EIN "WEIBLICHER" BLICK AUF DEN ORIENT - EUROPÄISCHER AUTORINNEN DES 19. JAHRHUNDERTS HAREMSBESCHREIBUNGEN IN REISEBERICHTEN MASTERARBEIT ...
←
→
Transkription von Seiteninhalten
Wenn Ihr Browser die Seite nicht korrekt rendert, bitte, lesen Sie den Inhalt der Seite unten
EIN „WEIBLICHER“ BLICK AUF DEN ORIENT HAREMSBESCHREIBUNGEN IN REISEBERICHTEN EUROPÄISCHER AUTORINNEN DES 19. JAHRHUNDERTS MASTERARBEIT eingereicht an der Philologisch-Kulturwissenschaftlichen Fakultät der Leopold-Franzens-Universität Innsbruck Zur Erlangung des akademischen Grades eines Master of Arts Masterstudium Vergleichende Literaturwissenschaft C066 870 Eingereicht bei Univ. Prof. Dr. Sebastian Donat von Sarah Isabella Blum, BA 00817055 Innsbruck, im März 2020
Danksagung An dieser Stelle möchte ich mich bei all denjenigen bedanken, die mich während meines Studiums und der Anfertigung dieser Masterarbeit unterstützt haben. Mein Dank geht an den Betreuer meiner Masterarbeit, Univ.-Prof. Dr. Sebastian Donat, der mir sowohl zeitlich als auch inhaltlich große Freiheiten gelassen hat und mir gleichzeitig immer hilfreich zur Seite stand. Meinen KommilitonInnen Steffi, Ulli und Jakob danke ich für die Motivation, den Rückhalt und vor allem die vielen schönen und lustigen Stunden, die meine Studienzeit unvergesslich gemacht haben. Ihr seid zu FreundInnen geworden, die ich nicht mehr missen möchte! An Jakob auch noch einen speziellen Dank für das Korrekturlesen meiner Arbeit. Ein besonders großes Danke geht an meine Eltern, die mir mein Studium durch ihre Unterstützung ermöglicht und mir immer die Freiheit gegeben haben, meinen eigenen Weg zu gehen. Ohne euch wäre das alles nicht möglich gewesen, darum: Danke, Mama und Papa! Und zuletzt ein Danke an meinen Freund Markus, für das Korrekturlesen, aber vor allem für den bedingungslosen Rückhalt und die Unterstützung, die du mir seit fast 14 Jahren gibst. Ohne dich wäre ich nicht die, die ich heute bin. Sarah Blum Feldkirch, 01.03.2020
1. EINLEITUNG 1 2. ORIENTALISMUS 4 2.1 Edward W. Said – „Orientalism“ 5 2.2 Feministische Ansätze 8 3. REISENDE UND SCHREIBENDE FRAUEN 12 3.1 Eine kurze Geschichte der Frauenreise bis ins 18. Jahrhundert 13 3.2 Befreiung aus dem bürgerlichen Korsett: Weibliches Reisen und Schreiben im 19. Jahrhundert 18 4. DER ORIENT UND SEIN HAREM – PROJEKTIONSORTE WESTLICHER MÄNNERFANTASIEN 25 4.1 Der orientalische Harem in der Imagination westlicher Männer 28 4.2 Männer auf der Suche nach dem Harem aus Tausendundeiner Nacht – Reiseschriftsteller im Orient 35 4.3 Friedrich Wilhelm Hackländer – Reise in den Orient (1842) 40 5. EINE WEIBLICHE SICHT AUF ORIENT UND HAREM – SCHRIFTSTELLERINNEN ZWISCHEN ZAUBER UND ENTZAUBERUNG 47 5.1 Weibliche Befreiung im Orient 48 5.2 Beteiligung am orientalistischen Diskurs 49 5.3 Europäerinnen im Harem – ein exklusiv weiblicher Erfahrungsraum 50 5.4 Ida Hahn-Hahn – Orientalische Briefe (1844) 54 5.5 Ida Pfeiffer – Reise einer Wienerin in das heilige Land (1844) 63 5.6 Anna Forneris – Schicksale und Erlebnisse einer Kärntnerin während ihrer Reisen in verschiedenen Ländern und fast 30jährigen Aufenthaltes im Oriente (1849) 69 6. FAZIT 73 LITERATURVERZEICHNIS 75 ABBILDUNGSVERZEICHNIS 79
1. Einleitung „Bald nun werde ich wissen, wie der Orient sich im Auge einer Tochter des Occidents abspiegelt“1, bemerkt Ida Hahn-Hahn am 22. Augst 1843, zwei Tage vor ihrer Abreise nach Konstantinopel, in einem Brief an ihre Mutter. Die Zeile ist kurz, und doch verbirgt sich in ihr vieles. Es ist zum einen die Tatsache, dass sich eine Frau auf eine solch beschwerliche und weite Reise begibt, und das, obwohl Reisen im 19. Jahrhundert als Männerdomäne galt, zu der Angehörige des weiblichen Geschlechts kaum Zutritt hatten, wenn sie sich nicht den Geschlechterkonventionen der Zeit widersetzen wollten. Zum anderen weist die Aussage der Schriftstellerin Hahn-Hahn auf jene Orientfaszination hin, die sich speziell seit dem Ende des 18. Jahrhunderts von Frankreich ausgehend auf ganz Europa ausgebreitet hatte. Und letztendlich kann darin auch schon eine kleine Anspielung auf jenes Thema gefunden werden, dem die vorliegende Arbeit gewidmet ist, denn: Hahn-Hahn spricht explizit vom Auge einer Tochter des Okzidents. Es ist dieser weibliche Blick auf das Fremde, der im Folgenden betrachtet werden soll. Die Frage, die sich daraus ergibt, lautet: Gibt es einen „weiblichen“ Blick auf den Orient? Kann man von einer geschlechtsspezifischen Modifikation des Said’schen Orientalismuskonzeptes sprechen? Und wenn ja, wie wirkt sich dieser veränderte Deutung auf die Darstellung jenes in der westlichen Orientvorstellung zentralen phantasmatischen Topos, des Harems, in den Reiseberichten europäischer Frauen aus? Als Grundlage soll darum zuerst eine kurze Zusammenfassung des Orientalismuskonzepts nach Edward Said vorangestellt werden, um ein Verständnis dafür zu schaffen, wie der Westen durch Kunst und Literatur „den Orient“ überhaupt erst erschaffen hat, und wie eng dieser Diskurs mit der Ausübung von Macht und Autorität verbunden war und ist. Dass Said aber Frauen aus seinem Modell völlig ausnahm, führte vor allem von Seiten der feministischen Forschung zu großer Kritik, denn wie Wissenschaftlerinnen wie Reina Lewis, Billie Melman oder Sara Mills, deren Ansätze ebenfalls im ersten Kapitel kurz vorgestellt werden sollen, berechtigt 1 Hahn-Hahn, Ida (1844): Orientalische Briefe, 1. Band, Berlin: Verlag Alexander Duncker, S. 65. 1
einwandten, waren Frauen sehr wohl am orientalistischen Diskurs beteiligt und gestalteten ihn auch aktiv mit. In einem zweiten Schritt folgt eine überblicksmäßige Darstellung der Geschichte der Frauenreisen, bevor sich die Arbeit speziell auf die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts und damit auf jene Zeit konzentriert, in der die hier analysierten Schriftstellerinnen Ida Hahn-Hahn, Ida Pfeiffer und Anna Forneris gelebt, gereist und geschrieben haben. Alle drei veröffentlichten ihre Reiseberichte in den 40er-Jahren des 19. Jahrhunderts, was im Hinblick auf die Fragestellung dieser Arbeit nicht zufällig ausgewählt ist. Ab den 50er-Jahren des 19. Jahrhunderts gehen die Zahlen von Frauenreiseberichten stetig zurück, bevor sie schließlich ab 1856 in Folge der Revolution von 1848 und der daraus resultierenden Einschränkung weiblicher Mobilität vorerst wieder völlig verschwinden.2 Auch Frauen, die im 18. Jahrhundert den Orient bereisten, wurden für diese Fragestellung ausgeschlossen, da sie noch weit weniger von orientalistischen Bildern geprägt waren, als Autorinnen ab 1800, denn seit Beginn des 19. Jahrhunderts kann