Ein künstlerisch-ethnografisches Langzeitprojek 2020-21 Informationen zum Auftakt am Zürcher Theater Spektakel 2020 - Zürcher Theater Spektakel

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Ein künstlerisch-ethnografisches Langzeitprojek 2020-21 Informationen zum Auftakt am Zürcher Theater Spektakel 2020 - Zürcher Theater Spektakel
Schwarzenbach                   Ein künstlerisch-ethnografisches
Komplex                         Langzeitprojek 2020–21
– eine andere
Zukunft erinnern                Informationen zum Auftakt am
                                Zürcher Theater Spektakel 2020

Kontakt                         Die Arbeitsgemeinschaft [ké*sarà], gegründet vom Sozialanthropologen Rohit
info@schwarzenbach-komplex.ch   Jain, dem Theaterschaffenden Tim Zulauf und der Historikerin Paola De Martin,
                                nimmt das Gedenkjahr zur Ablehnung der Schwarzenbach-Initiative zum Anlass
                                für ein künstlerisch-ethnografisches Langzeitprojekt. Erinnert wird an die hart-
Video-Appell                    näckige Tradition der Fremdenfeindlichkeit und des strukturellen Rassismus in
www.schwarzenbach-komplex.ch    der Schweiz. Beispiele dafür lassen sich mit Leichtigkeit finden: Sei es das
                                unmenschliche Saisonnier-Statut, das den Familiennachzug verbot, seien es die
                                ausbeuterischen Arbeitsbedingungen im Baugewerbe, die Baracken, in denen
Räume Erinnern, Erinnerungen    die «Gast»-Arbeiter*innen untergebracht waren, oder die unverhohlene Ableh-
versammeln                      nung ihrer Lebensart, die in der heute alltäglich gelebten Italianità gerne ver-
                                gessen geht. Das von [ké*sarà] bis Sommer 2021 angelegte Vorhaben macht
Sa 15.08. 17:00–18:30           die emotionalen und unaufgearbeiteten Momente der jüngeren Schweizer
Ristorante Cooperativo          Geschichte sinn- und augenfällig. Dadurch wird – ausgehend von der Kritik am
                                «Schwarzenbach-Komplex» – eine vielstimmige und transformative Erinne-
Do 20.08. 18:30–20:00           rungskultur für Gegenwart und Zukunft der Schweiz erprobt.
Punto d‘Incontro

Sa 22.08. 17:00–18:30
Libreria Italiana

Mi 26.08. 20:00 - 21:30
Volkshaus, Blauer Saal

Programm
www.theaterspektakel.ch/pro-
gramm20/produktion/kesara/

Jours Fixes
ab Sa 26.09.2020, Theaterhaus
Gessnerallee, Zürich

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                                Zum Auftakt erscheinen am Zürcher Theater Spektakel 2020 unter dem Titel
                                «Räume erinnern, Erinnerungen versammeln» drei Formate: Gefilmt und mon-
                                tiert wird ein Video-Appell, der vom Zürcher Theater Spektakel, auf der Websei-
                                te www.schwarzenbach-komplex.ch und auf Social Media-Kanälen migranti-
                                scher Communities erscheint. Eine Verdichtung von Archivmaterialien und
                                Berichten von Zeitzeug*innen sowie Fachleuten durchbricht den Mantel des
                                Vergessens und lädt ein, sich am kollektiven Prozess bis ins Jahr 2021 zu betei-
                                ligen. Weiter holen drei Ortsbegehungen persönliche Erinnerungen und Berichte
                                von Menschen mit Migrationserfahrung aus den 1960er- und 1970er-Jahren in
                                die Gegenwart: An geschichts- und emotionsträchtigen Orten, wie dem Risto-
                                rante Cooperativo, dem Punto d’Incontro und der Libreria Italiana, verdichten
                                sich Gespräche zwischen Zeitzeug*innen und Vertreter*innen jüngerer Generati-
                                onen zum Ansatz einer neuen migrantischen Geschichtsschreibung. Und
[ké*sarà]                       schliesslich gipfelt mit der grösser angelegten «Versammlung der Vielen» im
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Blauen Saal des Volkshauses der erste Teil des Projekts in einem mehrstimmi-
gen Erinnern von Zeitzeug*innen, Betroffenen und Gästen aus Wissenschaft
und Kultur. Damit wird die für das Projekt zentrale erinnerungspolitische Frage
lanciert, wie historisches Unrecht verhandelt und wieder gut gemacht werden
kann – und soll.

