VIER VIERTEL KULT - Stiftung Braunschweigischer Kulturbesitz

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VIER VIERTEL KULT - Stiftung Braunschweigischer Kulturbesitz
VIER VIERTEL KULT         Vierteljahresschrift der Stiftung Braunschweigischer Kulturbesitz

  SCHWERPUNKT: ARCHITEKTUR
  Alexander von Kienlin: Universalwissenschaft oder Baukunst?

  AKTIVITÄTEN & FÖRDERUNGEN
  Imrie Shashivari: frauenBUNT. Von den Erfahrungen anderer Frauen lernen

  STIFTUNGSVERMÖGEN VORGESTELLT
  Stiftungsgut Hakenstedt

  ÜBER DEN TELLERRAND
  Ulrich Brömmling: Die schönsten Flügel kommen aus Braunschweig

                                                                      WINTER 2018
VIER VIERTEL KULT - Stiftung Braunschweigischer Kulturbesitz
INHALT

                                                 1 Editorial
                                                 2 Stiftungsblicke

                                                     SCHWERPUNKT: Architektur
                                                 5 Alexander von Kienlin: Universalwissenschaft oder Baukunst?
                                                 7 Stefan Drees: Sozialer Faktor. Architektur als Prägung des Sozialraums
Gefällt Ihnen VIERVIERTELKULT?                   8 Gerhard Matzig: Repräsentation und Macht
Was lesen Sie besonders gern?                   10 Winfried Nerdinger: Heute durchweg positiv besetzt. Das Bauhaus
Welche Inhalte sind Ihnen wichtig?              12 Tilo Richter: Hier wohnt die Produktion. Industriearchitektur
Wie soll es mit VIERVIERTELKULT weitergehen?    14 Olaf Gisbertz: Ohne das Bauhaus? Die Braunschweiger Schule
Bitte nehmen Sie an der Umfrage                 16 Uwe Kleineberg: Ich war eine Dose.
der Ostfalia Hochschule teil:                      Von der Umnutzung historischer Gebäude
                                                18 Ulrich Brömmling: Das Haus der Braunschweigischen Stiftungen.
https://umfragen.ostfalia.de/index.php/428633
                                                   Ergebnis einer Umnutzung
                                                20 Serviceseiten

                                                     AUS DER STIFTUNG
                                                20 Der Stiftungsrat im Interview: Dagmar Schlingmann
                                                     Aktivitäten & Förderungen
                                                24   Frank Terhorst: Zwei Legenden (Internationales Filmfestival)
                                                26   Silke Röhling: Brutal modern. Bauen und Leben in den 60ern und 70ern
                                                28   Monika Bernatzky: Die Elmsburg erwacht aus dem Dornröschenschlaf
                                                30   Imrie Shashivari: Von den Erfahrungen anderer Frauen lernen (frauenBUNT)
                                                32   Peter Gottwald: Gemald – geformt – geklebt (Skulptur Annahme)
                                                34   Klaus G. Kohn: Der Blick von innen rüttelt auf (wohnungslos – Leben in Braunschweig)
                                                36 Geförderte Medien
                                                38 Stiftungsvermögen vorgestellt: Stiftungsgut Hakenstedt

                                                     ÜBER DEN TELLERRAND
                                                40 Neuerscheinungen
                                                42 Ralph-Herbert Meyer: Wer hat schon eine Transall auf dem Dach?
                                                   (Luftfahrtmuseum Wernigerode)
                                                46 Ulrich Brömmling: Die schönsten Flügel kommen aus Braunschweig
                                                   (Schimmel Pianos)
                                                49 Termine
                                                50 Wirtschaftsdaten: Vermögensaufstellung 2018
                                                52 Teamporträt: Bettina Kausche
                                                53 Impressum

                                                8. Jahrgang | Nr. 31 | Winter 2018
                                                ISSN 2192-600X
VIER VIERTEL KULT - Stiftung Braunschweigischer Kulturbesitz
EDITORIAL

    Sehr geehrte Leserinnen und Leser,
    liebe Freunde der Stiftung Braunschweigischer Kulturbesitz,

     Das Wort Architektur taucht im Gesetz über die Stiftung         erfahren wir auch etwas von Braunschweig als Zentrum
     Braunschweigischer Kulturbesitz an keiner Stelle auf, nicht     des Klavierbaus. Heute sind davon nur noch zwei Unter-
     im Ursprungstext von 2004, nicht in der geänderten Version      nehmen übrig; Neben Grotrian-Steinweg ist das die Firma
     von 2017. Warum beschert Ihnen VIERVIERTELKULT in               Schimmel. Allen Autoren dieser Ausgabe sei herzlich Danke
     diesem Jahr also das Thema Architektur als Schwerpunkt?         gesagt!
     Das hat vielfältige Gründe: Die Stiftung besitzt erstens              Mit dem nächsten Heft im Frühling liefert VIERVIER-
     viele eigene Immobilien – die neue zuständige Mitarbeiterin     TELKULT acht volle Jahre lang Magazin und Jahresbericht
     finden Sie auf Seite 52 porträtiert – und muss immer wieder     an viele Menschen im Braunschweiger Land, im Stiftungs-
    auf das Expertenwissen von Architekten, Statikern und            wesen und an interessierte Leser in ganz Deutschland. Uns
    ­Ingenieuren zurückgreifen. Die Stiftung fördert zweitens        erreicht viel Lob, hin und wieder auch Kritik. Wir wollen
     im Rahmen ihrer kulturellen Aufgaben immer wieder auch          gern wissen, was wir gut machen, und vor allem, was wir
     Projekte, die Architektur vermitteln wollen. Die Stiftung       noch besser machen könnten. Denise Sommer, Professorin
     sitzt, drittens, selbst in einem Haus, das für eine gelungene   für Theorie der Kommunikations- und Medienwissenschaft
     Umnutzung steht; auch hierüber können Sie in diesem             an der Ostfalia Hochschule für angewandte Wissenschaften,
     Heft lesen. Viertens, unabhängig von der Stiftung, kann         hat sich mit ihren Studierenden ausführlich mit VIERVIER-
     wohl bei Architektur jeder von uns mitreden. In irgendeinem     TELKULT befasst und einen Fragebogen entwickelt. Ich
     Haus wohnen wir alle.                                           danke allen Beteiligten an dieser Stelle herzlich für dieses
            Und genau diese Sicherheit trügt zuweilen: Nicht jeder   Engagement und möchte Sie, liebe Leserinnen und Leser,
     hat ein Dach über dem Kopf, wenn er es braucht. In dem          bitten, den Online-Fragebogen auszufüllen. Den Link hierfür
     Fotoprojekt wohnungslos – Leben in Braunschweig erzählen        finden Sie auf der Rückseite dieser Ausgabe neben dem
     Menschen ohne festen Wohnsitz, wie es ohne diese Sicher-        Inhaltsverzeichnis.
     heit ist. Die beeindruckende Ausstellung der Diakonie Braun-
     schweig, gefördert von der SBK, ist ab Januar im Dom zu         Nun wünsche ich Ihnen frohe Festtage, eine gute, ent-
     sehen. Davon berichtet VIERVIERTELKULT in Aktivitäten           schleunigte Zeit zwischen den Jahren mit erfrischender
     und Förderungen, dort lesen Sie von vielen anderen Förde-       Lektüre von VIERVIERTELKULT und für das neue Jahr
     rungen der Stiftung, vom Filmfest, von einem Kunstprojekt,      ­Gesundheit und Glück!
     das mit Geflüchteten entstand, und auch von Architektur.
            Ein Blick über den Tellerrand nimmt das Flugzeug-        Ihr
     museum Wernigerode in den Blick. Und einmal ist es eher
     ein Lauschen über den Tellerrand – auch wenn es dieses
     Bild nicht gibt: Denn mit einem Porträt der weltberühmten       Ulrich Markurth
     Firma Schimmel-Pianos, die ihren Sitz in Braunschweig hat,      Präsident der Stiftung Braunschweigischer Kulturbesitz

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Stiftungsblicke

                        Der Direktor erhält Unterstützung: Seit 1. November 2018 ist
                        Brunhilde Frye-Grunwald als stellvertretende Direktorin der
                        SBK im Amt. Eine ausführliche Vorstellung liefert das Team-
                        porträt im VVK-Sommerheft (A). Nach sorgfältiger Vorberei-
                        tung nun für alle Besucher geöffnet ist das Lapidarium im
                        Kloster Mariental bei Helmstedt (B). Das Theater Fadenschein
                        steht seit vielen Jahren für solide Unterhaltung auf hohem
                        ­Niveau. Die Geschichte vom Kitzelkönig hat trotzdem wieder
                         alle Erwartungen übertroffen (C). Der Rest ist Revolution: Die
                         Helmstedter Universitätstage 2018 beschränkten sich nicht auf
                         die Revolution vor hundert Jahren und diskutierten Revolution!
                        Verehrt – verhasst – vergessen (D). Eine Ausstellung im Städti-
(A)
                         schen Museum Braunschweig betrachtet noch bis 20. Januar
                         2019 nicht nur die Novemberrevolution, sondern auch die Jahre
                         davor und danach; auch der Katalog ist beachtenswert: Zerris­
                         sene Zeiten. Krieg. Revolution. Und dann? Braunschweig 1916–
                         1923. (Katalog Michael Imhof Verlag, Petersberg 2018, 29,95
                         EUR) (E). Und wer sind die Pappkameraden, die hier farblos
                      zwischen herzoglicher Pracht herumlungern? Vorsicht! Ein
                      ­bisschen weniger flapsig, ein bisschen ehrfürchtiger! In der
                       Ausstellung des Schlossmuseums zu 100 Jahren Revolution
                       sind jene Helden aufgestellt, denen wir – auf lange Sicht –
                       ­immerhin auch Demokratie verdanken (großes Bild). UB

