Eine fürstliche Gemein-schaftsapotheke im kaiserlichen Stift Gandersheim im 17. Jahrhundert - Digitale Bibliothek Der ...
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ISSN 0939 - 334X | 72. Jahrgang | August 2020 | 3 Geschichte der Pharmazie DAZ Beilage | Redaktion Prof. Dr. Wolf-Dieter Müller-Jahncke | Prof. Dr. Christoph Friedrich Eine fürstliche Gemein- EDITORIAL Leuchttürme schaftsapotheke im Frisch aus der Presse legen die Auto- ren Ernst Mutschler als Pharmako- kaiserlichen Stift Ganders- loge und Christoph Friedrich als Pharmaziehistoriker, beide ausgewie- sene Kenner ihres Faches, den bei heim im 17. Jahrhundert Hirzel in Stuttgart erschienenen Band vor, der durch den erhellenden Untertitel „Erfolgreiche Arzneimittel- forscher im 20. Jahrhundert“ die „Leuchttürme“ vor dem Missver- Gerhard Aumüller/Wiebke Kloth | Das im kaiserlich frei-weltlichen Stift Gan- ständnis schützt, es handle sich um Interesse hochadliger Personen, vor dersheim. Als liudolfinische Stiftung eine darstellende Sammlung solcher allem von Fürstinnen, an einer eige- im Jahr 852 gegründet, wurde das Bauwerke, die das Leben der Men- nen Schlossapotheke ist bekannt. Stift im 13. Jahrhundert Reichsabtei schen auf See retten können. Viel- Beispiele dafür sind die Herzogin und nannte sich daher bis zur Auflö- mehr handelt es sich um „Lebensbil- Anna von Sachsen, Landgräfin Sabi- sung 1810 kaiserlich frei-weltliches der“ oder „Miniaturen“, die seit der na von Hessen-Kassel, Herzogin Stift. Es gehörte damit zu den kleine- Antike von Sueton und in der christli- Hedwig von Braunschweig-Wolfen- ren dieser reichsweit nur zwölf vor- chen Tradition seit den Hagiographen büttel und andere mehr. In einigen handenen Einrichtungen, in denen die verfasst wurden. Solche „Lebensbil- Fällen existieren sogar umfangrei- unverheirateten Töchter hochadliger der“ gehen über nüchterne Biographi- chere Inventarverzeichnisse und Familien als Kanonissen ein gottgefäl- en hinaus, versuchen vielmehr, im Apothekerrechnungen oder Anga- liges Leben führten. An der Spitze des wahrsten Wortsinn das Bild eines ben zu den selbst hergestellten Pro- Stifts stand die Äbtissin im Range ei- Menschen nachzuzeichnen. Dazu dukten, so für den braunschweigi- ner Reichsfürstin, der die Dekanin werden auch persönliche Erinnerun- schen Hof in Wolfenbüttel. Hedwig oder Dekanissin durch die Übernahme gen, Briefe und Werke zu Rate gezo- (1540–1602),1 Ehefrau Herzogs Julius von Verwaltungsaufgaben zur Seite gen, wobei die wissenschaftliche Lite- ratur nicht außer Acht bleibt. Auch in von Braunschweig und Lüneburg, stand. Eine der bekanntesten Kanonis- der „Geschichte der Pharmazie“ fin- hatte im Wolfenbütteler Schloss eine sen war die um 973 im Stift wirkende den die Leser immer wieder solche – „Lazarett“ genannte – Apotheke Kanonisse Hrotswit/Roswitha von Studien, die nicht nur Apotheker, einrichten lassen, aus der sie nicht Gandersheim (um 935–nach 973), die sondern auch Literaten behandelten, nur die eigene Familie, sondern als als erste deutsche Dichterin gilt.3 die mit der Pharmazie in Berührung vorbildliche Landesmutter auch die kamen, wie beispielsweise Ernst Jün- Hofbediensteten und die Bevölke- ger. Doch widmet sich die „Geschich- Gräfin Anna Erica zu Waldeck, rung versorgen ließ.2 te“ auch anderen Themen, die Sie in Äbtissin in Gandersheim, dieser Ausgabe lesen können. Sie war gemeinsam mit ihrem Sohn, und ihre Coadjutrix, Herzogin Ob Buch oder Zeitschrift – ich wün- Herzog Heinrich Julius (1564–1613), Dorothea Augusta von sche Ihnen auch in einem heißen im Jahr 1601 ferner die treibende Braunschweig-Wolfenbüttel Sommer viel Erquickung beim Lesen Kraft bei der Investitur ihrer Tochter und Entdecken. Dorothea Augusta (1577–1625) als Ka- Anna Erica zu Waldeck (1551–1611) ist Ihr W.-D. Müller-Jahncke nonisse und Coadjutrix der Äbtissin als erste protestantische Äbtissin des Nr.3 | August 2020 | 72. Jahrgang | Geschichte der Pharmazie | 29 https://doi.org/10.24355/dbbs.084-202103301355-0
Geschichte der Pharmazie zog Heinrich Julius auf einem Landtag in Gandersheim mit der Äbtissin einen Vertrag aus, der die Ablösung sämtli- cher Schulden des Stifts und den Ein- tritt seiner Schwester Dorothea Augus- ta (1577–1625) als Kanonisse festlegte (Abb. 1).12 Bereits am 25. März 1601 wurde Dorothea Augusta mit großem Pomp als Kanonisse und Coadjutrix eingeführt.13 Ihre Mutter, Herzogin Hedwig, als ge- borene Markgräfin von Brandenburg standesbewusst und energisch, hatte an der südöstlichen Seite des Wolfen- bütteler Schlosses eine Apotheke ein- richten lassen, wo sich auch ihre eige- Abb. 1: Porträtdarstellungen der Äbtissinnen Anna Erica und Dorothea Augusta. ne Küche und ein als Destillierhäus- chen bezeichneter Raum befanden. Das Mobiliar bestand aus Schränken, Stifts Gandersheim in die braun- zimmer, ein Kinderzimmer, eine Bade- Wandgestellen für Flaschen und Glä- schweigische Landesgeschichte einge- stube und ein Gemach für den Doktor ser, Bänken sowie Tischen mit Alabas- gangen.4 Dabei wird ihre Loyalität ge- sowie eine kleine Apotheke. Gräfin terfläche.14 Um diese fürstliche Haus- genüber der letzten katholischen Äb- Anastasia Günthera betrieb, ähnlich apotheke kümmerte sich neben einer tissin, Margaretha von Chlum (vor wie ihre Mutter Katharina, geb. Gräfin Apothekerin,15 einer Hilfskraft, weite- 1531–1589), ebenso herausgestellt wie von Henneberg (1509–1567), dort in- ren Jungfern und später einem Apo- ihre Rolle bei der endgültigen Einfüh- tensiv die Zubereitung von Konfekt theker auch die Herzogin selbst.16 Un- rung der Reformation in Gandersheim bzw. Heilmitteln8 und versorgte damit abhängig von ihrer sozialen Schicht und ihre Durchsetzungskraft gegen- die eigene Familie, Dienerschaft und konnten hier Kranke um Medikamen- über Herzog Heinrich Julius bei der Verwandte. In der Stadt Korbach gab te bitten, die für Arme sogar entgelt- Erhaltung der Reichsunmittelbarkeit es einen Apotheker, der das Grafen- frei ausgegeben wurden. Die Ausga- des Stifts. Ein bleibendes Denkmal hat haus mit den notwendigen Ausgangs- ben für die Apotheke waren daher sie sich in dem eindrucksvollen Gan- substanzen belieferte.9 Im April 1570 nicht unerheblich. Mit dem Anspruch dersheimer Stiftsgebäude im Stil der verstarb Anastasia Günthera, und we- bester Qualitäten standen auf den Ein- Weserrenaissance gesetzt,5 dessen nige Jahre später (1575) trat Anna Eri- kaufslisten für die Messen in Ham- Bau sie nach dem großen Stadtbrand ca als protestantische Kanonissin in burg, Leipzig oder Frankfurt z. B. Pfef- von 1597 veranlasste. das damals