EIN "WEIBLICHER" BLICK AUF DEN ORIENT - EUROPÄISCHER AUTORINNEN DES 19. JAHRHUNDERTS HAREMSBESCHREIBUNGEN IN REISEBERICHTEN MASTERARBEIT ...

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EIN "WEIBLICHER" BLICK AUF DEN ORIENT - EUROPÄISCHER AUTORINNEN DES 19. JAHRHUNDERTS HAREMSBESCHREIBUNGEN IN REISEBERICHTEN MASTERARBEIT ...
EIN „WEIBLICHER“ BLICK AUF DEN ORIENT
  HAREMSBESCHREIBUNGEN IN REISEBERICHTEN
EUROPÄISCHER AUTORINNEN DES 19. JAHRHUNDERTS

                       MASTERARBEIT
   eingereicht an der Philologisch-Kulturwissenschaftlichen Fakultät
             der Leopold-Franzens-Universität Innsbruck

            Zur Erlangung des akademischen Grades eines
                            Master of Arts

         Masterstudium Vergleichende Literaturwissenschaft
                              C066 870

           Eingereicht bei Univ. Prof. Dr. Sebastian Donat
                     von Sarah Isabella Blum, BA
                              00817055

                       Innsbruck, im März 2020
EIN "WEIBLICHER" BLICK AUF DEN ORIENT - EUROPÄISCHER AUTORINNEN DES 19. JAHRHUNDERTS HAREMSBESCHREIBUNGEN IN REISEBERICHTEN MASTERARBEIT ...
Danksagung

An dieser Stelle möchte ich mich bei all denjenigen bedanken, die mich während
meines Studiums und der Anfertigung dieser Masterarbeit unterstützt haben.
Mein Dank geht an den Betreuer meiner Masterarbeit, Univ.-Prof. Dr. Sebastian
Donat, der mir sowohl zeitlich als auch inhaltlich große Freiheiten gelassen hat und
mir gleichzeitig immer hilfreich zur Seite stand.
Meinen KommilitonInnen Steffi, Ulli und Jakob danke ich für die Motivation, den
Rückhalt und vor allem die vielen schönen und lustigen Stunden, die meine Studienzeit
unvergesslich gemacht haben. Ihr seid zu FreundInnen geworden, die ich nicht mehr
missen möchte!
An Jakob auch noch einen speziellen Dank für das Korrekturlesen meiner Arbeit.
Ein besonders großes Danke geht an meine Eltern, die mir mein Studium durch ihre
Unterstützung ermöglicht und mir immer die Freiheit gegeben haben, meinen eigenen
Weg zu gehen. Ohne euch wäre das alles nicht möglich gewesen, darum: Danke,
Mama und Papa!
Und zuletzt ein Danke an meinen Freund Markus, für das Korrekturlesen, aber vor
allem für den bedingungslosen Rückhalt und die Unterstützung, die du mir seit fast 14
Jahren gibst. Ohne dich wäre ich nicht die, die ich heute bin.

Sarah Blum
Feldkirch, 01.03.2020
EIN "WEIBLICHER" BLICK AUF DEN ORIENT - EUROPÄISCHER AUTORINNEN DES 19. JAHRHUNDERTS HAREMSBESCHREIBUNGEN IN REISEBERICHTEN MASTERARBEIT ...
1.    EINLEITUNG                                                                        1

2.    ORIENTALISMUS                                                                     4

2.1   Edward W. Said – „Orientalism“                                                    5
2.2   Feministische Ansätze                                                             8

3.    REISENDE UND SCHREIBENDE FRAUEN                                                   12

3.1   Eine kurze Geschichte der Frauenreise bis ins 18. Jahrhundert                     13
3.2   Befreiung aus dem bürgerlichen Korsett: Weibliches Reisen und Schreiben im
      19. Jahrhundert                                                                   18

4.    DER ORIENT UND SEIN HAREM – PROJEKTIONSORTE WESTLICHER
      MÄNNERFANTASIEN                                                                   25

4.1   Der orientalische Harem in der Imagination westlicher Männer                      28
4.2   Männer auf der Suche nach dem Harem aus Tausendundeiner Nacht –
      Reiseschriftsteller im Orient                                                     35
4.3   Friedrich Wilhelm Hackländer – Reise in den Orient (1842)                         40

5.    EINE WEIBLICHE SICHT AUF ORIENT UND HAREM –
      SCHRIFTSTELLERINNEN ZWISCHEN ZAUBER UND ENTZAUBERUNG                              47

5.1   Weibliche Befreiung im Orient                                                     48
5.2   Beteiligung am orientalistischen Diskurs                                          49
5.3   Europäerinnen im Harem – ein exklusiv weiblicher Erfahrungsraum                   50
5.4   Ida Hahn-Hahn – Orientalische Briefe (1844)                                       54
5.5   Ida Pfeiffer – Reise einer Wienerin in das heilige Land (1844)                    63
5.6   Anna Forneris – Schicksale und Erlebnisse einer Kärntnerin während ihrer Reisen
      in verschiedenen Ländern und fast 30jährigen Aufenthaltes im Oriente (1849)       69

6.    FAZIT                                                                             73

LITERATURVERZEICHNIS                                                                    75

ABBILDUNGSVERZEICHNIS                                                                   79
1. Einleitung

„Bald nun werde ich wissen, wie der Orient sich im Auge einer Tochter des Occidents
abspiegelt“1, bemerkt Ida Hahn-Hahn am 22. Augst 1843, zwei Tage vor ihrer Abreise
nach Konstantinopel, in einem Brief an ihre Mutter. Die Zeile ist kurz, und doch
verbirgt sich in ihr vieles. Es ist zum einen die Tatsache, dass sich eine Frau auf eine
solch beschwerliche und weite Reise begibt, und das, obwohl Reisen im 19.
Jahrhundert als Männerdomäne galt, zu der Angehörige des weiblichen Geschlechts
kaum Zutritt hatten, wenn sie sich nicht den Geschlechterkonventionen der Zeit
widersetzen wollten. Zum anderen weist die Aussage der Schriftstellerin Hahn-Hahn
auf jene Orientfaszination hin, die sich speziell seit dem Ende des 18. Jahrhunderts
von Frankreich ausgehend auf ganz Europa ausgebreitet hatte. Und letztendlich kann
darin auch schon eine kleine Anspielung auf jenes Thema gefunden werden, dem die
vorliegende Arbeit gewidmet ist, denn: Hahn-Hahn spricht explizit vom Auge einer
Tochter des Okzidents. Es ist dieser weibliche Blick auf das Fremde, der im Folgenden
betrachtet werden soll. Die Frage, die sich daraus ergibt, lautet: Gibt es einen
„weiblichen“ Blick auf den Orient? Kann man von einer geschlechtsspezifischen
Modifikation des Said’schen Orientalismuskonzeptes sprechen? Und wenn ja, wie
wirkt sich dieser veränderte Deutung auf die Darstellung jenes in der westlichen
Orientvorstellung zentralen phantasmatischen Topos, des Harems, in den
Reiseberichten europäischer Frauen aus?

Als       Grundlage      soll    darum      zuerst    eine     kurze    Zusammenfassung              des
Orientalismuskonzepts nach Edward Said vorangestellt werden, um ein Verständnis
dafür zu schaffen, wie der Westen durch Kunst und Literatur „den Orient“ überhaupt
erst erschaffen hat, und wie eng dieser Diskurs mit der Ausübung von Macht und
Autorität verbunden war und ist. Dass Said aber Frauen aus seinem Modell völlig
ausnahm, führte vor allem von Seiten der feministischen Forschung zu großer Kritik,
denn wie Wissenschaftlerinnen wie Reina Lewis, Billie Melman oder Sara Mills, deren
Ansätze ebenfalls im ersten Kapitel kurz vorgestellt werden sollen, berechtigt

1
    Hahn-Hahn, Ida (1844): Orientalische Briefe, 1. Band, Berlin: Verlag Alexander Duncker, S. 65.

                                                                                                      1
einwandten, waren Frauen sehr wohl am orientalistischen Diskurs beteiligt und
gestalteten ihn auch aktiv mit.