(B)

                       (D)

(C)

                       (E)

2                                                                                   3
VIER VIERTEL KULT - Stiftung Braunschweigischer Kulturbesitz
SCHWERPUNKT                                               Universalwissenschaft oder
Architektur                                               Baukunst?
                                                          Architektur zwischen Wissenschaft und Kunst

                                                          von Alexander von Kienlin

                                                          A
                                                                    rchitectura est Scientia – der römische Architek­
                                                                    turtheoretiker Vitruv hatte eine klare Vorstellung
Grau, teurer Freund, ist alle Energie. Natürlich ist                seiner Disziplin als universelle Wissenschaft.
Mephistopheles hier aus dem Faust falsch zitiert.         In zehn Büchern sammelte und ordnete er das von ihm
Aber wenn man sich überlegt, dass das Bauen für           sehr weit gefasste Bauwissen seiner Zeit. Diese Werke
50 Prozent des weltweiten Abfalls verantwortlich ist      liefern noch heute die beste Grundlage zum Verständnis
– zu grauer Energie zählt alle, die zur Errichtung        antiker Architektur. Mit der Wiederentdeckung der Schriften
­eines Gebäudes aufzuwenden war – mag man                 in der frühen Renaissance gelangte dieses Wissen, das
 ­manchen Neubau für ein Teufelswerk halten. Und          in großen Teilen zu dieser Zeit verloren schien, wieder in
  gleichzeitig gilt die Architektur als himmlischste      das Bewusstsein der europäischen Gesellschaften und
  ­unter den Künsten. Gottfried Semper etwa spricht       veränderte grundlegende Haltungen des traditionellen
   der Architektur in seiner Denkschrift Wissenschaft,    Bauwesens.
   Industrie und Kunst von 1851 die klare Führungs­
   rolle zu. Doch was macht gute Architektur aus?         Ganz verloren waren die Lehren der antiken Architekten
   ­Welche Rolle spielt die Architektur heute als Äuße­   allerdings damals nicht gewesen: Die mittelalterlichen Bau-
    rung von Macht, von sozialem Engagement, von          meister südlich wie nördlich der Alpen hatten zahlreiche
    ­Ästhetik und Kunst? Der 100. Geburtstag vom Bau­     römische Bauten – überwiegend als Ruinen – durchaus
     haus war nicht der Anlass für diesen Schwerpunkt.    noch vor Augen, mancherorts gab es Handwerkstraditionen,
     Aber ohne Bauhaus geht nichts. Lesen Sie aber auch   die seit dem Altertum durchgängig am Leben erhalten und
     von der ganz eigenen Braunschweiger Schule, von      weiter entwickelt worden waren. Selbst die römischen Bau-
     umgenutzten Gebäuden, von Industriearchitektur.      formen, insbesondere die fünf griechisch-römischen Säulen-
     Die Welt ist nicht mehr so schwarz-weiß wie einst,   ordnungen, wurden im hohen Mittelalter noch rezipiert,
     als Georg Büchner mit Friede den Hütten! Krieg       wenn auch nicht mehr gänzlich verstanden. In der romani-
     den Palästen! noch gute von bösen Bauwerken          schen und gotischen Repräsentationsarchitektur findet sich
     trennte.                                             beispielsweise der Dreiklang der klassischen Säule aus
                                                          ­Basis, Schaft und Kapitell noch regelmäßig und als ganz
In Braunschweig entsteht unweit des Hauptbahn­             bewusster Bezug auf das römische Altertum.
hofs das Quartier St. Leonhardt völlig neu (vgl. S.              Wenngleich insbesondere die Basen und Kapitelle viel-
7–8). Drei gemeinnützige Träger – die Richard Bo­         fach noch erstaunliche Ähnlichkeit mit den antiken Vorbildern
rek Stiftung, die Evangelische Stiftung Neuerke­rode      haben – insbesondere in Italien, aber auch in Städten wie
und das Christliche Jugenddorfwerk Deutschland –          Köln oder Aachen – tragen sie einen ganz wesentlichen
wollen hier Inklusion, Bildung und Teilhabe für ganz      Unterschied zu den „kanonischen“ römischen Vorbildern in
unterschiedliche Bewohner sicherstellen. Es dürfte        sich: Die Säulen, Pfeiler oder Dienste mittelalterlicher Kirchen
ein Vorzeigeprojekt werden und bald Nachahmer             und Paläste folgen keinem einheitlichen Proportionsschema
finden.                                                   mehr, wie dies noch in der spätantiken römischen Architektur
Unser Fotograf Andreas Greiner-Napp gibt mit den          der Fall gewesen war. Auch fehlen zahlreiche Feinheiten wie
Illustrationen zum Schwerpunkt einen Einblick in die      die Entasis – eine leichte Schwellung des Säulenschaftes –
Arbeit auf der Baustelle. UB                              oder vielfach auch dessen Verjüngung. Diese Proportions-
                                                          schemata und optische Korrekturen waren im Altertum über
                                                          Jahrhunderte hinweg von griechischen Architekten entwickelt
                                                          und von den römischen Baumeistern übernommen worden,
                                                          um der jeweiligen Säule eine möglichst ideale und für das
                                                          menschliche Auge gefällige Gestalt zu verleihen. Die ideale
                                                          Proportion wurde von der Säule ausgehend auf weitere Bau-
                                                          teile übertragen, selbst der Tempel als Ganzes nahm noch
                                                          Bezug auf dieses zentrale Bauteil.

4                                                         a.vonkienlin@tu-braunschweig.de                               5
VIER VIERTEL KULT - Stiftung Braunschweigischer Kulturbesitz
Vitruvs Definition des Fachs Architektur                                                                                  SCHWERPUNKT                                                                    Dezentral organisierte Angebote
als Universalwissenschaft bestimmt bis                                                                                                                                                                   im Quartier reduzieren eventuell
heute unser Berufsbild.                                                                                                                                                                                  vorhandene Schwellenängste.