eine zunehmende Ausbreitung des europäischen Imperialismus beobachtet werden, was wiederum wesentlichen Einfluss auf die Sicht des Westens auf das Fremde hatte.3 Den historischen Hintergrund zu beleuchten, vor dem die drei Autorinnen ihre Reisen tätigten und ihre Reiseberichte verfassten, ist in diesem Zusammenhang wichtig, denn die soziokulturellen Umstände hatten wesentlichen Einfluss auf die Reisemotivation sowie das Selbstverständnis als Autorin. Europäische Frauen, die Reisen und/oder Schreiben wollten, hatten – mit den Geschlechterideologien der bürgerlichen Gesellschaft konfrontiert – mit großen Hürden zu kämpfen, was sich natürlich auch auf ihre schriftstellerische Tätigkeit auswirkte. Um zu verstehen, ob und wie sich die Haremsbeschreibungen von Autorinnen von jenen Bildern aus männlicher Tradition unterscheiden, ist es notwendig, zunächst den durch Musik, Malerei und Literatur produzierten images nachzugehen, wobei das spezielle Augenmerk auf der Darstellung des Harems und der Haremsdame liegt. Darauf folgt eine genauere Betrachtung des Verhältnisses von Reiseschriftstellern zum Harem und seinen Bewohnerinnen, bevor Friedrich Wilhelm Hackländers Reise in den 2 Vgl, Stamm, Ulrike (2010): Der Orient der Frauen, Köln u.a.: Böhlau Verlag, S. 15. 3 Vgl. ebd., S. 15. 2
Orient von 1842 exemplarisch für eine männliche Haremsbeschreibung analysiert wird. In einem letzten Schritt steht dann das Verhältnis von europäischen Frauen zum Orient im Fokus, bot ihnen eine Reise in diese Region doch die Möglichkeit des Ausbruchs aus bürgerlichen Konventionen und eine Aufwertung ihrer im Westen marginalisierten Position. Auch dem Mitwirken europäischer Frauen am kolonialistischen Diskurs muss in diesem Zusammenhang Raum gegeben werden, sind doch die hierarchischen Strukturen, die sich für sie im Orient ergaben, wesentlich für ihre schriftstellerische Produktion. Auch nutzten sie die Chance, im exklusiv weiblichen Raum des Harems endlich einmal das Vorrecht auf Zutritt und „Wahrheit“ gegenüber den europäischen Männern zu haben. Exemplarisch werden abschließend die Haremsbeschreibungen in den Reiseberichten von Ida Hahn-Hahn (Orientalische Briefe, 1844), Ida Pfeiffer (Reise einer Wienerin in das heilige Land, 1844) und Anna Forneris (Schicksale und Erlebnisse einer Kärntnerin während ihrer Reisen in verschiedenen Ländern und fast 30jährigen Aufenthaltes im Oriente, 1849) analysiert. Es wird zu zeigen sein, dass Saids These von einem „rein männlichen Projekt“ Orientalismus nicht haltbar ist. Die Texte der hier behandelten Autorinnen weisen klare orientalistische Merkmale auf, und aufgrund Tatsache, dass ihre Texte im 19. Jahrhundert weitgehend rezipiert wurden, hatten sie auch Einfluss auf den orientalistischen Diskurs. Allerdings wählten die Autorinnen im Gegensatz zu männlichen Kollegen andere Zugänge, wodurch in ihren Texten durchaus auch Brüche im Orientalismuskonzept zu finden sind und eindeutig von einem spezifisch „weiblichen“ Orientalismus gesprochen werden kann. 3
2. Orientalismus Despotische Herrscher, verführerische Haremsdamen und exotische Szenerien – noch heute finden diese klassischen Topoi der Orientbeschreibung Eingang in das Bewusstsein der Menschen. Der Westen – und speziell Europa – kann auf eine Jahrhunderte überdauernde Tradition der Beschäftigung mit dem Orient zurückblicken. Bereits bei antiken Autoren wie Aischylos oder Homer fand dieser Ort westlicher Imagination seinen Platz und ab dem späten 18. Jahrhundert kann man von einer wahren Orientfaszination sprechen. Die ferne Region wurde zum Projektionsort westlicher Fantasien: „The Orient was almost a European invention, and had been since antiquity a place of romance, exotic beings, haunting memories and landscapes, remarkable experiences.“4 Zahlreiche AutorInnen und MalerInnen erkoren den Orient zum Schauplatz ihrer künstlerischen Schöpfungen aus und prägten damit tiefgreifend die Vorstellung der Menschen. Und auch die Orientalistik als wissenschaftliche Disziplin, die sich mit den Sprachen und Kulturen des Orients beschäftigt, entwickelte sich ab dem späten 18. Jahrhundert von Frankreich ausgehend rasant. Dass der Orient in der westlichen Wahrnehmung eine Sonderposition einnimmt, wird nach diesem kurzen Überblick schnell ersichtlich: The orient is not only adjacent to Europe; it is also the place of Europe’s greatest and richest and oldest colonies, the source of its civilizations and languages, its cultural contestant, and one of its deepest and most recurring images of the Other.5 Zahlreiche TheoretikerInnen haben sich in den letzten Jahrzehnten mit dem Phänomen der intensiven Beschäftigung Europas und des Westens mit dem Orient auseinandergesetzt. Keiner von ihnen wurde jedoch so weitreichend rezipiert wie Edward W. Said und sein Werk Orientalism. 4 Said, Edward W. (1978): Orientalism, New York, Toronto: Random House, S. 1. 5 Ebd., S. 1. 4
2.1 Edward W. Said – „Orientalism“ Als 1978 das Werk Orientalism des palästinensisch-amerikanischen Literaturwissenschaftlers Edward W. Said erschien, gingen in der Fachwelt die Wogen hoch. Die Studie, die sich mit französischen und britischen Texten zum Orient beschäftigte, hat eine Diskussion entfacht, die bis heute andauert und sich über die unterschiedlichsten Disziplinen erstreckt. Mittlerweile wurde das Werk in über 30 Sprachen übersetzt und gilt als einer der Gründungstexte der Postcolonial Studies. Ausgehend von der Diskursanalyse Michel Focaults in Verbindung mit dem Hegemoniekonzept von Antonio Gramsci prägt Said den Begriff „Orientalismus“ als eine Art und Weise, wie der Westen den Orient beschreibt, definiert und damit in gewisser Weise erst erschafft. Der Orient ist für ihn darum keine naturgegebene Tatsache: „[…] the Orient ist not an inert fact of nature. It is not merely there, just as the Occident itself is not just there either.“6 Vielmehr ist er ein Konstrukt aus westlichen Vorstellungen, eine Idee, die die Europäer von dieser Region entwickelt haben: „ […] the Orient is an idea that has a history and a tradition of thought, imagery, and vocabulary that have given it reality and presence in and for the West.“7 Dabei bezieht Said den Begriff „Orientalismus“ auf unterschiedliche, aber sich eng aufeinander beziehende Phänomene. Die erste Deutung ist wohl die klarste und bezieht sich auf die akademische Disziplin und ihre Institutionen. Daneben stellt Said Orientalismus als „a style of thought based upon an ontological and epistemological distinction made between ‚the Orient‘ and (most of the time) ‚the Occident‘“8. Orientalismus bezeichnet somit auch jene Einstellung des Westens, zwischen dem Selbst und dem „Fremden“ eine imaginäre Grenze zu ziehen, wo auf der einen Seite das „Wir“ und auf der anderen Seite das „Andere“ steht. Und letztlich umfasst der Begriff „Orientalismus“ für Said auch „a Western style of dominating, restructuring, and having authority over the Orient“9. 6 Said, S. 4. 7 Ebd., S. 5. 8 Ebd., S. 2. 9 Ebd., S. 3. 5