noch katholisch geführte, fer, Kanarienzucker, Safran, in Salz Anna Erica wurde am 17. September „kaiserlich frei-weltliche Stift“ in Gan- oder Zucker eingelegte Limonen, Po- 1551 als viertes von insgesamt 13 Kin- dersheim ein. Bereits im Januar 1577 meranzen oder Ingwer.17 Auch wurden dern des gelehrten Grafen Wolrad II. wurde sie dort zur Dechantin und Parmesankäse, Rosinen, Galläpfel, Zi- zu Waldeck (1509–1578),6 der u. a. mit dann am 23. April 1589 zur ersten beben, Anis, Zimt, Datteln, Mandeln, Philipp Melanchthon und anderen protestantischen Äbtissin gewählt.10 verschiedene Wurzeln, Rinden, Baum- namhaften lutherischen Theologen Entgegen den Versuchen Herzogs öl, Opium, Silber und Gold im Gesamt- korrespondierte, und seiner Ehefrau Heinrich Julius von Braunschweig-Lü- wert von etwa 265 Gulden einge- Anastasia Günthera, geb. Gräfin von neburg, das Stift seiner Herrschaft kauft.18 Pflanzliche und tierische Be- Schwarzburg-Sondershausen-Arnstadt einzugliedern, verstand sie es mit dip- standteile wie Horn, Herzen und Fette (1525–1570), im Schloss zu Korbach lomatischem Geschick, den kaiserlich kamen aus der Region,19 ebenso Fuchs- geboren.7 Ihre Kindheit verbrachte sie frei-weltlichen Status und ihren Stand lunge20 oder Regenwurmöl.21 Von da- – die wie ihre gleichnamige Tante als Reichsfürstin zu sichern und den- her ist ein ärztlicher Rat zu verstehen, bald nur Anna „Erich“ genannt wurde noch ein vertrauensvolles persönli- kostbare und exotische Apothekerwa- – gemeinsam mit ihren überlebenden ches Verhältnis zum Herzogshaus auf- ren vor fremdem Zugriff zu sichern.22 vier Schwestern und beiden Brüdern zubauen, nicht zuletzt durch ihren en- Über den Bedarf ihrer unmittelbaren hauptsächlich in den Schlössern zu gen Kontakt zur Herzogsmutter Hed- Umgebung hinausgehend, versandte Korbach und auf dem nahen Eisen- wig.11 Herzogin Hedwig auch Arzneien und berg. Im Korbacher gräflichen Haus Anfang Mai 1600 besuchte Anna Erich pflegte auf diese Weise die Kontakte gab es neben den üblichen Räumen die ihr wohlgesonnene Hedwig, und mit anderen Fürstenhöfen.23 und Sälen auch ein eigenes Wochen- wenige Wochen später handelte Her- Die Einrichtung einer gemeinschaft- 30 | Geschichte der Pharmazie | 72. Jahrgang | August 2020 | Nr.3 https://doi.org/10.24355/dbbs.084-202103301355-0
Geschichte der Pharmazie lich von der Äbtissin und ihrer Coad- Gefachen und drei Repositorien sowie sen waren neun leer, die übrigen jutrix genutzten Apotheke auch im einem „Cronoment“ (Schrankaufsatz) enthielten Schwefel, Alaun, Diptam- Gandersheimer Stiftsgebäude ist nun mit neun Schubladen. Vor dem Apo- wurzel und rote Ochsenzunge. Nur im engen Zusammenhang mit einem thekenraum waren neun weitere Repo- neun von insgesamt 57 kleinen Büch- dramatischen Ereignis zu sehen, in sitorien aufgestellt. sen waren mit einfachen Arzneimit- dem sich Äbtissin Anna Erich bewäh- Einige Einrichtungsgegenstände hatte teln (Simplicia) gefüllt, darunter Wa- ren musste und das sie nur mit Hilfe man aus der Apotheke in den Speise- cholderbeeren, Kirsch- und Quitten- des Herzogshauses bewältigen konnte, saal („große Essstube“) verbracht. Da- kerne, Wegerichsamen, getrocknete das die Situation nutzte, um Dorothea zu gehörten blaue und weiße Steingut- Heidelbeeren, Veilchenwurzel, Terra Augusta als Coadjutrix und künftige becken, Näpfe, Konfektschalen und sigillata (Siegelerde) und anderes Nachfolgerin der Äbtissin zu installie- Kruken unterschiedlicher Größe, ver- mehr. Bemerkenswerterweise werden ren. schiedene Trink-„Geschirre“ in Tier- dort auch vier „messings laß becki- Während Anna Erica sich wegen eines form, 25 kleine Krüschen, d. h. Gefäße chen“, also Aderlassbecken, aufge- Trauerfalles bei ihren waldeckischen mit gewellter Öffnung, 18 kleine rote führt. Andere zeittypische Elemente Verwandten aufhielt, vernichtete am irdene Töpfe, Schüsseln und Näpfe. (wund-)ärztlicher Tätigkeit waren 17. Mai 1597 ein Brand große Teile der Außerdem befanden sich darunter ei- zwei „bade Köpffe“, demnach Schröpf- Stadt und nahezu das gesamte Stifts- ne eiserne Gewürzmühle, ein zerbro- köpfe, sowie drei „Matulae“ (darunter gebäude. chenes Serpentinfläschchen, eine eine ungewöhnlich aus Zinn bestehen- Holzbüchse mit Magnetsteinen, eine de), vorwiegend für die Harnschau neue Haue (Beil) aus Messing, fünf (Uroskopie) bestimmte Gefäße, die da- Die Apotheke im Stiftsneubau runde Milchfässer aus Steingut, ein rauf deuten, dass außer dem Apothe- Mit großem persönlichem Einsatz und Tintenfass aus Blei usw. sowie neben ker auch Wundärzte und akademisch unter Aufnahme hoher Schulden be- anderen Gegenständen auch „ein gebildete Ärzte konsultiert wurden. werkstelligte Anna „Erich“ – wie sie Hauffen gleser mit gebranten Waßern Die Apothekeneinrichtung hatte nach durchweg unterschrieb – den Neubau vnndt etzliche ledig. It[em] etzliche einer Angabe des Einbecker Apothe- des Stifts. Die Räumlichkeiten des im- blawe buchßen mit Conditen vnnd kers Franz Cordtmann,26 der die Stifts- posanten Gebäudes, das mit dem Wap- Confecten, Auch sonst Allerhandt ein- damen belieferte, ursprünglich in der pen der Äbtissin geschmückt ist (Abb. gemachte säffte […]“.25 herzoglichen Wilhelmsburg gestanden 2), lassen sich teilweise aus dem In- Laut Inventar gab es ferner verschie- und war von dem Göttinger Apotheker ventar erschließen, das nach dem Tod dene Behältnisse, darunter sieben Albert Hasenbein der Äbtissin und der Äbtissin am 15. Oktober 1611 er- Zinnbüchsen, in denen neben anderen ihrer Coadjutrix für 40 Taler verkauft stellt wurde.24 Demnach gab es, außer Substanzen auch Dachs- und Gänse- worden. Zwei Drittel der Einrichtung der vom Feuer weitgehend verschon- fett, Wermut-, Lilien- und Kamillenöl hatte dann Cordtmann für 26 Taler er- ten St. Michaelskapelle der Äbtissin, aufbewahrt wurden. Von 13 Holzbüch- worben; das letzte, in der Stiftsapothe- in dem Gebäude unter den Räumlich- keiten der Äbtissin eine große Apothe- ke neben der Küche und ein „Distelier- häuslein“ [sic!]; sie wurden von der Äbtissin und ihrer Coadjutrix, Doro- thea Augusta, gemeinsam genutzt. Bei der Apotheke im Stift Ganders- heim muss es sich um einen ziemlich großen Raum gehandelt haben, in dem drei als „Corpora“ bezeichnete Apothe- kenschränke standen: einer an der Wand zur Küche mit 21 großen und kleinen Schubladen und einer Bank- kiste, wohl einem Unterschrank, mit drei Gefachen und darüber zwei Repo- sitorien (Ablagen). Ein weiteres „Cor- pus“ neben dem Fenster enthielt 13 Schubladen und einen Gitterschrank, darüber befanden sich sieben Reposi- torien. Das dritte „Corpus“ stand ne- ben der Tür, war mit 15 Schubladen Abb. 2: Südfront des ehem. Stiftsgebäudes in Bad Gandersheim im Stil der Weserre- ausgestattet, einer Bankkiste mit drei naissance. Nr.3 | August 2020 | 72. Jahrgang | Geschichte der Pharmazie | 31 https://doi.org/10.24355/dbbs.084-202103301355-0