Hintergrund

Die Schwarzenbach-Initiative, die am 7. Juni 1970 nur knapp abgelehnt wurde,
schüttelte die Schweiz bis aufs Innerste durch. Ums Haar hätten gut 300‘000
mehrheitlich italienische «Gast»-Arbeiter*innen das Land verlassen müssen.
Das Trauma kam aber nicht aus heiterem Himmel. Die Initiative hatte lediglich
die rassistische Gewalt des damaligen «Gast»-Arbeiterregimes sichtbar ge-
macht: «Gast»-Arbeiter*innen wurden in engen staatlichen Bewilligungs-Syste-
men verwaltet, waren oft in Baracken unter unmenschlichen Bedingungen
untergebracht, durften ihre Familien nicht nachziehen, wurden aus Geschäften
und öffentlichen Räumen verwiesen und tagtäglich als «unzivilisiert» oder als
«Tschinggen» beleidigt. «Wir haben Arbeiter gerufen und es sind Menschen
gekommen», schrieb Max Frisch nüchtern. Er formulierte aber auch, es stecke
kein Rassismus hinter dem «Gast»-Arbeiterregime, sondern lediglich ein aus
Neid geborener, verständlicher «Fremdenhass», der zur Ablehnung der
Migrant*innen führe. Diese Ambivalenz bei Max Frisch wirkt bis heute in der
Erinnerungspolitik, das Unrecht schwingt nach. Trotzdem ist die Gewalt von
damals nie gesamtgesellschaftlich aufgearbeitet worden. Im Gegenteil: Sie
wiederholt sich, wechselnden migrantischen Gemeinschaften gegenüber, im-
mer wieder neu. In den 1980er und 1990er Jahre wurden tamilische und ex-ju-
goslawische Geflüchtete zum Feindbild, und auch sie arbeiteten schliesslich nur
allzu oft in dequalifizierten Stellen des Schweizer Arbeitsmarkts. Das soge-
nannte «Dreikreisemodell» wurde etwa mit der europäischen Freizügigkeit zum
«Zweikreisemodell», durch das Geflüchtete und Sans-Papiers aus nicht-europä-
ischen Drittstaaten indirekt in die Arbeit in Billiglohnsektoren gedrängt werden.
Die regelmässigen rechtspopulistischen Kampagnen und Initiativen wiederho-
len zwar den Geist von Schwarzenbach. Sie lenken aber auch von den breit
abgestützten staatlichen und wirtschaftlichen Mechanismen ab, die systema-
tisch Wohlstand für privilegierte Einheimische schaffen und den politischen
Ausschluss von Migrant*innen legitimieren.

Kollektives Langzeitprojekt

Ziel von «Schwarzenbach-Komplex» ist die Stärkung einer hierzulande wenig
bekannten Erinnerungskultur, die nachhaltig die versehrten Beziehungen zwi-
schen «Uns» und «den Anderen» zu reparieren versucht. Dazu möchte das
Projekt bewusst das Community-Building zwischen Zeitzeug*innen, Alltagsex-
pert*innen, Aktivist*innen, Kulturschaffenden, Forschenden und der breiten
Öffentlichkeit stärken, um Räume, Sprachen und Beziehungen eines kollekti-
ven Erinnerns und Aufarbeitens zu erproben. Gerade eine über verschiedene
Rassismuserfahrungen hinweg verknüpfte breite Solidarität und wechselseitige
Anerkennung scheint im Kontext aktueller Bewegungen rund um koloniale
Schuld und Entschädigung notwendig. Dabei soll ein psychologischer Effekt
nicht aus den Augen verloren gehen: Derjenige der Scham der Mehrheitsgesell-
schaft über ihre Schuld. Die Verdrängung, dass es zu so etwas wie der Schwar-
zenbach-Initiative unter den Vorzeichen der direkten Demokratie überhaupt
hatte kommen können, führte zur immer neuen Wiederholung der Rede von der
Überfremdung und zur stetigen Verschärfung im Ausländergesetz.