Zentral ist für Said die Tatsache, dass der Westen den Orient immer als sein Gegenstück konstruiert. Der Orientale ist in der westlichen Vorstellung all das, was der Europäer nicht ist, und umgekehrt. So wird der Orient als das – in dem meisten Fällen defizitäre – Andere konstruiert und festgeschrieben, wodurch sich der Okzident als der (überlegene) Gegenpart absetzen kann: „[…] European culture gained in strength and identity by setting itself off against the Orient as a sort of surrogate and even underground self.“10 Dabei steht der Prozess des „Othering“ als Werkzeug dieser Distinktion im Mittelpunkt: „Ein komplexer Prozess des Fremd- oder Different- Machens, der über eine dualistische Logik funktioniert, an dessen Ende die ‚Anderen‘ vis-à-vis dem ‚abendländischen Selbst‘ stehen.“11 So wurde der Orient durch den Westen erst „orientalisiert“, indem ihm Eigenschaften zugeschrieben wurden, die jenen, die sich der Westen selbst zuschrieb, gegenüberstanden. Das so entstandene Set an binären Oppositionen legte den Okzident aktiv, rational, fortschrittlich, modern und männlich fest, während der Orient im Gegenzug als passiv, irrational, rückschrittlich, zeitlos und weiblich galt. Der Orient war somit das defizitäre Gegenstück zum Westen und fungierte gleichzeitig als Ort, der idealisiert und auf den Fantasien projiziert werden konnten. In diesem Zusammenhang betont Said, dass Orientalismus als Diskurs aufgefasst werden muss: My contention is that without examining Orientalism as a discourse one cannot possibly understand the enormously systematic discipline by which European culture was able to manage–and even produce–the Orient politically, sociologically, militarily, ideologically, scientifically, and imaginatively during the post-Enlightenment period.12 Die Beschreibungen und Darstellungen des Orients in Wissenschaft, Literatur und Malerei sind für Said somit nicht einfach individuelle Phänomene, sondern vielmehr Teil eines europäischen Projektes, den Orient als das Andere festzuschreiben: „Orientalism, therefore, is not an airy Euopean fantasy about the Orient, but a created 10 Said, S. 3. 11 do Mar Castro Varela, María/Dhawan, Nikita (2007): „Orientalismus und postkoloniale Theorie“, in Attia, Iman (Hg.), Orient- und IslamBilder. Interdisziplinäre Beiträge zu Orientalismus und antimuslimischem Rassismus, Münster: UNRAST-Verlag, S. 31. 12 Said, S. 3. 6
body of theory and practice in which, for many generations, there has been a considerable material investment.“13 Eng damit verbunden ist die Kernthese Saids, dass es bei Orientalismus immer um die Herstellung einer überlegenen Position und um die Etablierung und Stabilisierung von Macht geht. Unter Bezugnahme auf Gramscis Hegemonietheorie legt er dar, dass die Beziehung zwischen Orient und Okzident von Seiten des Westens immer von Herrschaftsbestrebungen geprägt ist: „The relationship between Occident and Orient is a relationship of power, of domination, of varying degrees of a complex hegemony […].“14 Dabei handelt und definiert sich der Westen also immer aus einer Position der Überlegenheit heraus, die Said als „positional superiority“ bezeichnet. In a quite constant way, Orientalism depends for its strategy on this flexible positional superiority, which puts the Westerner in a whole series of possible relationships with the Orient without ever losing him the relative upper hand.15 „Wissen“ über den Orient wurde genutzt, um diesen zu dominieren und letztendlich auch Herrschaft zu legitimieren. Indem der Orient als defizitär festgeschrieben wurde, wurde eine Beherrschung durch den Westen legitimiert. Said nimmt damit Abstand von einer objektiven Wissenschaft oder unschuldigen Kunst, indem er darauf besteht, dass die Orientalisierung des Orients ein von den Beteiligten zumindest teilweise intendierter Prozess war. Hinter der Schaffung von Wissen steht somit in diesem Zusammenhang immer auch das Streben nach Macht und Beherrschung. Saids bahnbrechende Studie erhielt in den letzten 40 Jahren seit Erscheinen viel Zuspruch und der Einfluss von Orientalism auf die Postcolonial Studies und auch andere akademische Fachrichtungen ist kaum zu überschätzen – trotz oder vielleicht auch gerade wegen der Tatsache, dass an Saids Thesen auch intensiv und weitreichend Kritik geübt wurde.16 13 Said, S. 6. 14 Ebd., S. 5. 15 Ebd., S. 7. 16 Auf einige der an ihn herangetragenen Kritikpunkte ging Said in späteren Arbeiten, allen voran in Orientalism Reconsidered von 1985, ein, andere – wie den Ausschluss des deutschen Orientalismus oder die Aussage, dass seine Arbeit ahistorisch und inkonsequent wäre – bezeichnet er als trivial. 7
Marìa do Mar Castro Varela und Nikita Dhawan verorten fünf große Kritikpunkte, die sich aus den Reaktionen auf Orientalism herausfiltern lassen: Erstens wird Said eine Homogenisierung und damit Essentialisierung des Orients wie auch des Okzidents vorgeworfen; zweitens wurde immer wieder festgestellt, dass der totalisierende Impetus des präsentierten Arguments keinen Raum für das Denken von Widerstand lässt; drittens werden die Einseitigkeit und der anklagende Ton Saids bemängelt; viertens wurden diverse Lücken in der sehr breit angelegten Studie nachgewiesen und fünftens sind zahlreiche Paradoxien und Widersprüche festgestellt worden, die auch mit den von Said verwendeten theoretischen Werkzeugen in Verbindung gebracht wurden.17 Für die vorliegende Arbeit von Bedeutung ist aber vor allem der erste Kritikpunkt, nämlich die Homogenisierung des Orientalismusdiskurses durch Said. Zum einen betrifft dies die Tatsache, dass Said sich auf französische und britische Texte beschränkt, z.B. den deutschsprachigen Kontext sogar komplett ausnimmt, und trotzdem am Ende zu einem gesamteuropäischen bzw. gesamtwestlichen Orientalismuskonzept kommt. Gerade die Ausklammerung des einflussreichen deutschen Orientalismus stellt jedoch den von Said hergestellten Konnex zwischen (Hegemonial)Macht und Wissen in Frage.18 Viel wichtiger noch für die Fragestellung dieser Arbeit ist die Tatsache, dass Orientalismus für Said auch „an exclusively male province“19 war. „This might seem at first an odd objection to make, given that Said acknowledged the gendering at the heart of Orientalist discourses and the ‚manly‘ pursuit of colonialism and Empire.“20 Aber als handelnde Subjekte, Autorinnen und Mitwirkende am Kolonialismus finden Frauen keinen Platz in Saids Studie. 2.2 Feministische Ansätze Auf diese Leerstelle in Saids Studie hat in den letzten Jahrzehnten eine Vielzahl an WissenschaftlerInnen hingewiesen: „[…] he ignores the fact that many women were 17 do Mar Castro Varela, María/Dhawan, Nikita (2015): Postkoloniale Theorie. Eine kritische Einführung, Bielefeld: transcript Verlag, S. 106. 18 Vgl. ebd., S. 107. 19 Said, S. 207. 20 McLeod, John (2010): Beginning postcolonialism, Manchester: Manchester University Press, S. 59. 8
