Energie & Umwelt Fukushima ohne Ende - 3 Jahre nach dem Super-GAU in Japan Atommüll: "Ehrlich bleiben bei dem, was ungeklärt ist" Was der ...

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Energie & Umwelt Fukushima ohne Ende - 3 Jahre nach dem Super-GAU in Japan Atommüll: "Ehrlich bleiben bei dem, was ungeklärt ist" Was der ...
Energie & Umwelt
Magazin der Schweizerischen Energie-Stiftung SES – 1/2014

Fukushima ohne Ende
> 3 Jahre nach dem Super-GAU in Japan
> Atommüll: «Ehrlich bleiben bei dem, was ungeklärt ist»
> Was der Atomstrom wirklich kostet
Energie & Umwelt Fukushima ohne Ende - 3 Jahre nach dem Super-GAU in Japan Atommüll: "Ehrlich bleiben bei dem, was ungeklärt ist" Was der ...
INHALTSVERZEICHNIS

                                                            SCHWERPUNKTTHEMA: Fukushima und kein Ende

                                                            4    Fukushima: 3 Jahre nach dem Super-GAU
                                                                 Am 11. März 2011 bebte an der japanischen Ostküste die Erde. Die Folge:
                                                                 ein Tsunami, schwere Störfälle und insgesamt drei Kernschmelzen in den
                                                                 Reak­toren 1 bis 3 des Atomkraftwerks Fukushima Daiichi. 150’000 Einwoh­­
                                                                 nerInnen mussten das Gebiet zum Teil dauerhaft verlassen. Die Regierung, die
                                                                 Behörden, der Betreiber Tepco und vor allem ­die Bevölkerung sehen sich auch
                                                                 nach drei Jahren mit gravierenden Problemen konfrontiert.

                                                            8    Japans Ex-Premier korrigiert seine ­atom­politischen Fehler
                                                                 Als Premierminister war Junichiro Koizumi ein eifriger Befür­worter der
                                                                 Atomenergie. ­Heute ist er ein vehementer Gegner, der für diese Mission seinen
                                                                 Ruhestand opfert. ­Die Ursache seines Engagements ist nicht etwa die Havarie
                                                                 in Fukushima, sondern die ­ungelöste Atommüll-Frage.