In einem zweiten Schritt folgt eine überblicksmäßige Darstellung der Geschichte der
Frauenreisen, bevor sich die Arbeit speziell auf die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts
und damit auf jene Zeit konzentriert, in der die hier analysierten Schriftstellerinnen Ida
Hahn-Hahn, Ida Pfeiffer und Anna Forneris gelebt, gereist und geschrieben haben.
Alle drei veröffentlichten ihre Reiseberichte in den 40er-Jahren des 19. Jahrhunderts,
was im Hinblick auf die Fragestellung dieser Arbeit nicht zufällig ausgewählt ist. Ab
den 50er-Jahren des 19. Jahrhunderts gehen die Zahlen von Frauenreiseberichten stetig
zurück, bevor sie schließlich ab 1856 in Folge der Revolution von 1848 und der daraus
resultierenden          Einschränkung     weiblicher      Mobilität     vorerst    wieder   völlig
verschwinden.2 Auch Frauen, die im 18. Jahrhundert den Orient bereisten, wurden für
diese Fragestellung ausgeschlossen, da sie noch weit weniger von orientalistischen
Bildern geprägt waren, als Autorinnen ab 1800, denn seit Beginn des 19. Jahrhunderts
kann eine zunehmende Ausbreitung des europäischen Imperialismus beobachtet
werden, was wiederum wesentlichen Einfluss auf die Sicht des Westens auf das
Fremde hatte.3

Den historischen Hintergrund zu beleuchten, vor dem die drei Autorinnen ihre Reisen
tätigten und ihre Reiseberichte verfassten, ist in diesem Zusammenhang wichtig, denn
die soziokulturellen Umstände hatten wesentlichen Einfluss auf die Reisemotivation
sowie das Selbstverständnis als Autorin. Europäische Frauen, die Reisen und/oder
Schreiben wollten, hatten – mit den Geschlechterideologien der bürgerlichen
Gesellschaft konfrontiert – mit großen Hürden zu kämpfen, was sich natürlich auch
auf ihre schriftstellerische Tätigkeit auswirkte.

Um zu verstehen, ob und wie sich die Haremsbeschreibungen von Autorinnen von
jenen Bildern aus männlicher Tradition unterscheiden, ist es notwendig, zunächst den
durch Musik, Malerei und Literatur produzierten images nachzugehen, wobei das
spezielle Augenmerk auf der Darstellung des Harems und der Haremsdame liegt.
Darauf folgt eine genauere Betrachtung des Verhältnisses von Reiseschriftstellern zum
Harem und seinen Bewohnerinnen, bevor Friedrich Wilhelm Hackländers Reise in den

2
    Vgl, Stamm, Ulrike (2010): Der Orient der Frauen, Köln u.a.: Böhlau Verlag, S. 15.
3
    Vgl. ebd., S. 15.

                                                                                                2
Orient von 1842 exemplarisch für eine männliche Haremsbeschreibung analysiert
wird.

In einem letzten Schritt steht dann das Verhältnis von europäischen Frauen zum Orient
im Fokus, bot ihnen eine Reise in diese Region doch die Möglichkeit des Ausbruchs
aus bürgerlichen Konventionen und eine Aufwertung ihrer im Westen marginalisierten
Position. Auch dem Mitwirken europäischer Frauen am kolonialistischen Diskurs
muss in diesem Zusammenhang Raum gegeben werden, sind doch die hierarchischen
Strukturen, die sich für sie im Orient ergaben, wesentlich für ihre schriftstellerische
Produktion. Auch nutzten sie die Chance, im exklusiv weiblichen Raum des Harems
endlich einmal das Vorrecht auf Zutritt und „Wahrheit“ gegenüber den europäischen
Männern zu haben. Exemplarisch werden abschließend die Haremsbeschreibungen in
den Reiseberichten von Ida Hahn-Hahn (Orientalische Briefe, 1844), Ida Pfeiffer
(Reise einer Wienerin in das heilige Land, 1844) und Anna Forneris (Schicksale und
Erlebnisse einer Kärntnerin während ihrer Reisen in verschiedenen Ländern und fast
30jährigen Aufenthaltes im Oriente, 1849) analysiert. Es wird zu zeigen sein, dass
Saids These von einem „rein männlichen Projekt“ Orientalismus nicht haltbar ist. Die
Texte der hier behandelten Autorinnen weisen klare orientalistische Merkmale auf,
und aufgrund Tatsache, dass ihre Texte im 19. Jahrhundert weitgehend rezipiert
wurden, hatten sie auch Einfluss auf den orientalistischen Diskurs. Allerdings wählten
die Autorinnen im Gegensatz zu männlichen Kollegen andere Zugänge, wodurch in
ihren Texten durchaus auch Brüche im Orientalismuskonzept zu finden sind und
eindeutig von einem spezifisch „weiblichen“ Orientalismus gesprochen werden kann.

                                                                                     3
2. Orientalismus

Despotische Herrscher, verführerische Haremsdamen und exotische Szenerien – noch
heute finden diese klassischen Topoi der Orientbeschreibung Eingang in das
Bewusstsein der Menschen. Der Westen – und speziell Europa – kann auf eine
Jahrhunderte       überdauernde      Tradition    der    Beschäftigung      mit   dem   Orient
zurückblicken. Bereits bei antiken Autoren wie Aischylos oder Homer fand dieser Ort
westlicher Imagination seinen Platz und ab dem späten 18. Jahrhundert kann man von
einer wahren Orientfaszination sprechen. Die ferne Region wurde zum Projektionsort
westlicher Fantasien: „The Orient was almost a European invention, and had been
since antiquity a place of romance, exotic beings, haunting memories and landscapes,
remarkable experiences.“4 Zahlreiche AutorInnen und MalerInnen erkoren den Orient
zum Schauplatz ihrer künstlerischen Schöpfungen aus und prägten damit tiefgreifend
die Vorstellung der Menschen. Und auch die Orientalistik als wissenschaftliche
Disziplin, die sich mit den Sprachen und Kulturen des Orients beschäftigt, entwickelte
sich ab dem späten 18. Jahrhundert von Frankreich ausgehend rasant.

Dass der Orient in der westlichen Wahrnehmung eine Sonderposition einnimmt, wird
nach diesem kurzen Überblick schnell ersichtlich:

         The orient is not only adjacent to Europe; it is also the place of Europe’s
         greatest and richest and oldest colonies, the source of its civilizations and
         languages, its cultural contestant, and one of its deepest and most recurring
         images of the Other.5

Zahlreiche TheoretikerInnen haben sich in den letzten Jahrzehnten mit dem Phänomen
der intensiven Beschäftigung Europas und des Westens mit dem Orient
auseinandergesetzt. Keiner von ihnen wurde jedoch so weitreichend rezipiert wie
Edward W. Said und sein Werk Orientalism.

4
    Said, Edward W. (1978): Orientalism, New York, Toronto: Random House, S. 1.
5
    Ebd., S. 1.

                                                                                            4
2.1 Edward W. Said – „Orientalism“

Als        1978   das   Werk    Orientalism      des    palästinensisch-amerikanischen
Literaturwissenschaftlers Edward W. Said erschien, gingen in der Fachwelt die Wogen
hoch. Die Studie, die sich mit französischen und britischen Texten zum Orient
beschäftigte, hat eine Diskussion entfacht, die bis heute andauert und sich über die
unterschiedlichsten Disziplinen erstreckt. Mittlerweile wurde das Werk in über 30
Sprachen übersetzt und gilt als einer der Gründungstexte der Postcolonial Studies.