Geheimwissen im Mittelalter                                        des Fachs Architektur als Universalwissenschaft bestimmt
                                                                                                                                        Sozialer Faktor
Die mittelalterlichen, säulenartigen Bauelemente wurden            teilweise bis heute unser Berufsbild. Das komplexe, über
                                                                                                                                        Architektur als Prägung des Sozialraums
hingegen der jeweiligen Bauaufgabe entsprechend ange-              das bloße Bauen weit hinausgehende Wirkungsfeld des
passt: In Krypten finden sich vielfach gedrungen schwere           modernen Architekten wird in den nachfolgenden Beiträgen             von Stefan Drees
Säulenschäfte, die den Eindruck eines höhlenartigen unter-         deutlich.
irdischen Raumes noch verstärkten – wie in der romanischen                                                                              Architekten entwerfen Räume für das Wohnen oder
    Krypta des Braunschweiger Domes. In derselben Kirche           Kunst im Sinne von Kunstfertigkeit                                   ­Arbeiten, für Bildung, Kultur oder Sport. Doch Gebäude
    finden wir aber auch übermäßig schlanke antikisierende         Die neuzeitliche deutsche Übersetzung von Architektur als             sind niemals Solitäre im luftleeren Raum. Jeder Neubau,
    Pilaster verschiedener Höhen im gleichzeitig errichteten       zivile Baukunst lenkt den Blick aber, stärker als Übertra-           der einem Quartier hinzugefügt wird, greift immer auch
Hauptschiff und spielerisch umgedeutete Säulenordnungen            gungen in andere Sprachen, auch auf den künstlerischen               in einen bestehenden Sozialraum ein.
    an den spätgotischen gewirtelten Pfeilern des nördlichen       Aspekt des Bauens. Damit ist zunächst keine Kunst im
    Seitenschiffes. In allen Fällen handelt es sich um Bauele-     Sinne der klassischen Freien Künste gemeint, eher soll er            Es ist die besondere Verantwortung der Architekten und
    mente von hoher Kunstfertigkeit, von einem Unvermögen          eine besondere (Kunst)Fertigkeit umschreiben. Dass der               aller anderen Planungsbeteiligten, bauliche und konzeptio-
der Baumeister kann keine Rede sein. Was ihnen allerdings          Begriff im Deutschen allerdings die Brücke zu unserem                nelle Akzente so zu setzen, dass sie die gewachsene Struk-
fehlte, war die theoretische Reflektion der Säulenordnungen,       neuzeitlichen Kunstbegriff baut, ist kein Zufall: Sehr viel          tur bereichern. Damit das gelingt, braucht es ein besonders
    die ihre antiken Vorgänger in verlorenen Schriftwerken         langsamer als in Italien oder Frankreich hielten die Ideen            gutes Gespür für das Umfeld, nicht nur in städtebaulicher
    niedergelegt und diskutiert hatten. An ihre Stelle trat,       der italienischen Renaissance Einzug im deutschen Bau-                und architektonischer Sicht, sondern vor allem im Hinblick
­zumindest was den Bauschmuck betrifft, ein fast spielerischer     wesen, bis weit ins 16. Jahrhundert hinein hielten sich freie         darauf, welche Angebote in der Nachbarschaft gebraucht
 Umgang mit den überkommenen Formen und Gestaltungs-               gotische Bauformen und Gestaltungsprinzipien. Die fanta-              werden und im Sozialraum positive neue Impulse setzen.
 prinzipien. Aus den großen Bauwerken des Mittelalters             sievollen Gewölbekonfigurationen im Nordschiff des Braun-            Das können – neben dem Wohnen – beispielsweise gastro-
 spricht in gleichem Maße tiefe Einsicht in die Prinzipien         schweiger Doms sind typische Vertreter der deutschen                 nomische und kulturelle Angebote sein. Zunehmend bedeut-
 von Tragverhalten und Konstruktion wie eine ausgeprägte           Spätgotik, die mit ihrem verspielten Formenrepertoire im             sam werden auch ambulante Pflege- oder medizinische
 Freude an künstlerischer Entfaltung: Gegenüber den hoch-          gänzlichen Widerspruch zu stehen scheint zu den klaren               Dienste, Beratungsangebote und Geschäfte. Eine gute
 gotischen Kirchen in Frankreich und Deutschland wirken            Grundsätzen der zur selben Zeit in Italien neu belebten              ­Mischung ist dabei entscheidend.
 die klassischen antiken Tempelbauten fast nüchtern und            ­vitruvianischen Lehre. Auch in Deutschland setzte sich in                  Einrichtungen, die das soziale und das generationen-
 akademisch. Ein Grund hierfür lag sicher in der Art des            den folgenden Generationen die Verwissenschaftlichung                übergreifende Miteinander befördern, etwa die Platzierung
 Vermittelns von Bauwissen im Mittelalter: Es wurde in der          der Architektur durch, mit der Gründung von Architektur-            einer Kindertagesstätte neben einem Pflegeheim, sorgen
 Regel als Geheimwissen vom Meister an seine Schüler                schulen an Technischen Hochschulen ab der Mitte des 19.             für eine gute Nachbarschaft. Solche Möglichkeiten und
 ­weitergegeben und – anders als im Altertum – nur selten           Jahrhunderts wurde zu gewissem Grad auch die Lehre                  Räume für Begegnungen zu schaffen, muss ein zentrales
  verschriftlicht.                                                  standardisiert und zunehmend akademisch. Der Verlust an             Anliegen der Planer sein. Gleichzeitig braucht aber jeder
          Mit der Wiederauffindung und Verbreitung der Schriften    kultureller Eigenständigkeit und künstlerischem Anspruch            Mensch auch Privatsphäre und individuelle Freiräume –
Vitruvs setzte in der Zeit der frühen Renaissance wieder            dieser Periode des Historismus führte letztlich zur Aufbruchs-       eine Wahlmöglichkeit ist daher essenziell für ein gutes Wohn-
eine akademische Auseinandersetzung im Bauwesen ein,                bewegung des Neuen Bauens, dessen bedeutendste Insti-                gefühl. Dezentral organisierte, kleinteilige Angebote im
die Suche nach der idealen Form einzelner Bauelemente               tution – die Kunstschule Bauhaus – demnächst 100 Jahre               Quartier werden leichter akzeptiert und reduzieren eventuell
oder auch ganzer Bauten beschäftigte von da an Genera-              alt wird. Auch diese Epoche des Umbruchs blieb nicht kritik-        vorhandene Schwellenängste.
  tionen von Baumeistern, denen die griechische und römische        los und ist in ihrer Radikalität mittlerweile Geschichte – was
   Kultur im Ganzen als vorbildhaft und nachahmenswert              bis heute bleibt, ist ein Grundverständnis der Architektur          Unterstützende Nachbarschaft
   ­erschien. In den antiken Texten wurde längst vergessenes        als universelle Disziplin zwischen vitruvianischer Wissen-          Beim Bau des integrativen Stadtquartiers St. Leonhard in
    gelegentlich vermeintliches Wissen angedeutet oder auch         schaftlichkeit und künstlerischer Eigenständigkeit.                 Braunschweig wurden und werden all diese Parameter
    wieder verfügbar, und der daraus abgeleitete Mythos der                                                                             ­berücksichtigt und umgesetzt. Künftig werden hier junge
    Überlegenheit antiken Bauwesens führte zunächst zur fast       Prof. Dr.-Ing. Alexander von Kienlin leitet das Institut für Bau­     und alte Menschen mit und ohne Einschränkungen zu-
    dogmenhaften Adaption der Vitruvschen Lehren. Auch             geschichte der TU Braunschweig. Er ist seit 2015 Mitglied             sammen leben, lernen und arbeiten. Hier entsteht eine
  wenn die Grenzen der Exegese und deutliche Abweichungen          der Braunschweigischen Wissenschaftlichen Gesellschaft.               unterstützende Nachbarschaft, die das Zusammenleben
seiner Texte vom tatsächlichen archäologischen Befund                                                                                    unterschiedlicher Gruppen und Bewohner fördert und
  ­relativ bald auf der Hand lagen, blieb der römische Architekt                                                                         gleichzeitig Rückzugsmöglichkeiten ins Private oder in die
    Kronzeuge und Autorität. Insbesondere seine Definition                                                                               Gruppe bietet.

6                                                                  19. 2.2019, 19:00 Uhr, Podiumsdiskussion im Landesmuseum:            mail@feddersen-architekten.de                                                                       7
                                                                   Ist die Nachkriegsmoderne noch zu retten? U. a. mit Prof. Dr.-Ing.
                                                                   Alexander von Kienlin.
VIER VIERTEL KULT - Stiftung Braunschweigischer Kulturbesitz
Bescheidenheit ist ein Fremdwort in der
                                                                  Geschichte der Monumentalbauten.

      Städtebaulich wird die gewachsene Struktur respektiert
                                                                  Repräsentation und Macht                                       Corporate Architecture ist zu einem Baustein der Globali-
und durch Neubauten in einer klaren, modernen Architektur-                                                                       sierung geworden. Die Herstellung der Architektur-Signets
                                                                  Architektur als Demonstration der Macht
sprache ergänzt. Die ursprüngliche Erschließung von der                                                                          ist ein verbreitetes und für einige (wenige) Architekten auch
Leonhardstraße bleibt erhalten. Zwischen den Neubauten            von Gerhard Matzig                                             einträgliches Geschäft.
und den alten Stallgebäuden entsteht aber eine Abfolge                                                                                  Um solches und ähnliches Bauen, das verallgemei-
neuer Räume, Höfe und Plätze mit unterschiedlichen Atmo-          Das Kapitol in Washington, St. Peter in Rom, Schloss           nernd als „Bauen für Despoten“ bezeichnet wird, ist heftiger
sphären und Qualitäten – teils sind sie öffentlich, teils halb­   Versailles und der Pekinger Turm des Staatsfernsehens          Streit entbrannt. Seit Albert Speer Senior für Hitlers Terror-
öffentlich oder privat. Lebendiger Mittelpunkt des neuen          CCTV (China Central Television) haben etwas gemeinsam:         Staat plante und baute, stellt sich in der Öffentlichkeit die
Viertels wird der Kulturhof sein, um den sich die historischen    Es sind Bauwerke der Macht. Wobei sie unterschiedliche         Frage, ob Architektur, deutsche noch dazu, im Dienst auch
Stallgebäude mit ihren öffentlichen Nutzungen – Café und          Systeme repräsentieren: amerikanische Demokratie,              eines nicht-demokratischen Regimes stehen darf. Es geht
Kultursaal – sowie ein Neubau mit Wohnangeboten für               ­katholische Kirche, französischen Absolutismus – und          also nicht mehr nur um eine rein ästhetische Debatte.
ältere Menschen herum gruppieren. So wird den älteren              den Machtanspruch der chinesischen Autokratie für das
Bewohnern eine Möglichkeit eröffnet, weiterhin am öffent-          21. Jahrhundert.                                              Moral zählt, nicht Ästhetik
lichen Leben teilzunehmen, auch wenn sie körperlich ein-                                                                         Ästhetisch ist die Frage ohnehin nicht zu beantworten. Nicht
geschränkt sind, und es gibt Raum für zwanglose Begeg-            Typologisch und stilistisch unterscheiden sich diese vier      hinter jeder dorischen Säule steht ein blutbefleckter Diktator
nungen auf Augenhöhe.                                             Architekturen. Doch alle Beispiele eint der Wille zum Monu-    – und nicht hinter jeder Glasfassade agieren freiheitlich den-
      Das Quartier St. Leonhard lebt von der Vielfalt unter-      ment. Die Büroburgen der postindustriellen Informations-       kende Unternehmen. Die Formfrage führt nicht weiter. Bleiben
schiedlicher Nutzungen und Bewohner. Der Architekt kann           gesellschaft sind die Erben der Parlamentsbauten, Schlösser    die Inhalte: die Moral. Muss man aber im Gegenzug die Frage
Innen- und Außenräume für Leben und Arbeiten, für Rück-           und Kirchen.                                                   nach dem Bauherrn so zynisch beantworten, wie das der
zug und Begegnungen planen und bauen. Doch es sind die                  Bescheidenheit ist ein Fremdwort in der Geschichte der   us-amerikanische Architekt Philip Johnson (1906–2005)
Stadtbewohner selbst, die das neue Quartier mit Leben             Monumentalbauten. Vielleicht wird die Baugeschichte ge-        einmal getan hat? Der sagte: „Ich baue auch für den Teufel.“
füllen werden.                                                    rade deshalb in unseren Tagen wie selten zuvor angereichert.         So weit muss man nicht gehen, um neben der Demo-
                                                                  Fast täglich entsteht irgendwo auf der Welt eine Variante      kratie auch nicht-demokratische Systeme als Bauherren
Dipl.-Ing. (FH) Stefan Drees arbeitet bei Feddersen Archi­        der ikonischen Architektur – meist im Auftrag der Unter-       anzuerkennen. Die Kirche, für die Brunelleschi die Kuppel
tekten, Berlin.                                                   nehmen, aber auch befördert von Politik und Kultur. Die        auf den Florentiner Dom gesetzt hat, war alles andere als
                                                                                                                                 ein demokratisches Gemeinwesen. Gleiches gilt für die
                                                                                                                                 Fürstentümer, denen wir ein herausragendes und viel-
                                                                                                                                 schichtiges Baukulturerbe verdanken. Es kommt deshalb
                                                                                                                                 nicht darauf an, ob – sondern vor allem was und wie ge-
                                                                                                                                 baut wird.
                                                                                                                                       Zum „was“: Für den Iran sollte man kein Atomkraft-
                                                                                                                                 werk, für Nordkorea keine Kaserne entwerfen. Zum „wie“:
                                                                                                                                 Das Problem des Vorhabens namens „Lingang New City“,
                                                                                                                                 für das Meinhard von Gerkan beschimpft wird, liegt nicht in
                                                                                                                                 seiner als absolutistisch empfundenen, kreisrunden Anlage
                                                                                                                                 um einen künstlichen See herum. Sondern im Umgang mit
                                                                                                                                 der Ressource Wasser – oder in einem fragwürdigen Wohn­
                                                                                                                                 programm für die neuen Superreichen.