actively involved in colonialism: they wrote about the colonial situation and their works were very widely read.”21 Dass Said diese Tatsache ignoriert, haben viele stark kritisiert, stabilisiert er doch damit das Bild der passiven Frau, der weder Mitwirken noch Widerstand zugestanden wird – obwohl es eben eine Vielzahl an Frauen gab, die den Orient zum zentralen Thema ihrer Werke machten. Da Said in seiner Studie also von einer rein männlichen Perspektive ausgeht, müssen an der Schnittstelle zwischen Orientalismus und Gender neue Fragestellungen untersucht werden. Welche Rolle nahmen westliche Frauen im orientalistischen Diskurs ein? Welche Strategien verfolgten sie? Und ist ein „weiblicher Orientalismus“ unterschiedlich zu jenem der Männer? Reina Lewis stellt sich in Gendering Orientalism eindeutig gegen Saids Annahme eines homogenen, männlichen Orientalismus. Sie besteht auf einem Mitwirken von Frauen am imperialistischen Diskurs und weist auf die einzigartige Position hin, in der sich Frauen in diesem Zusammenhang wiederfanden: […] how they understood themselves as beneficiaries of a structure of systemic differences that, whilst it placed them as superior in the West/East divide of colonialism (the relative privilege of the European woman traveler in the Orient), also placed them as other and inferior in the gendered divides of European art and society […].22 In Europa das unterlegene Andere auf Grund des Geschlechts, befanden sich Frauen im Orient auf einmal in einer weitgehend privilegierten Position der Macht gegenüber den Einheimischen. Vor diesem Hintergrund stellt Lewis die Frage, wie sich diese zu westlichen Männern sehr unterschiedliche Ausgangslage auf die Orientsicht von Frauen auswirkt: […] how can a Western woman, who is feminized as the symbolic inferior other at home […], exercise the classificatory gaze over the Orient that Said describes? What access does a white European woman have to the enunciative position of a white superiority that is implicitly male?23 Frauen haben keinen bzw. keinen so klaren Zugang zur (implizit männlichen) Position westlicher Superiorität, weshalb sie aus einer anderen Ausgangslage heraus 21 Mills, Sara (1991): Discourses of Difference. An analysis of women’s travel writing and colonialism, London, New York: Routledge, S. 58. 22 Lewis, Reina (2003): Gendering Orientalism. Race, Femininity and Representation, Abingdon: Routledge, S. 4f. 23 Ebd., S. 18. 9
beschreiben und handeln. Lewis argumentiert, dass der Blick von Frauen auf das „Fremde“ oft weniger absolut war als jener von Männern: „ […] women’s differential, gendered access to the positionalities of imperial discourse produced a gaze on the Orient and the Orientalized ‚other‘ that registered difference less pejoratively and less absolutely than was implied by Said’s original formulation.“24 Das soll nicht bedeuten, dass sich Frauen nicht massiv am Projekt weißer Superiorität beteiligt und dieses mit- und weiterproduziert haben. Allerdings eröffnet die Arbeit von Frauen auf Grund ihrer anderen Ausgangslage Brüche im Orientalismuskonzept Saids und formt dieses gar um, indem sie der Theorie eines intentionalen und einheitlichen Diskurses widerspricht.25 Auch Billie Melman weist in ihrer Studie Women’s Orients: Englisch Women and the Middle East, 1718—1918 darauf hin, dass Orientalismus ein heterogenes Konzept voller Brüche ist und stellt die Frage nach einer separaten weiblichen Erfahrung des Orients. Den Grund für den Ausschluss von Frauen aus dem orientalistischen Diskurs sieht sie in der Tatsache, dass dieser immer in Bezug zu Politik und Herrschaft diskutiert wird – Bereiche, die als männlich gelten und zu denen Frauen nur als Zuschauer oder Opfer Zugang gewährt wird.26 Für einen weiblichen Orientalismus gelten also andere Voraussetzungen: „In contrast to the hegemonic orientalist discussion, women’s discourse on the Orient evolved outside the main locations of ‚metropolitan‘ knowledge and power […].“27 Und diese anderen Voraussetzungen wirken sich laut Melman auf die Bewertung des Fremden aus: Melman spricht von einem „sense of solidarity“, einem Gefühl der Solidarität gegenüber der fremden Frau, das das Gefühl der Zugehörigkeit zur westlichen Überlegenheit überlagert.28 Auf den Umstand, dass für Frauen andere diskursive Rahmenbedingungen galten als für Männer, verweist auch Sara Mills in Discourses of Difference. Genau wie Lewis und Melman kritisiert auch sie den Ausschluss von Frauen aus dem als männlich gedachten orientalistischen Diskurs: „Although women feature largely in the colonial 24 Lewis, S. 4. 25 Vgl. Ebd., S. 20. 26 Vgl. Melman, Billie (1992): Women’s Orients: English Women and the Middle East, 1718—1918. Sexuality, Religion and Work, Houndsmills u.a.: Macmillan, S. 6. 27 Ebd., S. 8. 28 Vgl. ebd., S. 8. 10
enterprise as potent objects of purity and symbols of home, their writing is not taken seriously in the same way that male Orientalist writing is.“29 Und Mills geht noch weiter, indem sie sagt, dass weibliche Werke über den Orient nicht nur deshalb nicht Eingang in den Orientalismusdiskurs fanden, weil sie nicht ernst genommen wurden, sondern auch „because it does not exhibit the same clear cut qualities that men’s writing does.“30 Weibliche Texte wurden laut Mills also auch deshalb ausgeklammert, weil sie nicht so klar in den orientalen Diskurs eingeordnet werden konnten wie jene von Männern, da Frauen in ihrer ambivalenten Position immer sowohl vom Orientalismus-, als auch von einem Weiblichkeitsdiskurs beeinflusst waren. Lewis, Mills und Melman sind nur drei von vielen Wissenschaftlerinnen, die sich mit der Verknüpfung zwischen Gender und Orientalismus beschäftigt haben. Dass die Kategorie Gender nicht aus diesem Diskurs ausgeklammert werden kann und darf, wird schnell ersichtlich, denn Frauen waren sehr wohl an der orientalistischen Produktion und Konstruktion imperialistischer Herrschaft beteiligt, wodurch Orientalismus nochmals eine völlig neue Dimension erhält. In ihrer ambivalenten Position an der Schnittstelle zwischen den Kategorien gender und race mussten Frauen neue Strategien und Wege finden, sich dem orientalen Anderen zu nähern, was für eine explizit weibliche Form des Orientalismus spricht, die sich auf verschiedenste Arten in den Werken von Frauen manifestiert hat. 29 Mills, S. 58. 30 Ebd., S. 61. 11