Ausgehend von der Diskursanalyse Michel Focaults in Verbindung mit dem
Hegemoniekonzept von Antonio Gramsci prägt Said den Begriff „Orientalismus“ als
eine Art und Weise, wie der Westen den Orient beschreibt, definiert und damit in
gewisser Weise erst erschafft. Der Orient ist für ihn darum keine naturgegebene
Tatsache: „[…] the Orient ist not an inert fact of nature. It is not merely there, just as
the Occident itself is not just there either.“6 Vielmehr ist er ein Konstrukt aus
westlichen Vorstellungen, eine Idee, die die Europäer von dieser Region entwickelt
haben: „ […] the Orient is an idea that has a history and a tradition of thought, imagery,
and vocabulary that have given it reality and presence in and for the West.“7

Dabei bezieht Said den Begriff „Orientalismus“ auf unterschiedliche, aber sich eng
aufeinander beziehende Phänomene. Die erste Deutung ist wohl die klarste und bezieht
sich auf die akademische Disziplin und ihre Institutionen. Daneben stellt Said
Orientalismus als „a style of thought based upon an ontological and epistemological
distinction made between ‚the Orient‘ and (most of the time) ‚the Occident‘“8.
Orientalismus bezeichnet somit auch jene Einstellung des Westens, zwischen dem
Selbst und dem „Fremden“ eine imaginäre Grenze zu ziehen, wo auf der einen Seite
das „Wir“ und auf der anderen Seite das „Andere“ steht. Und letztlich umfasst der
Begriff „Orientalismus“ für Said auch „a Western style of dominating, restructuring,
and having authority over the Orient“9.

6
    Said, S. 4.
7
    Ebd., S. 5.
8
    Ebd., S. 2.
9
    Ebd., S. 3.

                                                                                        5
Zentral ist für Said die Tatsache, dass der Westen den Orient immer als sein
Gegenstück konstruiert. Der Orientale ist in der westlichen Vorstellung all das, was
der Europäer nicht ist, und umgekehrt. So wird der Orient als das – in dem meisten
Fällen defizitäre – Andere konstruiert und festgeschrieben, wodurch sich der Okzident
als der (überlegene) Gegenpart absetzen kann: „[…] European culture gained in
strength and identity by setting itself off against the Orient as a sort of surrogate and
even underground self.“10 Dabei steht der Prozess des „Othering“ als Werkzeug dieser
Distinktion im Mittelpunkt: „Ein komplexer Prozess des Fremd- oder Different-
Machens, der über eine dualistische Logik funktioniert, an dessen Ende die ‚Anderen‘
vis-à-vis dem ‚abendländischen Selbst‘ stehen.“11 So wurde der Orient durch den
Westen erst „orientalisiert“, indem ihm Eigenschaften zugeschrieben wurden, die
jenen, die sich der Westen selbst zuschrieb, gegenüberstanden. Das so entstandene Set
an binären Oppositionen legte den Okzident aktiv, rational, fortschrittlich, modern und
männlich fest, während der Orient im Gegenzug als passiv, irrational, rückschrittlich,
zeitlos und weiblich galt. Der Orient war somit das defizitäre Gegenstück zum Westen
und fungierte gleichzeitig als Ort, der idealisiert und auf den Fantasien projiziert
werden konnten.

In diesem Zusammenhang betont Said, dass Orientalismus als Diskurs aufgefasst
werden muss:

          My contention is that without examining Orientalism as a discourse one
          cannot possibly understand the enormously systematic discipline by which
          European culture was able to manage–and even produce–the Orient
          politically, sociologically, militarily, ideologically, scientifically, and
          imaginatively during the post-Enlightenment period.12

Die Beschreibungen und Darstellungen des Orients in Wissenschaft, Literatur und
Malerei sind für Said somit nicht einfach individuelle Phänomene, sondern vielmehr
Teil eines europäischen Projektes, den Orient als das Andere festzuschreiben:
„Orientalism, therefore, is not an airy Euopean fantasy about the Orient, but a created

10
     Said, S. 3.
11
  do Mar Castro Varela, María/Dhawan, Nikita (2007): „Orientalismus und postkoloniale Theorie“, in
Attia, Iman (Hg.), Orient- und IslamBilder. Interdisziplinäre Beiträge zu Orientalismus und
antimuslimischem Rassismus, Münster: UNRAST-Verlag, S. 31.
12
     Said, S. 3.

                                                                                                6
body of theory and practice in which, for many generations, there has been a
considerable material investment.“13

Eng damit verbunden ist die Kernthese Saids, dass es bei Orientalismus immer um die
Herstellung einer überlegenen Position und um die Etablierung und Stabilisierung von
Macht geht. Unter Bezugnahme auf Gramscis Hegemonietheorie legt er dar, dass die
Beziehung zwischen Orient und Okzident von Seiten des Westens immer von
Herrschaftsbestrebungen geprägt ist: „The relationship between Occident and Orient
is a relationship of power, of domination, of varying degrees of a complex hegemony
[…].“14 Dabei handelt und definiert sich der Westen also immer aus einer Position der
Überlegenheit heraus, die Said als „positional superiority“ bezeichnet.

          In a quite constant way, Orientalism depends for its strategy on this
          flexible positional superiority, which puts the Westerner in a whole series
          of possible relationships with the Orient without ever losing him the
          relative upper hand.15

„Wissen“ über den Orient wurde genutzt, um diesen zu dominieren und letztendlich
auch Herrschaft zu legitimieren. Indem der Orient als defizitär festgeschrieben wurde,
wurde eine Beherrschung durch den Westen legitimiert. Said nimmt damit Abstand
von einer objektiven Wissenschaft oder unschuldigen Kunst, indem er darauf besteht,
dass die Orientalisierung des Orients ein von den Beteiligten zumindest teilweise
intendierter Prozess war. Hinter der Schaffung von Wissen steht somit in diesem
Zusammenhang immer auch das Streben nach Macht und Beherrschung.

Saids bahnbrechende Studie erhielt in den letzten 40 Jahren seit Erscheinen viel
Zuspruch und der Einfluss von Orientalism auf die Postcolonial Studies und auch
andere akademische Fachrichtungen ist kaum zu überschätzen – trotz oder vielleicht
auch gerade wegen der Tatsache, dass an Saids Thesen auch intensiv und weitreichend
Kritik geübt wurde.16

13
     Said, S. 6.
14
     Ebd., S. 5.
15
     Ebd., S. 7.
16
  Auf einige der an ihn herangetragenen Kritikpunkte ging Said in späteren Arbeiten, allen voran in
Orientalism Reconsidered von 1985, ein, andere – wie den Ausschluss des deutschen Orientalismus
oder die Aussage, dass seine Arbeit ahistorisch und inkonsequent wäre – bezeichnet er als trivial.

                                                                                                      7
Marìa do Mar Castro Varela und Nikita Dhawan verorten fünf große Kritikpunkte, die
sich aus den Reaktionen auf Orientalism herausfiltern lassen:

         Erstens wird Said eine Homogenisierung und damit Essentialisierung des
         Orients wie auch des Okzidents vorgeworfen; zweitens wurde immer
         wieder festgestellt, dass der totalisierende Impetus des präsentierten
         Arguments keinen Raum für das Denken von Widerstand lässt; drittens
         werden die Einseitigkeit und der anklagende Ton Saids bemängelt;
         viertens wurden diverse Lücken in der sehr breit angelegten Studie
         nachgewiesen und fünftens sind zahlreiche Paradoxien und Widersprüche
         festgestellt worden, die auch mit den von Said verwendeten theoretischen
         Werkzeugen in Verbindung gebracht wurden.17

Für die vorliegende Arbeit von Bedeutung ist aber vor allem der erste Kritikpunkt,
nämlich die Homogenisierung des Orientalismusdiskurses durch Said. Zum einen
betrifft dies die Tatsache, dass Said sich auf französische und britische Texte
beschränkt, z.B. den deutschsprachigen Kontext sogar komplett ausnimmt, und
trotzdem am Ende zu einem gesamteuropäischen bzw. gesamtwestlichen
Orientalismuskonzept kommt. Gerade die Ausklammerung des einflussreichen
deutschen Orientalismus stellt jedoch den von Said hergestellten Konnex zwischen
(Hegemonial)Macht und Wissen in Frage.18

Viel wichtiger noch für die Fragestellung dieser Arbeit ist die Tatsache, dass
Orientalismus für Said auch „an exclusively male province“19 war. „This might seem
at first an odd objection to make, given that Said acknowledged the gendering at the
heart of Orientalist discourses and the ‚manly‘ pursuit of colonialism and Empire.“20
Aber als handelnde Subjekte, Autorinnen und Mitwirkende am Kolonialismus finden
Frauen keinen Platz in Saids Studie.