                                                            10 Welche Zukunft hat die Atomenergie?
                                                                 Seit Fukushima gibt es ein AKW-Sterben – aber das gab es schon vorher. In
                                                                 den kommenden Jahren wird sich das noch akzentuierter zeigen, vor allem in
                                                                 den westlichen Industriestaaten und ganz speziell in Europa. Demgegenüber
                                                                 findet ein Ausbau der Atomenergienutzung nur ausserhalb der OECD-Länder,
    Impressum                                                    vor allem in China und Russland, statt.
    ENERGIE & UMWELT Nr. 1, März 2014
    Herausgeberin:                                          12 Tiefenlagersuche: «Ehrlich bleiben bei dem, was ungeklärt ist»
    Schweizerische Energie-Stiftung SES, Sihlquai 67,            Viele und wesentliche Sicherheitsfragen zu den potenziellen Tiefenlagern sind
    8005 Zürich, Telefon 044 275 21 21, Fax 044 275 21 20
                                                                 nach wie vor nicht beantwortet. Für die SES ist klar: Die «Regionale Partizipa­
    info @ energiestiftung.ch, www.energiestiftung.ch
    Spenden-Konto: 80-3230-3                                     tion» zu den Standorten für Oberflächen­anlagen ist ein verkehrtes, ­verfrühtes
    Redaktion & Layout: Rafael Brand, Scriptum, 		               Vor­gehen. Findet via Regional­konferenzen wirklich echte Mitsprache statt –
    Telefon 041 870 79 79, info @ scriptum.ch                    oder ist das Partizipations­verfahren nur Pseudo-Demokratie?
    Redaktionsrat:
    Jürg Buri, Rafael Brand, Tina Berg, Florian Brunner,    14 Die ewige Suche nach einem sicheren Endlager
    Felix Nipkow, Bernhard Piller, Katia Schär
                                                                 AKW produzieren immer weiter Strom und Atommüll, obwohl es auch nach
    Re-Design: fischerdesign, Würenlingen                        über 40 Jahren Forschung keine sichere Lösung für die Entsorgung von radio­
    Korrektorat: Vreni Gassmann, Altdorf
                                                                 aktivem Abfall gibt. Die Suche nach ­einer Lösung und die unfassbar lange Zeit­
    Druck: ropress, Zürich,
    Auflage: 10’700, erscheint 4 x jährlich
                                                                 dauer, bis der Müll für Mensch und Umwelt nicht mehr gefährlich ist, werden
                                                                 in einem neuen Kinofilm und einer Ausstellung thematisiert.
    Abdruck mit Einholung einer Genehmigung und
    unter Quellenangabe und Zusendung eines Beleg­
    exemplares an die Redaktion erwünscht.                  16 SES-Studie: Atomvollkosten – was der Atomstrom wirklich kostet
    Abonnement (4 Nummern):                                      In der Diskussion um die Energiewende stehen die Kosten im Mittel­punkt. Oft
    Fr.   30.– Inland-Abo                                        wird behauptet, die Erneuerbaren seien «teuer». Fakt aber ist: ­Erneuerbarer
    Fr.   40.– Ausland-Abo
    Fr.   50.– Gönner-Abo                                        Strom ist heute schon billiger als Atomstrom. Wie eine SES-Studie zeigt,
                                                                 müsste eine kWh Atomstrom mindestens 16 bis 59 Rappen kosten.
    SES-Mitgliedschaft (inkl. E & U-Abonnement)
    Fr. 400.–   Kollektivmitglieder
    Fr. 100.–   Paare / Familien                            18 Will Deutschland die Energiewende ausbremsen?
    Fr.   75.–  Verdienende
                                                                 Kaum im Amt, präsentierte der neue deutsche SPD-Bundesminister für Wirt­
    Fr.   30.–  Nichtverdienende
                                                                 schaft und Energie, Sigmar Gabriel, die neuen Eckpunkte zur Reform der
    E&U-Artikel von externen AutorInnen können und               Ene­rgiewende. Nur wenn die Förderbeiträge für erneuerbaren Strom gekürzt
    dürfen von der SES-Meinung abweichen.
                                                                 und die Betreiber von neuen Solar­anlagen für den Eigenverbrauch zusätzlich
    Das E&U wird auf FSC-Papier, klimaneutral und mit            ­zahlen, bleibe die Energiewende bezahlbar.
    erneuerbarer Energie gedruckt.
                                                            20   l   News   l   Aktuelles   l   Kurzschlüsse      l

                                                            22 Artikel-Serie: Wir sind Teil der Energiewende
                                                                 Schon während des Geographiestudiums wurde Sonja Lüthi vom Thema
                                                                 ­Energie gepackt und seitdem hat sie das Thema nicht mehr losgelassen. Seit
                                                                  ihrer Dissertation bis zur ­heutigen Arbeit bei der Energiefachstelle St. Gallen
                                                                  stehen die erneuerbaren Energien im Zentrum ihres Lebens.

2      Energie & Umwelt 1/2014
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EDITORIAL

Tschernobyl, Fukushima, Mühleberg?

                                   Von JÜRG BURI                       Das gibt Platz im Netz für den heimischen und sau­
                                   Geschäftsleiter SES                 beren Wasser-, Wind- und Sonnenstrom, also Platz für
                                                                       die eigentliche Stromwende!

