Eine fürstliche Gemein-schaftsapotheke im kaiserlichen Stift Gandersheim im 17. Jahrhundert - Digitale Bibliothek Der ...

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Eine fürstliche Gemein-schaftsapotheke im kaiserlichen Stift Gandersheim im 17. Jahrhundert - Digitale Bibliothek Der ...
ISSN 0939 - 334X | 72. Jahrgang | August 2020 |               3

  Geschichte der Pharmazie
      DAZ Beilage | Redaktion Prof. Dr. Wolf-Dieter Müller-Jahncke | Prof. Dr. Christoph Friedrich

Eine fürstliche Gemein-                                                                      EDITORIAL
                                                                                             Leuchttürme

schaftsapotheke im                                                                           Frisch aus der Presse legen die Auto-
                                                                                             ren Ernst Mutschler als Pharmako-

kaiserlichen Stift Ganders-
                                                                                             loge und Christoph Friedrich als
                                                                                             Pharmaziehistoriker, beide ausgewie-
                                                                                             sene Kenner ihres Faches, den bei

heim im 17. Jahrhundert
                                                                                             Hirzel in Stuttgart erschienenen
                                                                                             Band vor, der durch den erhellenden
                                                                                             Untertitel „Erfolgreiche Arzneimittel-
                                                                                             forscher im 20. Jahrhundert“ die
                                                                                             „Leuchttürme“ vor dem Missver-
Gerhard Aumüller/Wiebke Kloth | Das        im kaiserlich frei-weltlichen Stift Gan-
                                                                                             ständnis schützt, es handle sich um
Interesse hochadliger Personen, vor        dersheim. Als liudolfinische Stiftung
                                                                                             eine darstellende Sammlung solcher
allem von Fürstinnen, an einer eige-       im Jahr 852 gegründet, wurde das
                                                                                             Bauwerke, die das Leben der Men-
nen Schlossapotheke ist bekannt.           Stift im 13. Jahrhundert Reichsabtei              schen auf See retten können. Viel-
Beispiele dafür sind die Herzogin          und nannte sich daher bis zur Auflö-              mehr handelt es sich um „Lebensbil-
Anna von Sachsen, Landgräfin Sabi-         sung 1810 kaiserlich frei-weltliches              der“ oder „Miniaturen“, die seit der
na von Hessen-Kassel, Herzogin             Stift. Es gehörte damit zu den kleine-            Antike von Sueton und in der christli-
Hedwig von Braunschweig-Wolfen-            ren dieser reichsweit nur zwölf vor-              chen Tradition seit den Hagiographen
büttel und andere mehr. In einigen         handenen Einrichtungen, in denen die              verfasst wurden. Solche „Lebensbil-
Fällen existieren sogar umfangrei-         unverheirateten Töchter hochadliger               der“ gehen über nüchterne Biographi-
chere Inventarverzeichnisse und            Familien als Kanonissen ein gottgefäl-            en hinaus, versuchen vielmehr, im
Apothekerrechnungen oder Anga-             liges Leben führten. An der Spitze des            wahrsten Wortsinn das Bild eines
ben zu den selbst hergestellten Pro-       Stifts stand die Äbtissin im Range ei-            Menschen nachzuzeichnen. Dazu
dukten, so für den braunschweigi-          ner Reichsfürstin, der die Dekanin                werden auch persönliche Erinnerun-
schen Hof in Wolfenbüttel. Hedwig          oder Dekanissin durch die Übernahme               gen, Briefe und Werke zu Rate gezo-
(1540–1602),1 Ehefrau Herzogs Julius       von Verwaltungsaufgaben zur Seite                 gen, wobei die wissenschaftliche Lite-
                                                                                             ratur nicht außer Acht bleibt. Auch in
von Braunschweig und Lüneburg,             stand. Eine der bekanntesten Kanonis-
                                                                                             der „Geschichte der Pharmazie“ fin-
hatte im Wolfenbütteler Schloss eine       sen war die um 973 im Stift wirkende
                                                                                             den die Leser immer wieder solche
– „Lazarett“ genannte – Apotheke           Kanonisse Hrotswit/Roswitha von
                                                                                             Studien, die nicht nur Apotheker,
einrichten lassen, aus der sie nicht       Gandersheim (um 935–nach 973), die
                                                                                             sondern auch Literaten behandelten,
nur die eigene Familie, sondern als        als erste deutsche Dichterin gilt.3               die mit der Pharmazie in Berührung
vorbildliche Landesmutter auch die                                                           kamen, wie beispielsweise Ernst Jün-
Hofbediensteten und die Bevölke-                                                             ger. Doch widmet sich die „Geschich-
                                           Gräfin Anna Erica zu Waldeck,
rung versorgen ließ.2                                                                        te“ auch anderen Themen, die Sie in
                                           Äbtissin in Gandersheim,
                                                                                             dieser Ausgabe lesen können.
Sie war gemeinsam mit ihrem Sohn,          und ihre Coadjutrix, Herzogin                     Ob Buch oder Zeitschrift – ich wün-
Herzog Heinrich Julius (1564–1613),        ­Dorothea Augusta von                             sche Ihnen auch in einem heißen
im Jahr 1601 ferner die treibende          Braunschweig-Wolfenbüttel                         Sommer viel Erquickung beim Lesen
Kraft bei der Investitur ihrer Tochter                                                       und Entdecken.
Dorothea Augusta (1577–1625) als Ka-       Anna Erica zu Waldeck (1551–1611) ist                             Ihr W.-D. Müller-Jahncke
nonisse und Coadjutrix der Äbtissin        als erste protestantische Äbtissin des

                                                                            Nr.3 | August 2020 | 72. Jahrgang | Geschichte der Pharmazie |   29
                                         https://doi.org/10.24355/dbbs.084-202103301355-0
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Geschichte der Pharmazie

                                                                                                     zog Heinrich Julius auf einem Landtag
                                                                                                     in Gandersheim mit der Äbtissin einen
                                                                                                     Vertrag aus, der die Ablösung sämtli-
                                                                                                     cher Schulden des Stifts und den Ein-
                                                                                                     tritt seiner Schwester Dorothea Augus-
                                                                                                     ta (1577–1625) als Kanonisse festlegte
                                                                                                     (Abb. 1).12 Bereits am 25. März 1601
                                                                                                     wurde Dorothea Augusta mit großem
                                                                                                     Pomp als Kanonisse und Coadjutrix
                                                                                                     eingeführt.13
                                                                                                     Ihre Mutter, Herzogin Hedwig, als ge-
                                                                                                     borene Markgräfin von Brandenburg
                                                                                                     standesbewusst und energisch, hatte
                                                                                                     an der südöstlichen Seite des Wolfen-
                                                                                                     bütteler Schlosses eine Apotheke ein-
                                                                                                     richten lassen, wo sich auch ihre eige-
    Abb. 1: Porträtdarstellungen der Äbtissinnen Anna Erica und Dorothea Augusta.                    ne Küche und ein als Destillierhäus-
                                                                                                     chen bezeichneter Raum befanden.
                                                                                                     Das Mobiliar bestand aus Schränken,
Stifts Gandersheim in die braun-                     zimmer, ein Kinderzimmer, eine Bade-            Wandgestellen für Flaschen und Glä-
schweigische Landesgeschichte einge-                 stube und ein Gemach für den Doktor             ser, Bänken sowie Tischen mit Alabas-
gangen.4 Dabei wird ihre Loyalität ge-               sowie eine kleine Apotheke. Gräfin              terfläche.14 Um diese fürstliche Haus-
genüber der letzten katholischen Äb-                 Anastasia Günthera betrieb, ähnlich             apotheke kümmerte sich neben einer
tissin, Margaretha von Chlum (vor                    wie ihre Mutter Katharina, geb. Gräfin          Apothekerin,15 einer Hilfskraft, weite-
1531–1589), ebenso herausgestellt wie                von Henneberg (1509–1567), dort in-             ren Jungfern und später einem Apo-
ihre Rolle bei der endgültigen Einfüh-               tensiv die Zubereitung von Konfekt              theker auch die Herzogin selbst.16 Un-
rung der Reformation in Gandersheim                  bzw. Heilmitteln8 und versorgte damit           abhängig von ihrer sozialen Schicht
und ihre Durchsetzungskraft gegen-                   die eigene Familie, Dienerschaft und            konnten hier Kranke um Medikamen-
über Herzog Heinrich Julius bei der                  Verwandte. In der Stadt Korbach gab             te bitten, die für Arme sogar entgelt-
Erhaltung der Reichsunmittelbarkeit                  es einen Apotheker, der das Grafen-             frei ausgegeben wurden. Die Ausga-
des Stifts. Ein bleibendes Denkmal hat               haus mit den notwendigen Ausgangs-              ben für die Apotheke waren daher
sie sich in dem eindrucksvollen Gan-                 substanzen belieferte.9 Im April 1570           nicht unerheblich. Mit dem Anspruch
dersheimer Stiftsgebäude im Stil der                 verstarb Anastasia Günthera, und we-            bester Qualitäten standen auf den Ein-
Weserrenaissance gesetzt,5 dessen                    nige Jahre später (1575) trat Anna Eri-         kaufslisten für die Messen in Ham-
Bau sie nach dem großen Stadtbrand                   ca als protestantische Kanonissin in            burg, Leipzig oder Frankfurt z. B. Pfef-
von 1597 veranlasste.                                das damals noch katholisch geführte,            fer, Kanarienzucker, Safran, in Salz
Anna Erica wurde am 17. September                    „kaiserlich frei-weltliche Stift“ in Gan-       oder Zucker eingelegte Limonen, Po-
1551 als viertes von insgesamt 13 Kin-               dersheim ein. Bereits im Januar 1577            meranzen oder Ingwer.17 Auch wurden
dern des gelehrten Grafen Wolrad II.                 wurde sie dort zur Dechantin und                Parmesankäse, Rosinen, Galläpfel, Zi-
zu Waldeck (1509–1578),6 der u. a. mit               dann am 23. April 1589 zur ersten               beben, Anis, Zimt, Datteln, Mandeln,
Philipp Melanchthon und anderen                      protestantischen Äbtissin gewählt.10            verschiedene Wurzeln, Rinden, Baum-
namhaften lutherischen Theologen                     Entgegen den Versuchen Herzogs                  öl, Opium, Silber und Gold im Gesamt-
korrespondierte, und seiner Ehefrau                  Heinrich Julius von Braunschweig-Lü-            wert von etwa 265 Gulden einge-
Anastasia Günthera, geb. Gräfin von                  neburg, das Stift seiner Herrschaft             kauft.18 Pflanzliche und tierische Be-
Schwarzburg-Sondershausen-Arnstadt                   einzugliedern, verstand sie es mit dip-         standteile wie Horn, Herzen und Fette
(1525–1570), im Schloss zu Korbach                   lomatischem Geschick, den kaiserlich            kamen aus der Region,19 ebenso Fuchs-
geboren.7 Ihre Kindheit verbrachte sie               frei-weltlichen Status und ihren Stand          lunge20 oder Regenwurmöl.21 Von da-
– die wie ihre gleichnamige Tante                    als Reichsfürstin zu sichern und den-           her ist ein ärztlicher Rat zu verstehen,
bald nur Anna „Erich“ genannt wurde                  noch ein vertrauensvolles persönli-             kostbare und exotische Apothekerwa-
– gemeinsam mit ihren überlebenden                   ches Verhältnis zum Herzogshaus auf-            ren vor fremdem Zugriff zu sichern.22
vier Schwestern und beiden Brüdern                   zubauen, nicht zuletzt durch ihren en-          Über den Bedarf ihrer unmittelbaren
hauptsächlich in den Schlössern zu                   gen Kontakt zur Herzogsmutter Hed-              Umgebung hinausgehend, versandte
Korbach und auf dem nahen Eisen-                     wig.11                                          Herzogin Hedwig auch Arzneien und
berg. Im Korbacher gräflichen Haus                   Anfang Mai 1600 besuchte Anna Erich             pflegte auf diese Weise die Kontakte
gab es neben den üblichen Räumen                     die ihr wohlgesonnene Hedwig, und               mit anderen Fürstenhöfen.23
und Sälen auch ein eigenes Wochen-                   wenige Wochen später handelte Her-              Die Einrichtung einer gemeinschaft-