2.2 Feministische Ansätze

Auf diese Leerstelle in Saids Studie hat in den letzten Jahrzehnten eine Vielzahl an
WissenschaftlerInnen hingewiesen: „[…] he ignores the fact that many women were

17
   do Mar Castro Varela, María/Dhawan, Nikita (2015): Postkoloniale Theorie. Eine kritische
Einführung, Bielefeld: transcript Verlag, S. 106.
18
     Vgl. ebd., S. 107.
19
     Said, S. 207.
20
     McLeod, John (2010): Beginning postcolonialism, Manchester: Manchester University Press, S. 59.

                                                                                                   8
actively involved in colonialism: they wrote about the colonial situation and their
works were very widely read.”21 Dass Said diese Tatsache ignoriert, haben viele stark
kritisiert, stabilisiert er doch damit das Bild der passiven Frau, der weder Mitwirken
noch Widerstand zugestanden wird – obwohl es eben eine Vielzahl an Frauen gab, die
den Orient zum zentralen Thema ihrer Werke machten.

Da Said in seiner Studie also von einer rein männlichen Perspektive ausgeht, müssen
an der Schnittstelle zwischen Orientalismus und Gender neue Fragestellungen
untersucht werden. Welche Rolle nahmen westliche Frauen im orientalistischen
Diskurs ein? Welche Strategien verfolgten sie? Und ist ein „weiblicher Orientalismus“
unterschiedlich zu jenem der Männer?

Reina Lewis stellt sich in Gendering Orientalism eindeutig gegen Saids Annahme
eines homogenen, männlichen Orientalismus. Sie besteht auf einem Mitwirken von
Frauen am imperialistischen Diskurs und weist auf die einzigartige Position hin, in der
sich Frauen in diesem Zusammenhang wiederfanden:

         […] how they understood themselves as beneficiaries of a structure of
         systemic differences that, whilst it placed them as superior in the
         West/East divide of colonialism (the relative privilege of the European
         woman traveler in the Orient), also placed them as other and inferior in the
         gendered divides of European art and society […].22

In Europa das unterlegene Andere auf Grund des Geschlechts, befanden sich Frauen
im Orient auf einmal in einer weitgehend privilegierten Position der Macht gegenüber
den Einheimischen. Vor diesem Hintergrund stellt Lewis die Frage, wie sich diese zu
westlichen Männern sehr unterschiedliche Ausgangslage auf die Orientsicht von
Frauen auswirkt:

          […] how can a Western woman, who is feminized as the symbolic inferior
         other at home […], exercise the classificatory gaze over the Orient that
         Said describes? What access does a white European woman have to the
         enunciative position of a white superiority that is implicitly male?23

Frauen haben keinen bzw. keinen so klaren Zugang zur (implizit männlichen) Position
westlicher Superiorität, weshalb sie aus einer anderen Ausgangslage heraus

21
  Mills, Sara (1991): Discourses of Difference. An analysis of women’s travel writing and colonialism,
London, New York: Routledge, S. 58.
22
  Lewis, Reina (2003): Gendering Orientalism. Race, Femininity and Representation, Abingdon:
Routledge, S. 4f.
23
     Ebd., S. 18.

                                                                                                    9
beschreiben und handeln. Lewis argumentiert, dass der Blick von Frauen auf das
„Fremde“ oft weniger absolut war als jener von Männern: „ […] women’s differential,
gendered access to the positionalities of imperial discourse produced a gaze on the
Orient and the Orientalized ‚other‘ that registered difference less pejoratively and less
absolutely than was implied by Said’s original formulation.“24 Das soll nicht bedeuten,
dass sich Frauen nicht massiv am Projekt weißer Superiorität beteiligt und dieses mit-
und weiterproduziert haben. Allerdings eröffnet die Arbeit von Frauen auf Grund ihrer
anderen Ausgangslage Brüche im Orientalismuskonzept Saids und formt dieses gar
um, indem sie der Theorie eines intentionalen und einheitlichen Diskurses
widerspricht.25

Auch Billie Melman weist in ihrer Studie Women’s Orients: Englisch Women and
the Middle East, 1718—1918 darauf hin, dass Orientalismus ein heterogenes Konzept
voller Brüche ist und stellt die Frage nach einer separaten weiblichen Erfahrung des
Orients. Den Grund für den Ausschluss von Frauen aus dem orientalistischen Diskurs
sieht sie in der Tatsache, dass dieser immer in Bezug zu Politik und Herrschaft
diskutiert wird – Bereiche, die als männlich gelten und zu denen Frauen nur als
Zuschauer oder Opfer Zugang gewährt wird.26 Für einen weiblichen Orientalismus
gelten also andere Voraussetzungen: „In contrast to the hegemonic orientalist
discussion, women’s discourse on the Orient evolved outside the main locations of
‚metropolitan‘ knowledge and power […].“27 Und diese anderen Voraussetzungen
wirken sich laut Melman auf die Bewertung des Fremden aus: Melman spricht von
einem „sense of solidarity“, einem Gefühl der Solidarität gegenüber der fremden Frau,
das das Gefühl der Zugehörigkeit zur westlichen Überlegenheit überlagert.28

Auf den Umstand, dass für Frauen andere diskursive Rahmenbedingungen galten als
für Männer, verweist auch Sara Mills in Discourses of Difference. Genau wie Lewis
und Melman kritisiert auch sie den Ausschluss von Frauen aus dem als männlich
gedachten orientalistischen Diskurs: „Although women feature largely in the colonial

24
     Lewis, S. 4.
25
     Vgl. Ebd., S. 20.
26
  Vgl. Melman, Billie (1992): Women’s Orients: English Women and the Middle East, 1718—1918.
Sexuality, Religion and Work, Houndsmills u.a.: Macmillan, S. 6.
27
     Ebd., S. 8.
28
     Vgl. ebd., S. 8.

                                                                                         10
enterprise as potent objects of purity and symbols of home, their writing is not taken
seriously in the same way that male Orientalist writing is.“29 Und Mills geht noch
weiter, indem sie sagt, dass weibliche Werke über den Orient nicht nur deshalb nicht
Eingang in den Orientalismusdiskurs fanden, weil sie nicht ernst genommen wurden,
sondern auch „because it does not exhibit the same clear cut qualities that men’s
writing does.“30 Weibliche Texte wurden laut Mills also auch deshalb ausgeklammert,
weil sie nicht so klar in den orientalen Diskurs eingeordnet werden konnten wie jene
von Männern, da Frauen in ihrer ambivalenten Position immer sowohl vom
Orientalismus-, als auch von einem Weiblichkeitsdiskurs beeinflusst waren.

Lewis, Mills und Melman sind nur drei von vielen Wissenschaftlerinnen, die sich mit
der Verknüpfung zwischen Gender und Orientalismus beschäftigt haben. Dass die
Kategorie Gender nicht aus diesem Diskurs ausgeklammert werden kann und darf,
wird schnell ersichtlich, denn Frauen waren sehr wohl an der orientalistischen
Produktion und Konstruktion imperialistischer Herrschaft beteiligt, wodurch
Orientalismus nochmals eine völlig neue Dimension erhält. In ihrer ambivalenten
Position an der Schnittstelle zwischen den Kategorien gender und race mussten Frauen
neue Strategien und Wege finden, sich dem orientalen Anderen zu nähern, was für
eine explizit weibliche Form des Orientalismus spricht, die sich auf verschiedenste
Arten in den Werken von Frauen manifestiert hat.