                                                                                                                                 Gerhard Matzig ist Redakteur im Feuilleton der Süddeutschen
                                                                                                                                 Zeitung.

                                                                                                                                 gerhard.matzig@sueddeutsche.de                              9
VIER VIERTEL KULT - Stiftung Braunschweigischer Kulturbesitz
Internationale Bedeutung erhielt                                                                            SCHWERPUNKT
                                                              das Bauhaus erst nach dem Zweiten
                                                              Weltkrieg.

Heute durchweg positiv besetzt                                       Die internationale Bedeutung des Bauhauses ent­           Da sind zuerst die Bauhaus-Produkte zu nennen, die als
                                                              wickelte sich erst nach der Schließung und dann nach dem         Prototypen für Industriedesign künstlerische Qualität mit
Das Bauhaus
                                                              Zweiten Weltkrieg. Die beiden in die USA emigrierten             serieller Produktion verbanden und damit den Weg für das
von Winfried Nerdinger                                        ­Direktoren, Walter Gropius und Ludwig Mies van der Rohe,        massenhaft produzierte moderne Design wiesen. Produkte
                                                              entfalteten als Lehrer in Harvard und am IIT in Chicago          aus den Bauhaus-Werkstätten wurden zu gesuchten Design-
Bauhaus war bereits in den 1920er Jahren als avantgar­         eine enorme Breitenwirkung. Gropius erklärte das Bauhaus        klassikern, sie erzielen heute astronomische Preise und sind
distische Experimentierstätte berühmt. Durch unermüd­          zur überzeitlichen Idee. Nun erst wurde das Bauhaus zum         Schmuckstücke von Museen. Bauhaus-Design wurde und
liche Propagandaarbeit, die durch ihre Lautstärke und          verklärten Mythos, zum strahlenden Leuchtturm, der bereits      wird immer wieder kopiert und variiert oder einfach weiter
Einseitigkeit viele seiner Zeitgenossen abstieß, schuf        in der Weimarer Republik Wege in ein besseres Leben ge-          produziert. Ein weiteres Wirkungsfeld war die Verbreitung
Architekt Walter Gropius aus dem Namen und allem, was         wiesen hatte.                                                    der am Bauhaus entwickelten Vorlehre, einer Propädeutik
damit verbunden werden konnte, ein Markenzeichen, das                                                                          für Gestaltung, an Architektur- und Kunstschulen in der
ganz generell für modernes Leben stand.                       Ablehnung im Ostblock                                            ganzen Welt. Der anti-historische Charakter des Bauhaus-
                                                              Während das Bauhaus in den Ländern des Ostblocks in den          Vorkurses durch Fixierung auf Material, Konstruktion und
Bauhausstil war um 1930 ein geläufiger Begriff, der aller-    ersten Nachkriegsjahrzehnten noch als formalistisch und          Textur lieferte eine wichtige Basis für den modernen ge-
dings auch negative Assoziationen wie Formalismus, rigide     bürgerlich abgelehnt wurde, entwickelte sich der Name in         schichtsfernen Wiederaufbau.
Geometrisierung oder Maschinenstil hervorrief. Obwohl         den meisten westlichen Ländern fast zum Synonym für
Gropius das Bauen in das Zentrum seines Gründungsmani-        moderne „demokratische“ Gestaltung. In Israel wird bis heute     In die ewigen Weihehallen eingegangen
fests gestellt hatte, wurde Architektur erst ab 1927 im       die gesamte moderne Architektur der 1920er und 1930er            Mit dem 1960 gegründeten Bauhaus-Archiv, das erst in
Neubau am neuen Standort Dessau unterrichtet, deshalb         Jahre einfach als Bauhaus bezeichnet, und auch in Japan          Darmstadt, dann in Berlin seinen Sitz bekam, entstand dann
dienten zumeist die Bauten der Bauhaus-Direktoren stell-      erfreut sich alles, was irgendwie mit der legendären Schule in   eine Einrichtung, die sich mit tatkräftiger Unterstützung
vertretend als Beispiele für eine letztlich nicht existente   Verbindung gebracht werden kann, höchster Wertschätzung.         der Gemeinde ehemaliger Bauhäusler zu einem Instrument
Bauhaus-Architektur. Zum Ruhm der Schule trugen beson-              Worin lag aber nun die Wirkung der gerade einmal           der intensiven Aufarbeitung, aber auch weltweiten Popu-
ders die Maler Paul Klee, Wassily Kandinsky oder Oskar        14-jährigen Lebenszeit einer Einrichtung, die in Provinz-        larisierung des Bauhaus-Mythos entwickelte. Nachdem alle
Schlemmer bei.                                                städten wie Weimar und Dessau angesiedelt gewesen war?           Großmeister, Werkstätten und Epochen abgehandelt waren,
                                                                                                                               kamen die Klein- und Kleinstmeister sowie die nationalen
                                                                                                                               und die internationalen Querverbindungen an die Reihe,
                                                                                                                               und mit Ausstellungen und Publikation wurde das Stand-
                                                                                                                               bild unablässig weiter umkränzt. Kritische Aufarbeitung
                                                                                                                               kam, wenn überhaupt, zumeist von außen. Der Ruhm des
                                                                                                                               Bauhauses war allmählich so gefestigt, dass die Kritik der
                                                                                                                               Postmoderne, die Wiederkehr der als Gegenpol befeindeten
                                                                                                                               Beaux-Arts-Schule oder die Revision moderner Architektur
                                                                                                                               im Zuge ökologischer Umorientierung kaum mehr am Glanz
                                                                                                                               kratzen konnten. Nach der Wende 1989 wirkten auch noch
                                                                                                                               die Bauhaus Universität Weimar und die Stiftung Bauhaus
                                                                                                                               Dessau inklusive Bauhaus Kolleg bei den Kranzlegungen
                                                                                                                               und Jubelfeiern mit. Eigentlich ist das Bauhaus längst in
                                                                                                                               die ewigen Weihehallen eingegangen, aus denen sich
                                                                                                                               auch heutige Künstler bei Bedarf Anregungen holen können.
                                                                                                                               Doch seine vielen irdischen Verwalter bemühen sich weiter
                                                                                                                               unablässig, am Monument zu polieren, manchmal wohl in
                                                                                                                               der Hoffnung, dass ein kleiner Reflex auch sie erhellt.

                                                                                                                               Prof. Winfried Nerdinger ist Architekturhistoriker. Er war
                                                                                                                               ­Direktor des Architekturmuseums der TU München in der
                                                                                                                                Pinakothek der Moderne.

                                                                                                                               nerdinger@tum.de                                         11
VIER VIERTEL KULT - Stiftung Braunschweigischer Kulturbesitz
Die Elektrifizierung machte                                                                                SCHWERPUNKT
                                                              in der Industrie die Nacht zum
                                                              (Arbeits-)Tag.