30 | Geschichte der Pharmazie | 72. Jahrgang | August 2020 | Nr.3
                                                  https://doi.org/10.24355/dbbs.084-202103301355-0
Eine fürstliche Gemein-schaftsapotheke im kaiserlichen Stift Gandersheim im 17. Jahrhundert - Digitale Bibliothek Der ...
Geschichte der Pharmazie

lich von der Äbtissin und ihrer Coad-       Gefachen und drei Repositorien sowie             sen waren neun leer, die übrigen
jutrix genutzten Apotheke auch im           einem „Cronoment“ (Schrankaufsatz)               enthielten Schwefel, Alaun, Diptam-
Gandersheimer Stiftsgebäude ist nun         mit neun Schubladen. Vor dem Apo-                wurzel und rote Ochsenzunge. Nur
im engen Zusammenhang mit einem             thekenraum waren neun weitere Repo-              neun von insgesamt 57 kleinen Büch-
dramatischen Ereignis zu sehen, in          sitorien aufgestellt.                            sen waren mit einfachen Arzneimit-
dem sich Äbtissin Anna Erich bewäh-         Einige Einrichtungsgegenstände hatte             teln (Simplicia) gefüllt, darunter Wa-
ren musste und das sie nur mit Hilfe        man aus der Apotheke in den Speise-              cholderbeeren, Kirsch- und Quitten-
des Herzogshauses bewältigen konnte,        saal („große Essstube“) verbracht. Da-           kerne, Wegerichsamen, getrocknete
das die Situation nutzte, um Dorothea       zu gehörten blaue und weiße Steingut-            Heidelbeeren, Veilchenwurzel, Terra
Augusta als Coadjutrix und künftige         becken, Näpfe, Konfektschalen und                sigillata (Siegelerde) und anderes
Nachfolgerin der Äbtissin zu installie-     Kruken unterschiedlicher Größe, ver-             mehr. Bemerkenswerterweise werden
ren.                                        schiedene Trink-„Geschirre“ in Tier-             dort auch vier „messings laß becki-
Während Anna Erica sich wegen eines         form, 25 kleine Krüschen, d. h. Gefäße           chen“, also Aderlassbecken, aufge-
Trauerfalles bei ihren waldeckischen        mit gewellter Öffnung, 18 kleine rote            führt. Andere zeittypische Elemente
Verwandten aufhielt, vernichtete am         irdene Töpfe, Schüsseln und Näpfe.               (wund-)ärztlicher Tätigkeit waren
17. Mai 1597 ein Brand große Teile der      Außerdem befanden sich darunter ei-              zwei „bade Köpffe“, demnach Schröpf-
Stadt und nahezu das gesamte Stifts-        ne eiserne Gewürzmühle, ein zerbro-              köpfe, sowie drei „Matulae“ (darunter
gebäude.                                    chenes Serpentinfläschchen, eine                 eine ungewöhnlich aus Zinn bestehen-
                                            Holzbüchse mit Magnetsteinen, eine               de), vorwiegend für die Harnschau
                                            neue Haue (Beil) aus Messing, fünf               (Uroskopie) bestimmte Gefäße, die da-
Die Apotheke im Stiftsneubau                runde Milchfässer aus Steingut, ein              rauf deuten, dass außer dem Apothe-
Mit großem persönlichem Einsatz und         Tintenfass aus Blei usw. sowie neben             ker auch Wundärzte und akademisch
unter Aufnahme hoher Schulden be-           anderen Gegenständen auch „ein                   gebildete Ärzte konsultiert wurden.
werkstelligte Anna „Erich“ – wie sie        Hauffen gleser mit gebranten Waßern              Die Apothekeneinrichtung hatte nach
durchweg unterschrieb – den Neubau          vnndt etzliche ledig. It[em] etzliche            einer Angabe des Einbecker Apothe-
des Stifts. Die Räumlichkeiten des im-      blawe buchßen mit Conditen vnnd                  kers Franz Cordtmann,26 der die Stifts-
posanten Gebäudes, das mit dem Wap-         Confecten, Auch sonst Allerhandt ein-            damen belieferte, ursprünglich in der
pen der Äbtissin geschmückt ist (Abb.       gemachte säffte […]“.25                          herzoglichen Wilhelmsburg gestanden
2), lassen sich teilweise aus dem In-       Laut Inventar gab es ferner verschie-            und war von dem Göttinger Apotheker
ventar erschließen, das nach dem Tod        dene Behältnisse, darunter sieben                Albert Hasenbein der Äbtissin und
der Äbtissin am 15. Oktober 1611 er-        Zinnbüchsen, in denen neben anderen              ihrer Coadjutrix für 40 Taler verkauft
stellt wurde.24 Demnach gab es, außer       Substanzen auch Dachs- und Gänse-                worden. Zwei Drittel der Einrichtung
der vom Feuer weitgehend verschon-          fett, Wermut-, Lilien- und Kamillenöl            hatte dann Cordtmann für 26 Taler er-
ten St. Michaelskapelle der Äbtissin,       aufbewahrt wurden. Von 13 Holzbüch-              worben; das letzte, in der Stiftsapothe-
in dem Gebäude unter den Räumlich-
keiten der Äbtissin eine große Apothe-
ke neben der Küche und ein „Distelier-
häuslein“ [sic!]; sie wurden von der
Äbtissin und ihrer Coadjutrix, Doro-
thea Augusta, gemeinsam genutzt.
Bei der Apotheke im Stift Ganders-
heim muss es sich um einen ziemlich
großen Raum gehandelt haben, in dem
drei als „Corpora“ bezeichnete Apothe-
kenschränke standen: einer an der
Wand zur Küche mit 21 großen und
kleinen Schubladen und einer Bank-
kiste, wohl einem Unterschrank, mit
drei Gefachen und darüber zwei Repo-
sitorien (Ablagen). Ein weiteres „Cor-
pus“ neben dem Fenster enthielt 13
Schubladen und einen Gitterschrank,
darüber befanden sich sieben Reposi-
torien. Das dritte „Corpus“ stand ne-
ben der Tür, war mit 15 Schubladen              Abb. 2: Südfront des ehem. Stiftsgebäudes in Bad Gandersheim im Stil der Weserre-
ausgestattet, einer Bankkiste mit drei          naissance.