Mit einer ersten Zusammenkunft am 26. September 2020 im Theaterhaus
Gessnerallee beginnt eine Reihe von Jours Fixes: In monatlichen Treffen werden
Erinnerungen und Erfahrungen ausgetauscht, Wissen gebündelt, ein Archiv
aufgebaut und Ideen für einen grösseren, kollektiven Auftritt des «Schwarzen-
bach-Komplex» im Sommer 2021 gesammelt. Zusammen mit konkreten Bei-
spielen aus Kunst, Literatur und Forschung werden folgende und ähnliche
Fragen untersucht: Wie hat die Gewalt des «Gast»-Arbeiterregimes Migrant*in-
nen, ihre Nachkommen sowie die Dominanzgesellschaft geprägt? Wirkt diese
gewaltvolle Geschichte bis heute in den inter-ethnischen Beziehungen und in
der Migrationspolitik weiter – und wenn ja, wie? Und wie liessen sich histori-
sche Schuld und Rassismus im Hinblick auf ein demokratisches Zusammenle-
ben in der postmigrantischen Schweiz in einem kollektiven Prozess «von unten»
aufarbeiten?
Die Formate zum Auftakt am Zürcher Theater Spektakel 2020

Video-Appell

Der Video-Apell beginnt mit historischem Bildmaterial aus der Zeit der Schwar-
zenbach-Initiative. Ausgehend von einer Schilderung der 1970er Jahren führt
eine rasante, maschinelle Montage in die Gegenwart: Sie zeigt Arbeitsverhält-
nisse unterschiedlicher arbeitsmigrantischer Communities auf. Wie Körper von
Migrant*innen beim Landeseintritt geröntgt und auf volle Funktion geprüft wer-
den. Wie sie in Baracken-Lagern minimalversorgt wurden. Ob Italiener*innen im
Tunnel- und Strassenbau oder in der Gastronomie, Tamilen in den Grossküchen
des Gastro- und Tourismus-Gewerbes oder als Erntehelfer, Deutsche oder
Asylbewerber*innen in der Pflege oder Osteuropäerinnen in der 24-Stunden
Altenbetreuung … migrantische Arbeitskräfte werden nur zu oft in das unterste
Lohnsegment der Schweiz kanalisiert.

In den Bilder-Strom eingewoben und ihn vorantreibend sind Stimmen von
Fachleuten und Zeitzeug*innen: Die Erinnerungen und Aussagen von Fatima
Moumouni, Salvatore Di Concilio, Catia Porri, Samir, Melinda Nadj Abonji und
Kijan Espahangizi durchbrechen den Mantel des Vergessens und machen das
gesellschaftliche Trauma der Schwarzenbach-Initiative und des unaufgearbeite-
ten «Gast»-Arbeiterregimes spürbar. Der Video-Appell fordert auf und lädt ein:
Macht mit an einer anderen Erinnerungspolitik! Konkret wird das möglich zu den
monatlichen Jours Fixes, die ab 26. September 2020 bis Juli 2021 zur grossen
Archiv- und Bühnenarbeit am Zürcher Theater Spektakel 2021 führen.