Hier wohnt die Produktion                                     dere von eisenbewehrtem Beton ebnete den Weg zu völlig                Die Epoche nach dem Zweiten Weltkrieg ist wiederum
                                                              neuen Konstruktionen, die auf konventionellem Wege nicht       geprägt von neuen Techniken und Materialien. Formale
Industriearchitektur als Genre
                                                              möglich gewesen wären. Frühestes Beispiel für einen Fabrik-    Stärke und denkbar großen Einfluss auf nachfolgende Archi-
von Tilo Richter                                              bau in Stahlbeton ist das 1904 nach dem Entwurf von Albert     tektengenerationen hatten zum Beispiel die Bauten Ludwig
                                                              Kahn erbaute Automobilwerk der Packard Motor Car Company       Mies van der Rohes – neben zahlreichen Wohnhäusern auch
Die Geschichte der Industriearchitektur ist auch eine         in Detroit/ Michigan, dem Mittelpunkt der US-amerikani-        Verwaltungs- und Produktionsgebäude für die Industrie in
Geschichte des Lichts. Mit der Industrialisierung Europas,    schen Autoindustrie.                                           den USA. Das Tageslicht blieb auch zu dieser Zeit eine der
neuen Baumaterialien wie Beton und Glas sowie der                                                                            wichtigsten Ressourcen. Für die im Dreischichtbetrieb uner-
allgemeinen Verfügbarkeit von Elektrizität Anfang des         Symbiose von Produktion und Konsum                             lässliche künstliche Beleuchtung kamen technisch hoch-
20. Jahrhunderts wandelten sich Typologie und Technik         Viele der Schlüsselbauten der Moderne sind Industriege-        stehende Systeme wie Hochdruck-Entladungslampen,
des Bauens unmittelbar und nachhaltig. Dabei etablierte       bäude, so Peter Behrens’ AEG-Turbinenhalle in Berlin-Moa-      Leuchtstoff- oder Induktionslampen zum Einsatz.
sich die effektive Lichtführung im Industriebau als zen­      bit (1909), das Fagus-Werk von Walter Gropius und Adolf               Die heutige Industrieproduktion stellt zum großen
trales Thema.                                                 Meyer in Alfeld an der Leine (1911) und Erich Mendelsohns      Teil völlig andere Anforderungen an die Lichttechnik als
                                                              Hutfabrik Steinberg, Herrmann & Co. in Luckenwalde             noch vor 50 oder 100 Jahren. Aspekte der Energieeffizienz
Der 1781 geborene Karl Friedrich Schinkel war nicht nur       (1923). Die Schocken-Kaufhäuser von Erich Mendelsohn           und des nachhaltigen Umweltschutzes treten immer stärker
einer der bedeutendsten deutschen Architekten seiner          in Stuttgart (1928 erbaut, 1960 abgerissen) und Chemnitz       in den Vordergrund. Kunstlicht wird dabei in erster Linie
Zeit, er war auch einer der wenigen Baumeister, die die       (1930 erbaut, seit 2014 als Museum umgenutzt) sind im          funktional verwendet, kann aber auch in der zeitgenössi-
bahnbrechende Qualität der frühen funktionalen Industrie-     strengen Sinne keine Industriebauten. Dennoch stehen           schen Industriearchitektur einer komplexen architektonischen
bauten erkannten. Schinkels Studienreisen führten ihn ins     gerade solche und vergleichbare Handels-, Verkehrs- und        Inszenierung dienen. Ein Teil der herausragenden histori-
klassische Italien, aber auch in die Docks von London und     Infrastrukturgebäude sinnbildlich für die moderne Industrie-   schen Industriebauten und -areale steht heute unter beson-
zu den Fabrikarealen von Manchester. Dort begegneten          stadt, die – ganz in der Ästhetik von Fritz Langs Monumen-     derem Schutz, einige von ihnen stehen auf der Liste des
ihm 1826 ausgedehnte Lagerhallen, die er in Skizzen fest-     talfilm Metropolis von 1927 – als symbiotischer Organismus     UNESCO-Welterbes. Dazu zählen unter anderem Zeche
hielt, um deren sachliche Formen und Volumen später in        von Produktion und Konsum angelegt und wahrgenommen            und Kokerei Zollverein in Essen.
seine eigenen Werke wie den Neuen Packhof in Berlin ein-      wurde. Unter gezieltem Einsatz von Tageslicht und elektri-
fließen zu lassen.                                            scher Beleuchtung konnten die Waren in den Kaufhäusern         Dr. Tilo Richter ist Architektur- und Kunsthistoriker und
       Die Reduktion auf Funktion prägte die frühe europä-    des Schocken-Konzerns ideal präsentiert werden.                lebt in Basel.
ische und nordamerikanische Industriearchitektur über Jahr-
zehnte. Zum Standard wurden beispielsweise großflächige
Sheddachhallen, in die Tageslicht gleichmäßig von oben
einfallen konnte, oder die meist dreischiffig wie Basiliken
angelegten Montagehallen der Maschinenbaufirmen. Solche
Grundformen des Industriebaus entstanden Mitte des 19.
Jahrhunderts und finden sich noch heute weltweit.

Von Werkhallen zu Fabrikschlössern
Durch die Elektrifizierung konnte auch in der Industrie die
Nacht zum (Arbeits-)Tag gemacht werden. Mit der beispiel-
losen wirtschaftlichen Expansion nach dem Deutsch-Fran-
zösischen Krieg von 1870/71 entwickelten sich in allen
Industrieregionen Europas zum Teil raumgreifende Anlagen.
Sie waren als „Fabrikschlösser“ in aller Munde, denn die
Baumeister jener Zeit nutzten das ganze Vokabular histori-
scher Architekturvorbilder, um die schlichten Werkhallen
mit opulentem Zierrat zu umhüllen.
      Dennoch blieb auch in jenen Jahren der Ruf nach
Funktionalität nicht unerhört. Die Verfügbarkeit insbeson-

12     trichter@trichter.de                                                                                                                                                                 13
VIER VIERTEL KULT - Stiftung Braunschweigischer Kulturbesitz
SCHWERPUNKT                                                                                                                            Die Studierenden riefen 1954
                                                                                                                                       eine „geistige Gemeinschaft“
                                                                                                                                       der Braunschweiger Schule aus.

Ohne das Bauhaus?
Die Braunschweiger Schule

von Olaf Gisbertz

 Die Ausbildung von Architekten hat eine lange Tradition.           Ludwig Mies van der Rohe, denen die Niedersächsischen
 Im 19. Jahrhundert fand sie eine akademische Heimstätte            Hochschulen in Hannover und Braunschweig bereits in
 in den polytechnischen Hochschulen und Baugewerk­                 den 1950er Jahren die Ehrendoktorwürden verliehen –
 schulen. Im Sog der Reformbewegung der Hochschullehre             ­zu Philipp Johnson nach New Canaan, wo man sich zum
 war es aber vor allem das 1919 gegründete Bauhaus, dass           Teegespräch im Glass House traf, und zur deutsch-ameri-
 die Zuordnung von Ausbildung, Architekten und deren               kanischen Stadtkritikerin Sibyl Moholy-Nagy, die 1965 als
 „Stil“ zu einer bestimmten Schule entschieden ablehnte.            Gastprofessorin in Braunschweig weilte, bildeten die Wende-
 Dieses Gegenmodell zu akademischen Gepflogenheiten zu              punkte im damaligen Diskurs.
 Gunsten der Förderung von jungen Talenten für moderne
Architektur, Design und Kunst erwies sich durch das                Triumvirat moderner Architektur und Stadtbaulehre
 „branding“ des Bauhauses und ihrer Direktoren – Walter            Mit Walter Henn (1912–2006) und Dieter Oesterlen
Gropius, Hannes Meyer und Ludwig Mies von der Rohe                 (1911–1994) waren noch in den 1950er Jahren zwei weitere
– über sämtliche politische Brüche hinweg bis heute                Architekten an die Carolo-Wihelmina berufen worden. Trotz
­allerdings selbst als besonders schulbildend. Das wird            unterschiedlicher Entwurfshaltungen bildeten sie mit
 besonders deutlich mit Blick auf die Braunschweiger               ­Kraemer ein Triumvirat moderner Architektur und Stadt-
 Schule, deren Mythos sich in den Jahren des Wiederauf­             baulehre. Es setzte für beinahe mehr als 20 Jahre nicht
 baus nach 1945 nicht ohne Bezug auf die Avantgarde um              nur bauliche Akzente in der Region, sondern konnte sich
 das Bauhaus begründet.                                            hohes Renommee erwerben. Dabei einte die drei Architekten
                                                                   eine Lehre auf Grundlage einer kulturbeflissenen Baulehre,
Der Architekt Friedrich Wilhelm Kraemer (1907–1990)                welche Werk und Wirkung der Braunschweiger Schule bei
nahm in Braunschweig eine Schlüsselstellung ein. Mit der           aller Uneinigkeit in der Synthese von „Kunst und Technik“
städtebaulichen Neuordnung in Braunschweig betraut,                in die Longue durée vitruvianischer Baugeschichte einord-
begann kurz nach Ende des Zweiten Weltkrieges seine bei-           nete: firmitas, utilitas, venustas. (Erläuterungen siehe Service­
spiellose Karriere im Nachkriegsdeutschland. Schon vor dem         seiten)
 Krieg war er ein anerkannter Architekt in der Region. Als                Hinzu kamen mit Johannes Göderitz (1888–1978)
Hochschullehrer nach 1945 erntete er binnen weniger Jahre          ein Altmeister der Städtebauplanung und mit Josef Lehm-
aber breite Anerkennung: Die Studierenden riefen schon             bruck (1918–1999) und Zenko von Strezic (1902–1990)
1954 eine „geistige Gemeinschaft“ der Braunschweiger               zwei Entwurfslehrer, die mit internationalen Strömungen
Schule aus und bewegten Kraemer zu Bleibeverhandlungen             in Kunst und Architektur bestens vertraut waren. Das Phäno-
 an der Technischen Hochschule, als dieser einen Ruf an            men Braunschweiger Schule bleibt schließlich als ein Netz-
 die TU Berlin erhalten hatte. Der Einfluss Kraemers, der          werk von Lehrern und Schülern anzusprechen: Allein die
 selbst in Braunschweig bei Professor Carl Mühlenpfordt            Liste der Absolventen liest sich in den Jahren zwischen
 (1878–1944) im Spannungsfeld zwischen Reform und                  1955–1975 wie ein Who is Who von Architekten, deren
­Tradition ausgebildet worden war, ging weit über die akade-       Oeuvre bis heute weite Kreise zog, längst nachdem die
 mische Lehre hinaus. Er knüpfte schon bald nach Kriegs-           Epigonen der Nachkriegsmoderne weltweit die Gesellschafts-
 ende weit verzweigte Netzwerke, die ihn auf Studienreisen         kritik From Bauhaus to Our House (Tome Wolfe) herausfor-
 bis nach Skandinavien und Amerika führten und auf die             derten.
 sich gleich mehrere Braunschweiger Nachkriegsgenerationen
 von Architekten berufen sollten.                                  Prof. i.V. Dr. Olaf Gisbertz, M.A. lehrt an der Universität
       Die persönliche Kontaktaufnahme zur Architektur-            Dortmund am Fachbereich Architektur zu Geschichte und
 szene in den USA – besonders zu Walter Gropius und                Theorie von Architektur und Stadt