29
     Mills, S. 58.
30
     Ebd., S. 61.

                                                                                   11
3. Reisende und schreibende Frauen

Seit jeher ist die Geschichte der Menschheit eng mit jener des Reisens verbunden.
„Das Reisen, sich von Bekanntem fortzubewegen und auf Unbekanntes einzulassen
und dabei Eigenes und Fremdes in Bezug zu setzen, ist so alt wie die Menschheit selbst
[…].“31 Dabei regte das Erkunden neuer Regionen schon immer zum Nachdenken an,
zur Reflexion über Altbekanntes und neu Entdecktes und beflügelte die Fantasie. Es
verwundert daher kaum, dass Menschen fast so lange wie sie reisen auch schon
darüber schreiben und die Reise seit jeher ein zentrales Motiv der Literatur ist. Die
ältesten bekannten Reisebeschreibungen im weiteren Sinne können bereits viele
Jahrhunderte v. Chr. gefunden werden:

         [F]rüheste – in Form von Mythen oder Sagen – überlieferte Reiseberichte
         sind z.B. der Gilgamesch-Epos (ca. 1200 v. Chr.), die Odyssee (ca. 8. Jhd.
         v. Chr.) und die aus dem 9. und 10. Jahrhundert überlieferten arabischen
         Berichte über Europa, oder wenn man Aufzeichnungen über Wanderungen
         ganzer Völker miteinbeziehen will, so werden auch oft die 4 letzten
         Bücher Moses als eine der ältesten Reisebeschreibungen der Menschheit
         bezeichnet.32

Im selben Atemzug muss jedoch auch darauf hingewiesen werden, dass das Reisen –
und in der Folge auch das Schreiben darüber – lange Zeit als eine großteils männlich
besetzte Domäne galt. Das soll keinesfalls heißen, dass es nicht seit jeher reisenden
Frauen gab, die ihre Erlebnisse auch literarische verarbeiteten. Ganz im Gegenteil gibt
es eine – angesichts der für sie äußerst schwierigen äußeren Bedingungen, auf die im
Folgenden genauer eingegangen wird – erstaunlich große Anzahl an literarisch tätigen
weiblichen Reisenden, die jedoch lange Zeit kaum Erwähnung und Anerkennung
weder in der Geschichtsschreibung noch in der Literaturgeschichte fanden:
„Reiseberichte       von    Frauen      sind     in    den     meisten      Fällen     von     der
Literaturgeschichtsschreibung verschwiegen, vergessen, oder in den Bereich der
Trivialliteratur    abgedrängt      worden      […].“33      Frauenreisen     und    vor     allem

31
  Ohnesorg, Stefanie (1996): Mit Kompaß, Kutsche und Kamel, St. Ingbert: Röhrig Universitätsverlag,
S. 26.
32
     Ebd., S. 26.
33
     Ebd., S. 27.

                                                                                                12
Reisebeschreibungen aus Frauenhand galten darum, wie Irmgard Scheitler sehr
treffend formuliert, lange als „literaturwissenschaftliche terra incognita“34.

Gerade aufgrund dieser Tatsachen ist es wichtig, bei der Betrachtung von
Reiseberichten von Autorinnen immer auch den sozialhistorischen Kontext zu
betrachten        und     miteinzubeziehen:         „Erläuterungen       zu    den     historischen
Lebensbedingungen dieser Frauen sind notwendig, um das Phänomen der reisenden
Frau in seiner Komplexität und Ambiguität erfassen zu können.“35 Die im Vergleich
zu Männern sehr unterschiedlich gearteten Bedingungen führten zu ganz
unterschiedlichen Erfahrungen, was sich zwangsläufig auch in den Texten der
Autorinnen niederschlug.36 Im Folgenden wird darum ein kurzer geschichtlicher
Abriss über das Reisen und Schreiben von Frauen gegeben, bevor eine genauere
Betrachtung der soziokulturellen Bedingungen des 19. Jahrhunderts erfolgt, vor deren
Hintergrund Ida Hahn-Hahn, Ida Pfeiffer und Anna Forneris lebten und
schriftstellerisch tätig waren.

3.1 Eine kurze Geschichte der Frauenreise bis ins 18. Jahrhundert

Wie bereits erwähnt, galt das Reisen lange Zeit als ein Privileg, das hauptsächlich
Männern zugänglich war. Auf den ersten Blick mag es darum fast so erscheinen, als
hätten Frauen am Reisen lange kaum einen Anteil gehabt. Sieht man jedoch genauer
hin, ergibt sich recht schnell ein ganz anderes Bild. Seit jeher machten sich Frauen auf
den Weg, um aus den unterschiedlichsten Gründen die Welt zu erkunden.37

Das erste erhaltene schriftliche Zeugnis einer Reisebeschreibung aus Frauenhand
entstand bereits um 400 n. Chr. Mit der Möglichkeit der Pilgerreise an Orte wie
Santiago de Compostela, Rom oder Jerusalem entstand seit der Mitte des 4.
Jahrhunderts und speziell ab der Jahrtausendwende eine der ersten Formen des
„Massentourismus“, denn das Pilgern als Reiseform war auch breiteren

34
     Scheitler, Irmgard (1999): Gattung und Geschlecht, Tübingen: Max Niemeyer Verlag, S. 4.
35
     Rossi, Anita (1993): Grenz(en)erfahrungen, Innsbruck, S. 29.
36
     Vgl. Felden, Tamara (1993): Frauen Reisen, New York u.a.: Peter Lang, S. 1.
37
     Vgl. Habinger, Gabriele (2006): Frauen reisen in die Fremde, Wien: Promedia, S. 28.

                                                                                                13
Bevölkerungsschichten zugänglich.38 Dass das Pilgerwesen derartige Ausmaße
annahm, wurde aber durchaus nicht nur positiv bewertet. Speziell von Seiten der
Kirche gab es durchaus Kritik – umso mehr, was pilgernde Frauen anbelangte, denn
besonders sie sollten an der Aufnahme von Pilgerfahrten gehindert werden.39 Doch
nicht alle Frauen ließen sich von diesem klerikalen Gegenwind von ihren Reisen
aufhalten. 326 n. Chr. etwa reiste die Mutter des römischen Kaisers Konstantin,
Helena, nach Jerusalem, und gegen Ende des Jahrhunderts besuchte die Römerin
Eustochium zusammen mit ihrer Mutter Ägypten und Palästina.40 Das erste
schriftliche Zeugnis einer Pilgerin stammt wie oben erwähnt ebenfalls bereits aus
dieser Zeit. Um 400 n. Chr. verfasste Etheria – auch Egeria, Heteria oder Aetheria –
ihren Reisebericht in Briefform41, in dem sie von ihrer rund vier Jahre dauernden Reise
berichtete, die sie über Konstantinopel und Jerusalem nach Ägypten führte.42 Ihr
Interesse galt vorwiegend biblischen Themen, teilweise auch archäologischen Stätten,
für Landschaft, Tiere und Menschen der bereisten Gegenden hatte sie hingegen
weniger Interesse.43 Große literarische Ansprüche hatte der Bericht der Etheria, der in
einfachem Vulgärlatein verfasst wurde, nicht, doch seine Bedeutung als
zeitgeschichtliches Dokument darf kaum überschätzt werden, denn er beweist, dass es
bereits im 4. Jahrhundert Frauen gab, die reisten und ihre Erlebnisse niederschrieben.44
Dies gilt umso mehr, wenn der nächste erhaltene Reisebericht einer Frau erst rund
1000 Jahre später entstand. 1413 begab sich die Britin Margery Kempe, nach
zwanzigjähriger Ehe und der Geburt von 14 Kindern, alleine auf Pilgerfahrt nach
Jerusalem. Und Kempe fand ganz offensichtlich Gefallen am Reisen: „Am Ende ihrer
zwei Jahre dauernden Pilgerfahrt ins Heilige Land besuchte Margery Kempe Rom,
zwei Jahre später pilgerte sie nach Santiago de Compostela, und schließlich reiste sie
nach Norwegen, Danzig und Aachen.“45 Im Alter von rund 60 Jahren diktierte Kempe,

38
     Vgl. Ohnesorg, S. 41ff.
39
     Vgl. Habinger (2006), S. 30.
40
     Vgl. ebd., S. 30f.
41
   Der Reisebericht der Etheria wird meist als Itinerarium Egeriae bezeichnet. Das Originalmanuskript
sowie die ersten Seiten der Berichts sind verschollen, weshalb weder der Originaltitel noch der
tatsächliche Name der Verfasserin gesichert sind.
42
     Vgl. Außerhofer, Danja (2005): Ida Pfeiffer, Innsbruck, S. 33.
43
     Vgl. Ohnesorg, S. 45f.
44
     Vgl. ebd., S. 46.
45
     Habinger (2006), S. 31.