3. Reisende und schreibende Frauen Seit jeher ist die Geschichte der Menschheit eng mit jener des Reisens verbunden. „Das Reisen, sich von Bekanntem fortzubewegen und auf Unbekanntes einzulassen und dabei Eigenes und Fremdes in Bezug zu setzen, ist so alt wie die Menschheit selbst […].“31 Dabei regte das Erkunden neuer Regionen schon immer zum Nachdenken an, zur Reflexion über Altbekanntes und neu Entdecktes und beflügelte die Fantasie. Es verwundert daher kaum, dass Menschen fast so lange wie sie reisen auch schon darüber schreiben und die Reise seit jeher ein zentrales Motiv der Literatur ist. Die ältesten bekannten Reisebeschreibungen im weiteren Sinne können bereits viele Jahrhunderte v. Chr. gefunden werden: [F]rüheste – in Form von Mythen oder Sagen – überlieferte Reiseberichte sind z.B. der Gilgamesch-Epos (ca. 1200 v. Chr.), die Odyssee (ca. 8. Jhd. v. Chr.) und die aus dem 9. und 10. Jahrhundert überlieferten arabischen Berichte über Europa, oder wenn man Aufzeichnungen über Wanderungen ganzer Völker miteinbeziehen will, so werden auch oft die 4 letzten Bücher Moses als eine der ältesten Reisebeschreibungen der Menschheit bezeichnet.32 Im selben Atemzug muss jedoch auch darauf hingewiesen werden, dass das Reisen – und in der Folge auch das Schreiben darüber – lange Zeit als eine großteils männlich besetzte Domäne galt. Das soll keinesfalls heißen, dass es nicht seit jeher reisenden Frauen gab, die ihre Erlebnisse auch literarische verarbeiteten. Ganz im Gegenteil gibt es eine – angesichts der für sie äußerst schwierigen äußeren Bedingungen, auf die im Folgenden genauer eingegangen wird – erstaunlich große Anzahl an literarisch tätigen weiblichen Reisenden, die jedoch lange Zeit kaum Erwähnung und Anerkennung weder in der Geschichtsschreibung noch in der Literaturgeschichte fanden: „Reiseberichte von Frauen sind in den meisten Fällen von der Literaturgeschichtsschreibung verschwiegen, vergessen, oder in den Bereich der Trivialliteratur abgedrängt worden […].“33 Frauenreisen und vor allem 31 Ohnesorg, Stefanie (1996): Mit Kompaß, Kutsche und Kamel, St. Ingbert: Röhrig Universitätsverlag, S. 26. 32 Ebd., S. 26. 33 Ebd., S. 27. 12
Reisebeschreibungen aus Frauenhand galten darum, wie Irmgard Scheitler sehr treffend formuliert, lange als „literaturwissenschaftliche terra incognita“34. Gerade aufgrund dieser Tatsachen ist es wichtig, bei der Betrachtung von Reiseberichten von Autorinnen immer auch den sozialhistorischen Kontext zu betrachten und miteinzubeziehen: „Erläuterungen zu den historischen Lebensbedingungen dieser Frauen sind notwendig, um das Phänomen der reisenden Frau in seiner Komplexität und Ambiguität erfassen zu können.“35 Die im Vergleich zu Männern sehr unterschiedlich gearteten Bedingungen führten zu ganz unterschiedlichen Erfahrungen, was sich zwangsläufig auch in den Texten der Autorinnen niederschlug.36 Im Folgenden wird darum ein kurzer geschichtlicher Abriss über das Reisen und Schreiben von Frauen gegeben, bevor eine genauere Betrachtung der soziokulturellen Bedingungen des 19. Jahrhunderts erfolgt, vor deren Hintergrund Ida Hahn-Hahn, Ida Pfeiffer und Anna Forneris lebten und schriftstellerisch tätig waren. 3.1 Eine kurze Geschichte der Frauenreise bis ins 18. Jahrhundert Wie bereits erwähnt, galt das Reisen lange Zeit als ein Privileg, das hauptsächlich Männern zugänglich war. Auf den ersten Blick mag es darum fast so erscheinen, als hätten Frauen am Reisen lange kaum einen Anteil gehabt. Sieht man jedoch genauer hin, ergibt sich recht schnell ein ganz anderes Bild. Seit jeher machten sich Frauen auf den Weg, um aus den unterschiedlichsten Gründen die Welt zu erkunden.37 Das erste erhaltene schriftliche Zeugnis einer Reisebeschreibung aus Frauenhand entstand bereits um 400 n. Chr. Mit der Möglichkeit der Pilgerreise an Orte wie Santiago de Compostela, Rom oder Jerusalem entstand seit der Mitte des 4. Jahrhunderts und speziell ab der Jahrtausendwende eine der ersten Formen des „Massentourismus“, denn das Pilgern als Reiseform war auch breiteren 34 Scheitler, Irmgard (1999): Gattung und Geschlecht, Tübingen: Max Niemeyer Verlag, S. 4. 35 Rossi, Anita (1993): Grenz(en)erfahrungen, Innsbruck, S. 29. 36 Vgl. Felden, Tamara (1993): Frauen Reisen, New York u.a.: Peter Lang, S. 1. 37 Vgl. Habinger, Gabriele (2006): Frauen reisen in die Fremde, Wien: Promedia, S. 28. 13
Bevölkerungsschichten zugänglich.38 Dass das Pilgerwesen derartige Ausmaße annahm, wurde aber durchaus nicht nur positiv bewertet. Speziell von Seiten der Kirche gab es durchaus Kritik – umso mehr, was pilgernde Frauen anbelangte, denn besonders sie sollten an der Aufnahme von Pilgerfahrten gehindert werden.39 Doch nicht alle Frauen ließen sich von diesem klerikalen Gegenwind von ihren Reisen aufhalten. 326 n. Chr. etwa reiste die Mutter des römischen Kaisers Konstantin, Helena, nach Jerusalem, und gegen Ende des Jahrhunderts besuchte die Römerin Eustochium zusammen mit ihrer Mutter Ägypten und Palästina.40 Das erste schriftliche Zeugnis einer Pilgerin stammt wie oben erwähnt ebenfalls bereits aus dieser Zeit. Um 400 n. Chr. verfasste Etheria – auch Egeria, Heteria oder Aetheria – ihren Reisebericht in Briefform41, in dem sie von ihrer rund vier Jahre dauernden Reise berichtete, die sie über Konstantinopel und Jerusalem nach Ägypten führte.42 Ihr Interesse galt vorwiegend biblischen Themen, teilweise auch archäologischen Stätten, für Landschaft, Tiere und Menschen der bereisten Gegenden hatte sie hingegen weniger Interesse.43 Große literarische Ansprüche hatte der Bericht der Etheria, der in einfachem Vulgärlatein verfasst wurde, nicht, doch seine Bedeutung als zeitgeschichtliches Dokument darf kaum überschätzt werden, denn er beweist, dass es bereits im 4. Jahrhundert Frauen gab, die reisten und ihre Erlebnisse niederschrieben.44 Dies gilt umso mehr, wenn der nächste erhaltene Reisebericht einer Frau erst rund 1000 Jahre später entstand. 1413 begab sich die Britin Margery Kempe, nach zwanzigjähriger Ehe und der Geburt von 14 Kindern, alleine auf Pilgerfahrt nach Jerusalem. Und Kempe fand ganz offensichtlich Gefallen am Reisen: „Am Ende ihrer zwei Jahre dauernden Pilgerfahrt ins Heilige Land besuchte Margery Kempe Rom, zwei Jahre später pilgerte sie nach Santiago de Compostela, und schließlich reiste sie nach Norwegen, Danzig und Aachen.“45 Im Alter von rund 60 Jahren diktierte Kempe, 38 Vgl. Ohnesorg, S. 41ff. 39 Vgl. Habinger (2006), S. 30. 40 Vgl. ebd., S. 30f. 41 Der Reisebericht der Etheria wird meist als Itinerarium Egeriae bezeichnet. Das Originalmanuskript sowie die ersten Seiten der Berichts sind verschollen, weshalb weder der Originaltitel noch der tatsächliche Name der Verfasserin gesichert sind. 42 Vgl. Außerhofer, Danja (2005): Ida Pfeiffer, Innsbruck, S. 33. 43 Vgl. Ohnesorg, S. 45f. 44 Vgl. ebd., S. 46. 45 Habinger (2006), S. 31. 14