14                                  olaf.gisbertz@fh-dortmund.de   19.3.2019, 19:00 Uhr, Vortrag im Landesmuseum:                15
                                                                   Marke und Mythos – Braunschweiger Schule
                                                                   Referent: Prof. i.V. Dr. Olaf Gisbertz, M.A.
SCHWERPUNKT                                                                                                                                                                                     Umnutzung ist eine qualitative
                                                                                                                                                                                                Fortschreibung der Baugeschichte
                                                                                                                                                                                                des Denkmals.

                                                                                                                               g­ eschädigte Baukonstruktionen wiederherzustellen in            Intervention
                                                                                                                                ­authentischen Materialien und Konstruktionen.                  Nutzungsbedingte Eingriffe in den Denkmalbestand – als
                                                                                                                                        Auf diese drei Schritte folgt die Konzeptentwicklung    „Interventionen“ deutlich erkennbar gemacht – folgen einem
                                                                                                                                 für „Initialzündungen“ zu einer dauerhaften Erhaltungs-        konsequenten denkmalpflegerischen Konzept:
                                                                                                                                 strategie: Umnutzung und bauliche Ergänzung für neue                  Es geht darum, die charakteristischen Architekturen
                                                                                                                                 Funktionen, zur behutsamen Anpassung der Gebäude an            mit ihren ausgeprägten Gebrauchsspuren in ein neues
                                                                                                                                 Zukunftsaufgaben im denkmalpflegerischen Kontext.              Konzept des Fortbestandes einzubringen. Wenn im Regel-
                                                                                                                                        Diese Maßnahmen sind eingebettet in ein spezielles,     fall aus Gründen der Umnutzung architektonische Eingriffe
                                                                                                                                 mit der Denkmalpflege, dem Planer, dem Nutzer und dem          in die Bausubstanz erforderlich sind oder aus Nutzungs-
                                                                                                                               Eigentümer entwickeltes Verständnis vom Umgang mit dem           gründen bauliche Ergänzungen nötig werden, so darf die
                                                                                                                                 Denkmalbestand, das im Folgenden kurz vorgestellt wird.        materielle Originalsubstanz und die Gestaltungsqualität
                                                                                                                                                                                                nicht beeinträchtigt, bedrängt oder überformt werden. Die
                                                                                                                                Gebrauchsspuren erhalten                                        Interventionen sollen respektvoll und zudem reversibel
                                                                                                                                Im Vordergrund sämtlicher Überlegungen zu Umnutzungs-           sein, zugleich aber auch als Attraktoren die Strahlkraft des
                                                                                                                                maßnahmen an einem Baudenkmal stehen schonende                  Denkmals stärken.
                                                                                                                               ­Reparaturen und behutsame materialgerechte Sanierungen.                Die architektonische Leitlinie von Kleineberg Archi-
                                                                                                                               Sie haben zugleich das Ziel, die am Denkmal ablesbaren           tekten Braunschweig ist, die neuen Architekturelemente
                                                                                                                               geschichtlichen Spuren zu sichern und einschließlich aller       nicht mit den historischen zu vermischen, sondern sie be-
                                                                                                                               Gebrauchsspuren zu bewahren. Sie zeugen von Menschen,            wusst von der historischen Umgebung abzusetzen. Dieses
                                                                                                                               die in den Bauten gelebt haben. Die Gebrauchsspuren              Verfahren bezeichnen wir als Zwei-Schichten-Konzept. Die
                                                                                                                               werden – wie die Gebäude selbst – als Dokumente des              notwendigen Veränderungen werden also als respektvolle
                                                                                                                               authentischen Ortes erhalten und präsentiert.                    Interventionen klar lesbar konzipiert und ganz bewusst als
                                                                                                                                                                                                neue architektonische Hinzufügungen kenntlich gemacht.
                                                                                                                               Der authentische Ort als Exponat seiner selbst                          Diese Nahtstellen als jene Orte, an denen sich die alte
                                                                                                                               Bei jedem Baudenkmal handelt es sich um ein Exponat              und neue Architekturen begegnen, dürfen nicht verwischt
                                                                                                                               seiner selbst, dessen Bausubstanz zusammen mit seinen            werden. Sie fordern zur gestalterischen Formulierung auf.
                                                                                                                               originalen Ausstattungen ein aufgeschlagenes biografi-           Das Zwei-Schichten-Konzept für den architektonischen
                                                                                                                               sches Lesebuch ist.                                              Umgang mit historischer Substanz sorgt dafür, dass alles,
                                                                                                                                     Es geht den Architekten beim gestalterischen Umgang        was alt aussieht, auch tatsächlich alt ist. An jeder Stelle
                                                                                                                               um das Prinzip, Geschichte dort zu erhalten und zu vermit-       soll die authentische, substanziell erhaltene, historische
                                                                                                                               teln, wo sie stattgefunden hat. Die historischen Original-       Schicht des Denkmals von der neu hinzukommenden archi-
                                                                                                                               schauplätze verbleiben in situ, der authentische Ort kann        tektonischen Schicht zu unterscheiden sein.
Ich war eine Dose                                                  Kulturnutzungen) über Bergwerke (wie das UNESCO-Welt-       durch behutsam eingefügte, begleitende architektonische                 Historisierende Nachahmungen vermeiden die Planer
                                                                   erbe Rammelsberg in Goslar) und Klosteranlagen (wie das     und grafische Präsentationen zum Sprechen gebracht werden        von Kleineberg Architekten Braunschweig grundsätzlich.
Von der Umnutzung historischer Gebäude
                                                                   Kloster Walkenried) bis hin zu kleinen Kapellen (wie die    – dieses Prinzip sollte bei jeder Art von neuer Funktion bei     Durch Anpassung oder gar Imitation würde die historische,
von Uwe Kleineberg                                                 Alvensleben-Kapelle im Kloster Mariental als Lapidarium).   Umnutzungen eingehalten werden.                                  echte Substanz entwertet und der Betrachter getäuscht
                                                                                                                                                                                                werden. Die neue Architektur einer Umnutzung erfolgt in
Inspiration durch ein altes Gebäude, ein Baudenkmal?               Denkmalpflegerische und architektonische                    Inspiration                                                      der Formensprache unserer Zeit und nicht als historisierende
Ja! Das ist nicht nur für Planer, Architekten und Denk­            Erhaltungsstrategien                                        Architekten suchen bei der konzeptionellen Arbeit immer          Replik.
malpfleger ein zunehmend faszinierendes Thema. „Um­                Ein stufenweises Vorgehen bei der Planung ist wesentliche   nach dem Wesen eines Baudenkmals, nach unbekannten                      So bedeutet „Umnutzung“ nicht zuletzt eine qualita-
nutzung“ gilt inzwischen als anerkanntes denkmalpfle­              Leitlinie für eine Umnutzung: Baubestandsuntersuchungen,    Merkmalen, die einem Ort oder einer räumlichen Situation         tive Fortschreibung der Baugeschichte des Denkmals und
gerisches Grundprinzip: Erhaltung durch Nutzung.                   um detaillierte Kenntnisse über die Historie der Baudenk-   innewohnen – um sie zu entfesseln.                               der wechselnden Spuren des Gebrauchs.
                                                                   male und den Bauzustand der Gebäude zu erhalten, danach           Denn oft ist es die List eines Konzepts, als Projektidee
Das Spektrum reicht von der Konvertierung großflächiger            Bausicherungen, um durch Sofortmaßnahmen die Original-      aus dem vorgefundenen Objekt inspiriert, häufig etwas
innerstädtischer Industrieareale (wie die Vitalisierung des        Substanz vor möglichen Schäden und vor Verfall zu be-       Behutsames, Einfaches, um eine überzeugende Planung              Dipl.-Ing. Architekt AKN Uwe Kleineberg arbeitet bei
Schilde-Geländes in Bad Hersfeld für Universitäts- und             wahren, schließlich Reparaturen oder Sanierungen, um        der Umnutzung entwickeln und gestalten zu können.                Kleineberg Architekten Braunschweig.