                                                                              Nr.3 | August 2020 | 72. Jahrgang | Geschichte der Pharmazie |   31
                                          https://doi.org/10.24355/dbbs.084-202103301355-0
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Geschichte der Pharmazie

                                                                  kessel. Sie dürften                gedan, duth schal / me drincke [das
                                                                  im oben genann-                    soll man trinken] lll edder llll dage to-
                                                                  ten Destillierhäus-                forne eht men Id [zuvor esse man je-
                                                                  lein, wohl einem                   den ??] Eing / gen [??] wil dat bringet
                                                                  gesonderten                        werme vnd dermit natur-lings …“.
                                                                  Raum im Stiftsge-
                                                                  bäude, zum Ein-
                                                                  satz gekommen
                                                                                                     Die Nutzung der Apotheke
                                                                  sein, in dem ein                   Auch nach dem Tod der Äbtissin Anna
                                                                  gemauerter Des-                    Erich setzte Dorothea Augusta ihre
                                                                  tillierofen mit vier               umfangreichen Einkäufe von Apothe-
                                                                  „Helmen“ vorhan-                   kerwaren fort, die dann aber vorzugs-
                                                                  den war.                           weise aus Wolfenbüttel bezogen wur-
                                                                  In einer Rech-                     den. Wahrscheinlich hatte auch sie bei
                                                                  nung führt der                     ihrer Mutter, Herzogin Hedwig, einige
                                                                  Apotheker auch                     Kenntnisse bei der Herstellung von
                                                                  an, er habe den                    Heilmitteln erworben, die sie für ihre
                                                                  Damen einige                       schwache Gesundheit nutzen wollte.
                                                                  Tage lang „aufge-                  Zumindest in ihren jungen Jahren las-
                                                                  wartet“; dies dürf-                sen die Medikamente nur auf leichte
                                                                  te eine Umschrei-                  Beeinträchtigungen, etwa im Magen-
                                                                  bung für die Klis-                 Darm-Trakt, Erkältungen oder allge-
                                                                  tiere sein, die er                 meines Unwohlsein schließen. Um ei-
                                                                  angewendet hat.                    ne Arznei zu gewinnen, nahm sie gern
                                                                  Einige Beispiele                   Wein als Basis und stellte damit einen
                                                                  aus den Rechnun-                   Kräuterauszug her. Die Herzogin ließ
    Abb. 3: Balneum Mariae aus Hieronymus Brunschwig: Liber de    gen Cordtmanns                     sich einen wertvollen Pomander anfer-
    Arte Distillandi (Straßburg 1512) .                           werden hier ange-                  tigen, regelmäßig mit Kräutern befül-
                                                                  führt,29 um die                    len und hoffte, dadurch von der Pest
                                                                  Art der Waren                      verschont zu werden. Desgleichen ge-
ke verbliebene Drittel war demnach 14 und den Umfang seiner Lieferungen                              hörte zu ihrer Ausstattung eine Reihe
Taler wert, die auf die beiden hochad-       zu demonstrieren (siehe Kasten).                        von Arzneifläschchen, die sie zur Vor-
ligen Damen entfielen.      27
                                             Im Faszikel der Apotheker-Rechnun-                      beugung gegen Krankheiten mit sich
Bei den wenigen erhaltenen Rechnun-          gen ist auch ein in niederdeutscher                     tragen konnte. Herzstärkende Präpa-
gen (vorwiegend aus den Jahren 1603– Sprache geschriebenes Rezept enthal-                            rate, Abführmittel, Gliederschmerzen
1607) Cordtmanns (Tabelle 1),28 über         ten, das nach der Schriftform eher in                   bekämpfende oder schweißtreibende
den sonst nichts bekannt ist, lassen         die Mitte des 16. Jahrhunderts einzu-                   Substanzen bestimmten im fortge-
sich drei große Warengruppen unter-          ordnen ist. Es ähnelt stark einem bei                   schrittenen Alter ihre Selbstmedika-
scheiden: 1. spezielle, teilweise auch       Hieronymus Brunschwig veröffentlich-                    tion oder ärztlichen Verordnungen.31
luxuriöse Nahrungsmittel und Gewür- ten30 und lautet in der wörtlichen                               Man kann annehmen, dass Anna
ze (Kapern in Essig, Limonen, Rosi-          Übertragung [Absätze durch Schräg-                      Erich und Dorothea Augusta die Apo-
nen, Zwetschgen, Feigen, Ingwer, Nel-        strich markiert]:                                       theke in ähnlicher Weise nutzten wie
ken, Zimt, Kardamom, verschiedene            „witten engwer / galligan / lanngin                     Herzogin Hedwig in Wolfenbüttel.32
Pfeffer- und Zuckersorten, Marzipan)         pepper / cardmomen / muschaten blo-                     Bei ihr nahmen Destillate wie Aquae
sowie aromatisierte Zubereitungen auf men / lorberen / orth safran / gedru-                          vitae breiten Raum ein, also Arznei-
Zuckerbasis („Morsellen“, „Manus             keden hauerkorn [getrocknetes Hafer-                    mittel für innerliche und äußerliche
Christi“); 2. einfache Arzneien (Simpli- korn] / iris edder fiolen wortele [Veil-                    Anwendungen.33 Auch Zucker spielte –
cia) bzw. zusammengesetzte Heilmit-          chenwurzeln] / canneyl [Caneel, Zimt]                   nicht nur als Konservierungsmittel
tel (Composita) wie Anisöl, Krause-          deß to sannd groff gepulvert und in                     oder Grundlage für Medikamente –
minzenwasser, Theriak und Mithridat,         eyn syborger kross [Siegburger Topf                     eine entscheidende Rolle,34 wobei sich
Schlafpülverlein, Zahnpulver, Brust-         (Steinzeug)] gedan dar vp eyn halv                      die verschiedenen Rohstoffe in ihrer
salbe, Schlafsalbe usw. und 3. Arbeits-      proveken [Pröbchen] gude / wyn ge-                      Nutzung als Nahrungs- und Genuss-
geräte zum Destillieren: ein „Balneum        dan und bouen dichte to gemaket                         mittel einerseits und als Arzneien an-
Mariae“ (speziell konstruiertes Was-         [oben dicht verschlossen]. lX nacht /                   dererseits überschneiden. Ein Beispiel
serbad, Abb. 3), ein „Helm“ (Brennhut        in de erde gesettet vnd dar na wieder                   dafür sind die als Manus Christi be-
oder „Alembik“), Eisenroste, Kupfer-         mor/gens dar van eyn guden drunck                       zeichneten Zuckertäfelchen, die, in Ro-

32 | Geschichte der Pharmazie | 72. Jahrgang | August 2020 | Nr.3
                                                  https://doi.org/10.24355/dbbs.084-202103301355-0
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Geschichte der Pharmazie