                                                                                                  14
die des Schreibens nicht mächtig war, ihre Erinnerungen einem Priester. Das Ergebnis
war The Book of Margery Kempe, das als die älteste bekannte Autobiographie des
englischsprachigen Raumes gilt.46

Neben der Pilgerreise entwickelten sich im Spätmittelalter dann auch weitere
Reiseformen, die oft mit beruflichen oder ökonomischen Motiven zusammenhingen.
Eine beträchtliche Anzahl an Frauen zog beispielsweise als Musikantinnen,
Wahrsagerinnen, Marketenderinnen oder ähnlichem durch die Lande.47

Im Zuge zunehmender kolonialistischer Bestrebungen erschloss sich in der frühen
Neuzeit durch die Entdeckungs- und Eroberungsfahrten der großen seefahrenden
Nationen für Europa nach und nach die gesamte Welt und eine Vielzahl an neuen
Reiseformen entstand. An den Entdeckungsreisen selbst waren Frauen kaum beteiligt,
wurden aber schon bald als Töchter, Ehefrauen oder Bräute in die Kolonien
nachgeholt.48 Schriftliche Zeugnisse dieser Frauen sind jedoch keine überliefert.49 Und
auch an den sich ab dem 16. Jahrhundert etablierenden Kavalierstouren junger Adliger
und den Bildungs- und Studentenreisen hatten Frauen kaum Anteil.

Auch wenn es im 16. und 17. Jahrhundert vereinzelt Frauen wie etwa die
Schriftstellerin Aphra Behn oder die Forscherin Maria Sibylla Merian gab, die
während ihrer Auslandsaufenthalte schrieben, lässt sich eine Tradition des weiblichen
Reisens und Schreibens und damit auch des weiblichen Reiseberichtes erst ab Beginn
des 18. Jahrhunderts feststellen.50 Ihren Anfang nimmt diese Tradition bei Lady Mary
Wortley Montagu (1689-1762), deren Letters of the Right Honourable Lady M-y W-
y M—e Written During her Travels in Europe, Asia und Africa – oft auch verkürzt
als Letters from the East oder Embassy Letters bezeichnet – als einer der
bekanntesten und bedeutendsten Reiseberichte aus Frauenhand gelten muss. „Viele
Europäerinnen, die später den Orient bereisten, bezogen sich in ihren Werken auf die
berühmte britische Vorgängerin und stellten sich damit in gewisser Weise in eine
weibliche Tradition des Schreibens“.51 Die Briefe entstanden zwischen 1716 und

46
     Vgl. Außerhofer, S. 35.
47
     Vgl. Habinger (2006), S. 32.
48
     Vgl. Außerhofer, S. 36.
49
     Vgl. Habinger (2006), S. 35.
50
     Vgl. ebd. (2006), S. 35.
51
     Ebd. (2006), S. 37.

                                                                                    15
1718, als Lady Montagu mit ihrem Mann, der in dieser Zeit als Botschafter am
Osmanischen Hof tätig ist, in Konstantinopel lebt. In dem etwas über einen Jahr, das
Montagu im Orient verbringt, bewegt sie sich zwar fast ausschließlich in gehobenen
Kreisen und sieht von der Armut der Einheimischen nur recht wenig, interessiert sich
aber trotzdem sehr für die Menschen und ihre Kultur:

          Die meisten Briefe konzentrieren sich auf die Darstellung des neuen
          Landes und seiner Bewohner, ihrer Sitten und Lebensgewohnheiten. Die
          Autorin entpuppt sich dabei als aufmerksame, verständnisvolle
          Beobachterin, die sich sogar als verschleierte Frau durch die Straßen
          Konstantinopels tragen läßt, um einen besseren Einblick in das Leben der
          Frauen zu gewinnen.52

In der Nachfolge Montagus brechen immer mehr Europäerinnen zu kleineren wie
größeren Reisen auf und halten ihre Erlebnisse schriftlich fest. Unter ihnen waren
besonders viele Britinnen hauptsächlich aristokratischer Herkunft, sodass diese Frauen
bald als „Victorian Lady Travellers“ bekannt wurden. Laut Irmgard Scheitler ist dies
zum Teil auch darauf zurückzuführen, dass Frauen aus dem nicht-deutschsprachigen
Raum, und im Speziellen Britinnen, weniger restriktiven Bedingungen unterworfen
waren, was ihre schriftstellerische Tätigkeit anbelangt, als dies die Frauen im
deutschsprachigen Raum waren.53 Trotz allem gab es um die Jahrhundertwende zum
19. Jahrhundert aber auch einige Frauen aus dem deutschsprachigen Raum, die
Reiseziele außerhalb Europas besuchten und von diesen Reisen schriftlich berichteten.
Gabriele Habinger nennt etwa die Offiziersgattin Friederike Charlotte Luise von
Riedesel, die Stuttgarterin Caroline Rebenack oder die Zürcherin Regula Engel.54
Auch sie profitierten von den sich stetig verbessernden Bedingungen, die das Reisen
einer immer breiteren Bevölkerungsschicht möglich machten, und der Reiseeuphorie,
von der Europa im 18. Jahrhundert ergriffen wurde.55 Waren es bis jetzt vor allem
Angehörige der Aristokratie, wurde das Reisen im Verlauf des 18. Jahrhunderts auch
immer mehr zu einem bürgerlichen Phänomen. Das bedeutet einerseits, dass sich
immer mehr Menschen aufmachten, um Orte auf der ganzen Welt zu besuchen, und
andererseits, dass die Neugierde auf das Fremde auch bei den Daheimgebliebenen

52
  Frederiksen, Elke (1999): „Der Blick in die Ferne – Zur Reiseliteratur von Frauen“, in Gnüg,
Hiltrud/Möhrmann, Renate (Hg.), Frauen Literatur Geschichte, Stuttgart u.a.: J.B. Metzler, S. 155.
53
     Vgl. Scheitler, S. 28.
54
     Vgl. Habinger (2006), S. 38f.
55
     Vgl. ebd. (2006), S. 36.

                                                                                               16
stetig wuchs. Es verwundert daher nicht, dass sowohl die Nachfrage als auch die
Produktion von Reiseberichten in dieser Zeit stetig zunahm. Auch Frauen beteiligten
sich nach und nach mehr an dieser Form der literarischen Produktion, doch erst eine
veränderte Erwartungshaltung an das, was ein Reisebericht seinem Publikum zu
liefern hatte, ermöglichte ihnen einen besseren Zugang:

          In der 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts verschob sich nun […] der
          Schwerpunkt der Gattung vom Informativen und Gelehrten auf das
          Subjektive, Reflektierende und bewußt Literarische. Die sehr
          persönlichen, von jeher als typisch weiblich angesehenen Formen des
          Briefes und des Tagebuches wurden zum vorherrschenden
          Gestaltungsmuster.   Erst     diese  grundlegenden    Veränderungen
          ermöglichten Frauen den Zugang zum Reisebericht.56

Diesen Umstand machte sich beispielsweise Sophie von La Roche zunutze und
etablierte sich im Umfeld dieser, speziell von Frauen geforderten, Empfindsamkeit
und Sittsamkeit zu einer der bedeutendsten Verfasserinnen von Reiseberichten,
„indem sie für ihre Darstellungen eine moralische und erzieherische Wirkung für das
weibliche Geschlecht behauptete“57.