Geschichte der Pharmazie kessel. Sie dürften gedan, duth schal / me drincke [das im oben genann- soll man trinken] lll edder llll dage to- ten Destillierhäus- forne eht men Id [zuvor esse man je- lein, wohl einem den ??] Eing / gen [??] wil dat bringet gesonderten werme vnd dermit natur-lings …“. Raum im Stiftsge- bäude, zum Ein- satz gekommen Die Nutzung der Apotheke sein, in dem ein Auch nach dem Tod der Äbtissin Anna gemauerter Des- Erich setzte Dorothea Augusta ihre tillierofen mit vier umfangreichen Einkäufe von Apothe- „Helmen“ vorhan- kerwaren fort, die dann aber vorzugs- den war. weise aus Wolfenbüttel bezogen wur- In einer Rech- den. Wahrscheinlich hatte auch sie bei nung führt der ihrer Mutter, Herzogin Hedwig, einige Apotheker auch Kenntnisse bei der Herstellung von an, er habe den Heilmitteln erworben, die sie für ihre Damen einige schwache Gesundheit nutzen wollte. Tage lang „aufge- Zumindest in ihren jungen Jahren las- wartet“; dies dürf- sen die Medikamente nur auf leichte te eine Umschrei- Beeinträchtigungen, etwa im Magen- bung für die Klis- Darm-Trakt, Erkältungen oder allge- tiere sein, die er meines Unwohlsein schließen. Um ei- angewendet hat. ne Arznei zu gewinnen, nahm sie gern Einige Beispiele Wein als Basis und stellte damit einen aus den Rechnun- Kräuterauszug her. Die Herzogin ließ Abb. 3: Balneum Mariae aus Hieronymus Brunschwig: Liber de gen Cordtmanns sich einen wertvollen Pomander anfer- Arte Distillandi (Straßburg 1512) . werden hier ange- tigen, regelmäßig mit Kräutern befül- führt,29 um die len und hoffte, dadurch von der Pest Art der Waren verschont zu werden. Desgleichen ge- ke verbliebene Drittel war demnach 14 und den Umfang seiner Lieferungen hörte zu ihrer Ausstattung eine Reihe Taler wert, die auf die beiden hochad- zu demonstrieren (siehe Kasten). von Arzneifläschchen, die sie zur Vor- ligen Damen entfielen. 27 Im Faszikel der Apotheker-Rechnun- beugung gegen Krankheiten mit sich Bei den wenigen erhaltenen Rechnun- gen ist auch ein in niederdeutscher tragen konnte. Herzstärkende Präpa- gen (vorwiegend aus den Jahren 1603– Sprache geschriebenes Rezept enthal- rate, Abführmittel, Gliederschmerzen 1607) Cordtmanns (Tabelle 1),28 über ten, das nach der Schriftform eher in bekämpfende oder schweißtreibende den sonst nichts bekannt ist, lassen die Mitte des 16. Jahrhunderts einzu- Substanzen bestimmten im fortge- sich drei große Warengruppen unter- ordnen ist. Es ähnelt stark einem bei schrittenen Alter ihre Selbstmedika- scheiden: 1. spezielle, teilweise auch Hieronymus Brunschwig veröffentlich- tion oder ärztlichen Verordnungen.31 luxuriöse Nahrungsmittel und Gewür- ten30 und lautet in der wörtlichen Man kann annehmen, dass Anna ze (Kapern in Essig, Limonen, Rosi- Übertragung [Absätze durch Schräg- Erich und Dorothea Augusta die Apo- nen, Zwetschgen, Feigen, Ingwer, Nel- strich markiert]: theke in ähnlicher Weise nutzten wie ken, Zimt, Kardamom, verschiedene „witten engwer / galligan / lanngin Herzogin Hedwig in Wolfenbüttel.32 Pfeffer- und Zuckersorten, Marzipan) pepper / cardmomen / muschaten blo- Bei ihr nahmen Destillate wie Aquae sowie aromatisierte Zubereitungen auf men / lorberen / orth safran / gedru- vitae breiten Raum ein, also Arznei- Zuckerbasis („Morsellen“, „Manus keden hauerkorn [getrocknetes Hafer- mittel für innerliche und äußerliche Christi“); 2. einfache Arzneien (Simpli- korn] / iris edder fiolen wortele [Veil- Anwendungen.33 Auch Zucker spielte – cia) bzw. zusammengesetzte Heilmit- chenwurzeln] / canneyl [Caneel, Zimt] nicht nur als Konservierungsmittel tel (Composita) wie Anisöl, Krause- deß to sannd groff gepulvert und in oder Grundlage für Medikamente – minzenwasser, Theriak und Mithridat, eyn syborger kross [Siegburger Topf eine entscheidende Rolle,34 wobei sich Schlafpülverlein, Zahnpulver, Brust- (Steinzeug)] gedan dar vp eyn halv die verschiedenen Rohstoffe in ihrer salbe, Schlafsalbe usw. und 3. Arbeits- proveken [Pröbchen] gude / wyn ge- Nutzung als Nahrungs- und Genuss- geräte zum Destillieren: ein „Balneum dan und bouen dichte to gemaket mittel einerseits und als Arzneien an- Mariae“ (speziell konstruiertes Was- [oben dicht verschlossen]. lX nacht / dererseits überschneiden. Ein Beispiel serbad, Abb. 3), ein „Helm“ (Brennhut in de erde gesettet vnd dar na wieder dafür sind die als Manus Christi be- oder „Alembik“), Eisenroste, Kupfer- mor/gens dar van eyn guden drunck zeichneten Zuckertäfelchen, die, in Ro- 32 | Geschichte der Pharmazie | 72. Jahrgang | August 2020 | Nr.3 https://doi.org/10.24355/dbbs.084-202103301355-0
Geschichte der Pharmazie senwasser getränkt, als „confect“ zu von Nusslatwergen und Liberan- Erich fälschlich geschlossen werden betrachten sind,35 mit Anisöl dagegen tisküchlein, für deren Herstellung könnte – die Edelsteine nicht nur als der Stärkung und gegen Husten dien- man die Edelsteine Granat, Hyazinth, Schmuck anzusehen, sondern fanden ten.36 Bei schwerem Husten bevorzug- Rubin, Saphir und Smaragd sowie auch Verwendung zur Prophylaxe oder te die Herzogin Zibeth und Veilchen- auch Perlen pulverisierte und den üb- als Heilmittel. zucker,37 verwandte auch gern Ing- rigen Ingredienzien zusetzte.39 Dem- Weichmachende Tränke, Laxierpülver- wer.38 Gegen die gefürchtete Pest er- nach sind – wie aus der Auflistung lein, magen-, aber auch herzstärkende hoffte man Hilfe durch die Einnahme des Nachlasses von Äbtissin Anna Arzneien und Brustsalbe wurden ebenfalls beschafft. Im Inventar wird Tabelle 1: Auszug aus einer Apothekenrechnung einmal auch ein „Pomamberken“ ge- Fol. 1 r) nannt.40 Dies ist das Diminutiv von Po- „Vorzeichnuß was die hochwurdige undt fl. grn. d. mamber, einer Eindeutschung von Po- wolgeborne Fraw Anna Erich des keÿserlich mum Ambrae, auch Pomander, Ponam- freÿen weldtlichen stieffts Ganderßheimb ber oder Bisamapfel genannt. Dabei ebttissin, geborne greffin zu Waldeck, handelt es sich um eine aufklappbare, meine gnedige fraw von mir undt auß perforierte, meist kugelförmige Me- der Apoteken endpfangen und fordern lassen. Erstlich ein weich dranck undt purgier- tallkapsel, die mit wohlriechenden dranck so ihr gn selbst gebraucht kosten 1 2 – Substanzen wie Ambra oder Bisam Item ihr gn. bey Hennj gesandt schweinepulver 18 – (Moschus) u. a. gefüllt war. Bei wohl- Item