                                   Vor drei Jahren sind in Fukushi­    Aber auch dieser Frühling wird warm werden. Beson­
                                   ma drei Reaktorkerne durchge­       ders im Kanton Bern. Dort kann die Bevölkerung am
                                   schmolzen. Noch heute fliesst       18. Mai per Volksabstimmung ihr uraltes Atomkraft­
                                   radioaktives Wasser ins Meer.       werk in Mühleberg endlich vom Netz nehmen. Ein
            Die Gefahr, dass die Brenn­ele­ment­becken zusammen­       Ja ist eigentlich logisch wenn man bedenkt, dass die
            brechen, ist noch immer akut. Die Menschen rund um         Abschalt-Ankündigung der BKW keine Verbindlichkeit
            Fukushima sorgen sich um ihre Kinder, insbesondere         hat und die Sicherheitsmängel selbst unserer atom­
            um die entarteten Zellteilungen in ihren Schilddrüsen.     freundlichen Aufsichtsbehörde ENSI Angst machen.
            Ihre Häuser in der evakuierten Zone haben sie längst
            abgeschrieben. Ihre Jobs haben sie mehrheitlich verlo­     Uns bleibt zu hoffen, dass das Berner Volk die realen
            ren. Das Leben mit der unsichtbaren Strahlengefahr         Gefahren in Mühleberg richtig einzuschätzen weiss
            macht müde und lähmt. Kann ich diesen Salat wirk­          und dem Hin und Her zwischen BKW und Atomaufsicht
            lich essen? Ist der Fisch in der Kinderkrippe meiner       endlich ein Ende bereitet. Denn weder Bundesrätin
            Tochter wirklich nicht verstrahlt? In etwa so fühlt        Leuthard noch das Parlament wollen die nuklearen
            sich heute das Leben rund um Fukushima an.                 Risiken unserer Oldtimer-AKW wirklich ernst nehmen
                                                                       und minimieren. Lieber haben sie blindes Vertrauen
            Die Hasel hat bei uns schon geblüht. Etwas zu früh,        ins ENSI, eine Aufsichtsbehörde, die mit Wahr­­­
            gerade als wir uns gegen die «Masseneinwanderung»          schein­lichkeitsmodellen à la Finanzmarktaufsicht
            und für die moderne Sklaverei entschieden haben. Die       funktioniert und so tut, als ob das mit Fukushima bau­
            Abstimmung im zu warmen Winter führte auch zu              gleiche AKW Flugzeugabstürze, schwerste Erd­beben
            frostigen Verhältnissen im Stromhandel. Die EU hat         und grösste Hochwasser überstehen würde – und selber
            nach dem Verdikt gegen den Personenverkehr die             weiss, dass dem nicht so ist.
            ­Verhandlungen über den freien Elektronenverkehr
             mit der Schweiz sistiert. Das hat nicht nur die Tem­pe­   Wir geben Fukushima und seinen Opfern in diesem
             ratur bei den Stromhändlern ins Fiebrige getrieben.       Heft Platz, damit sie nicht vergessen gehen. Im Ge­
             Auch höchste Beamte sahen plötzlich gar die hiesige       genzug verlangen wir vom Parlament ein neues Kern­
             Stromwende in Gefahr.                                     energiegesetz ohne Gummiformeln und mit Laufzeit­
                                                                       begrenzung. Damit verhindern wir, dass Mühleberg
            Gut kommt bald der Frühling. Und eigentlich auch           oder Beznau in der Weltpresse plötzlich ganz gross
            gut, wenn die dreckigen und billigsten Überschuss­         raus kommen.
            elektronen aus den deutschen und französischen Gross­
            kraftwerken nicht mehr so billig in die Schweiz und        Ich wünsche Ihnen viel Frühling.                      <
            in unsere Pumpspeicher transportiert werden können.

                                                                                                    Energie & Umwelt 1/2014   3
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DIE LAGE IN FUKUSHIMA IST NOCH NICHT UNTER KONTROLLE

                      Fukushima: 3 Jahre nach dem Super-GAU
                      Am 11. März 2011 bebte an der japanischen Ostküste die Erde. Die Folge: Ein Tsunami,
                      schwere Störfälle und insgesamt drei Kernschmelzen in den Reaktoren 1 bis 3 des Atom-
                      kraftwerks Fukushima Daiichi. 150’000 EinwohnerInnen mussten das Gebiet zum Teil
                      ­dauerhaft verlassen. Die Regierung, die Behörden, der Betreiber Tepco und vor allem ­die
                       Bevölkerung sehen sich auch nach drei Jahren mit gravierenden Problemen konfrontiert.