senwasser getränkt, als „confect“ zu             von Nusslatwergen und Liberan-                       Erich fälschlich geschlossen werden
betrachten sind,35 mit Anisöl dagegen            tisküchlein, für deren Herstellung                   könnte – die Edelsteine nicht nur als
der Stärkung und gegen Husten dien-              man die Edelsteine Granat, Hyazinth,                 Schmuck anzusehen, sondern fanden
ten.36 Bei schwerem Husten bevorzug-             Rubin, Saphir und Smaragd sowie                      auch Verwendung zur Prophylaxe oder
te die Herzogin Zibeth und Veilchen-             auch Perlen pulverisierte und den üb-                als Heilmittel.
zucker,37 verwandte auch gern Ing-               rigen Ingredienzien zusetzte.39 Dem-                 Weichmachende Tränke, Laxierpülver-
wer.38 Gegen die gefürchtete Pest er-            nach sind – wie aus der Auflistung                   lein, magen-, aber auch herzstärkende
hoffte man Hilfe durch die Einnahme              des Nachlasses von Äbtissin Anna                     Arzneien und Brustsalbe wurden
                                                                                                      ebenfalls beschafft. Im Inventar wird
   Tabelle 1: Auszug aus einer Apothekenrechnung                                                      einmal auch ein „Pomamberken“ ge-
     Fol. 1 r)                                                                                        nannt.40 Dies ist das Diminutiv von Po-
     „Vorzeichnuß was die hochwurdige undt                fl. grn.      d.                            mamber, einer Eindeutschung von Po-
     wolgeborne Fraw Anna Erich des keÿserlich                                                        mum Ambrae, auch Pomander, Ponam-
     freÿen weldtlichen stieffts Ganderßheimb                                                         ber oder Bisamapfel genannt. Dabei
     ebttissin, geborne greffin zu Waldeck,                                                           handelt es sich um eine aufklappbare,
     meine gnedige fraw von mir undt auß
                                                                                                      perforierte, meist kugelförmige Me-
     der Apoteken endpfangen und fordern lassen.
     Erstlich ein weich dranck undt purgier-                                                          tallkapsel, die mit wohlriechenden
     dranck so ihr gn selbst gebraucht kosten             1        2    –                             Substanzen wie Ambra oder Bisam
     Item ihr gn. bey Hennj gesandt schweinepulver		             18     –                             (Moschus) u. a. gefüllt war. Bei wohl-
     Item zur selben zeidt auch 2 lb des besten canarij 2         –     –                             habenden Personen bestanden diese
     Item auf Henricj schreiben selber gebracht
                                                                                                      Behälter oft aus Edelmetallen, waren
     1 ½ lb cappern in essig undt 14 limonen              2       –     –
     Item 6 granadt epffel jede 4 g thun                  1      10     –                             kunstreich verziert und wurden an
     Item Schweine Puluer 45 Lott zu 6 gr Thun            1        2    6                             einer kurzen Kette um den Hals oder
     Item 1 lb 4 lot guetten außgebissen cannel           2       –     –                             am Gürtel getragen.41 Sie sollten gegen
     Item 6 lott guetten thÿriack zu 6 gr                 2       8     –                             die Pest wirksam sein oder auch nur
     Item 5½ lb guetten canarj zu 16 gr thun              4       8     –                             angenehmen Duft verbreiten. Die her-
     Item 1 lodt gulden hauptpillen                       –      12     –
                                                                                                      zogliche Familie in Wolfenbüttel besaß
     Item beÿ meiner magdt gesandt 10 limonen
     undt 1 lb cappern in essig thun                      1        7    –                             mehrere kostbare Exemplare.42
     Item eine presse fur                                 4      10     –                             Ähnliche Arzneimittel und Indikatio-
     Item 1 lb ingber                                     –       9     –                             nen wie die genannten sind auch in
     Item ¼ lb außgebissnenen cannel                      – 16          –                             dem verbreiteten Liber de arte distillan-
     Item ¼ lb muschadten bluedt                          1       4     – //dieß gehat leÿ?
                                                                                                      di de compositis des Hieronymus Brun-
     Item 2 lb hudt zucker                                1      10     –
     Item 4 lb negelein                                   – 18          –                             schwig (Straßburg 1512) oder im
     Item 2 lb groß rossein                               –       8     –                             Kreutter-Buch von Hieronymus Bock
     Item 1 lb cappern In essig                           –      12     –                             (Straßburg 1539) enthalten. Im Buch-
     Item 7 limonen in ein groppen                        –       11    –                             bestand der Äbtissin waren entspre-
     Item 1/2 lb klein roseinlin                          –       4     –                             chende Rezeptbücher bzw. Anweisun-
                  Summa lateris                           31 fl 13 gr   6 d“
                                                                                                      gen für die Herstellung solcher Arz-
     (Zusatz in Fremdschrift:)„Hierauß empfangen 2 thlr.“
                                                                                                      neien vorhanden, so das Artzneӱ buch,
     (Fol. 1 v)                                                                                       Oßwaldt gabelhopen,43 [Hans von
     „Diese nachbeschriebene stucke sollen noch                                                       Gersdorff], Veldtbuch der Wund
     beÿ frewlein Dorotheæ Augustæ rechnung                                                           Artzeneӱ (Frankfurt 1551 und später)
     gesetztt werden
                                                                                                      sowie Ander buch Alberti Magni von
     Erstlich 5½ lb guten canarie zucker zu 16 gr
     thuett                                       4 fl            8 gr       –                        Kreutern (Frankfurt 1575). Dabei ist
     Ein lb engver                                8 gr                                                eine gewisse Akzentuierung von frau-
     ¼ lb außgebiessen canel		                                    6 gr                                enheilkundlichen Büchern zu erken-
     ¼ lb muscaten blumen                         1 fl            8 gr                                nen.44 Zu den weiteren medizinischen
     2 lb huet zucker                             2 fl           10 gr                                Werken gehören der Artzenei-Spiegel
     ¼ lb negelin		                                              18 gr
                                                                                                      (Abb. 4) des Marburger Medizinprofes-
     2 lb groß rosin		                                            8 gr
     1 lb cappern in essig		                                     12 gr                                sors Johannes Dryander (1500–1560),
     7 limonen in einer groppen		                                 11 gr                               der mit ihrem Vater korrespondiert
     i/2 lb klein rosein		                                        4 gr                                hatte,45 der Hortus sanitatis und zwei
     1 ¼ lb canel zum kanelwasser		                              24 gr                                handgeschriebene Arzneibücher,46 au-
     2 lb deß besten canarien zucker               2 fl
                                                                                                      ßerdem theologische und historische
          Dieses vndt die ander rechnung
           machen in Summa                        34 fl           12 gr      9 d“                     Werke.47 Dass die Äbtissin in diesen
                                                                                                      Büchern tatsächlich gelesen hat, be-

                                                                                       Nr.3 | August 2020 | 72. Jahrgang | Geschichte der Pharmazie |   33
                                              https://doi.org/10.24355/dbbs.084-202103301355-0
Eine fürstliche Gemein-schaftsapotheke im kaiserlichen Stift Gandersheim im 17. Jahrhundert - Digitale Bibliothek Der ...
Geschichte der Pharmazie

                                                                           dem die beiden            Also, the drugs, facilities, instruments, condi-
                                                                                                     ments and foodstuff purchased by both the ca-
                                                                           adligen Stiftsda-         nonesses from a pharmacist in nearby Einbeck
                                                                           men auch „ge-             between 1603 and 1607, are well known. They
                                                                           brannte Wässer“,          are comparable to those purchased by the ducal
                                                                                                     court in Wolfenbüttel and point to intestinal
                                                                           also alkoholische
                                                                                                     problems of both ladies. Abbess Anna Erica was
                                                                           oder wässrige Ex-         not just interested in preparing sweets and re-
                                                                           trakte, herstell-         medies, she hosted a large library with medi-
                                                                           ten. Die erhalte-         cal, pharmaceutical, theological and religious
                                                                                                     books, which indicate her deep interest, parti-
                                                                           nen Rechnungen            cularly in pharmacy, medicine and surgery.
                                                                           eines Apothekers          She continued a tradition taken over from her
                                                                           aus dem benach-           grandmother and mother, and continued by her
                                                                                                     successor, duchess Dorothea Augusta, and nu-
                                                                           barten Einbeck            merous other noble women in early modern his-
                                                                           von 1603–1607             tory.
                                                                           sind mit jenen
                                                                           vergleichbar, die         Keywords:
                                                                           später in Wolfen-         Nobility, canonesses, dispensary, history of
                                                                           büttel für die Äb-        pharmacy, medical culture.
                                                                           tissin Dorothea
                                                                           Augusta ausgefer-         Abbildungsnachweis
                                                                           tigt wurden, und          Abb. 1 Die Fotos wurden dankenswerterweise
                                                                                                        von Frau Maria Julia Hartgen, M.A., Portal
                                                                           deuten auf ähnli-
                                                                                                        zur Geschichte, Sammlung Frauenstift
                                                                           che (intestinale)            Gandersheim, Bad Gandersheim, zur Verfü-
                                                                           Beschwerden bei-             gung gestellt.
                                                                           der Stiftsdamen.          Abb. 2 Foto: G. Aumüller.
                                                                                                     Abb. 3 Foto: Digitalisat der Bayerischen Staats-
     Abb. 4: Artzenei-Spiegel des Marburger Medizin-Professors Jo-         Das Interesse der            bibliothek München, Nachweis: https://rea-
     hannes Dryander.                                                      Äbtissin Anna                der.digitale-sammlungen.d (Letzter Zugriff
                                                                           Erich ging über              27.12.2019.
                                                                                                     Abb. 4 Foto: Wikipedia Commons. Nachweis: ht-
                                                                           die rein hand-               tps://reader.digitale-sammlungen.de (Letz-
zeugt ihre „Brill“, die sie in einem sil-       werkliche Praxis der Arzneimittelher-                   ter Zugriff 27.12.2019)
bernen Futteral mit dem braunschwei-            stellung hinaus und betraf ausweislich
gischen Wappen verwahrte, das ihr               ihrer im Nachlass dokumentierten Bü-                 Anmerkungen
die befreundete Coadjutrix und Nach-            chersammlung mit vorwiegend religi-                  1   Vgl. Gabriele Wacker: Arznei und Confect.
folgerin Dorothea Augusta geschenkt             ösen Werken auch die Kräuterheilkun-                     Medikale Kultur am Wolfenbütteler Hof im
                                                                                                         16. und 17. Jahrhundert. Wiesbaden 2013
hatte.48                                        de und die Wundarznei. Sie setzte da-
                                                                                                         (Wolfenbütteler Forschungen; 134), hier S.
                                                mit eine Tradition fort, die bereits bei                 45, 62–64 sowie 133f., 256 und 310–316.
                                                ihrer Mutter und Großmutter nach-                        Zur Kurzfassung des vorliegenden Beitrags
Fazit                                           weisbar ist und neben ihrer Nachfolge-                   s. Gerhard Aumüller/Wiebke Kloth: Äbtis-
                                                                                                         sin Anna „Erich“ und ihre Apotheke. Kur-
In Ergänzung zu den grundlegenden               rin, Herzogin Dorothea Augusta, von                      zeitung Bad Gandersheim 2020, Nr. 2, S.
Untersuchungen von Gabriele Wacker              vielen weiteren adligen Frauen der                       6–7. Dr. Peter Dilg, Regensburg, danken
über die medikale Kultur am Wolfen-             Frühen Neuzeit gepflegt wurde.                           wir für zahlreiche Hinweise.
                                                                                                     2   Wacker [wie Anm. 1], S. 308f.
bütteler Hof im 16. und 17. Jahrhun-                                                                 3   Vgl. hierzu Hans Goetting: Das reichsun-
dert (erschienen 2013) wird hier die            Summary:                                                 mittelbare Stift Gandersheim (Germania
historische Apotheke im Stift Ganders- In extending the basic studies of Gabriele Wa-                    Sacra, Neue Folge 7. Die Bistümer der Kir-
                                                                                                         chenprovinz Mainz. 1. Das Bistum Hildes-
heim dargestellt, die von der ersten            cker on medical culture at the court of Wolfen-
                                                büttel in the 16th and 17th centuries (which ap-         heim). Berlin/New York 1973, S. 345–347.
protestantischen Äbtissin, Gräfin An-                                                                    Zur Geschichte des evangelischen Stifts bis
                                                peared in 2013), we report on the historical dis-
na Erica/„Erich“ von Waldeck, einge-            pensary that was established in the imperial             zu seiner Aufhebung s. ebd., § 12. Das
richtet und ab 1601 mit Herzogin Do-            mundane abbey of Gandersheim by countess                 evangelische Reichsstift bis zu seiner Auf-
                                                Anna Erica of Waldeck, the first protestant ab-          hebung im Jahre 1810. S. 132–145. Zu Ros-
rothea Augusta von Braunschweig-                                                                         witha vgl. Reinhard Düchting: Hrotsvit. In:
                                                bess, and her successor, duchess Dorothea Au-
Wolfenbüttel, ihrer „Coadjutrix“ (und           gusta of Brunswick and Wolfenbüttel. After a             Lexikon des Mittelalters. Bd. 5. München/
damit späteren Nachfolgerin), gemein-           heavy fire had completely destroyed the former           Zürich 1991, Sp. 148–150.
                                                                                                     4   Vgl. Kurt Kronenberg: Eine bedeutende
schaftlich genutzt wurde. Die großzü-           abbey house in 1597, a representative new buil-
                                                                                                         Frau aus dem Hause Waldeck. In: Walde-
                                                ding was erected in late renaissance style
gig ausgestattete Apotheke war nach                                                                      ckischer Landeskalender 1970, S. 51–56;
                                                through the initiative of abbess Anna Erica. It
dem großen Stadtbrand von 1597 im               was supplied with a large and well-equipped              Kurt Kronenberg: Anna Erika. Die 37. Äb-
                                                                                                         tissin 1589–1611. In: Ders.: Die Äbtissinnen
neu errichteten Stiftsgebäude unterge-          dispensary as well as a distillery. The rich faci-
                                                                                                         des Reichstiftes Gandersheim. Bad Gan-
bracht, zusammen mit einem als „Des- lities, vessels and drugs are documented in An-                     dersheim 1981, S. 108–111; Axel C. Kronen-
                                                na Erica’s last will and described here in detail.
tillierhäuslein“ bezeichneten Raum, in                                                                   berg: Gräfin Anna Erika von Waldeck. Die