16                                    Kleineberg.arc@t-online.de                                                                                                                                                                                           17
Das Haus der Braunschweigischen
Stiftungen am Löwenwall:
Das Ergebnis einer Umnutzung
von Ulrich Brömmling

Nicht jede Umnutzung eines Gebäudes ist so spektakulär         Alter Putz, neue Aufgaben
wie jene der Diskothek The Limelight an New York Citys         2004 erwirbt die heutige SBK Grundstück und Gebäude
Sixth Avenue, die einst als Kirche erbaut war. Wer dort        und lässt Villa und Garten zu dem Haus der Braunschwei-
je in den 1990er Jahren eine Technonacht durchgetanzt          gischen Stiftungen umbauen, das es heute ist. Man nimmt
hat, weiß, was Umnutzung ist. Es muss auch nicht für           sich Zeit und entdeckt an vielen Stellen die ursprüngliche
jede Umnutzung der Flächennutzungsplan geändert                Putzfarbe, die die Innenräume wiedererhalten.
werden. Gefängnisse werden zu Hotels, Schwimmbäder                     Vergleicht man Grundrisse von 1888 mit der heutigen
zu Restaurants. Weniger aufregend, aber eben doch auch         Verwendung der Räume, ahnt man, dass bei einer Umnut-
Umnutzung im klassischen Sinn, ist das Haus am Löwen­          zung kaum ein Stein auf dem anderen bleibt. Auch wenn
wall 16. Das Haus der Braunschweigischen Stiftungen            die Raumwände sich nicht überall verschoben haben, stehen
mit seinen Informationsveranstaltungen und Kultur­             heutige und ehemalige Nutzung im diametralen Gegen-
abenden gehört heute der Stiftung Braunschweigischer           satz: Der Direktor der SBK arbeitet im ehemaligen Fremden-
Kulturbesitz. Die SBK und die Braunschweigische Stiftung       zimmer, die Förderabteilung in Schlafzimmern. Nur dass
haben hier ihre Geschäftsstellen.                              der jüngste Kollege der Förderabteilung im einstigen Kinder-
                                                               schlafzimmer seine Arbeit tut, entlockt einem humorvollen
Natürlich ist das Haus nicht für die SBK gebaut, und als       Menschen dann doch ein Schmunzeln.
es 1888/89 geplant, gezeichnet, gemauert und gedeckt                   Der Ewigkeitsgedanke, der jeder guten Stiftung eigen
wurde, konnte sich niemand vorstellen, hier solle später       ist, lässt es nicht unmöglich erscheinen, dass Stiftungen die
­jemand anderes wohnen als die Urenkel des Bauherrn und        ehemalige Gerloffsche Villa auch in 200 Jahren noch als
Erstbesitzers Louis Gerloff. Zuckergroßhändler wie er hatten   Haus der Braunschweigischen Stiftungen nutzen werden.
um 1890 einen guten Stand im Deutschen Kaiserreich.            Aber jede Umnutzung macht auch demütig und schärft den
Gerloff aber war doppelt schlau und hatte seinen Reichtum      Blick dafür, dass alles vergänglich ist, jedes noch so gute
zweifach abgesichert – indem er mit einer guten Idee           Anliegen, jede noch so erfolgreiche Nutzung. In das New
gleich noch zu einem Vorreiter der Verpackungsindustrie        Yorker Kirchengebäude, wo erst Tage durchgebetet, dann
wurde. Der reiche Kaufmann beauftragte Architekt Ludwig        Nächte durchgetanzt wurden, ist 2010 ein Luxuseinkaufs-
Winter mit dem Entwurf. Als italienische Villa im Stil der     zentrum eingezogen. Traurig, aber zeitgemäß umgenutzt.
Neurenaissance entstand die Gerloffsche Villa vor 130
Jahren – fünfstöckig, rechnet man Souterrain und Keller mit.   Dr. Ulrich Brömmling ist Schriftleiter von VIERVIERTELKULT.
      Lange hält die ursprüngliche Nutzung nicht. Als reprä-
sentative Villa war das Haus nach dem Krieg dann auch          Mehr zur Umnutzung des Hauses am Löwenwall 16:
für andere nicht mehr nutzbar, 1970 wird ein Abriss ver-       Reinhard Roseneck u. a.: Denkmal mit Garten, Braun-
hindert, 1973 eine erste Umnutzung abgelehnt: Ein Wohn-        schweig 2009, 168 Seiten. Das Buch wird kostenlos von
heim für Ausländer mit 80 Betten wird das Gebäude nicht.       der SBK an Interessierte abgegeben.
1976 erwirbt die Stadt Braunschweig das Grundstück, 1983
erfolgt es die erste Umnutzung: Das Haus beherbergt nun
die Städtische Musikschule und die Formensammlung der
Stadt des Städtischen Museums. Doch obgleich ausgebaut
und erweitert, will der Zweck auf Dauer nicht recht ins Ge-
bäude passen. Nicht jede Umnutzung eines Gebäudes glückt.