die des Schreibens nicht mächtig war, ihre Erinnerungen einem Priester. Das Ergebnis war The Book of Margery Kempe, das als die älteste bekannte Autobiographie des englischsprachigen Raumes gilt.46 Neben der Pilgerreise entwickelten sich im Spätmittelalter dann auch weitere Reiseformen, die oft mit beruflichen oder ökonomischen Motiven zusammenhingen. Eine beträchtliche Anzahl an Frauen zog beispielsweise als Musikantinnen, Wahrsagerinnen, Marketenderinnen oder ähnlichem durch die Lande.47 Im Zuge zunehmender kolonialistischer Bestrebungen erschloss sich in der frühen Neuzeit durch die Entdeckungs- und Eroberungsfahrten der großen seefahrenden Nationen für Europa nach und nach die gesamte Welt und eine Vielzahl an neuen Reiseformen entstand. An den Entdeckungsreisen selbst waren Frauen kaum beteiligt, wurden aber schon bald als Töchter, Ehefrauen oder Bräute in die Kolonien nachgeholt.48 Schriftliche Zeugnisse dieser Frauen sind jedoch keine überliefert.49 Und auch an den sich ab dem 16. Jahrhundert etablierenden Kavalierstouren junger Adliger und den Bildungs- und Studentenreisen hatten Frauen kaum Anteil. Auch wenn es im 16. und 17. Jahrhundert vereinzelt Frauen wie etwa die Schriftstellerin Aphra Behn oder die Forscherin Maria Sibylla Merian gab, die während ihrer Auslandsaufenthalte schrieben, lässt sich eine Tradition des weiblichen Reisens und Schreibens und damit auch des weiblichen Reiseberichtes erst ab Beginn des 18. Jahrhunderts feststellen.50 Ihren Anfang nimmt diese Tradition bei Lady Mary Wortley Montagu (1689-1762), deren Letters of the Right Honourable Lady M-y W- y M—e Written During her Travels in Europe, Asia und Africa – oft auch verkürzt als Letters from the East oder Embassy Letters bezeichnet – als einer der bekanntesten und bedeutendsten Reiseberichte aus Frauenhand gelten muss. „Viele Europäerinnen, die später den Orient bereisten, bezogen sich in ihren Werken auf die berühmte britische Vorgängerin und stellten sich damit in gewisser Weise in eine weibliche Tradition des Schreibens“.51 Die Briefe entstanden zwischen 1716 und 46 Vgl. Außerhofer, S. 35. 47 Vgl. Habinger (2006), S. 32. 48 Vgl. Außerhofer, S. 36. 49 Vgl. Habinger (2006), S. 35. 50 Vgl. ebd. (2006), S. 35. 51 Ebd. (2006), S. 37. 15
1718, als Lady Montagu mit ihrem Mann, der in dieser Zeit als Botschafter am Osmanischen Hof tätig ist, in Konstantinopel lebt. In dem etwas über einen Jahr, das Montagu im Orient verbringt, bewegt sie sich zwar fast ausschließlich in gehobenen Kreisen und sieht von der Armut der Einheimischen nur recht wenig, interessiert sich aber trotzdem sehr für die Menschen und ihre Kultur: Die meisten Briefe konzentrieren sich auf die Darstellung des neuen Landes und seiner Bewohner, ihrer Sitten und Lebensgewohnheiten. Die Autorin entpuppt sich dabei als aufmerksame, verständnisvolle Beobachterin, die sich sogar als verschleierte Frau durch die Straßen Konstantinopels tragen läßt, um einen besseren Einblick in das Leben der Frauen zu gewinnen.52 In der Nachfolge Montagus brechen immer mehr Europäerinnen zu kleineren wie größeren Reisen auf und halten ihre Erlebnisse schriftlich fest. Unter ihnen waren besonders viele Britinnen hauptsächlich aristokratischer Herkunft, sodass diese Frauen bald als „Victorian Lady Travellers“ bekannt wurden. Laut Irmgard Scheitler ist dies zum Teil auch darauf zurückzuführen, dass Frauen aus dem nicht-deutschsprachigen Raum, und im Speziellen Britinnen, weniger restriktiven Bedingungen unterworfen waren, was ihre schriftstellerische Tätigkeit anbelangt, als dies die Frauen im deutschsprachigen Raum waren.53 Trotz allem gab es um die Jahrhundertwende zum 19. Jahrhundert aber auch einige Frauen aus dem deutschsprachigen Raum, die Reiseziele außerhalb Europas besuchten und von diesen Reisen schriftlich berichteten. Gabriele Habinger nennt etwa die Offiziersgattin Friederike Charlotte Luise von Riedesel, die Stuttgarterin Caroline Rebenack oder die Zürcherin Regula Engel.54 Auch sie profitierten von den sich stetig verbessernden Bedingungen, die das Reisen einer immer breiteren Bevölkerungsschicht möglich machten, und der Reiseeuphorie, von der Europa im 18. Jahrhundert ergriffen wurde.55 Waren es bis jetzt vor allem Angehörige der Aristokratie, wurde das Reisen im Verlauf des 18. Jahrhunderts auch immer mehr zu einem bürgerlichen Phänomen. Das bedeutet einerseits, dass sich immer mehr Menschen aufmachten, um Orte auf der ganzen Welt zu besuchen, und andererseits, dass die Neugierde auf das Fremde auch bei den Daheimgebliebenen 52 Frederiksen, Elke (1999): „Der Blick in die Ferne – Zur Reiseliteratur von Frauen“, in Gnüg, Hiltrud/Möhrmann, Renate (Hg.), Frauen Literatur Geschichte, Stuttgart u.a.: J.B. Metzler, S. 155. 53 Vgl. Scheitler, S. 28. 54 Vgl. Habinger (2006), S. 38f. 55 Vgl. ebd. (2006), S. 36. 16
stetig wuchs. Es verwundert daher nicht, dass sowohl die Nachfrage als auch die Produktion von Reiseberichten in dieser Zeit stetig zunahm. Auch Frauen beteiligten sich nach und nach mehr an dieser Form der literarischen Produktion, doch erst eine veränderte Erwartungshaltung an das, was ein Reisebericht seinem Publikum zu liefern hatte, ermöglichte ihnen einen besseren Zugang: In der 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts verschob sich nun […] der Schwerpunkt der Gattung vom Informativen und Gelehrten auf das Subjektive, Reflektierende und bewußt Literarische. Die sehr persönlichen, von jeher als typisch weiblich angesehenen Formen des Briefes und des Tagebuches wurden zum vorherrschenden Gestaltungsmuster. Erst diese grundlegenden Veränderungen ermöglichten Frauen den Zugang zum Reisebericht.56 Diesen Umstand machte sich beispielsweise Sophie von La Roche zunutze und etablierte sich im Umfeld dieser, speziell von Frauen geforderten, Empfindsamkeit und Sittsamkeit zu einer der bedeutendsten