34 | Geschichte der Pharmazie | 72. Jahrgang | August 2020 | Nr.3
                                                  https://doi.org/10.24355/dbbs.084-202103301355-0
Eine fürstliche Gemein-schaftsapotheke im kaiserlichen Stift Gandersheim im 17. Jahrhundert - Digitale Bibliothek Der ...
Geschichte der Pharmazie

     erste protestantische Äbtissin. 1611 – Vor             und Äbtissin des Stifts Gandersheim – Ein       42 Vgl. Wacker [wie Anm. 1], S. 278–282.
     400 Jahren stirbt Äbtissin Anna Erika. In:             Beitrag zur Lebenswelt geistlicher Frauen       43 Es handelt sich um: Oswald Gabelkover:
     Kurzeitung Bad Gandersheim, Ausgabe 2,                 im späten Reformationszeitalter. In: Ge-           Artzneybuch. Tübingen 1589.
     2004, S. 10f.                                          schichtsblätter für Waldeck 108 (2020), im      44 Vgl. Britta-Juliane Kruse: Verborgene Heil-
5     Vgl. Goetting [wie Anm. 3], S. 56.                    Druck.                                             künste. Geschichte der Frauenmedizin im
6     Jacob Christoph Carl Hoffmeister: Histo-         25   HStAM, Bestand 115/01, Nr. 1073. Testa-            Spätmittelalter (Quellen und Forschungen
     risch-genealogisches Handbuch über alle                ment und Nachlass der Gräfin Anna Erika,           zur Literatur- und Kulturgeschichte; 5
     Grafen und Fürsten von Waldeck und Pyr-                Fol. 29r.                                          [239]). Berlin/New York 1996 u. dies.: „Die
     mont seit 1228. Cassel 1883, S. 46–49.            26   Cordtmann oder Curdtmann ist von 1619–             Arznei ist Goldes wert.“ Mittelalterliche
7     Vgl. Hoffmeister [wie Anm. 6], S. 47.                 1626 in Osterode nachweisbar, wo er am             Frauenrezepte. Berlin/New York 1999.
8     Die Grenzen zwischen Naschwerk und                    4.9.1626 bestattet wurde; vgl. Hans Volz:       45 HStAM, Bestand 115/1, Nr. 1037, Korres-
     Heilmittel waren im 16. und 17. Jahrhun-               Die Ratsapotheke in Osterode am Harz. Os-          pondenz des Grafen Wolrad II. zu Waldeck,
     dert noch fließend; beides galt als „Confect“          terode 1983. (5. Sonderheft der Heimatblät-        Buchstabe A–D; Briefe J. Dryanders 1547–
     auf Zuckerbasis; vgl. Wacker [wie Anm. 1],             ter für den süd-westlichen Harzrand), S.           1551.
     S. 35f.                                                129. Den Hinweis auf diese Arbeit verdan-       46 HStAM, Bestand 115/1, Nr. 1073, Fol. 15v
9     Vgl. Ursula Steinkamp: Zur Geschichte des             ken wir Herrn Axel Wellner, Ebergötzen.            und 16r sowie Fol. 9v bis 10v, ferner auf
     Apothekenwesens in den Grafschaften und           27   HStAM, Bestand 115/01, Nr. 1073. Testa-            Fol. 15v erwähnt die „opera Rosuite illust-
     dem späteren Fürstentum Waldeck und                    ment und Nachlass der Gräfin Anna Erika,           ris Virginis“. Die Zusammenstellung an
     ­P ymont von den Anfängen bis zur Gegen-               Fol. 25v.                                          medizinischen Büchern entspricht ihrer
     wart. Nat. wiss. Diss. Marburg 1980.              28   HStAM, Bestand 115/01, Nr. 1074, Rech-             Verbreitung an geistlichen und weltlichen
10    Vgl. Teresa Schröder: Zwischen Chorge-                nungen von 1603–1607.                              Höfen; vgl. Birgit Zimmermann: Das Haus-
      sang und Kartenspiel. Lebensführung und          29   HStAM, Best. 115/1074, Rechnungen Grä-             arzneibuch. Ein Beitrag zur Untersuchung
      Herrschaftspraxis in Kloster und Stift. In:           fin Anna Erikas, Faszikel Apothekenrech-           laienmedizinischer Fachliteratur des 16.
      Veronika Čapská/Ellinor Forster/Janine                nungen.                                            Jahrhunderts unter besonderer Berücksich-
      Christina Maegraith/Christine Schneider          30   Vgl. Hieronymus Brunschwig: „Liber de              tigung ihres humanmedizinischen-phar-
      (Hrsg.): Between Revival and Uncertainty.             arte Distillandi de Compositis […]“. Straß-        mazeutischen Inhalts. Nat. wiss. Diss.,
      Monastic and Secular Female Communities               burg 1512, hier Cap. XI, S. CCXXIIII.              Marburg 1975, ferner Joachim Telle: Wis-
      in Central Europe in the Long Eighteenth         31   Vgl. Wacker [wie Anm. 1], S. 237-244, 328f.        senschaft und Öffentlichkeit im Spiegel
      Century. Opava 2012, S. 267–295 sowie zur        32   So befasste sich auch die hessische Land-          deutscher Arzneibuchliteratur. Zum
      Bedeutung und historischen Situation der              gräfin Sabine, Mutter des Landgrafen Mo-           deutsch-lateinischen Sprachenstreit in der
      Fürstäbtissinnen Teresa Schröder-Stapper:             ritz des Gelehrten von Hessen, mit der Her-        Medizin des 16. und 17. Jahrhunderts. In:
      Fürstäbtissinnen. Frühneuzeitliche Stifts-            stellung von Arzneien und Konfekten in             Medizinhistorisches Journal 14 (1979), S.
      herrschaften zwischen Verwandtschaft, Lo-             ihrer Kasseler Schloss-Apotheke; vgl. Irm-         32–52, hier S. 34f., ferner Misia Sophia
      kalgewalten und Reichsverband. Köln/Wei-              gard Dübber: Zur Geschichte des Medizi-            Doms: „Alkühmisten“ und „Decoctores“ –
      mar/Wien 2015.                                        nal- und Apothekenwesens in Hessen-Kas-            Grimmelshausen und die Medizin seiner
11    Vgl. Kronenberg [wie Anm. 4], S. 52.                  sel und Hessen-Marburg von den Anfängen            Zeit. (Beihefte zu Simpliciana; 3). Bern u. a.
12    Vgl. Goetting, [wie Anm. 3], S. 347; Nieder-          bis zum Dreißigjährigen Krieg. Nat. wiss.          2006, S. 12, sowie ausführlich Melanie
     sächsisches Landesarchiv Wolfenbüttel                  Diss. Marburg 1969; Sabine Salloch: Das            Panse: Hans von Gersdorffs „Feldbuch der
     (NLA WO), Urk. 6 Nr. 992.                              hessische Medizinalwesen unter den Land-           Wundarznei“. Produktion, Präsentation
13    NLA WO, Urk 6 Nr. 1008, Bericht des No-               grafen Wilhelm IV. und Moritz dem Gelehr-          und Rezeption von Wissen. (Trierer Beiträ-
      tars Abel Cramer vom 14.11.1611.                      ten. Die Rolle der fürstlichen Leibärzte.          ge zu den historischen Kulturwissenschaf-
14    Vgl. Wacker [wie Anm. 1], S. 312.                     Med. Diss. Marburg 2006; Jochen Ebert:             ten; 7). Wiesbaden 2012, hier S. 178–197.
15    Vgl. Wacker [wie Anm. 1], S. 134, FN 200.             Die Konsolidierung der fürstlichen Finan-       47 Eine detaillierte Darstellung der Bücher-
16    Vgl. Wacker [wie Anm. 1], S. 316f. .                  zen unter Landgraf Wilhelm IV. In: Zeit-           sammlung der Äbtissin ist in Vorbereitung;
17    Vgl. Wacker [wie Anm. 1], S. 314. Genauere            schrift für hessische Geschichte und Lan-          vgl. Gerhard Aumüller/Jürgen Wolf: Von
      Angaben zum historischen Arzneischatz                 deskunde 123 (2018), S. 6–30, hier S. 10f.         Dietrichepik bis Trojaroman. Die Bücher-
      vgl. Johann Schröder: Trefflich versehene        33   Vgl. Wacker [wie Anm. 1], S. 243.                  sammlung der Gräfin Anna Erica von Wal-
      Medicin-Chymische Apotheke Oder:                 34   Vgl. Wacker [wie Anm. 1], S. 139–141 mit           deck als Schlüssel zur mittelalterlichen
      Höchstkostbarer Arzeney-Schatz. Jena                  FN 237.                                            Buchgeschichte eines Grafenhauses? In:
      1685 (1. Ausgabe der Übersetzung).               35   Vgl. Wacker [wie Anm. 1], S. 246.                  Zeitschrift für deutsches Altertum und
18    Vgl. Wacker [wie Anm. 1], S. 205 f.              36   Vgl. Wacker [wie Anm. 1], S. 215.                  deutsche Literatur 150 (2021, zum Druck
19    Vgl. Wacker [wie Anm. 1], S. 185.                37   Vgl. Wacker [wie Anm. 1], S. 187; Zibeth ist       angenommen).
20    Vgl. Wacker [wie Anm. 1], S. 256.                     das intensiv riechende Sekret der Perianal-     48 HStAM, Bestand 115/01, Nr. 1073 Testa-
21    Vgl. Wacker [wie Anm. 1], S. 266. Die letzt-          drüsen der Zibethkatze.                            ment und Nachlass der Gräfin Anna Erika,
      genannten Mittel wurden der sog. Drecka-         38   Vgl. Wacker [wie Anm. 1], S. 85.                   Fol. 11v. Von den im Inventar aufgelisteten
      potheke zugerechnet, vgl. Christian Franz        39   Vgl. Wacker [wie Anm. 1], S. 200.                  Gegenständen und Büchern der Äbtissin
      Paullini: Heylsame Dreck=Apotheke.               40   HStAM, Bestand 115/1, Nr. 1073, Fol. 12r:          hat sich nichts erhalten.
      Frankfurt/Main 1696 (1. Ausgabe).                     Im Schrank der Schlafkammer befand sich:
22    Vgl. Wacker [wie Anm. 1], S. 118.                     „Ein bunt Cantorschechtlichen, mit funff
                                                                                                            Adresse der Autoren:
23    Vgl. Wacker [wie Anm. 1], S. 309, 325, 327.           schichten, In dem einen ein gurtel, mit
24    Hessisches Staatsarchiv Marburg (künftig              schwartzen steinen vnnd Perlen, Im An-          Prof. a.D. Dr. Gerhard Aumüller
      HStAM), Bestand 115/01, Nr. 1073. Testa-              dern vnd Dritten Pomamberken [sic!], Im         c/o Emil-von-Behring-Bibliothek
      ment und Nachlass der Gräfin Anna Erika.              Vierdten ein Einhorn […]“.                      Arbeitsstelle für Geschichte der Medizin
      Eine vollständige Transkription dieses Ar-       41   Vgl. hierzu Renate Smollich: Der Bisamap-       Bahnhofstraße 7
      chivales bietet die Parallelpublikation Ger-          fel in Kunst und Wissenschaft. (Quellen         35032 Marburg
      hard Aumüller und Wiebke Kloth: Die Tes-              und Studien zur Geschichte der Pharmazie;
      tamente und Nachlässe der Waldecker Grä-              21). Stuttgart 1983, s. https://de.wikipedia.   Wiebke Kloth
      finnen Catharina, Äbtissin des Stifts                 org/wiki/Bisamapfel, (letzter Aufruf            Heinrich-Kremp-Straße 7
      Schaaken, und Anna Erica, Reichsfürstin               12.02.2020).                                    38350 Helmstedt