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«Räume erinnern, Erinnerungen versammeln»

Den Erinnerungs-Anstoss zum «Schwarzenbach Komplex» geben drei Treffen.
Zusammen mit Migrant*innen, die während der 1960er und 1970er Jahre in die
Schweiz einwanderten und damals aktiv waren, werden wichtige Orte der Ar-
beitsmigration besucht. Zeitzeug*innen teilen ihrer Erinnerungen, verdichten sie
im Gespräch mit dem Publikum und reichern sie an: Mit dazu eingeladen sind
eine zweite und dritte Person, die diese Erinnerungsschichten aus ihrer Situati-
on heraus ergänzen – aus den Erfahrungen jüngere Migrationsbewegungen
oder vom Gesichtspunkt anderer gesellschaftlicher Positionen aus. Über den
Dialog mit dem Publikum entsteht ein dichtes Geflecht von Erfahrungen und
Empfindungen. Ob die Kinder von Arbeitsmigrant*innen als «Schrankkinder»
versteckt aufwachsen mussten, oder ob Industriearbeiter ihr politisches En-
gagement zu verheimlichen hatten – es geht darum, den «Mut zur eigenen
Erinnerung» anzuregen und Raum zu schaffen für die Relevanz der eigenen
Erfahrungen. Was so im kleinen, intimeren Rahmen angeregt wird, ist ein proto-
typisch Versuch für die folgende Arbeit am «Schwarzenbach-Komplex»: Aus der
Verknüpfung verdrängter biographischer Erzählungen wird eine neue, migranti-
sche Geschichtsschreibung entworfen. Sie schreibt sich in die offizielle Schwei-
zer Historie ein, fordert Wiedergutmachung für die Folgen rassistischer
Fremdarbeitspolitik und knüpft neue, solidarische Bündnisse.
«Ristorante Cooperativo: Gegenkultur, Genossenschaft und Gewerkschaft»
Samstag 15.8. 17–18:30 Uhr / St. Jakobstrasse 6, 8004 Zürich
Mit: Letizia Fiorenza und David Sautter (Musik), Salvatore Di Concilio, Maria
Satta und Raffy Spilimbergo. Moderation: Tim Zulauf

Salvatore Di Concilio, ehemaliger Gemeinderat, Schreiner und langjähriger
Gewerkschaftssekretär beim Schweizerischen Metall- und Uhrenarbeiter-Ver-
band unterhält sich mit dem Drucker und Aktivisten des 1. Mai-Komitees Raffy
Spilimbergo. Die Einwirkungen der italienischen Arbeiter*innen auf die konser-
vative und durchaus problematische Schweizer Gewerkschaftspolitik werden
angesprochen und die von ihnen bewirkten Veränderungen dargelegt. Dabei
fliessen die persönlichen Erfahrungen am Arbeitsplatz ein. Lebendig lässt sich
nachvollziehen, wie selbst das positiv klingende Instrument «Gesamtarbeitsver-
trag» noch bis in die 1980er Jahre zur Diskriminierung von Ausländer*innen
benutzt wurde. Was hat die Billiglohnarbeit der Italiener*innen den Schwei-
zer*innen an sozialem Aufstieg ermöglicht? Wie sahen die Beziehungen am
Arbeitsplatz und in Arbeiterbaracken aus? Das Publikum ist eingeladen, sich an
diesem assoziativen Prozess des Erinnerns zu beteiligen.

Zum Einstieg stellt Maria Satta, Mitglied des Vorstands der Genossenschaft
Società Cooperativa Italiana, die bewegte Geschichte des Lokals vor: Ob Lenin
und Angelica Balabanova oder, zu Schwarzenbach Zeiten, der Gewerkschafts-
führer Ezio Canonica: Das «Coopi» war Treffpunkt des Antifaschismus und der
Arbeiter*innen-Solidarität. Zwischen den Sprech-Beiträgen schafft das Duo
Letizia Fiorenza und David Sautter mit italienischen und albanischen Gitar-
ren-Balladen Räume, in denen verschlungene europäische Migrationswege
hörbar werden, aber auch Gewalt an italienischen Arbeitsigrant*innen, wie etwa
der Mord an Alfredo Zardini an der Brauerstrasse, 1971.