zur selben zeidt auch 2 lb des besten canarij 2 – – habenden Personen bestanden diese Item auf Henricj schreiben selber gebracht Behälter oft aus Edelmetallen, waren 1 ½ lb cappern in essig undt 14 limonen 2 – – Item 6 granadt epffel jede 4 g thun 1 10 – kunstreich verziert und wurden an Item Schweine Puluer 45 Lott zu 6 gr Thun 1 2 6 einer kurzen Kette um den Hals oder Item 1 lb 4 lot guetten außgebissen cannel 2 – – am Gürtel getragen.41 Sie sollten gegen Item 6 lott guetten thÿriack zu 6 gr 2 8 – die Pest wirksam sein oder auch nur Item 5½ lb guetten canarj zu 16 gr thun 4 8 – angenehmen Duft verbreiten. Die her- Item 1 lodt gulden hauptpillen – 12 – zogliche Familie in Wolfenbüttel besaß Item beÿ meiner magdt gesandt 10 limonen undt 1 lb cappern in essig thun 1 7 – mehrere kostbare Exemplare.42 Item eine presse fur 4 10 – Ähnliche Arzneimittel und Indikatio- Item 1 lb ingber – 9 – nen wie die genannten sind auch in Item ¼ lb außgebissnenen cannel – 16 – dem verbreiteten Liber de arte distillan- Item ¼ lb muschadten bluedt 1 4 – //dieß gehat leÿ? di de compositis des Hieronymus Brun- Item 2 lb hudt zucker 1 10 – Item 4 lb negelein – 18 – schwig (Straßburg 1512) oder im Item 2 lb groß rossein – 8 – Kreutter-Buch von Hieronymus Bock Item 1 lb cappern In essig – 12 – (Straßburg 1539) enthalten. Im Buch- Item 7 limonen in ein groppen – 11 – bestand der Äbtissin waren entspre- Item 1/2 lb klein roseinlin – 4 – chende Rezeptbücher bzw. Anweisun- Summa lateris 31 fl 13 gr 6 d“ gen für die Herstellung solcher Arz- (Zusatz in Fremdschrift:)„Hierauß empfangen 2 thlr.“ neien vorhanden, so das Artzneӱ buch, (Fol. 1 v) Oßwaldt gabelhopen,43 [Hans von „Diese nachbeschriebene stucke sollen noch Gersdorff], Veldtbuch der Wund beÿ frewlein Dorotheæ Augustæ rechnung Artzeneӱ (Frankfurt 1551 und später) gesetztt werden sowie Ander buch Alberti Magni von Erstlich 5½ lb guten canarie zucker zu 16 gr thuett 4 fl 8 gr – Kreutern (Frankfurt 1575). Dabei ist Ein lb engver 8 gr eine gewisse Akzentuierung von frau- ¼ lb außgebiessen canel 6 gr enheilkundlichen Büchern zu erken- ¼ lb muscaten blumen 1 fl 8 gr nen.44 Zu den weiteren medizinischen 2 lb huet zucker 2 fl 10 gr Werken gehören der Artzenei-Spiegel ¼ lb negelin 18 gr (Abb. 4) des Marburger Medizinprofes- 2 lb groß rosin 8 gr 1 lb cappern in essig 12 gr sors Johannes Dryander (1500–1560), 7 limonen in einer groppen 11 gr der mit ihrem Vater korrespondiert i/2 lb klein rosein 4 gr hatte,45 der Hortus sanitatis und zwei 1 ¼ lb canel zum kanelwasser 24 gr handgeschriebene Arzneibücher,46 au- 2 lb deß besten canarien zucker 2 fl ßerdem theologische und historische Dieses vndt die ander rechnung machen in Summa 34 fl 12 gr 9 d“ Werke.47 Dass die Äbtissin in diesen Büchern tatsächlich gelesen hat, be- Nr.3 | August 2020 | 72. Jahrgang | Geschichte der Pharmazie | 33 https://doi.org/10.24355/dbbs.084-202103301355-0
Geschichte der Pharmazie dem die beiden Also, the drugs, facilities, instruments, condi- ments and foodstuff purchased by both the ca- adligen Stiftsda- nonesses from a pharmacist in nearby Einbeck men auch „ge- between 1603 and 1607, are well known. They brannte Wässer“, are comparable to those purchased by the ducal court in Wolfenbüttel and point to intestinal also alkoholische problems of both ladies. Abbess Anna Erica was oder wässrige Ex- not just interested in preparing sweets and re- trakte, herstell- medies, she hosted a large library with medi- ten. Die erhalte- cal, pharmaceutical, theological and religious books, which indicate her deep interest, parti- nen Rechnungen cularly in pharmacy, medicine and surgery. eines Apothekers She continued a tradition taken over from her aus dem benach- grandmother and mother, and continued by her successor, duchess Dorothea Augusta, and nu- barten Einbeck merous other noble women in early modern his- von 1603–1607 tory. sind mit jenen vergleichbar, die Keywords: später in Wolfen- Nobility, canonesses, dispensary, history of büttel für die Äb- pharmacy, medical culture. tissin Dorothea Augusta ausgefer- Abbildungsnachweis tigt wurden, und Abb. 1 Die Fotos wurden dankenswerterweise von Frau Maria Julia Hartgen, M.A., Portal deuten auf ähnli- zur Geschichte, Sammlung Frauenstift che (intestinale) Gandersheim, Bad Gandersheim, zur Verfü- Beschwerden bei- gung gestellt. der Stiftsdamen. Abb. 2 Foto: G. Aumüller. Abb. 3 Foto: Digitalisat der Bayerischen Staats- Abb. 4: Artzenei-Spiegel des Marburger Medizin-Professors Jo- Das Interesse der bibliothek München, Nachweis: https://rea- hannes Dryander. Äbtissin Anna der.digitale-sammlungen.d (Letzter Zugriff Erich ging über 27.12.2019. Abb. 4 Foto: Wikipedia Commons. Nachweis: ht- die rein hand- tps://reader.digitale-sammlungen.de (Letz- zeugt ihre „Brill“, die sie in einem sil- werkliche Praxis der Arzneimittelher- ter Zugriff 27.12.2019) bernen Futteral mit dem braunschwei- stellung hinaus und betraf ausweislich gischen Wappen verwahrte, das ihr ihrer im Nachlass dokumentierten Bü- Anmerkungen die befreundete Coadjutrix und Nach- chersammlung mit vorwiegend religi- 1 Vgl. Gabriele Wacker: Arznei und Confect. folgerin Dorothea Augusta geschenkt ösen Werken auch die Kräuterheilkun- Medikale Kultur am Wolfenbütteler Hof im 16. und 17. Jahrhundert. Wiesbaden 2013 hatte.48 de und die Wundarznei. Sie setzte da- (Wolfenbütteler Forschungen; 134), hier S. mit eine Tradition fort, die bereits bei 45, 62–64 sowie 133f., 256 und 310–316. ihrer Mutter und Großmutter nach- Zur Kurzfassung des vorliegenden Beitrags Fazit weisbar ist und neben ihrer Nachfolge- s. Gerhard Aumüller/Wiebke Kloth: Äbtis- sin Anna „Erich“ und ihre Apotheke. Kur- In Ergänzung zu den grundlegenden rin, Herzogin Dorothea Augusta, von zeitung Bad Gandersheim 2020, Nr. 2, S. Untersuchungen von Gabriele Wacker vielen weiteren adligen Frauen der 6–7. Dr. Peter Dilg, Regensburg, danken über die medikale Kultur am Wolfen- Frühen Neuzeit gepflegt wurde. wir für zahlreiche Hinweise. 2 Wacker [wie Anm. 1], S. 308f. bütteler Hof im 16. und 17. Jahrhun- 3 Vgl. hierzu Hans Goetting: Das reichsun- dert (erschienen 2013) wird hier die Summary: mittelbare Stift Gandersheim (Germania historische Apotheke im Stift Ganders- In extending the basic studies of Gabriele Wa- Sacra, Neue Folge 7. Die Bistümer der Kir- chenprovinz Mainz. 