                                                                                             Nr.3 | August 2020 | 72. Jahrgang | Geschichte der Pharmazie |   35
                                                     https://doi.org/10.24355/dbbs.084-202103301355-0
Eine fürstliche Gemein-schaftsapotheke im kaiserlichen Stift Gandersheim im 17. Jahrhundert - Digitale Bibliothek Der ...
Geschichte der Pharmazie

Apotheker als Politiker in der Frankfurter
Nationalversammlung 1848/49
Christiane Staiger | Während die Betä-               konnten zahlreiche – überwiegend                verhandelte – gewissermaßen als Vor-
tigung von Apothekern als Musiker1                   bislang unbekannte Apotheker – als              bote des späteren Deutschen Reiches –
oder Autoren2 gut bekannt ist, blie-                 parlamentarisch aktiv identifiziert             über die Gründung eines deutschen
ben Untersuchungen zu deren En-                      werden. Hier werden die Ergebnisse              Nationalstaates.10 Abgeordnete ähnli-
gagement als Politiker auf nationa-                  für die Frankfurter Nationalversamm-            cher politischer Gesinnung kamen in
ler Ebene in Deutschland bislang                     lung 1848/49 vorgestellt, weitere Aus-          Klubs zusammen, die als Vorformen
ein Desiderat. Dank der zunehmen-                    wertungen sind in Bearbeitung.6                 parlamentarischer Fraktionen gelten.
den Digitalisierung von Quellen                                                                      Die Debatten in den Ausschüssen und
können Online-Datenbanken helfen,                                                                    im Plenum erwiesen sich als langwie-
diesbezügliche Forschungslücken
                                                     Methode                                         rig, der Entscheidungsprozess nahm
zu schließen.                                        Die systematische Durchsicht der On-            mehrere Monate in Anspruch. Im De-
                                                     line-Datenbank BIORAB-FRANK-                    zember 1848 verabschiedete die Natio-
Apotheker haben sich auf regionaler                  FURT7 erfolgte mit den Suchbegriffen            nalversammlung das „Reichsgesetz
und nationaler Ebene auch als Politi-                „apoth*“, „pharma*“, „arznei*“. Durch           betreffend die Grundrechte des deut-
ker betätigt, jedoch ist dieses gemein-              die Trunkierung in Kombination mit              schen Volkes“, mit dem erstmals Men-
nützige Engagement bislang systema-                  Asterisk konnten verschiedene                   schen- und Bürgerrechte in Deutsch-
tisch wenig untersucht.3 Geringe Er-                 Schreibweisen in der Suche erfasst              land Gesetzeskraft erlangten. Im März
kenntnisse gibt es insbesondere für                  werden.8 Es erfolgte eine Nachbearbei-          1849 einigte sich eine liberale Mehr-
deren Wirken auf nationaler Ebene. So                tung der Fundstellen; so wurden fal-            heit auf die sogenannte Paulskirchen-
resümiert Christoph Friedrich: „Wäh-                 sche Funde, zum Beispiel „Vaterberuf            verfassung. Sie beinhaltete eine
rend zahlreiche Apotheker sich seit                  Apotheker“, aussortiert. Ausgehend              „kleindeutsche Lösung“, den föderalen
dem ausgehenden Mittelalter in der                   von den Einträgen in der BIORAB-Da-             deutschen Einheitsstaat mit konstitu-
Kommunalpolitik betätigten, begegnet                 tenbank konnten weitere biografische            tioneller Monarchie, dem mit Ausnah-
man in der ‚großen‘ Politik nur selten               Angaben zu den Personen und den                 me des Kaisertums Österreich alle
Angehörigen unseres Berufes“.4 Inwie-                Schwerpunkten ihrer politischen Ar-             Staaten des Deutschen Bundes ange-
weit das Wirken von Apothekern in                    beit mit klassischen historischen Re-           hörten. Die Verfassung wurde zwar
der „großen Politik“ jedoch tatsächlich              cherchen zusammengetragen werden.               von 28 deutschen Staaten anerkannt,
eine Ausnahme darstellt, soll nachfol-               Die Ermittlung erfolgte durch Anfra-            scheiterte jedoch am Veto der Groß-
gend untersucht werden.                              gen bei Behörden und Archiven, aber             mächte Preußen und Österreich, die
Sofern man als „große Politik“ die Tä-               insbesondere auch durch die Nutzung             durch die Konterrevolution erstarkt
tigkeit auf nationaler Ebene definiert,              weiterer digitaler Quellen, wie z. B. di-       waren. Als König Friedrich Wilhelm
können Online-Datenbanken als nütz-                  gitalisierten Büchern und Texten.               IV. am 3. April 1849 die ihm angebote-
liche Quelle dienen. Das Portal BIO-                 Drei Abgeordnete der Frankfurter Na-            ne Kaiserkrone ablehnte, waren die
PARL stellt im Internet Recherchemög-                tionalversammlung konnten dem Be-               Revolution von 1848/49 und die Natio-
lichkeiten zu Biographien deutscher                  rufsstand zugeordnet werden: Adolph             nalversammlung praktisch geschei-
Parlamentarier von 1848 bis heute zur                August Hirschberg (1804–1885), Fried-           tert. Das schnell an Rückhalt verlie-
Verfügung. Das Projekt des Kölner                    rich Wilhelm Schlöffel (1800–1870)              rende Parlament löste sich Ende Mai
Zentrums für Historische Sozialfor-                  und Eduard Vogel (1806–1868). Bis-              1849 selbst auf.
schung führt Datenbestände aus ver-                  lang war von ihnen nur Hirschberg als
schiedenen, insbesondere am Zentrum                  Apotheker in der Frankfurter Natio-
für Historische Sozialforschung bear-                nalversammlung bekannt.9
                                                                                                     Adolph August Hirschberg
beiteten, kollektiv-biografischen Pro-                                                               Adolph August Hirschberg wurde am
jekten zusammen.5 In acht Datenban-                                                                  10.7.180411 in der Freien und Hanse-
                                                     Die Frankfurter National­
ken liegen biografische Informationen                                                                stadt Hamburg als August Michel
zu Parlamentariern der deutschen
                                                     versammlung 1848/49                             Hirsch geboren;12 sein Vater war der
Reichs- und Landtage, des Deutschen                  In der Frankfurter Paulskirche tagte            jüdische Kaufmann David Michael
Bundestages und der 10. DDR-Volks-                   von Mai 1848 bis Mai 1849 erstmals              Hirschberg.13 August besuchte das
kammer vor. In diesen Datenbanken                    ein gesamtdeutsches Parlament und               Gymnasium „Johanneum“ in Ham-