Ristorante Cooperativo: www.cooperativo.ch/pages/100jahre.htm
Letizia Fiorenza: www.letizia-fiorenza.com
David Sautter: www.david-sautter.com
1. Mai Komitee: www.1mai.ch

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«Punto d’Incontro: Der Widerstandsraum»
Donnerstag 20.8. 18:30–20 Uhr / Josephstrasse 102, 8005 Zürich
Mit: Maria-Angeles Tinari-Cueto, Victor Tinari und Pino Esposito
Moderation: Tim Zulauf

Maria-Angeles Tinari-Cueto, genannt «Kuki», hat die bewegte Geschichte des
Treffpunkts «Promoción Cultural Española» miterlebt: 1974 gegründet im ersten
Stock an der Josephstrasse 102, als Versammlungsort spanischer, anti-frankis-
tischer Kommunist*innen, hat sich der Raum als «Punto d‘Incontro» den italieni-
schen Einwander*innen geöffnet und ist heute ein wesentlicher Bezugspunkt
für migrantische Gemeinschaften. Im Gespräch berichten Kuki und ihr Sohn,
der Touristiker Victor Tinari, von den persönlichen und politischen Bedeutungen
des Orts, der lange Zeit auch massgeblich von Angelo Tinari – dem Mann von
Kuki und Vater von Victor – mitgestaltet worden war.
In einem Einschub stellt der Filmemacher Pino Esposito Szenen aus seinem
noch unveröffentlichten Dokumentarfilm zu Angelo Tinari und dessen Wirken für
die politisch Linke in Zürich vor: «Gast»-Arbeiter*innen erscheinen in Espositos
dichtem Porträt nicht als Opfer der Verhältnisse, sondern als wesentliche Ak-
teur*innen zur Öffnung einer gefährlich verhockten Schweiz. So hat Angelo
Tinari nicht nur das Leben in den Baracken festgehalten und Arbeiter*innen poli-
tisiert, sondern auch an der Gründung von Radio LoRa und dem 1.Mai-Komitee
mitgewirkt. Anhand von Fotos aus Angelo Tinaris Nachlass gehen Kuki, Victor
Tinari und Pino Esposito schliesslich konkreten Stationen in der Geschichte des
Kampfes um politische Teilhabe und Anerkennung nach. Das Publikum ist mit
eingeladen, sich an der Bereicherung des Erinnerungsstroms zu beteiligen.

Pino Esposito: www.teatro-oziosazio.ch

4

«Libreria Italiana: Im Bauch der Sprache»
Samstag 22.8. 17–18:30 Uhr / Hohlstrasse 30, 8004 Zürich
Mit: Lisetta Rodoni, Melinda Nadj Abonji und Catia Porri. Moderation: Tim Zulauf

Lisetta Rodoni und ihr inzwischen verstorbener Mann Sandro gründeten die
Libreria Italiana 1961. Der NZZ berichtete Lisetta Rodoni «Damals galt die
Eröffnung einer italienischen Buchhandlung als Provokation, dabei war es ein
Bedürfnis der Anwohner. Jemand sagte uns, wir hätten Mut, das Schild ‹Libreria
Italiana› aufzuhängen.» Nach dem ersten Standort an der Militärstrasse im Kreis
4 befindet sich das Geschäft seit 1976 an der Kurzgasse und ist Insel und
Institution im Rotlicht-Milieu. Als Treffpunkt italienischer Intellektueller stand
das Geschäft unter ständiger polizeilicher Beobachtung: Die Fichen zu den
alltäglichen Vorgängen in der Buchhandlung sprechen Bände von einem Anti-
kommunismus, der sich in den 1970er und 1980er Jahren, gemischt mit Auslän-
der*innenfeindlichkeit, zur inoffiziellen Staatsideologie der Schweiz geweitet
hatte.