1. Das Bistum Hildes- heim dargestellt, die von der ersten cker on medical culture at the court of Wolfen- büttel in the 16th and 17th centuries (which ap- heim). Berlin/New York 1973, S. 345–347. protestantischen Äbtissin, Gräfin An- Zur Geschichte des evangelischen Stifts bis peared in 2013), we report on the historical dis- na Erica/„Erich“ von Waldeck, einge- pensary that was established in the imperial zu seiner Aufhebung s. ebd., § 12. Das richtet und ab 1601 mit Herzogin Do- mundane abbey of Gandersheim by countess evangelische Reichsstift bis zu seiner Auf- Anna Erica of Waldeck, the first protestant ab- hebung im Jahre 1810. S. 132–145. Zu Ros- rothea Augusta von Braunschweig- witha vgl. Reinhard Düchting: Hrotsvit. In: bess, and her successor, duchess Dorothea Au- Wolfenbüttel, ihrer „Coadjutrix“ (und gusta of Brunswick and Wolfenbüttel. After a Lexikon des Mittelalters. Bd. 5. München/ damit späteren Nachfolgerin), gemein- heavy fire had completely destroyed the former Zürich 1991, Sp. 148–150. 4 Vgl. Kurt Kronenberg: Eine bedeutende schaftlich genutzt wurde. Die großzü- abbey house in 1597, a representative new buil- Frau aus dem Hause Waldeck. In: Walde- ding was erected in late renaissance style gig ausgestattete Apotheke war nach ckischer Landeskalender 1970, S. 51–56; through the initiative of abbess Anna Erica. It dem großen Stadtbrand von 1597 im was supplied with a large and well-equipped Kurt Kronenberg: Anna Erika. Die 37. Äb- tissin 1589–1611. In: Ders.: Die Äbtissinnen neu errichteten Stiftsgebäude unterge- dispensary as well as a distillery. The rich faci- des Reichstiftes Gandersheim. Bad Gan- bracht, zusammen mit einem als „Des- lities, vessels and drugs are documented in An- dersheim 1981, S. 108–111; Axel C. Kronen- na Erica’s last will and described here in detail. tillierhäuslein“ bezeichneten Raum, in berg: Gräfin Anna Erika von Waldeck. Die 34 | Geschichte der Pharmazie | 72. Jahrgang | August 2020 | Nr.3 https://doi.org/10.24355/dbbs.084-202103301355-0
Geschichte der Pharmazie erste protestantische Äbtissin. 1611 – Vor und Äbtissin des Stifts Gandersheim – Ein 42 Vgl. Wacker [wie Anm. 1], S. 278–282. 400 Jahren stirbt Äbtissin Anna Erika. In: Beitrag zur Lebenswelt geistlicher Frauen 43 Es handelt sich um: Oswald Gabelkover: Kurzeitung Bad Gandersheim, Ausgabe 2, im späten Reformationszeitalter. In: Ge- Artzneybuch. Tübingen 1589. 2004, S. 10f. schichtsblätter für Waldeck 108 (2020), im 44 Vgl. Britta-Juliane Kruse: Verborgene Heil- 5 Vgl. Goetting [wie Anm. 3], S. 56. Druck. künste. Geschichte der Frauenmedizin im 6 Jacob Christoph Carl Hoffmeister: Histo- 25 HStAM, Bestand 115/01, Nr. 1073. Testa- Spätmittelalter (Quellen und Forschungen risch-genealogisches Handbuch über alle ment und Nachlass der Gräfin Anna Erika, zur Literatur- und Kulturgeschichte; 5 Grafen und Fürsten von Waldeck und Pyr- Fol. 29r. [239]). Berlin/New York 1996 u. dies.: „Die mont seit 1228. Cassel 1883, S. 46–49. 26 Cordtmann oder Curdtmann ist von 1619– Arznei ist Goldes wert.“ Mittelalterliche 7 Vgl. Hoffmeister [wie Anm. 6], S. 47. 1626 in Osterode nachweisbar, wo er am Frauenrezepte. Berlin/New York 1999. 8 Die Grenzen zwischen Naschwerk und 4.9.1626 bestattet wurde; vgl. Hans Volz: 45 HStAM, Bestand 115/1, Nr. 1037, Korres- Heilmittel waren im 16. und 17. Jahrhun- Die Ratsapotheke in Osterode am Harz. Os- pondenz des Grafen Wolrad II. zu Waldeck, dert noch fließend; beides galt als „Confect“ terode 1983. (5. Sonderheft der Heimatblät- Buchstabe A–D; Briefe J. Dryanders 1547– auf Zuckerbasis; vgl. Wacker [wie Anm. 1], ter für den süd-westlichen Harzrand), S. 1551. S. 35f. 129. Den Hinweis auf diese Arbeit verdan- 46 HStAM, Bestand 115/1, Nr. 1073, Fol. 15v 9 Vgl. Ursula Steinkamp: Zur Geschichte des ken wir Herrn Axel Wellner, Ebergötzen. und 16r sowie Fol. 9v bis 10v, ferner auf Apothekenwesens in den Grafschaften und 27 HStAM, Bestand 115/01, Nr. 1073. Testa- Fol. 15v erwähnt die „opera Rosuite illust- dem späteren Fürstentum Waldeck und ment und Nachlass der Gräfin Anna Erika, ris Virginis“. Die Zusammenstellung an P ymont von den Anfängen bis zur Gegen- Fol. 25v. medizinischen Büchern entspricht ihrer wart. Nat. wiss. Diss. Marburg 1980. 28 HStAM, Bestand 115/01, Nr. 1074, Rech- Verbreitung an geistlichen und weltlichen 10 Vgl. Teresa Schröder: Zwischen Chorge- nungen von 1603–1607. Höfen; vgl. Birgit Zimmermann: Das Haus- sang und Kartenspiel. Lebensführung und 29 HStAM, Best. 115/1074, Rechnungen Grä- arzneibuch. Ein Beitrag zur Untersuchung Herrschaftspraxis in Kloster und Stift. In: fin Anna Erikas, Faszikel Apothekenrech- laienmedizinischer Fachliteratur des 16. Veronika Čapská/Ellinor Forster/Janine nungen. Jahrhunderts unter besonderer Berücksich- Christina Maegraith/Christine Schneider 30 Vgl. Hieronymus Brunschwig: „Liber de tigung ihres humanmedizinischen-phar- (Hrsg.): Between Revival and Uncertainty. arte Distillandi de Compositis […]“. Straß- mazeutischen Inhalts. Nat. wiss. Diss., Monastic and Secular Female Communities burg 1512, hier Cap. XI, S. CCXXIIII. Marburg 1975, ferner Joachim Telle: Wis- in Central Europe in the Long Eighteenth 31 Vgl. Wacker [wie Anm. 1], S. 237-244, 328f. senschaft und Öffentlichkeit im Spiegel Century. Opava 2012, S. 267–295 sowie zur 32 So befasste sich auch die hessische Land- deutscher Arzneibuchliteratur. Zum Bedeutung und historischen Situation der gräfin Sabine, Mutter des Landgrafen Mo- deutsch-lateinischen Sprachenstreit in der Fürstäbtissinnen Teresa Schröder-Stapper: ritz des Gelehrten von Hessen, mit der Her- Medizin des 16. und 17. Jahrhunderts. In: Fürstäbtissinnen. Frühneuzeitliche Stifts- stellung von Arzneien und Konfekten in Medizinhistorisches Journal 14 (1979), S. herrschaften zwischen Verwandtschaft, Lo- ihrer Kasseler Schloss-Apotheke; vgl. Irm- 32–52, hier S. 34f., ferner Misia Sophia kalgewalten und Reichsverband. Köln/Wei- gard Dübber: Zur Geschichte des Medizi- Doms: „Alkühmisten“ und „Decoctores“ – mar/Wien 2015. nal- und Apothekenwesens in Hessen-Kas- Grimmelshausen und die Medizin seiner 11 Vgl. Kronenberg [wie Anm. 4], S. 52. sel und Hessen-Marburg von den Anfängen Zeit. (Beihefte zu Simpliciana; 3). Bern u. a. 12 Vgl. Goetting, [wie Anm. 3], S. 347; Nieder- bis zum Dreißigjährigen Krieg. Nat. wiss. 2006, S. 12, sowie ausführlich Melanie sächsisches Landesarchiv Wolfenbüttel Diss. Marburg 1969; Sabine Salloch: Das Panse: Hans von Gersdorffs „Feldbuch der (NLA WO), Urk. 6 Nr. 992. hessische Medizinalwesen unter den Land- Wundarznei“. Produktion, Präsentation 13 NLA WO, Urk 6 Nr. 1008, Bericht des No- grafen Wilhelm IV. und Moritz dem Gelehr- und Rezeption von Wissen. (Trierer Beiträ- tars Abel Cramer vom 14.11.1611. ten. Die Rolle der fürstlichen Leibärzte. ge zu den historischen Kulturwissenschaf- 14 Vgl. Wacker [wie Anm. 1], S. 312. Med. Diss. Marburg 2006; Jochen Ebert: ten; 7). Wiesbaden 2012, hier S. 178–197. 