36 | Geschichte der Pharmazie | 72. Jahrgang | August 2020 | Nr.3
                                                  https://doi.org/10.24355/dbbs.084-202103301355-0
Eine fürstliche Gemein-schaftsapotheke im kaiserlichen Stift Gandersheim im 17. Jahrhundert - Digitale Bibliothek Der ...
Geschichte der Pharmazie

burg14 und absolvierte eine Apotheker-      Die politische Tätigkeit war ebenfalls           im Jahre 1819 Gehülfe, absolvierte den
lehre.15 Von 1839 bis 1854 war er Hof-      breit gefächert.25 Hirschberg war von            praktischen Kursus, sowie meinen
apotheker in Sondershausen (Thürin-         1843 bis 1848 Mitglied des Schwarz-              einjährigen Militärdienst und erhielt,
gen),16 ab 1854 Ministerialreferent für     burg-Sondershäuser Landtages und                 nachdem ich in Berlin ein Jahr Colle-
das gesamte Apothekerwesen im Fürs-         wirkte dort 1847/48 als Landtagsvize-            gia gehört und das Staats-Examen ge-
tentum Schwarzburg-Sondershausen17          präsident; 1848 stieg er zum Landtags-           macht hatte, die Approbation als Apo-
und leitete in dieser Eigenschaft auch      präsidenten auf.26 1848 trat er als Geg-         theker für eine große Stadt, mit der
die Revision der Apotheken. Nach            ner der direkten Wahl der Landtagsab-            Berechtigung zur Erwerbung einer
1839 gehörte Hirschberg auch der Prü-       geordneten auf.27 Vom 24.11.1848 bis             Apotheken-Concession innerhalb des
fungskommission für Apothekerlehr-          30.5.1849 vertrat er den Wahlkreis               Staates. Im Jahr 1823 wurde es mir
linge in Sondershausen an.18 Ab 1854        Schwarzburg-Sondershausen in der                 möglich, Eine [sic!] der beiden Apothe-
vertrat er als Versicherungsagent ver-      Frankfurter Nationalversammlung                  ken in Landeshut zu kaufen“.35
schiedene Versicherungsgesellschaf-         und gehörte der Fraktion „Württem-               Dort begann er auch sein Engagement
ten, so die Feuerversicherungsgesell-       berger Hof“ an.28 Diese vertrat Ziele            in der politischen Linken, zunächst
schaft Colonia, die Kurhessische All-       der linken Mitte29 und versammelte               als Stadtverordneter.36 Nach dem Ver-
gemeine Hagel-Versicherungsgesell-          sich im gleichnamigen Gasthaus in                kauf der Apotheke im Jahr 183137 bau-
schaft, die Concordia Cölnische             der Frankfurter Altstadt.30 In der Ab-           te er eine Patent-Maschinen-Papierfab-
Lebensversicherungsgesellschaft und         stimmung über die Paulskirchenver-               rik „auf dem platten Lande“,38 in Eich-
ab 1864 auch die Preußische Renten-         fassung wählte er Friedrich Wilhelm              berg bei Hirschberg auf, dessen Teil-
versicherungs-Anstalt in Sondershau-        IV. zum Kaiser der Deutschen31 und               haber und Leiter er 1837 bis 1846
sen. 1857 wurde er Kommissionsrat.19        sprach sich gegen die Verlegung der              war.39 Er engagierte sich in diesen Jah-
Hirschberg konvertierte vom jüdi-           Nationalversammlung nach Stuttgart               ren durch Eingaben und Petitionen
schen zum evangelisch-lutherischen          aus. 1874 erhielt er die Fürstliche Ver-         „für die Interessen bürgerlicher Ge-
Glauben und heiratete am 9.11.1839          dienstmedaille für Kunst und Wissen-             werbetreibender gegenüber den adeli-
Mathilde Henriette Wilm (30.3.1809          schaft.32 Er starb am 6.3.1885 in Son-           gen Grund- und Gerichtsherren eben-
Hamburg – 30.8.1843 Sondershausen)          dershausen.33                                    so wie für die verarmten Weber und
in St. Petri in Hamburg. Nach dem Tod                                                        Spinner in Schlesien. Im März 1845
seiner ersten Ehefrau heiratete Hirsch-                                                      als führendes Mitglied des Hirschber-
berg am 14.10.1845 in Sondershausen
                                            Friedrich Wilhelm Schlöffel                      ger Bürgervereins der Beteiligung an
deren Schwester Wilhelmine Auguste          Friedrich Wilhelm Schlöffel (Abb. 1)             der sog[enannten] Warmbrunner Ver-
Wilm (23.7.1818 Hamburg – 4.10.1872         wurde am 24. Juli
Sondershausen).20                           1800 in Brieg
Hirschberg betätigte sich außeror-          (Schlesien) als
dentlich vielfältig in seiner Gemeinde      Sohn des Hutma-
Sondershausen, aber auch überregio-         chermeisters Jo-
nal. 1837 war er Mitbegründer und           hann Heinrich
Vorsitzender des örtlichen Gewerbe-         Schlöffel gebo-
vereins, in dem er vielfältiges En-         ren.34 Seinen
gagement zeigte.21 Weitere Mitglied-        pharmazeutischen
schaften umfassen den Altertumsver-         Werdegang be-
ein,22 den „Freymaurer-Clubb“, das          schreibt er selbst
Freimaurer-Kränzchen, die Gesell-           so: „Bis zu mei-
schaft für Naturwissenschaften Thü-         nem fünfzehnten
ringens und die Gesellschaft für Er-        Jahre besuchte ich
holung. Im Verein zur Beförderung           das dortige Gym-
der Landwirtschaft war Hirschberg           nasium und er-
darüber hinaus auch zeitweilig als          lernte sodann die
Vorstandsmitglied (1871) und Sekre-         Apothekerkunst
tär (1882) tätig. Der Botanische Ver-       bei [...] Apotheker
ein für Nordthüringen „Irmisc­h ia“         Menzel in Falken-
verlieh ihm die Ehrenmitglied-              berg, einem prak-
schaft.23 Im Adressbuch von Sonders-        tisch erfahrenen,
hausen des Jahres 1882 ist der Ein-         wissenschaftlich
trag: „Hirschberg, August, Commissi-        gebildeten Manne.
onsrath, Bebrastraße 19“ nachweis-          Nach bestandener
bar.24                                      Prüfung ward ich    Abb. 1: Friedrich Wilhelm Schlöffel (1800–1870).