                                                  Von FLORIAN BRUNNER                                             Vertuschungen, Lügen, Lecks, neue Gefahren wie
                                                  Projektleiter Atomenergie&Strom                                 ­Taifune und Erdbeben, Probleme mit den Wasser­
                                                                                                                   kreisläufen und der Kühlung der Abklingbecken sowie
                                                                                                                   Kostensteigerungen.
                                                 Drei Jahre nach der Katastrophe in Fukushima
                                                 sind die schlimmsten Befürchtungen wahr                          Tepco1, die Betreibergesellschaft der havarierten
                                                 ­geworden: Die Behörden haben die Lage noch                      Atomreaktoren in Fukushima, sieht sich mit vielen
                                                  immer nicht im Griff.                                           Vorwürfen über Vertuschungsmanöver und Lügen
                                                  Hat nach dem Erdbeben die Notabschaltung                        konfrontiert (siehe Textbox), sodass nun auch die
                                         noch funktioniert und konnte wegen der Unterbre­                         ­japanische Aufsichtsbehörde NRA an der Fähigkeit
                                         chung der Kühlkreisläufe die anstehende Kettenreak­                       des Tepco-Managements zweifelt, AKW sicher zu
                                         tion gestoppt werden, so waren die darauffolgenden                        ­betreiben. Finanziell befindet sich das Unternehmen
                                         – durch den Tsunami ausgelösten – Störfälle mehr­                          fast am Boden. Die andauernde Pannenserie bei den
                                         heitlich nicht mehr zu bewältigen. Es ist hinlänglich                      Aufräumarbeiten kostet Unsummen. Hinzu kommen
                                         bekannt, dass die bei einer Kettenreaktion entstehen­                      steigende Kosten für Erdöl- und Gasimporte, mit
                                         de Strahlung und die Spaltprodukte in hohen Dosen                          ­denen Tepco die (Energie-)Verluste aus den stillgelegten
                                         für Mensch und Tier schon nach kurzer Zeit tödlich                          AKW kompensiert. Aber auch die erneuerbaren
                                         sein können oder langfristig Krebs auslösen. Deshalb                        ­Energien, in die Tepco nicht investiert, verspüren in
                                         muss eine Kettenreaktion im Reaktor von der Umwelt                           Japan nun ein wenig Aufwind. So wurde auf dem
                                         abgeschirmt werden – was in Fukushima noch immer                             Meer ein erster riesiger Solarpark gebaut.
                                         nicht gelungen ist.
                                                                                                                  Seit dem folgenschweren Desaster in Fukushima sind
                                         Über die Behörden, die Kosten                                            mittlerweile alle 50 Reaktoren im Lande ausser
                                         und fehlende Experten                                                    ­Betrieb. Tepco braucht dringend Geld. Die Betreiber­
                                         Die drei Jahre nach der nuklearen Katastrophe beim                        gesellschaft hat sich durch die Atomruine bereits
                                         AKW Daiichi waren geprägt von Pleiten und Pannen:                         ­Verluste von 27 Milliarden Dollar eingehandelt und
                                                                                                                    ist immer wieder auf Geldspritzen aus Steuermitteln
                                                                                                                    angewiesen. Das Unternehmen ist mittlerweile weit­
                                                                                                                    gehend verstaatlicht und sieht sich mit hohen Kosten
                                                                                                                    für die Beseitigung der Schäden in Fukushima sowie
                                                                                                                    für Entschädigungen konfrontiert. Die Entschädigungs­
                                                                                                                    zahlungen für die 150’000 Menschen und die Auf­
                                                                                                                    räumarbeiten bei der Atomruine sind durch die Geld­
                                                                                                                    sorgen von Tepco akut gefährdet. Wie in der Schweiz
                                                                                                                    haben auch in Japan AKW keine Haftpflichtversiche­
                                                                                                                    rungen, die den Namen verdienen. Letztlich bezahlen
                                                                                                                    also der Staat bzw. die SteuerzahlerInnen.

                                                                                                                  In welchem Bereich die Kosten für die Aufräumar­
                                                                                                                  beiten liegen, lässt sich nicht mit Sicherheit sagen.
                                                                                                                  Da die Kosten bei einem nuklearen Unfall jeweils
Foto: Fabian Biasio

                                                                                                                  über einen sehr langen Zeitraum anfallen, ist deren
                                                                                                                  Berechnung sehr schwierig. Ein halbes Jahr nach der
                                                                                                                  Katastrophe rechnete die japanische Regierung mit
                                                                                                                  Kosten von über 50 Milliarden Franken – ohne die
                      Messstelle einer NGO: Eine Strahlenkarte zeigt die radioaktive Verseuchung in ­Fukushima.   Entsorgung der Abfälle, die gesundheitlichen Spätfol­

                      4   Energie & Umwelt 1/2014
Energie & Umwelt Fukushima ohne Ende - 3 Jahre nach dem Super-GAU in Japan Atommüll: "Ehrlich bleiben bei dem, was ungeklärt ist" Was der ...
Foto: Wikimedia (US Navy)
    Matrosen dekontaminieren das Schiff beim Einsatz vor der Küste Japans.