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Englischen von Ursula Held. Carl Hanser Verlag, München         Schinkel als Ökonom des Ästhetischen und Schinkels Freund-         deutsche Verlag über die Gartenstadt Leuna Jürgen Jan-
                                                                                    2018. 262 Seiten, 24 EUR.                                       schaft mit Christian Peter Wilhelm Beuth, dem es um prakti-        kofsky hat eine biografische Erzählung über Karl Barth,
                                                                                    Theresia Leuenberger: Architektur als Akteur? Zur Sozio-        sche Anwendung technischer Erfindungen ging, hat Rein-             den Vater der Gartenstadt, geschrieben, Thomas Lebek 30
                                                                                    logie der Architekturerfahrung (= Transcript Materialitäten).   hart Strecke geschrieben. Eine neue Kategorie Bauwerke             Bilder aus der Fotosammlung der Leuna-Werke auswählt.
                                                                                    Transcript Verlag, Bielefeld 2018. 388 Seiten, 34,99 EUR.       kam um 1900 auf, das Warenhaus. Auch wenn Uwe Linde-               Die ganze Pracht der Architekturfotografie aber verdanken
                                                                                    Claudius Sitting | Christian Wieland (Hg.): Die ‚Kunst          mann die Architektur vernachlässigt, ist sein Buch ein guter       wir dem Taschen Verlag: 100 zeitgenössische Backstein­
                                                                                    des Adels‘ in der Frühen Neuzeit. Harrassowitz Verlag,          Überblick über einen neuen Schauplatz der Moderne. Wie             gebäude hat er in zwei Bildbänden vereint. Hier kann man
 Schwerpunkt    VIERVIERTELKULT erscheint viermal im Jahr und richtet               Wiesbaden 2018. 364 Seiten, 88 EUR.                             man mit Architektur Luxusräume schafft, wie Architektur           sehen, was sich aus dem Ziegel, einem der ältesten Elemente
                sich an unterschiedliche Zielgruppen. Die Schwerpunkt­              Annette C. Cremer | Matthias Müller | Klaus Pietsch­            sprachlos macht, zeigt Habbo Knoch schlüssig und gleich-          des Bauens, alles machen lässt. Vom robusten ­Museum
Serviceseiten   themen sind so facettenreich, dass alle Aspekte zu be­              mann (Hg.): Fürst und Fürstin als Künstler. Herrschaftli-       zeitig unterhaltsam in seinem Buch über Grandhotels. Wie          Kolumba in Köln bis zum filigranen Gewölbe des temporären
                handeln den Umfang einer Vierteljahresschrift sprengen              ches Künstlertum zwischen Habitus, Norm und Neigung.            breit gefächert Funktionsarchitektur ist, daran erinnert die      Gebäudes Breaking the Siege der Architekturbiennale 2016
                würden. Die Serviceseiten erläutern Fachchinesisch, geben           Lukas Verlag, Berlin 2018. 392 Seiten, 36 EUR.                  Reihe Orangeriekultur, deren Band 15 gerade erschienen            in Venedig.
                vertiefende Literaturhinweise und streifen Teilaspekte,             Henriette Heischkel: Bauen in West-Berlin 1949–1963.            ist und sich der Orangerien in Norddeutschland annimmt.           Iris Metje: Der moderne Kirchenbau im Blick der Kame-
                die im Schwerpunkt fehlen. Architektur gilt vielen als die          Die Rolle der Bauverwaltung im Spannungsfeld von                Reinhart Strecke: Schinkel oder Die Ökonomie des Ästhe-           ra. Architekturfotografie in der Weimarer Republik. Diet-
                Königin der Gewerke und Künste. Entsprechend reich­                 Kunst und Politik. Gebrüder Mann Verlag, Berlin 2018.           tischen. Lukas Verlag, Berlin 2017. 112 Seiten, 20 EUR.           rich Reimer Verlag, Berlin 2018. 367 Seiten, 49 EUR.
                haltig ist das Angebot immer neuer Bücher zum Thema.                334 Seiten, 49 EUR.                                             Uwe Lindemann: Das Warenhaus. Schauplatz der Moderne.             Andrea Zupancic (Hg.): Mit Kamera und Schreibmaschi-
                Und das große Bauhaus-Jubiläum 1919 setzt einen eige­                                                                               Unterstützung der DFG, Geschwister Boehringer Ingelheim           ne durch Europa. Bilder und Berichte von Erich Grisar.
                nen Schwerpunkt in der Auswahl der Titel von selbst. UB                                                                             Stiftung, Handelsverband Berlin-Brandenburg e. V. Böhlau          Klartext Verlag, Essen 2016. 213 Seiten, 24,95 EUR.
                                                                                    ❙      Bauhaus und die Bauhäusler                               Verlag, Köln 2015. 377 Seiten, 49,90 EUR.                         Stadt Leuna (Hg.): Der Architekt Karl Barth und Leuna.
                                                                                           Zum Thema Bauhaus ist seit hundert Jahren schon          Habbo Knoch: Grandhotels. Luxusräume und Gesellschafts-           100 Jahre Kolonie Neu-Rössen. Eine biografische Erzäh-
                ❙      Architektur als Kunst, Sozialraum, Macht                     viel geschrieben worden. Und immer noch nicht genug.            wandel in New York, London und Berlin um 1900. Wall-              lung und 30 historische Ansichten der Gartenstadt.
                       Architektur als Kunst ist nicht nur eine Frage der           Eine ganz wunderbare Einführung ist VVK-Autor Winfried          stein Verlag, Göttingen 2016. 495 Seiten, 34,90 EUR.              ­Mitteldeutscher Verlag, Halle (Saale) 2016. 63 Seiten,
                ­Ästhetik, sondern auch des kunstvollen Umgangs mit Statik.         Nerdinger in der Reihe C.H.Beck Wissen gelungen. Das            Orangeriekultur in Bremen, Hamburg und Norddeutsch-                19,95 EUR.
                Roma Agrawal, die Westeuropas zweithöchsten Wolken-                 Bauhaus. Werkstatt der Moderne zieht den ganz großen            land. Transport und Klimatisierung der Pflanzen (= Orange-         100 Contemporary Brick Buildings. Taschen Verlag, Köln
                kratzer The Shard plante, hat ein wunderbares Buch über             Bogen und erzählt, wie eine Denkschrift von Gottfried           riekultur Band 15). Lukas Verlag, Berlin 2018. 197 Seiten,         2017. 648 Seiten, 49,99 EUR.
                 die Geheimnisse des Bauens geschrieben. Sie berichtet vom          Semper von 1851 im Nukleus schon Vieles von dem                 19,80 EUR.
                unterirdischen Bauen unter der Themse, von Spültoiletten,           enthielt, was später zentrale Forderungen und Inhalte des
                 vom Turm der Winde in Athen – und erklärt damit die ganze          Bauhaus wurden. Statt der zahlreichen Neuerscheinungen                                                                            ❙       Zum Schluss: vier besondere Empfehlungen
                 Welt der Statik. Architektur ist auch sozialer Faktor: Was führt   zum Bauhaus-Jubiläum zu vielen Bauhäuslern sei auf ei-          ❙      Braunschweiger Schule                                              Einen außergewöhnlichen Beitrag zur Architektur­
                 dazu, dass sich Menschen in neuen Gebäuden tatsächlich             nen ­lesenswerten Begleitband einer vergangenen Ausstel-               Olaf Gisbertz schreibt in seinem Artikel über die Braun-    geschichte liefert Thomas Sparr mit seinem Buch über das
                 so fühlen, wie es sich der Architekt gedacht hat? Theresia         lung zu Franz Ehrlich hingewiesen. Kaum eine Gestalt des        schweiger Schule von der Longue durée vitruvianischer              deutsch-jüdische Jerusalem, das ab Anfang der 1920er
                 Leuenberger beantwortet diese Frage für zwei große Bauten          Bauhaus war so schillernd und widersprüchlich wie Ehrlich,      Baugeschichte mit ihren Grundsätzen firmitas, utilitas, ve-        Jahre entsteht. Als Gartenstadt angelegt wurde Rechavia
                 von Rem Koolhaas und Peter Zumthor raumsoziologisch und            der später das beeindruckende Funkhaus in der Nalepa-           nustas. Marcus Vitruvius Pollio war ein römischer Architekt        ab 1933 gleich in doppelter Weise zur Heimat emigrierter
                 praxistheoretisch. Architektur als Machtäußerung – da fallen       straße in Berlin-Oberschöneweide baute. Vorher war er als       und Ingenieur, für den die gelungene Verbindung von Festig-        deutscher Juden. Wie eine Stadt ihren Kern mehrmals ver-
                 uns vor allem die Nazis mit ihrer Germania-Planung ein,            Kommunist im KZ Buchenwald inhaftiert.                          keit, Nützlichkeit und Schönheit ein Gebäude erst zu einem        liert, sucht, findet, zeigt Benedikt Goebel am Beispiel Berlin-
                 Mussolini-Bauten in Italien und sozialistische Herrschafts-        Winfried Nerdinger: Das Bauhaus. Werkstatt der Moderne.         wahren Bauwerk machte.                                            Mitte ab 1850. Ein Band aus der schönen Schriftenreihe
                 architektur; wer einmal in der Großen Halle des Volkes in          Verlag C.H. Beck, München 2018. 129 Seiten, 9,95 EUR.                                                                             des Isa Lohmann-Siems Stiftung zeigt die Bedeutung der
                 Peking war, vergisst diesen Bau sein Leben nicht. Ein schö-        Franz Ehrlich. Ein Bauhäusler in Widerstand und Kon-                                                                              Wege, deren manche Architektur formen, deren andere
                 neres Beispiel dafür, dass Architektur schon immer Ausdruck        zentrationslager. Eine Ausstellung der Stiftung Gedenk-         ❙     Architekturfotografie                                       durch Architektur erst entstehen. Und ganz zum Schluss
                eines Standes, eines Standesgefühls oder eines Standes-             stätten Buchenwald und Mittelbau-Dora in Zusammenarbeit               Das Thema Architekturfotografie fehlt in den Texten,        warnt ein Sammelband vor einer allzu smarten City mit zu
                dünkel war, gibt ein neuer Band aus den Wolfenbütteler              mit der Klassik-Stiftung Weimar und der Stiftung Bauhaus        wir haben uns auf die Aussagekraft der Bilder von Andre-          viel Überwachung in der digitalisierten Stadt.
                Forschungen. Die „Kunst des Adels“ in der Frühen Neuzeit            Dessau, 2. August 2009 – 11. Oktober 2009 im Neuen              as Greiner-Napp verlassen. Vier Literaturtipps zur Anre-          Thomas Sparr: Grunewald im Orient. Das deutsch-jüdi-
                 nennt hier als Künste im engeren Sinne die Literatur, Musik,       Museum Weimar. Hg. von Volkhard Knigge und Harry                gung: Um Architekturfotografie in der Weimarer Republik           sche Jerusalem. Berenberg Verlag, 2. Auflage Berlin 2018.
                Malerei und Architektur. Mit Fürsten als Baumeister und             Stein. Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-         mit besonderem Augenmerk auf Kirchen geht es im Band              184 Seiten, 22 EUR.
                Architekten befasst sich ausführlich auch ein Sammelband            Dora, Weimar 2009. 175 Seiten, 14,90 EUR.                       von Iris Metje; immer wieder finden wir Hinweise auf den          Benedikt Goebel: Mitte! Modernisierung und Zerstörung
                aus dem Lukas Verlag, der Fürsten als Künstler unter die                                                                            großen Kirchenarchitekten Otto Bartning. Menschen und             des Berliner Stadtkerns von 1850 bis zur Gegenwart.
                Lupe nimmt. Stets ist es ein schmaler Grat, auf dem jeder                                                                           Mauern in Szene gesetzt wie kaum ein anderer hat Erich            ­Lukas Verlag, Berlin 2018. 157 Seiten, 19,80 EUR.
                Bauherr wandelt, wenn es um das richtige Verhältnis von             ❙     Industriearchitektur | Funktionsarchitektur               Grisar in den 1920er Jahren; seine Fotobücher gestaltete           Debora Oswald | Linda Schiel | Nadine Wagener-Böck
                Funktionalität, Eindruck und Ästhetik geht. Das zeigt für                 Tilo Richter nennt Karl Friedrich Schinkel zu Recht       übrigens Jan Tschichold, ein Vertreter der sogenannten             (Hg.): Wege. Gestalt – Funktion – Materialität. Reimer
                 die jüngere Vergangenheit Henriette Heischkel: Der Wieder-         nicht nur einen der bedeutendsten deutschen Architekten         Neuen Typografie des Bauhaus – so schließen sich auch              Verlag, Berlin 2018. 214 Seiten, 29,90 EUR.
                 aufbau West-Berlins stand im Spannungsfeld zwischen                seiner Zeit, sondern auch einen der wenigen Baumeister,         hier die Kreise. Der Klartext Verlag hat die Fotos neu             Sybille Bauriedl, Anke Strüver (Hg.): Smart City. Kritische
                 Kunst und Politik.                                                 die die bahnbrechende Qualität der frühen funktionalen          ediert und kommentiert. Eine schöne Verbindung von Text           Perspektiven auf die Digitalisierung in Städten.
                 Roma Agrawal: Die geheime Welt der Bauwerke. Aus dem               Industriebauten erkannten. Ein lesenswertes Buch über           und Fotografie zum Thema Architektur liefert der Mittel-          Transcript Verlag, Bielefeld 2018. 361 Seiten, 29,99 EUR.

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