                                                                             Nr.3 | August 2020 | 72. Jahrgang | Geschichte der Pharmazie |   37
                                          https://doi.org/10.24355/dbbs.084-202103301355-0
Eine fürstliche Gemein-schaftsapotheke im kaiserlichen Stift Gandersheim im 17. Jahrhundert - Digitale Bibliothek Der ...
Geschichte der Pharmazie

                                                                           das Schwurge-             ten die Stadtverordneten am 6. August
                                                                           richt in Zweibrü-         [1846] mit 12 von 16 Stimmen den frü-
                                                                           cken in Abwesen-          heren Apotheker Vogel aus Pleß in das
                                                                           heit wegen Hoch-          mit 500 Taler ausgeschriebene Amt“.54
                                                                           verrats zum Tode          Ein weiterer Eintrag berichtet von den
                                                                           verurteilt worden,        mit dem Amte einhergehenden Reprä-
                                                                           kehrte aber nach          sentationspflichten: „Als am 12. No-
                                                                           der Amnestie              vember [1858] König Wilhelm [I.] in
                                                                           186648 noch im            Breslau weilte, und ihm die von den
                                                                           selben Jahr aus           schlesischen Städten gewidmete Krö-
                                                                           den USA nach              nungsgabe, 55.000 Taler zur Anschaf-
                                                                           Goldberg zu-              fung eines Kanonenbootes, überreicht
                                                                           rück.49 Schlöffel         wurde, war die Stadt Waldenburg da-
                                                                           blieb seinen poli-        bei durch Bürgermeister Vogel und
                                                                           tischen Idealen           den Stadtverordnetenvorsteher, Kom-
                                                                           zeitlebens treu; er       merzienrat Tielsch, vertreten“.55
                                                                           starb am                  Vom Engagement, aber auch der Ar-
                                                                           23.1.1870 in Gold-        beitsüberlastung des Bürgermeisters
                                                                           berg (Schlesien).50       zeugen weitere Einträge: „Mit Geneh-
                                                                                                     migung des Ministeriums wurde […]
                                                                                                     ein neues Regulativ zur Erhebung
                                                                           Eduard Vogel              einer Kommunal-Einkommensteuer
                                                                          Edward (Eduard)            getroffen, dessen Einführung 1861 er-
                                                                          Fridrich Ernest            folgen sollte. Die umfangreichen Ar-
    Abb. 2: Schlöffel vertrat den schlesischen Wahlkreis Hirschberg.      Vogel war eben-            beiten, die damit sowie mit den gleich-
                                                                          falls Schlesier. Er        zeitig in Angriff genommenen Ver-
                                                                          wurde am 16. Fe-           handlungen über die bessere Wasser-
schwörung beschuldigt, wurde er bis              bruar 1806 in Pleß (Schlesien) geboren              versorgung der Stadt verbunden
Juli 1845 inhaftiert und im Jan[uar]             und folgte seinem Vater Ernesth Gre-                waren, machten es erklärlich, daß der
1846 freigesprochen“.40                          gor Vogel im Apothekerberuf.51 Über                 sehr fleißige Bürgermeister Vogel
1846 kaufte Schlöffel die Rittergüter            den pharmazeutischen Werdegang von                  neue Arbeiten nicht übernehmen woll-
Birkowitz und Halbendorf im Kreis                Eduard ist auf Grund der Quellenlage                te und auf die Verfügung der Regie-
Oppeln. Er verfasste mehrere Schrif-
         41
                                                 bislang nur wenig bekannt.52 Er war                 rung für bessere Aufbewahrung der
ten, in denen er seine politische Posi-          zunächst als Apotheker in Pleß tätig,               für die Geschichte der Stadt wichtigen
tion gegen die Vorrechte des Adels               wurde dann Bürgermeister in Walden-                 Urkunden sowie für die Fortführung
klar zum Ausdruck brachte.42                     burg (Schlesien) (Abb. 4).53 Die Stadt-             der Stadtchronik in seinem Antwort-
In der Paulskirche repräsentierte er             chronik erwähnt die Wahl: „[…] wähl-                schreiben ziemlich unwirsch berichte-
vom 19.5.1848 bis zum 30.5.1849 den
Wahlkreis „6 Provinz Schlesien
(Hirschberg)“43 und die äußere politi-
sche Linke (Abb. 2). Er schloss sich zu-
nächst der Fraktion „Deutscher Hof“,
dann „Donnersberg“ sowie „Märzver-
ein“ an44 (Abb. 3) und brachte als ers-
ter die sogenannte soziale Frage zur
Sprache.45 Ab Mai 1849 nahm Schlöf-
fel am badisch-pfälzischen Aufstand
teil und flüchtete nach dessen Nieder-
schlagung im November in die
Schweiz. Von dort 1850 wegen politi-
scher Gefährlichkeit ausgewiesen,
emigrierte er in die USA und war bis
1866 Gastwirt in Philadelphia.46
Schlöffel blieb weiterhin publizistisch
aktiv und es erschienen mehrere wei-
tere Schriften.47 Er war 1851 durch                  Abb. 3: Schlöffel (sitzend, 2. v. links) im Kreise seiner Fraktionskollegen der Linken.

38 | Geschichte der Pharmazie | 72. Jahrgang | August 2020 | Nr.3
                                                  https://doi.org/10.24355/dbbs.084-202103301355-0
Geschichte der Pharmazie

                                                                                               net sind. Ehre dem Andenken des um
                                                                                               Waldenburg wohlverdienten Man-
                                                                                               nes“.59

                                                                                               Politische Arbeit
                                                                                               Die politische Arbeit der drei vorge-
                                                                                               nannten Apotheker in der Frankfurter
                                                                                               Nationalversammlung ist ebenfalls
                                                                                               durch digitale Quellen gut nachvoll-
                                                                                               ziehbar.60 Die stenographischen Be-
                                                                                               richte über die Verhandlungen ermög-
                                                                                               lichen, ihr Abstimmungsverhalten zu
                                                                                               jedem Antrag nachzuvollziehen. Eben-
                                                                                               so sind die von ihnen gestellten Anträ-
                                                                                               ge und Petitionen und – sofern dies er-
   Abb. 4: Stadtansicht von Waldenburg um 1850.                                                folgte – deren Verweis an einen Aus-
                                                                                               schuss auffindbar. Bewertend lässt
                                                                                               sich zusammenfassen, dass die drei
te, die Chronik sei bis 1847 fortge-          seiner Rechtfertigung eine längere Er-           Apotheker die auf Grund ihrer jeweili-
führt, und er werde sie fortsetzen, so-       klärung verlas, mußte er erleben, daß            gen Fraktionszugehörigkeit zu erwar-
bald er Zeit habe“.56                         in derselben Sitzung sein Hauptgeg-              tenden Positionen vertreten haben.
Vogel engagierte sich jedoch nicht nur        ner zum Vorsitzenden der wichtigsten             Friedrich Wilhelm Schlöffel war dabei
auf kommunaler, sondern auch auf na-          Kommission gewählt wurde und dann                ein auffälliger Diskutant und vertrat
tionaler Ebene in der Politik. Er ver-        […] den persönlichen Kampf gegen ihn             seine politische Position der äußeren
trat vom 27.5. bis 13.10.1848 den             aufnahm. Alles dies erschütterte die             Linken nachdrücklich. Mehrere Ord-
Wahlkreis „23 Provinz Schlesien (Wal-         Gesundheit des schwer gekränkten                 nungsrufe sind aktenkundig.61 So
denburg)“ in der Frankfurter National-        Mannes. Zu seiner Wiederherstellung              wurde er auch als „Hyäna Parlamenta-
versammlung57 und gehörte der Frak-           nahm er Urlaub und bat, da die Bade-             ris“ karikiert (Abb. 5), indes mit dem
tion der Linken „Deutscher Hof“58 an.         kur nicht den gewünschten Erfolg hat-            augenzwinkernden Zusatz „unschäd-
Das Amt des Bürgermeisters in Wal-            te, um seine Pen-
denburg übte er bis 1868 weiter aus,          sionierung. Diese
jedoch endete seine kommunalpoliti-           wurde […] be-
sche Karriere bitter: „Es ist ja nicht zu     schlossen, […] und
leugnen, dass der hochverdiente Be-           ihm die bisher in-
amte, der längere Jahre im wesentli-          negehabte Woh-
chen allein den ganzen Apparat der            nung im Rathause
städtischen Verwaltung geleitet und,          gekündigt. Doch
wie die unbefangene Forschung her-            noch ehe er diese
vorheben muß, mit nimmermüdem Ar-             räumen musste,
beitseifer, ungemeiner Energie und            starb Bürgermeis-
großer Sachkenntnis zum Wohle der             ter Vogel am
Stadt gewirkt hatte, gerade dadurch           6. September
eine etwas autokratische Art ange-            [1868] nach
nommen und im Verkehr mit den Ma-             22-jähriger
gistratualen wie auch den Stadtverord-        Dienstzeit am
neten infolge steigender Verbitterung         Schlage, seine Fa-
bisweilen die urbane und gewinnende           milie in dürftigen
Freundlichkeit und Klugheit hatte ver-        Umständen zu-
missen lassen und so seinen Gegnern           rücklassend. […]
Waffen in die Hand gab, die diese mit         Es ist kein Ruh-
undankbarer Rücksichtslosigkeit ge-           mesblatt unserer
gen ihn gebrauchten. Seine Bemühun-           städtischen Ge-
gen, den Streit beizulegen, scheiterten,      schichte, auf dem
und als er in der Stadtverordneten-           diese letzten         Abb. 5: Karikatur zu Schlöffels Diskussionsstil: „Hyäna Parla-
Versammlung vom 17. Januar 1868 zu            Kämpfe verzeich-      mentaris (unschädlich)“.

                                                                               Nr.3 | August 2020 | 72. Jahrgang | Geschichte der Pharmazie |   39
                                            https://doi.org/10.24355/dbbs.084-202103301355-0
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