frigerio sammelte die Erzählungen von «Gast»-Arbeiter*innen-Kindern, die im Geheimen aufwuchsen, weil der Famlien- nachzug verboten war. Und die Schriftstellerin Rosanna Ambrosi setzte sich im Rahmen der Colonie Libere für die Rechte und die Bildung von Kindern und ihren Eltern ein. Catia Porri, die sich als Fotografin und Journalistin auch auf- grund eigener Erfahrungen für die Aufarbeitung illegalisierter Saisonnier-Kinder engagiert, führt das Gespräch, das in zwei Blöcken zu den Fragen «Was erin- nern?» und «Wie erinnern?» aufgebaut ist. 5 In beiden Runden wird das Gespräch mit zwei Stimmen aus einer «zweiten Reihe» konfrontiert. In kurzen spontanen Statements reflektieren engagierte Expert*innen die Erinnerungen und Erzählungen im Raum und schaffen neue Assoziationen: Der Filmemacher Samir spricht als ehemaliger Gewerkschafter und bringt neue Erkenntnisse aus seinem laufenden Filmprojekt zu «Gast»-Ar- beit und Arbeiter*innen-Organisationen ein. Die Autorin Melinda Nadj Abonji denkt vor dem Hintergrund ihrer durch das Saisonnier-Statut getrennten Familie über die literarischen Fragen zur Möglichkeit von Erinnerung, Aufarbeitung und Verschiebung von Leid nach. Der Soziologe und Dichter Henri-Michel Yéré wirft einen postkolonialen und global geprägten Blick auf ein für ihn bis vor Kurzem unbekannte Kapitel der Schweizer Geschichte. Und Francesca Falk, Historikerin und selbst Seconda, lässt Erfahrungen aus einem Oral History-Projekt zu einer migrantischen Geschichte der Schwarzenbach-Initiative einfliessen. Durch die beweglichen Verbindungen von verschiedenen Erinnerungen, Analy- sen und Sprechpositionen entsteht eine assoziative und experimentelle Anlage für eine vielstimmige Erinnerungspolitik. Die Versammlung findet in zwei Teilen mit Pause statt. Das Publikum wird gezielt eingeladen, sich zu beteiligen.
Stammtisch «Remember fremd – 50 Jahre Schwarzenbach und die Folgen» Donnerstag, 27.08. 18–19 Uhr Restaurant Habesha, Weststrasse 192, 8003 Zürich Mit: Catia Porri und Tim Zulauf. Organisation und Moderation: Maria-Cecilia Quadri und Nina Tshomba Tim Zulauf von der Gruppe [ké*sarà] spricht mit der Aktivistin Catia Porri, Mitbe- gründerin der Tesoro-Community zur Entschädigung von illegalisierten Kindern: Zum fünfzigjährigen Jubiläum der traumatisierenden, ausländer*innen-feindli- chen Überfremdungs-Initiative beginnt mit dem «Schwarzenbach-Komplex» ein länger angelegter Erinnerungs- und Aufarbeitungsprozess: Am Zürcher Theater Spetakel 2020 finden in Ortsbegehungen und mit der «Versammlung der Vie- len» Momente des gemeinsamen Erinnerns statt – Zeitzeug*innen der 1960er und 1970er Jahre berichten von für sie relevanten Orten und Geschehnissen, Expert*innen und jüngere migrantische Generationen reflektieren Integrations- konzepte, Assimilationszwänge und neues Selbstbewusstsein. Im Anschluss entwickeln [ké*sarà] in regelmässigen Treffen eine kollektiven Arbeit, die im Sommer 2021 vorgestellt wird. Was kann die Arbeit am «Schwarzenbach-Kom- plex» bringen? Zum Stammtisch sprechen wir darüber, mit welchen Mitteln und Forderungen langfristige Erinnerungsarbeit, im Gegensatz zur punktuellen Gedenk- oder Jubiläums-Minute, Perspektiven auf eine andere Gesellschaft eröffnen kann. Dank Das Team von [ké*sarà] bedankt sich für die freundliche Unterstützung durch die Fachstelle Integration Kanton Zürich, das Zürcher Theater Spektakel, das Theaterhaus Gessnerallee, sowie für die tatkräftige Unterstützung von Catia Porri und Salvatore Di Concilio. Bildnachweise 1 - Angelo Tinari, PCI – Partido Comunista Italiano, Wengistrasse Zürich, Redaktion der Zeitung «Realtà Nuova», 1981 2 - Italienerinnen sortieren Schoggistengeli in der Fabrik von Lindt & Sprüngli in Zürich, 1970. Foto: KEYSTONE/Photopress-Archiv/Dejaco 3 - Angelo Tinari, Baracca del Sole, Altstetten, 1982 4 - Filmstill aus «Siamo Italiani», 1964. Ein Film von Alexander J. Seiler, Rob Gnant, June Kovach. Kamera Rob Gnant 5 - Angelo Tinari, Seminar der PCE – Partido Comunista de España, Genf, 1978
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