Verfasserinnen von Reiseberichten, „indem sie für ihre Darstellungen eine moralische und erzieherische Wirkung für das weibliche Geschlecht behauptete“57. Bei Sophie von La Roche klingt schon an, was im 18. Jahrhundert nach und nach zur Realität für Frauen wird und sich im 19. Jahrhundert in seiner vollen Wirkung entfaltet: das bürgerliche Ideal von Weiblichkeit, das die Frau zum empfindsamen Naturwesen stilisiert und sie immer mehr in den Bereich der Häuslichkeit verbannte. Zwar gibt es seit jeher bestimmte Vorstellungen, was die Geschlechterrollen anbelangt, im 18. Jahrhundert beginnt aber eine Umwälzung, die diesen Zuschreibungen eine ganz neue Dimension gibt. Die bloße Tatsache der Kontrastierung von Mann und Frau ist historisch zunächst wenig aufschlußreich, waren doch in patriarchalischen Gesellschaften seit eh und je Aussagen über das „andere Geschlecht“ gängige Muster der männlichen Selbstdefinition. Auf eine historisch möglicherweise gewichtige Differenzierung verweist jedoch die Beobachtung, daß mit den „Geschlechtscharakteren“ diese Kontrastierung im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts eine spezifisch neue Qualität gewinnt. Der Geschlechtscharakter wird als eine Kombination von 56 Scheitler, S. 29. 57 Ebd., S. 29. 17
Biologie und Bestimmung aus der Natur abgeleitet und zugleich als Wesensmerkmal in das Innere der Menschen verlegt.58 Das bedeutete für Frauen, dass sich mit Auslaufen des 18. Jahrhunderts ihr Aktionsraum immer weiter beschränkte und auch ihr literarisches Schaffen zunehmend beschnitten wurde. Es ist paradox, dass die zunehmende Betonung auf Empfindsamkeit Frauen den Zugang zur Gattung des Reiseberichts einerseits erst ermöglicht hatte, sie andererseits aber aufgrund der sich etablierenden Geschlechterideologien sofort wieder in ihrer schriftstellerischen Tätigkeit beschränkte bzw. ihre Arbeiten pauschal abwertete. „Die Literatur von Frauen wurde jetzt fast global als minderwertig eingestuft, und die Autorinnen dazu angehalten nur für ein weibliches Zielpublikum zu schreiben und sich bei der Themenwahl an der ‚natürlichen Bestimmung‘ der Frau zu orientieren.“59 Es zeigt sich, dass Frauen schon Ende des 18. Jahrhunderts aufgrund der bürgerlichen Vorstellung dessen, wie eine Frau zu sein hatte, in allen Lebensbereichen mit Einschränkungen und Diskriminierung zu kämpfen hatten – eine Entwicklung, die sich im 19. Jahrhundert nur noch verstärkte. 3.2 Befreiung aus dem bürgerlichen Korsett: Weibliches Reisen und Schreiben im 19. Jahrhundert Was sich schon gegen Ende des 18. Jahrhunderts ankündigte, entfaltete nun im 19. Jahrhundert seine volle Wirkung: Die bürgerliche Geschlechterordnung setzte sich endgültig in den Köpfen der Menschen fest und übte enormen Einfluss auf das Leben und Schaffen von Frauen aus. Männer und Frauen wurden einander nun komplett konträr gegenübergestellt, und zwar nicht nur, was ihre Aufgabenbereiche betraf, sondern auch bezüglich ihrer „naturgegebenen“ Eigenschaften: Der bürgerliche Geschlechterdiskurs ist geprägt von strikten Vorstellungen von idealer Weiblichkeit ebenso wie von idealer Männlichkeit, die als Polarität gedacht wurden. In diesem Kontext erfolgt nicht nur eine zumindest theoretisch gedachte unüberwindliche 58 Hausen, Karin (1976): „Die Polarisierung der ‚Geschlechtscharaktere‘ – Eine Spiegelung der Dissoziation von Erwerbs- und Familienleben“, in Conze, Werner (Hg.): Sozialgeschichte der Familie in der Neuzeit Europas, Stuttgart: Ernst Klett Verlag, S. 369f. 59 Ohnesorg, S. 159. 18
geschlechtsspezifische Zuweisung von Aufgaben und Handlungsräumen, sondern die biologische Differenz bedingte auch eine klare Charakterisierung der Eigenschaften, Verhaltensweisen und auch Fähigkeiten der Geschlechter, gekennzeichnet durch den Begriff ‚Geschlechtscharakter‘, der als Vorstellungskomplex (und auch als Handlungsmaxime) gegen Ende des 18. und zu Beginn des 19. Jahrhunderts für die bürgerliche Gesellschaft allgemeine Gültigkeit erlangte.60 Der Mann wurde als der aktive Part festgeschrieben, der sich im öffentlichen Raum bewegt, während die Frau als das passive Gegenstück definiert wurde, das in den privaten Bereich gehört. War der Mann tapfer, zielstrebig und selbstständig, lag es im Charakter der Frau, empfindsam, fürsorglich und sanftmütig zu sein. Die bürgerliche Vorstellung der Geschlechter implizierte nun, dass Männer und Frauen von Natur aus gänzlich unterschiedlich sind. „Gerade in dieser Naturgegebenheit des „Geschlechtscharakters“ liegt eine neue Dimension der Unterdrückung von Frauen. […] Gegen Herrschaft läßt sich rebellieren, gegen Natur nicht.“61 Somit wurde die Frau immer mehr auf das Private und ihre Rolle als Mutter, Ehefrau und Hausfrau reduziert und fast völlig aus dem öffentlichen Raum verdrängt, was zur Folge hatte, dass das Männliche immer mehr mit Relevanz gleichgesetzt wurde, während „weiblich“ immer gleichbedeutender mit „Irrelevanz“ wurde. Diese Festschreibung der Frau auf bestimmte Lebensräume und Eigenschaften legitimierte weiter männliche Privilegien und verfestigten die Hierarchie der Geschlechter, denn Frauen wurden dadurch in immer größere Abhängigkeit zu ihren Vätern, Brüdern oder Ehemännern gedrängt. Erschwerend kam hinzu, dass Frauen durch ihre Reduktion auf das Natürliche und Gefühlvolle auch von der Bildung fast gänzlich ausgeschlossen wurden. Die Männer waren es, die zu intellektuellen Höchstleistungen fähig waren, den Frauen konnte man dies nicht zutrauen. Auch das Reisen galt aus all diesen Gründen als eine rein männliche Domäne. Sah man für Männer durch das Reisen große Vorteile für die persönliche Entwicklung, stand man reisenden Frauen äußerst negativ gegenüber. Eine Frau, die reisen wollte, setzte sich dem Verdacht aus, mit der heimischen Schwelle zugleich die Grenze der Schicklichkeit und des 60 Habinger (2006), S. 47f. 61 Schmid, Pia (1984): „Hausfrau, Gattin, Mutter“, in Bechtel, Beatrix u.a. (Hg.): Die ungeschriebene Geschichte, Wien: Wiener Frauenverlag, S. 169. 19