Ein Audiowalk führt das Publikum durch die Geschichte des Ladens und weiter
vor den an der Brauerstrasse gelegenen «Brauerhof» – der ehemaligen Bier-
schänke «Grüezi wohl, Frau Stirnimaa». Dort wurde 1971 der Arbeiter Angelo
Zardini totgeschlagen – ein fremdenfeindlicher Mord, der zu kaum nennenswer-
ten Haftstrafen führte. Im Gemeindezentrum Bäckeranlage knüpfen die Schrift-
stellerin Melinda Nadj Abondij und die Fotografin Catia Porri dann die Fäden
aus ihren Biographien zusammen mit einer ureigenen Geschichte der Literatur:
Beide haben mit ihren Familien unter dem Regime des Saisonnierstatutes Leid
erlitten. Beide fanden eine Sprache und arbeiten weiter an Wegen, um diese
Geschichte neu zu ordnen und zu verstehen. Lisetta Rodoni wiederum kennt die
Bücher dazu.

Libreria Italiana: www.libreriaitaliana.ch
«Schwarzenbach Komplex – Die Versammlung der Vielen»
Volkshaus, Blauer Saal, Stauffacherstrasse 60, 8004 Zürich
Mittwoch 26.8. 20–22.15 Uhr
Mit: Rosanna Ambrosi, Francesca Falk, Marina Frigerio, Melinda Nadj Abonji,
Catia Porri, Samir, Victor Tinari, Henri-Michel Yéré
Moderation: Rohit Jain und Catia Porri

Offizielle Archive schweigen nur zu oft über die Geschichte der Andere: Wie
lässt sich eine eigene, befreiende Sprache finden, um das Unrecht von damals
auszudrücken, fragt etwa die Autorin Melinda Nadj Abonji im Video-Appell zum
«Schwarzenbach-Komplex». Gewisse illegalisierte Kinder haben ihre Erlebnisse
jahrzehntelange verdrängt, wie die Betroffene Catia Porri berichtet. Wie kann
und soll historisches Unrecht aus Zeiten des «Gast»-Arbeiterregimes erinnert
und aufgearbeitet werden? Wie kann dieser Prozess zu einer wahrhaft vielstim-
migen demokratischen Öffentlichkeit führen? Die «Versammlung der Vielen»
stellt sich den zutiefst emotionalen Herausforderungen mit diesen Leitfragen. In
einem diskursiv-performativen Setting treffen unterschiedliche Geschichten,
Affekte, Erinnerungen und erinnerungspolitische Ansätze aufeinander.

In einem ersten, inneren Gesprächskreis tauschen sich Zeitzeug*innen aus, um
die Empfindungen von Damals ins Heute zu holen und zu reflektieren: Der
Touristiker Victor Tinari wuchs in politisiertem Elternhaus rund um das Punto
d‘Incontro auf. Die Psychologin Marina Frigerio sammelte die Erzählungen von
«Gast»-Arbeiter*innen-Kindern, die im Geheimen aufwuchsen, weil der Famlien-
nachzug verboten war. Und die Schriftstellerin Rosanna Ambrosi setzte sich im
Rahmen der Colonie Libere für die Rechte und die Bildung von Kindern und
ihren Eltern ein. Catia Porri, die sich als Fotografin und Journalistin auch auf-
grund eigener Erfahrungen für die Aufarbeitung illegalisierter Saisonnier-Kinder
engagiert, führt das Gespräch, das in zwei Blöcken zu den Fragen «Was erin-
nern?» und «Wie erinnern?» aufgebaut ist.