15 Vgl. Wacker [wie Anm. 1], S. 134, FN 200. Die Konsolidierung der fürstlichen Finan- 47 Eine detaillierte Darstellung der Bücher- 16 Vgl. Wacker [wie Anm. 1], S. 316f. . zen unter Landgraf Wilhelm IV. In: Zeit- sammlung der Äbtissin ist in Vorbereitung; 17 Vgl. Wacker [wie Anm. 1], S. 314. Genauere schrift für hessische Geschichte und Lan- vgl. Gerhard Aumüller/Jürgen Wolf: Von Angaben zum historischen Arzneischatz deskunde 123 (2018), S. 6–30, hier S. 10f. Dietrichepik bis Trojaroman. Die Bücher- vgl. Johann Schröder: Trefflich versehene 33 Vgl. Wacker [wie Anm. 1], S. 243. sammlung der Gräfin Anna Erica von Wal- Medicin-Chymische Apotheke Oder: 34 Vgl. Wacker [wie Anm. 1], S. 139–141 mit deck als Schlüssel zur mittelalterlichen Höchstkostbarer Arzeney-Schatz. Jena FN 237. Buchgeschichte eines Grafenhauses? In: 1685 (1. Ausgabe der Übersetzung). 35 Vgl. Wacker [wie Anm. 1], S. 246. Zeitschrift für deutsches Altertum und 18 Vgl. Wacker [wie Anm. 1], S. 205 f. 36 Vgl. Wacker [wie Anm. 1], S. 215. deutsche Literatur 150 (2021, zum Druck 19 Vgl. Wacker [wie Anm. 1], S. 185. 37 Vgl. Wacker [wie Anm. 1], S. 187; Zibeth ist angenommen). 20 Vgl. Wacker [wie Anm. 1], S. 256. das intensiv riechende Sekret der Perianal- 48 HStAM, Bestand 115/01, Nr. 1073 Testa- 21 Vgl. Wacker [wie Anm. 1], S. 266. Die letzt- drüsen der Zibethkatze. ment und Nachlass der Gräfin Anna Erika, genannten Mittel wurden der sog. Drecka- 38 Vgl. Wacker [wie Anm. 1], S. 85. Fol. 11v. Von den im Inventar aufgelisteten potheke zugerechnet, vgl. Christian Franz 39 Vgl. Wacker [wie Anm. 1], S. 200. Gegenständen und Büchern der Äbtissin Paullini: Heylsame Dreck=Apotheke. 40 HStAM, Bestand 115/1, Nr. 1073, Fol. 12r: hat sich nichts erhalten. Frankfurt/Main 1696 (1. Ausgabe). Im Schrank der Schlafkammer befand sich: 22 Vgl. Wacker [wie Anm. 1], S. 118. „Ein bunt Cantorschechtlichen, mit funff Adresse der Autoren: 23 Vgl. Wacker [wie Anm. 1], S. 309, 325, 327. schichten, In dem einen ein gurtel, mit 24 Hessisches Staatsarchiv Marburg (künftig schwartzen steinen vnnd Perlen, Im An- Prof. a.D. Dr. Gerhard Aumüller HStAM), Bestand 115/01, Nr. 1073. Testa- dern vnd Dritten Pomamberken [sic!], Im c/o Emil-von-Behring-Bibliothek ment und Nachlass der Gräfin Anna Erika. Vierdten ein Einhorn […]“. Arbeitsstelle für Geschichte der Medizin Eine vollständige Transkription dieses Ar- 41 Vgl. hierzu Renate Smollich: Der Bisamap- Bahnhofstraße 7 chivales bietet die Parallelpublikation Ger- fel in Kunst und Wissenschaft. (Quellen 35032 Marburg hard Aumüller und Wiebke Kloth: Die Tes- und Studien zur Geschichte der Pharmazie; tamente und Nachlässe der Waldecker Grä- 21). Stuttgart 1983, s. https://de.wikipedia. Wiebke Kloth finnen Catharina, Äbtissin des Stifts org/wiki/Bisamapfel, (letzter Aufruf Heinrich-Kremp-Straße 7 Schaaken, und Anna Erica, Reichsfürstin 12.02.2020). 38350 Helmstedt Nr.3 | August 2020 | 72. Jahrgang | Geschichte der Pharmazie | 35 https://doi.org/10.24355/dbbs.084-202103301355-0
Geschichte der Pharmazie Apotheker als Politiker in der Frankfurter Nationalversammlung 1848/49 Christiane Staiger | Während die Betä- konnten zahlreiche – überwiegend verhandelte – gewissermaßen als Vor- tigung von Apothekern als Musiker1 bislang unbekannte Apotheker – als bote des späteren Deutschen Reiches – oder Autoren2 gut bekannt ist, blie- parlamentarisch aktiv identifiziert über die Gründung eines deutschen ben Untersuchungen zu deren En- werden. Hier werden die Ergebnisse Nationalstaates.10 Abgeordnete ähnli- gagement als Politiker auf nationa- für die Frankfurter Nationalversamm- cher politischer Gesinnung kamen in ler Ebene in Deutschland bislang lung 1848/49 vorgestellt, weitere Aus- Klubs zusammen, die als Vorformen ein Desiderat. Dank der zunehmen- wertungen sind in Bearbeitung.6 parlamentarischer Fraktionen gelten. den Digitalisierung von Quellen Die Debatten in den Ausschüssen und können Online-Datenbanken helfen, im Plenum erwiesen sich als langwie- diesbezügliche Forschungslücken Methode rig, der Entscheidungsprozess nahm zu schließen. Die systematische Durchsicht der On- mehrere Monate in Anspruch. Im De- line-Datenbank BIORAB-FRANK- zember 1848 verabschiedete die Natio- Apotheker haben sich auf regionaler FURT7 erfolgte mit den Suchbegriffen nalversammlung das „Reichsgesetz und nationaler Ebene auch als Politi- „apoth*“, „pharma*“, „arznei*“. Durch betreffend die Grundrechte des deut- ker betätigt, jedoch ist dieses gemein- die Trunkierung in Kombination mit schen Volkes“, mit dem erstmals Men- nützige Engagement bislang systema- Asterisk konnten verschiedene schen- und Bürgerrechte in Deutsch- tisch wenig untersucht.3 Geringe Er- Schreibweisen in der Suche erfasst land Gesetzeskraft erlangten. Im März kenntnisse gibt es insbesondere für werden.8 Es erfolgte eine Nachbearbei- 1849 einigte sich eine liberale Mehr- deren Wirken auf nationaler Ebene. So tung der Fundstellen; so wurden fal- heit auf die sogenannte Paulskirchen- resümiert Christoph Friedrich: „Wäh- sche Funde, zum Beispiel „Vaterberuf verfassung. Sie beinhaltete eine rend zahlreiche Apotheker sich seit Apotheker“, aussortiert. Ausgehend „kleindeutsche Lösung“, den föderalen dem ausgehenden Mittelalter in der von den Einträgen in der BIORAB-Da- deutschen Einheitsstaat mit konstitu- Kommunalpolitik betätigten, begegnet tenbank konnten weitere biografische tioneller Monarchie, dem mit Ausnah- man in der ‚großen‘ Politik nur selten Angaben zu den Personen und den me des Kaisertums Österreich alle Angehörigen unseres Berufes“.4 Inwie- Schwerpunkten ihrer politischen Ar- Staaten des Deutschen Bundes ange- weit das Wirken von Apothekern in beit mit klassischen historischen Re- hörten. Die Verfassung wurde zwar der „großen Politik“ jedoch tatsächlich cherchen zusammengetragen werden. von 28 deutschen Staaten anerkannt, eine Ausnahme darstellt, soll nachfol- Die Ermittlung erfolgte durch Anfra- scheiterte jedoch am Veto der Groß- gend untersucht werden. gen bei Behörden und Archiven, aber mächte Preußen und Österreich, die Sofern man als „große Politik“ die Tä- insbesondere auch durch die Nutzung durch die Konterrevolution erstarkt tigkeit auf nationaler Ebene definiert, weiterer digitaler Quellen, wie z. B. di- waren. Als König Friedrich Wilhelm können Online-Datenbanken als nütz- gitalisierten Büchern und Texten. IV. am 3. April 1849 die ihm angebote- liche Quelle dienen. Das Portal BIO- Drei Abgeordnete der Frankfurter Na- ne