moralisch Duldbaren zu überschreiten. In dem geistigen Koordinatensystem der männlichen Zeitgenossen war weibliches Reisen mit der Furcht verbunden, die Ortsveränderung würde eine unerwünschte Änderung der Mentalität und der geschlechtsspezifischen Rollenzuweisung bewirken. […] Was bei männlichen Reisenden meist als positive Wirkung des Reisens verbucht wurde, nämlich seine persönlichkeitsbildenden und das Bewußtsein verändernde Kraft, schlug gerade negativ gegen weibliche Reisewünsche aus.62 Es wurde befürchtet, dass Frauen durch eine Horizonterweiterung ihre spezifisch weiblichen Tugenden ablegen und nicht an den ihnen zugedachten Platz in der Geschlechterordnung zurückkehren würden. Ein weiteres Argument, warum Frauen zuhause bleiben sollten, war, dass sie für die Herausforderungen und Entbehrungen einer Reise sowohl körperlich als auch geistig nicht gemacht waren. Einerseits traute man ihnen die Strapazen, die vor allem eine längere Reise im 19. Jahrhundert durchaus mit sich bringen konnte, nicht zu, und andererseits war man davon überzeugt, dass Frauen jene Eigenschaften, die nötig waren, um eine Reise erfolgreich durchzuführen, nicht besaßen bzw. nicht besitzen sollten, weil sie eben der männlichen Sphäre zugeschrieben wurden: Nicht zuletzt der Reisealltag machte es erforderlich, dass Frauen Eigenschaften und Verhaltensweisen an den Tag legten, die außerhalb der weiblichen Geschlechtsrolle angesiedelt waren und die in den ‚männlichen‘ Bereich fielen, wie etwa Stärke, Durchsetzungsvermögen, konsequentes und zielgerichtetes Agieren.63 Reisen erforderte also in vielerlei Hinsicht eine Übertretung der weiblichen Sphäre – umso mehr, wenn Frauen zu Zielen außerhalb Europas reisten – was in der Geschlechterordnung des Bürgertums schlichtweg nicht vorgesehen war. So hatten Frauen, die reisen wollten, auch mit verschiedensten Hindernissen zu kämpfen. Sie mussten mit Diffamierung und Verspottung rechnen, waren aufgrund der Gesetze und gesellschaftlichen Verhältnisse finanziell komplett abhängig von ihren Ehemännern oder männlichen Verwandten und waren allgemein alleine kaum handlungsfähig. Wollte eine Frau zusätzlich auch noch Schreiben, beging sie einen doppelten Tabubruch, denn auch Autorschaft war ganz klar männlich besetzt. Für Frauen barg 62 Deeken, Annette/Bösel, Monika (1996): An den süßen Wassern Asiens, Frankfurt u.a.: Campus Verlag, S. 18. 63 Habinger (2006), S. 148. 20
das Schreiben jedoch nicht nur kreatives Potenzial, sondern ermöglichte in vielen Fällen auch eine gewisse finanzielle Unabhängigkeit und speziell die Reiseschriftstellerei gab Frauen die Möglichkeit, den Beschränkungen der bürgerlichen Gesellschaft – zumindest für einige Zeit – zu entfliehen. Die Umsetzung dieses Unterfangens war allerdings alles andere als leicht, denn nicht nur die gesellschaftlichen Normen stellten ein großes Hindernis dar, sondern auch die gesetzliche Lage machte es Frauen schwer: Juristisch relevante Attribute von Autorschaft sind weiblichen Autoren meist nicht zugänglich; ihnen fehlt, wenn sie anonym veröffentlichen, eine Signatur; ebensowenig haben sie ein Recht über das eigene Copyright, da sie nicht alleine und selbstständig über die Veröffentlichung bestimmen können. Das „Allgemeine Landrecht der preußischen Staaten“ von 1794 und der Code Napoléon, den viele deutsche Staaten übernehmen, verbietet Frauen, an irgendwelchen geschäftlichen Transaktionen teilzunehmen. 64 Trotz all dieser widrigen Umstände lässt sich für die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts eine erstaunlich große Anzahl an Frauen feststellen, die jene doppelte Grenzüberschreitung begangen haben und sowohl gereist sind, als auch schriftlich über ihre Reisen berichtet haben.65 Sie profitierten einerseits von der sich stetig verbessernden Infrastruktur und den Emanzipationsbewegungen der damaligen Zeit.66 Gleichzeitig erlebte auch die Reiseliteratur einen enormen Aufschwung: Das Genre der Reiseliteratur erlebte ebenfalls einen weiteren Boom und entwickelte sich in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts durch die Reisepublikationen von Heinrich Heine, Ludwig Börne und Fürst Pückler- Muskau „einer der populärsten Literaturgattungen“ überhaupt.67 Im Zuge dieser Entwicklung entstanden auch immer mehr Reiseberichte aus Frauenhand. An diese Texte wurden jedoch gänzlich andere Erwartungen gestellt, als an jene von männlichen Kollegen. Alleine der Ton, in dem Autorinnen ihre Texte verfassten, musste zu ihrem edlen und sanften Gemüt passen: „Schon humorige Passagen sind selten. Ironie, Satire oder Burleske gelten als völlig unweiblich.“68 Und auch inhaltlich sahen sich Frauen mit Einschränkungen konfrontiert: 64 Stamm (2010), S. 59. 65 Vgl. Felden, S. 13. 66 Vgl. Habinger (2006), S. 39f. 67 Ebd. (2006), S. 40. 68 Scheitler, S. 32. 21
Die Autorinnen sollten sich mit Themen beschäftigen, die in der westlichen Gesellschaft mit Frauen assoziiert wurden, wie das private und häusliche Leben, persönliche Beziehungen, Frauen und Kinder und alle Bereiche, die mit Emotionalität assoziiert wurden.69 Selbst im Ausland wurde ihnen also nur ein ganz spezifischer, weiblicher Erfahrungsraum zugesprochen, der jenem ähnelte, auf den sie auch zuhause beschränkt waren und für den ihnen eine gewisse Kompetenz zugeschrieben wurde. Diese „weibliche Kompetenz“ war es aber auch, die Reiseberichte von Frauen für das zeitgenössische Publikum spannender machte, lieferten sie doch einen gänzlich anderen Blickwinkel als jene von Männern. Auf einem Markt, der in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts von Reiseberichten geradezu überschwemmt wurde, lieferten Reiseschriftstellerinnen erfrischende neue Perspektiven.70 Damit befanden sie sich in einem ständigen Spannungsfeld, denn einerseits verpönte die Gesellschaft Frauen, die reisten und als Autorinnen tätig waren, andererseits verlangte der Markt geradezu nach dieser spezifisch weiblichen Sichtweise.71 Diese Schwierigkeit, sich immer am Rande des für Frauen Schicklichen zu bewegen, spiegelt sich auch im Leben der Reiseschriftstellerinnen des 19. Jahrhunderts wider. Als Autorin die Welt zu bereisen und gleichzeitig die Grenzen des bürgerlichen Weiblichkeitsideals nicht zu sehr zu übertreten, war ein ständiger Balanceakt.72 Denn entgegen der Tatsache, dass sie durch ihr Handeln den Rahmen des „Anständigen“ sprengten, wollten sie ihre gesellschaftliche Anerkennung nicht verlieren, denn es „ging vielen nicht um eine bewusste Kritik an gesellschaftlichen Konventionen, auch wenn sie diese zum Teil missachteten“73. Trotz des widerständigen Potenzials ihres Handelns wollten Reiseschriftstellerinnen nicht zu Ausgestoßenen der bürgerlichen Gesellschaft werden: „Die meisten weiblichen Reisenden bemühten sich also, als standesgemäße und geachtete Vertreterinnen ihres Geschlechts, nicht als kuriose, belächelte oder bestaunte Außenseiterinnen bewertet zu werden – was dennoch oft der Fall war.“74 Ganz abgesehen davon waren viele Autorinnen auch finanziell vom Erfolg 69 Habinger (2006), S. 195. 70 Vgl. Ohnesorg, S. 202. 71 Vgl. Deeken/Bösel, S. 34. 72 Vgl. ebd., S. 20. 73 Habinger (2006), S. 140. 74 Ebd. (2006), S. 141. 22
Sie können auch lesen