Bei Sophie von La Roche klingt schon an, was im 18. Jahrhundert nach und nach zur
Realität für Frauen wird und sich im 19. Jahrhundert in seiner vollen Wirkung
entfaltet: das bürgerliche Ideal von Weiblichkeit, das die Frau zum empfindsamen
Naturwesen stilisiert und sie immer mehr in den Bereich der Häuslichkeit verbannte.
Zwar gibt es seit jeher bestimmte Vorstellungen, was die Geschlechterrollen
anbelangt, im 18. Jahrhundert beginnt aber eine Umwälzung, die diesen
Zuschreibungen eine ganz neue Dimension gibt.

          Die bloße Tatsache der Kontrastierung von Mann und Frau ist historisch
          zunächst wenig aufschlußreich, waren doch in patriarchalischen
          Gesellschaften seit eh und je Aussagen über das „andere Geschlecht“
          gängige Muster der männlichen Selbstdefinition. Auf eine historisch
          möglicherweise gewichtige Differenzierung verweist jedoch die
          Beobachtung, daß mit den „Geschlechtscharakteren“ diese Kontrastierung
          im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts eine spezifisch neue Qualität
          gewinnt. Der Geschlechtscharakter wird als eine Kombination von

56
     Scheitler, S. 29.
57
     Ebd., S. 29.

                                                                                   17
Biologie und Bestimmung aus der Natur abgeleitet und zugleich als
         Wesensmerkmal in das Innere der Menschen verlegt.58

Das bedeutete für Frauen, dass sich mit Auslaufen des 18. Jahrhunderts ihr
Aktionsraum immer weiter beschränkte und auch ihr literarisches Schaffen
zunehmend beschnitten wurde. Es ist paradox, dass die zunehmende Betonung auf
Empfindsamkeit Frauen den Zugang zur Gattung des Reiseberichts einerseits erst
ermöglicht        hatte,   sie   andererseits   aber   aufgrund     der    sich   etablierenden
Geschlechterideologien sofort wieder in ihrer schriftstellerischen Tätigkeit
beschränkte bzw. ihre Arbeiten pauschal abwertete. „Die Literatur von Frauen wurde
jetzt fast global als minderwertig eingestuft, und die Autorinnen dazu angehalten nur
für ein weibliches Zielpublikum zu schreiben und sich bei der Themenwahl an der
‚natürlichen Bestimmung‘ der Frau zu orientieren.“59

Es zeigt sich, dass Frauen schon Ende des 18. Jahrhunderts aufgrund der bürgerlichen
Vorstellung dessen, wie eine Frau zu sein hatte, in allen Lebensbereichen mit
Einschränkungen und Diskriminierung zu kämpfen hatten – eine Entwicklung, die sich
im 19. Jahrhundert nur noch verstärkte.

3.2 Befreiung aus dem bürgerlichen Korsett: Weibliches Reisen und Schreiben
    im 19. Jahrhundert

Was sich schon gegen Ende des 18. Jahrhunderts ankündigte, entfaltete nun im 19.
Jahrhundert seine volle Wirkung: Die bürgerliche Geschlechterordnung setzte sich
endgültig in den Köpfen der Menschen fest und übte enormen Einfluss auf das Leben
und Schaffen von Frauen aus. Männer und Frauen wurden einander nun komplett
konträr gegenübergestellt, und zwar nicht nur, was ihre Aufgabenbereiche betraf,
sondern auch bezüglich ihrer „naturgegebenen“ Eigenschaften:

         Der bürgerliche Geschlechterdiskurs ist geprägt von strikten
         Vorstellungen von idealer Weiblichkeit ebenso wie von idealer
         Männlichkeit, die als Polarität gedacht wurden. In diesem Kontext erfolgt
         nicht nur eine zumindest theoretisch gedachte unüberwindliche

58
   Hausen, Karin (1976): „Die Polarisierung der ‚Geschlechtscharaktere‘ – Eine Spiegelung der
Dissoziation von Erwerbs- und Familienleben“, in Conze, Werner (Hg.): Sozialgeschichte der Familie
in der Neuzeit Europas, Stuttgart: Ernst Klett Verlag, S. 369f.
59
     Ohnesorg, S. 159.

                                                                                               18
geschlechtsspezifische Zuweisung von Aufgaben und Handlungsräumen,
         sondern die biologische Differenz bedingte auch eine klare
         Charakterisierung der Eigenschaften, Verhaltensweisen und auch
         Fähigkeiten der Geschlechter, gekennzeichnet durch den Begriff
         ‚Geschlechtscharakter‘, der als Vorstellungskomplex (und auch als
         Handlungsmaxime) gegen Ende des 18. und zu Beginn des 19.
         Jahrhunderts für die bürgerliche Gesellschaft allgemeine Gültigkeit
         erlangte.60

Der Mann wurde als der aktive Part festgeschrieben, der sich im öffentlichen Raum
bewegt, während die Frau als das passive Gegenstück definiert wurde, das in den
privaten Bereich gehört. War der Mann tapfer, zielstrebig und selbstständig, lag es im
Charakter der Frau, empfindsam, fürsorglich und sanftmütig zu sein. Die bürgerliche
Vorstellung der Geschlechter implizierte nun, dass Männer und Frauen von Natur aus
gänzlich        unterschiedlich   sind.    „Gerade      in   dieser     Naturgegebenheit        des
„Geschlechtscharakters“ liegt eine neue Dimension der Unterdrückung von Frauen.
[…] Gegen Herrschaft läßt sich rebellieren, gegen Natur nicht.“61 Somit wurde die
Frau immer mehr auf das Private und ihre Rolle als Mutter, Ehefrau und Hausfrau
reduziert und fast völlig aus dem öffentlichen Raum verdrängt, was zur Folge hatte,
dass das Männliche immer mehr mit Relevanz gleichgesetzt wurde, während
„weiblich“ immer gleichbedeutender mit „Irrelevanz“ wurde.

Diese Festschreibung der Frau auf bestimmte Lebensräume und Eigenschaften
legitimierte weiter männliche Privilegien und verfestigten die Hierarchie der
Geschlechter, denn Frauen wurden dadurch in immer größere Abhängigkeit zu ihren
Vätern, Brüdern oder Ehemännern gedrängt. Erschwerend kam hinzu, dass Frauen
durch ihre Reduktion auf das Natürliche und Gefühlvolle auch von der Bildung fast
gänzlich ausgeschlossen wurden. Die Männer waren es, die zu intellektuellen
Höchstleistungen fähig waren, den Frauen konnte man dies nicht zutrauen.

Auch das Reisen galt aus all diesen Gründen als eine rein männliche Domäne. Sah
man für Männer durch das Reisen große Vorteile für die persönliche Entwicklung,
stand man reisenden Frauen äußerst negativ gegenüber.

         Eine Frau, die reisen wollte, setzte sich dem Verdacht aus, mit der
         heimischen Schwelle zugleich die Grenze der Schicklichkeit und des

60
     Habinger (2006), S. 47f.
61
  Schmid, Pia (1984): „Hausfrau, Gattin, Mutter“, in Bechtel, Beatrix u.a. (Hg.): Die ungeschriebene
Geschichte, Wien: Wiener Frauenverlag, S. 169.

                                                                                                 19
moralisch Duldbaren zu überschreiten. In dem geistigen
         Koordinatensystem der männlichen Zeitgenossen war weibliches Reisen
         mit der Furcht verbunden, die Ortsveränderung würde eine unerwünschte
         Änderung      der    Mentalität   und    der   geschlechtsspezifischen
         Rollenzuweisung bewirken. […] Was bei männlichen Reisenden meist als
         positive Wirkung des Reisens verbucht wurde, nämlich seine
         persönlichkeitsbildenden und das Bewußtsein verändernde Kraft, schlug
         gerade negativ gegen weibliche Reisewünsche aus.62

Es wurde befürchtet, dass Frauen durch eine Horizonterweiterung ihre spezifisch
weiblichen Tugenden ablegen und nicht an den ihnen zugedachten Platz in der
Geschlechterordnung zurückkehren würden.