Kaiserkrone ablehnte, waren die PARL stellt im Internet Recherchemög- tionalversammlung konnten dem Be- Revolution von 1848/49 und die Natio- lichkeiten zu Biographien deutscher rufsstand zugeordnet werden: Adolph nalversammlung praktisch geschei- Parlamentarier von 1848 bis heute zur August Hirschberg (1804–1885), Fried- tert. Das schnell an Rückhalt verlie- Verfügung. Das Projekt des Kölner rich Wilhelm Schlöffel (1800–1870) rende Parlament löste sich Ende Mai Zentrums für Historische Sozialfor- und Eduard Vogel (1806–1868). Bis- 1849 selbst auf. schung führt Datenbestände aus ver- lang war von ihnen nur Hirschberg als schiedenen, insbesondere am Zentrum Apotheker in der Frankfurter Natio- für Historische Sozialforschung bear- nalversammlung bekannt.9 Adolph August Hirschberg beiteten, kollektiv-biografischen Pro- Adolph August Hirschberg wurde am jekten zusammen.5 In acht Datenban- 10.7.180411 in der Freien und Hanse- Die Frankfurter National ken liegen biografische Informationen stadt Hamburg als August Michel zu Parlamentariern der deutschen versammlung 1848/49 Hirsch geboren;12 sein Vater war der Reichs- und Landtage, des Deutschen In der Frankfurter Paulskirche tagte jüdische Kaufmann David Michael Bundestages und der 10. DDR-Volks- von Mai 1848 bis Mai 1849 erstmals Hirschberg.13 August besuchte das kammer vor. In diesen Datenbanken ein gesamtdeutsches Parlament und Gymnasium „Johanneum“ in Ham- 36 | Geschichte der Pharmazie | 72. Jahrgang | August 2020 | Nr.3 https://doi.org/10.24355/dbbs.084-202103301355-0
Geschichte der Pharmazie burg14 und absolvierte eine Apotheker- Die politische Tätigkeit war ebenfalls im Jahre 1819 Gehülfe, absolvierte den lehre.15 Von 1839 bis 1854 war er Hof- breit gefächert.25 Hirschberg war von praktischen Kursus, sowie meinen apotheker in Sondershausen (Thürin- 1843 bis 1848 Mitglied des Schwarz- einjährigen Militärdienst und erhielt, gen),16 ab 1854 Ministerialreferent für burg-Sondershäuser Landtages und nachdem ich in Berlin ein Jahr Colle- das gesamte Apothekerwesen im Fürs- wirkte dort 1847/48 als Landtagsvize- gia gehört und das Staats-Examen ge- tentum Schwarzburg-Sondershausen17 präsident; 1848 stieg er zum Landtags- macht hatte, die Approbation als Apo- und leitete in dieser Eigenschaft auch präsidenten auf.26 1848 trat er als Geg- theker für eine große Stadt, mit der die Revision der Apotheken. Nach ner der direkten Wahl der Landtagsab- Berechtigung zur Erwerbung einer 1839 gehörte Hirschberg auch der Prü- geordneten auf.27 Vom 24.11.1848 bis Apotheken-Concession innerhalb des fungskommission für Apothekerlehr- 30.5.1849 vertrat er den Wahlkreis Staates. Im Jahr 1823 wurde es mir linge in Sondershausen an.18 Ab 1854 Schwarzburg-Sondershausen in der möglich, Eine [sic!] der beiden Apothe- vertrat er als Versicherungsagent ver- Frankfurter Nationalversammlung ken in Landeshut zu kaufen“.35 schiedene Versicherungsgesellschaf- und gehörte der Fraktion „Württem- Dort begann er auch sein Engagement ten, so die Feuerversicherungsgesell- berger Hof“ an.28 Diese vertrat Ziele in der politischen Linken, zunächst schaft Colonia, die Kurhessische All- der linken Mitte29 und versammelte als Stadtverordneter.36 Nach dem Ver- gemeine Hagel-Versicherungsgesell- sich im gleichnamigen Gasthaus in kauf der Apotheke im Jahr 183137 bau- schaft, die Concordia Cölnische der Frankfurter Altstadt.30 In der Ab- te er eine Patent-Maschinen-Papierfab- Lebensversicherungsgesellschaft und stimmung über die Paulskirchenver- rik „auf dem platten Lande“,38 in Eich- ab 1864 auch die Preußische Renten- fassung wählte er Friedrich Wilhelm berg bei Hirschberg auf, dessen Teil- versicherungs-Anstalt in Sondershau- IV. zum Kaiser der Deutschen31 und haber und Leiter er 1837 bis 1846 sen. 1857 wurde er Kommissionsrat.19 sprach sich gegen die Verlegung der war.39 Er engagierte sich in diesen Jah- Hirschberg konvertierte vom jüdi- Nationalversammlung nach Stuttgart ren durch Eingaben und Petitionen schen zum evangelisch-lutherischen aus. 1874 erhielt er die Fürstliche Ver- „für die Interessen bürgerlicher Ge- Glauben und heiratete am 9.11.1839 dienstmedaille für Kunst und Wissen- werbetreibender gegenüber den adeli- Mathilde Henriette Wilm (30.3.1809 schaft.32 Er starb am 6.3.1885 in Son- gen Grund- und Gerichtsherren eben- Hamburg – 30.8.1843 Sondershausen) dershausen.33 so wie für die verarmten Weber und in St. Petri in Hamburg. Nach dem Tod Spinner in Schlesien. Im März 1845 seiner ersten Ehefrau heiratete Hirsch- als führendes Mitglied des Hirschber- berg am 14.10.1845 in Sondershausen Friedrich Wilhelm Schlöffel ger Bürgervereins der Beteiligung an deren Schwester Wilhelmine Auguste Friedrich Wilhelm Schlöffel (Abb. 1) der sog[enannten] Warmbrunner Ver- Wilm (23.7.1818 Hamburg – 4.10.1872 wurde am 24. Juli Sondershausen).20 1800 in Brieg Hirschberg betätigte sich außeror- (Schlesien) als dentlich vielfältig in seiner Gemeinde Sohn des Hutma- Sondershausen, aber auch überregio- chermeisters Jo- nal. 1837 war er Mitbegründer und hann Heinrich Vorsitzender des örtlichen Gewerbe- Schlöffel gebo- vereins, in dem er vielfältiges En- ren.34 Seinen gagement zeigte.21 Weitere Mitglied- pharmazeutischen schaften umfassen den Altertumsver- Werdegang be- ein,22 den „Freymaurer-Clubb“, das schreibt er selbst Freimaurer-Kränzchen, die Gesell- so: „Bis zu mei- schaft für Naturwissenschaften Thü- nem fünfzehnten ringens und die Gesellschaft für Er- Jahre besuchte ich holung. Im Verein zur Beförderung das dortige Gym- der Landwirtschaft war Hirschberg nasium und er- darüber hinaus auch zeitweilig als lernte sodann die Vorstandsmitglied (1871) und Sekre- Apothekerkunst tär (1882) tätig. Der Botanische Ver- bei [...] Apotheker ein für Nordthüringen „Irmisch ia“ Menzel in Falken- verlieh ihm die Ehrenmitglied- berg, einem prak- schaft.23 Im Adressbuch von Sonders- tisch erfahrenen, hausen des Jahres 1882 ist der Ein- wissenschaftlich trag: „Hirschberg, August, Commissi- gebildeten Manne. onsrath, Bebrastraße 19“ nachweis- Nach bestandener bar.24 Prüfung ward ich Abb. 1: Friedrich Wilhelm Schlöffel (1800–1870). Nr.3 | August 2020 | 72. Jahrgang | Geschichte der Pharmazie | 37 https://doi.org/10.24355/dbbs.084-202103301355-0