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In beiden Runden wird das Gespräch mit zwei Stimmen aus einer «zweiten
Reihe» konfrontiert. In kurzen spontanen Statements reflektieren engagierte
Expert*innen die Erinnerungen und Erzählungen im Raum und schaffen neue
Assoziationen: Der Filmemacher Samir spricht als ehemaliger Gewerkschafter
und bringt neue Erkenntnisse aus seinem laufenden Filmprojekt zu «Gast»-Ar-
beit und Arbeiter*innen-Organisationen ein. Die Autorin Melinda Nadj Abonji
denkt vor dem Hintergrund ihrer durch das Saisonnier-Statut getrennten Familie
über die literarischen Fragen zur Möglichkeit von Erinnerung, Aufarbeitung und
Verschiebung von Leid nach. Der Soziologe und Dichter Henri-Michel Yéré wirft
einen postkolonialen und global geprägten Blick auf ein für ihn bis vor Kurzem
unbekannte Kapitel der Schweizer Geschichte. Und Francesca Falk, Historikerin
und selbst Seconda, lässt Erfahrungen aus einem Oral History-Projekt zu einer
migrantischen Geschichte der Schwarzenbach-Initiative einfliessen.

Durch die beweglichen Verbindungen von verschiedenen Erinnerungen, Analy-
sen und Sprechpositionen entsteht eine assoziative und experimentelle Anlage
für eine vielstimmige Erinnerungspolitik. Die Versammlung findet in zwei Teilen
mit Pause statt. Das Publikum wird gezielt eingeladen, sich zu beteiligen.
Stammtisch

«Remember fremd – 50 Jahre Schwarzenbach und die Folgen»
Donnerstag, 27.08. 18–19 Uhr
Restaurant Habesha, Weststrasse 192, 8003 Zürich
Mit: Catia Porri und Tim Zulauf. Organisation und Moderation: Maria-Cecilia
Quadri und Nina Tshomba

Tim Zulauf von der Gruppe [ké*sarà] spricht mit der Aktivistin Catia Porri, Mitbe-
gründerin der Tesoro-Community zur Entschädigung von illegalisierten Kindern:
Zum fünfzigjährigen Jubiläum der traumatisierenden, ausländer*innen-feindli-
chen Überfremdungs-Initiative beginnt mit dem «Schwarzenbach-Komplex» ein
länger angelegter Erinnerungs- und Aufarbeitungsprozess: Am Zürcher Theater
Spetakel 2020 finden in Ortsbegehungen und mit der «Versammlung der Vie-
len» Momente des gemeinsamen Erinnerns statt – Zeitzeug*innen der 1960er
und 1970er Jahre berichten von für sie relevanten Orten und Geschehnissen,
Expert*innen und jüngere migrantische Generationen reflektieren Integrations-
konzepte, Assimilationszwänge und neues Selbstbewusstsein. Im Anschluss
entwickeln [ké*sarà] in regelmässigen Treffen eine kollektiven Arbeit, die im
Sommer 2021 vorgestellt wird. Was kann die Arbeit am «Schwarzenbach-Kom-
plex» bringen? Zum Stammtisch sprechen wir darüber, mit welchen Mitteln und
Forderungen langfristige Erinnerungsarbeit, im Gegensatz zur punktuellen
Gedenk- oder Jubiläums-Minute, Perspektiven auf eine andere Gesellschaft
eröffnen kann.

Dank

Das Team von [ké*sarà] bedankt sich für die freundliche Unterstützung durch
die Fachstelle Integration Kanton Zürich, das Zürcher Theater Spektakel, das
Theaterhaus Gessnerallee, sowie für die tatkräftige Unterstützung von Catia
Porri und Salvatore Di Concilio.

Bildnachweise

1 - Angelo Tinari, PCI – Partido Comunista Italiano, Wengistrasse Zürich,
Redaktion der Zeitung «Realtà Nuova», 1981

2 - Italienerinnen sortieren Schoggistengeli in der Fabrik von Lindt & Sprüngli in
Zürich, 1970. Foto: KEYSTONE/Photopress-Archiv/Dejaco

3 - Angelo Tinari, Baracca del Sole, Altstetten, 1982

4 - Filmstill aus «Siamo Italiani», 1964. Ein Film von Alexander J. Seiler, Rob
Gnant, June Kovach. Kamera Rob Gnant

5 - Angelo Tinari, Seminar der PCE – Partido Comunista de España, Genf, 1978
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