Ein weiteres Argument, warum Frauen zuhause bleiben sollten, war, dass sie für die
Herausforderungen und Entbehrungen einer Reise sowohl körperlich als auch geistig
nicht gemacht waren. Einerseits traute man ihnen die Strapazen, die vor allem eine
längere Reise im 19. Jahrhundert durchaus mit sich bringen konnte, nicht zu, und
andererseits war man davon überzeugt, dass Frauen jene Eigenschaften, die nötig
waren, um eine Reise erfolgreich durchzuführen, nicht besaßen bzw. nicht besitzen
sollten, weil sie eben der männlichen Sphäre zugeschrieben wurden:

         Nicht zuletzt der Reisealltag machte es erforderlich, dass Frauen
         Eigenschaften und Verhaltensweisen an den Tag legten, die außerhalb der
         weiblichen Geschlechtsrolle angesiedelt waren und die in den
         ‚männlichen‘ Bereich fielen, wie etwa Stärke, Durchsetzungsvermögen,
         konsequentes und zielgerichtetes Agieren.63

Reisen erforderte also in vielerlei Hinsicht eine Übertretung der weiblichen Sphäre –
umso mehr, wenn Frauen zu Zielen außerhalb Europas reisten – was in der
Geschlechterordnung des Bürgertums schlichtweg nicht vorgesehen war. So hatten
Frauen, die reisen wollten, auch mit verschiedensten Hindernissen zu kämpfen. Sie
mussten mit Diffamierung und Verspottung rechnen, waren aufgrund der Gesetze und
gesellschaftlichen Verhältnisse finanziell komplett abhängig von ihren Ehemännern
oder männlichen Verwandten und waren allgemein alleine kaum handlungsfähig.

Wollte eine Frau zusätzlich auch noch Schreiben, beging sie einen doppelten
Tabubruch, denn auch Autorschaft war ganz klar männlich besetzt. Für Frauen barg

62
  Deeken, Annette/Bösel, Monika (1996): An den süßen Wassern Asiens, Frankfurt u.a.: Campus
Verlag, S. 18.
63
     Habinger (2006), S. 148.

                                                                                        20
das Schreiben jedoch nicht nur kreatives Potenzial, sondern ermöglichte in vielen
Fällen        auch       eine   gewisse   finanzielle   Unabhängigkeit   und   speziell   die
Reiseschriftstellerei gab Frauen die Möglichkeit, den Beschränkungen der
bürgerlichen Gesellschaft – zumindest für einige Zeit – zu entfliehen. Die Umsetzung
dieses Unterfangens war allerdings alles andere als leicht, denn nicht nur die
gesellschaftlichen Normen stellten ein großes Hindernis dar, sondern auch die
gesetzliche Lage machte es Frauen schwer:

          Juristisch relevante Attribute von Autorschaft sind weiblichen Autoren
          meist nicht zugänglich; ihnen fehlt, wenn sie anonym veröffentlichen, eine
          Signatur; ebensowenig haben sie ein Recht über das eigene Copyright, da
          sie nicht alleine und selbstständig über die Veröffentlichung bestimmen
          können. Das „Allgemeine Landrecht der preußischen Staaten“ von 1794
          und der Code Napoléon, den viele deutsche Staaten übernehmen, verbietet
          Frauen, an irgendwelchen geschäftlichen Transaktionen teilzunehmen. 64

Trotz all dieser widrigen Umstände lässt sich für die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts
eine erstaunlich große Anzahl an Frauen feststellen, die jene doppelte
Grenzüberschreitung begangen haben und sowohl gereist sind, als auch schriftlich
über ihre Reisen berichtet haben.65 Sie profitierten einerseits von der sich stetig
verbessernden Infrastruktur und den Emanzipationsbewegungen der damaligen Zeit.66
Gleichzeitig erlebte auch die Reiseliteratur einen enormen Aufschwung:

          Das Genre der Reiseliteratur erlebte ebenfalls einen weiteren Boom und
          entwickelte sich in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts durch die
          Reisepublikationen von Heinrich Heine, Ludwig Börne und Fürst Pückler-
          Muskau „einer der populärsten Literaturgattungen“ überhaupt.67

Im Zuge dieser Entwicklung entstanden auch immer mehr Reiseberichte aus
Frauenhand. An diese Texte wurden jedoch gänzlich andere Erwartungen gestellt, als
an jene von männlichen Kollegen. Alleine der Ton, in dem Autorinnen ihre Texte
verfassten, musste zu ihrem edlen und sanften Gemüt passen: „Schon humorige
Passagen sind selten. Ironie, Satire oder Burleske gelten als völlig unweiblich.“68 Und
auch inhaltlich sahen sich Frauen mit Einschränkungen konfrontiert:

64
     Stamm (2010), S. 59.
65
     Vgl. Felden, S. 13.
66
     Vgl. Habinger (2006), S. 39f.
67
     Ebd. (2006), S. 40.
68
     Scheitler, S. 32.

                                                                                          21
Die Autorinnen sollten sich mit Themen beschäftigen, die in der
         westlichen Gesellschaft mit Frauen assoziiert wurden, wie das private und
         häusliche Leben, persönliche Beziehungen, Frauen und Kinder und alle
         Bereiche, die mit Emotionalität assoziiert wurden.69

Selbst im Ausland wurde ihnen also nur ein ganz spezifischer, weiblicher
Erfahrungsraum zugesprochen, der jenem ähnelte, auf den sie auch zuhause
beschränkt waren und für den ihnen eine gewisse Kompetenz zugeschrieben wurde.
Diese „weibliche Kompetenz“ war es aber auch, die Reiseberichte von Frauen für das
zeitgenössische Publikum spannender machte, lieferten sie doch einen gänzlich
anderen Blickwinkel als jene von Männern. Auf einem Markt, der in der ersten Hälfte
des 19. Jahrhunderts von Reiseberichten geradezu überschwemmt wurde, lieferten
Reiseschriftstellerinnen erfrischende neue Perspektiven.70 Damit befanden sie sich in
einem ständigen Spannungsfeld, denn einerseits verpönte die Gesellschaft Frauen, die
reisten und als Autorinnen tätig waren, andererseits verlangte der Markt geradezu nach
dieser spezifisch weiblichen Sichtweise.71

Diese Schwierigkeit, sich immer am Rande des für Frauen Schicklichen zu bewegen,
spiegelt sich auch im Leben der Reiseschriftstellerinnen des 19. Jahrhunderts wider.
Als Autorin die Welt zu bereisen und gleichzeitig die Grenzen des bürgerlichen
Weiblichkeitsideals nicht zu sehr zu übertreten, war ein ständiger Balanceakt.72 Denn
entgegen der Tatsache, dass sie durch ihr Handeln den Rahmen des „Anständigen“
sprengten, wollten sie ihre gesellschaftliche Anerkennung nicht verlieren, denn es
„ging vielen nicht um eine bewusste Kritik an gesellschaftlichen Konventionen, auch
wenn sie diese zum Teil missachteten“73. Trotz des widerständigen Potenzials ihres
Handelns wollten Reiseschriftstellerinnen nicht zu Ausgestoßenen der bürgerlichen
Gesellschaft werden: „Die meisten weiblichen Reisenden bemühten sich also, als
standesgemäße und geachtete Vertreterinnen ihres Geschlechts, nicht als kuriose,
belächelte oder bestaunte Außenseiterinnen bewertet zu werden – was dennoch oft der
Fall war.“74 Ganz abgesehen davon waren viele Autorinnen auch finanziell vom Erfolg

69
     Habinger (2006), S. 195.
70
     Vgl. Ohnesorg, S. 202.
71
     Vgl. Deeken/Bösel, S. 34.
72
     Vgl. ebd., S. 20.
73
     Habinger (2006), S. 140.
74
     Ebd. (2006), S. 141.

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