Geschichte der Pharmazie das Schwurge- ten die Stadtverordneten am 6. August richt in Zweibrü- [1846] mit 12 von 16 Stimmen den frü- cken in Abwesen- heren Apotheker Vogel aus Pleß in das heit wegen Hoch- mit 500 Taler ausgeschriebene Amt“.54 verrats zum Tode Ein weiterer Eintrag berichtet von den verurteilt worden, mit dem Amte einhergehenden Reprä- kehrte aber nach sentationspflichten: „Als am 12. No- der Amnestie vember [1858] König Wilhelm [I.] in 186648 noch im Breslau weilte, und ihm die von den selben Jahr aus schlesischen Städten gewidmete Krö- den USA nach nungsgabe, 55.000 Taler zur Anschaf- Goldberg zu- fung eines Kanonenbootes, überreicht rück.49 Schlöffel wurde, war die Stadt Waldenburg da- blieb seinen poli- bei durch Bürgermeister Vogel und tischen Idealen den Stadtverordnetenvorsteher, Kom- zeitlebens treu; er merzienrat Tielsch, vertreten“.55 starb am Vom Engagement, aber auch der Ar- 23.1.1870 in Gold- beitsüberlastung des Bürgermeisters berg (Schlesien).50 zeugen weitere Einträge: „Mit Geneh- migung des Ministeriums wurde […] ein neues Regulativ zur Erhebung Eduard Vogel einer Kommunal-Einkommensteuer Edward (Eduard) getroffen, dessen Einführung 1861 er- Fridrich Ernest folgen sollte. Die umfangreichen Ar- Abb. 2: Schlöffel vertrat den schlesischen Wahlkreis Hirschberg. Vogel war eben- beiten, die damit sowie mit den gleich- falls Schlesier. Er zeitig in Angriff genommenen Ver- wurde am 16. Fe- handlungen über die bessere Wasser- schwörung beschuldigt, wurde er bis bruar 1806 in Pleß (Schlesien) geboren versorgung der Stadt verbunden Juli 1845 inhaftiert und im Jan[uar] und folgte seinem Vater Ernesth Gre- waren, machten es erklärlich, daß der 1846 freigesprochen“.40 gor Vogel im Apothekerberuf.51 Über sehr fleißige Bürgermeister Vogel 1846 kaufte Schlöffel die Rittergüter den pharmazeutischen Werdegang von neue Arbeiten nicht übernehmen woll- Birkowitz und Halbendorf im Kreis Eduard ist auf Grund der Quellenlage te und auf die Verfügung der Regie- Oppeln. Er verfasste mehrere Schrif- 41 bislang nur wenig bekannt.52 Er war rung für bessere Aufbewahrung der ten, in denen er seine politische Posi- zunächst als Apotheker in Pleß tätig, für die Geschichte der Stadt wichtigen tion gegen die Vorrechte des Adels wurde dann Bürgermeister in Walden- Urkunden sowie für die Fortführung klar zum Ausdruck brachte.42 burg (Schlesien) (Abb. 4).53 Die Stadt- der Stadtchronik in seinem Antwort- In der Paulskirche repräsentierte er chronik erwähnt die Wahl: „[…] wähl- schreiben ziemlich unwirsch berichte- vom 19.5.1848 bis zum 30.5.1849 den Wahlkreis „6 Provinz Schlesien (Hirschberg)“43 und die äußere politi- sche Linke (Abb. 2). Er schloss sich zu- nächst der Fraktion „Deutscher Hof“, dann „Donnersberg“ sowie „Märzver- ein“ an44 (Abb. 3) und brachte als ers- ter die sogenannte soziale Frage zur Sprache.45 Ab Mai 1849 nahm Schlöf- fel am badisch-pfälzischen Aufstand teil und flüchtete nach dessen Nieder- schlagung im November in die Schweiz. Von dort 1850 wegen politi- scher Gefährlichkeit ausgewiesen, emigrierte er in die USA und war bis 1866 Gastwirt in Philadelphia.46 Schlöffel blieb weiterhin publizistisch aktiv und es erschienen mehrere wei- tere Schriften.47 Er war 1851 durch Abb. 3: Schlöffel (sitzend, 2. v. links) im Kreise seiner Fraktionskollegen der Linken. 38 | Geschichte der Pharmazie | 72. Jahrgang | August 2020 | Nr.3 https://doi.org/10.24355/dbbs.084-202103301355-0
Geschichte der Pharmazie net sind. Ehre dem Andenken des um Waldenburg wohlverdienten Man- nes“.59 Politische Arbeit Die politische Arbeit der drei vorge- nannten Apotheker in der Frankfurter Nationalversammlung ist ebenfalls durch digitale Quellen gut nachvoll- ziehbar.60 Die stenographischen Be- richte über die Verhandlungen ermög- lichen, ihr Abstimmungsverhalten zu jedem Antrag nachzuvollziehen. Eben- so sind die von ihnen gestellten Anträ- ge und Petitionen und – sofern dies er- Abb. 4: Stadtansicht von Waldenburg um 1850. folgte – deren Verweis an einen Aus- schuss auffindbar. Bewertend lässt sich zusammenfassen, dass die drei te, die Chronik sei bis 1847 fortge- seiner Rechtfertigung eine längere Er- Apotheker die auf Grund ihrer jeweili- führt, und er werde sie fortsetzen, so- klärung verlas, mußte er erleben, daß gen Fraktionszugehörigkeit zu erwar- bald er Zeit habe“.56 in derselben Sitzung sein Hauptgeg- tenden Positionen vertreten haben. Vogel engagierte sich jedoch nicht nur ner zum Vorsitzenden der wichtigsten Friedrich Wilhelm Schlöffel war dabei auf kommunaler, sondern auch auf na- Kommission gewählt wurde und dann ein auffälliger Diskutant und vertrat tionaler Ebene in der Politik. Er ver- […] den persönlichen Kampf gegen ihn seine politische Position der äußeren trat vom 27.5. bis 13.10.1848 den aufnahm. Alles dies erschütterte die Linken nachdrücklich. Mehrere Ord- Wahlkreis „23 Provinz Schlesien (Wal- Gesundheit des schwer gekränkten nungsrufe sind aktenkundig.61 So denburg)“ in der Frankfurter National- Mannes. Zu seiner Wiederherstellung wurde er auch als „Hyäna Parlamenta- versammlung57 und gehörte der Frak- nahm er Urlaub und bat, da die Bade- ris“ karikiert (Abb. 5), indes mit dem tion der Linken „Deutscher Hof“58 an. kur nicht den gewünschten Erfolg hat- augenzwinkernden Zusatz „unschäd- Das Amt des Bürgermeisters in Wal- te, um seine Pen- denburg übte er bis 1868 weiter aus, sionierung. Diese jedoch endete seine kommunalpoliti- wurde […] be- sche Karriere bitter: „Es ist ja nicht zu schlossen, […] und leugnen, dass der hochverdiente Be- ihm die bisher in- amte, der längere Jahre im wesentli- negehabte Woh- chen allein den ganzen Apparat der nung im Rathause städtischen Verwaltung geleitet und, gekündigt. Doch wie die unbefangene Forschung her- noch ehe er diese vorheben muß, mit nimmermüdem Ar- räumen musste, beitseifer, ungemeiner Energie und starb Bürgermeis- großer Sachkenntnis zum Wohle der ter Vogel am Stadt gewirkt hatte, gerade dadurch 6. September eine etwas autokratische Art ange- [1868] nach nommen und im Verkehr mit den Ma- 22-jähriger gistratualen wie auch den Stadtverord- Dienstzeit am neten infolge steigender Verbitterung Schlage, seine Fa- bisweilen die urbane und gewinnende milie in dürftigen Freundlichkeit und Klugheit hatte ver- Umständen zu- missen lassen und so seinen Gegnern rücklassend. […] Waffen in die Hand gab, die diese mit Es ist kein Ruh- undankbarer Rücksichtslosigkeit ge- mesblatt unserer gen ihn gebrauchten. Seine Bemühun- städtischen Ge- gen, den Streit beizulegen, scheiterten, schichte, auf dem und als er in der Stadtverordneten- diese letzten Abb. 5: Karikatur zu Schlöffels Diskussionsstil: „Hyäna Parla- Versammlung vom 17. Januar 1868 zu Kämpfe verzeich- mentaris (unschädlich)“. Nr.3 | August 2020 | 72. Jahrgang | Geschichte der Pharmazie | 39 https://doi.org/10.24355/dbbs.084-202103301355-0
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