     gen sowie die Dekontamination mit einzu­be­­rech­nen.                   Schneider warnt in einem der wenigen unabhängigen
     Für Letztere schätzt die japanische Forschungs­orga­                    und globalen Atomberichte (World Nuclear Industry
     nisation AIST2 die Kosten auf 53 Milliarden ­Franken                    Status Report4) vor den weiteren Entwicklungen und
    (die Regierung ging für diese Arbeiten von 9 Milliar­                    Gefahren in Fukushima. Ein Problem sei vor allem,
    den Franken aus). Mycle Schneider, unabhäng­iger                         dass die Regierung und die Aufsichtsbehörde die
    ­Nuklear- und Energiepolitik-Experte, bezeichnet die                     ­Firma Tepco alleine vor Ort arbeiten lassen. Tepco ist
     von der japanischen Regierung erwarteten Kosten                          ein Stromversorgungsunternehmen und kein Spe­
     als «Witz». Die Schäden werden die genannte Zahl                         zialist für Aufräumarbeiten in einer hoch kontami­
     zweifel­los übersteigen.                                                 nierten Desasterzone. Bei der anstehenden Stilllegung
                                                                              des AKW in Fukushima wird nun deutlich, dass Japan

  «  Auch wenn noch niemand die genauen Kosten                                grundsätzlich total überfordert ist und dass das tech­
                                                                              nische Know-how für die Aufräumarbeiten fehlt. Ein
           ­voraussagen kann: Tatsache ist, es wird
letzten Endes eine astronomische Summe sein.  »                               Grund dafür ist unter anderem der Mangel an Ex­
                                                                              perten. Und weil Japan vor allem die Probleme mit
                                                                              dem radioaktiv verseuchten Wasser nicht in den Griff
    Ebenfalls kurz nach der Katastrophe wurden denn die                       bekommt, wurden nun erstmals auch internationale
    Gesamtkosten für die Aufräumarbeiten von der Non-                         Experten um Hilfe gebeten. Für die weitere Zukunft
    profit-Forschungsinstitution JCER3 auf 180 Milliarden                     könnte es jedoch kritisch werden, was die Fachleute
    Franken geschätzt. Und der japanische Ökonom und                          betrifft, die im zerstörten Kraftwerk arbeiten können.
    Professor Masatake Uezone der Universität Shimane                         So werden die meisten demnächst ihre Strahlen­
    schliesslich geht gar von Gesamtkosten (ohne Erd­                         höchstdosis erreichen. Eine internationale Task-Force,
    beben und Tsunami) von bis zu 940 Milliarden Franken                      bestehend aus den besten Wissenschaftlern der Welt,
    aus, je nachdem wie gross die Gebiete sind, die man                       ist dringend erforderlich.
    dekontaminieren muss und wer wie lange Entschä­
    digungszahlungen erhalten soll. Auch wenn noch
                                                                             1   Tokyo Electric Power Company
    niemand die genauen Kosten voraussagen kann:                             2   National Institute of Advanced Industrial Science and Technology
    ­Tatsache ist, es wird letzten Endes eine astronomische                  3   Japan Center for Economic Research
     Summe sein.                                                             4   Siehe auch: www.worldnuclearreport.org

                                                                                                                                 Energie & Umwelt 1/2014   5
Energie & Umwelt Fukushima ohne Ende - 3 Jahre nach dem Super-GAU in Japan Atommüll: "Ehrlich bleiben bei dem, was ungeklärt ist" Was der ...
Foto: Noriko Hayashi / Greenpeace
Radioaktiver Müll (Erde, Dreck, Gras) wird zwischen Wohnhaus und Strasse zwischengelagert.

                  Grosse Gefahren rund ums Wasser                                       ­ onnen radioaktiv verseuchtes Wasser ins Meer, bis
                                                                                        T
                  Fukushima birgt für die Stilllegung viele hoch kom­                   2015 insgesamt über 600’000 Tonnen. Dieses treibt
                  plexe Herausforderungen. So ist etwa das Dreifache                    über den Pazifischen Ozean direkt auf die US-West­
                  der in Tschernobyl freigesetzten Menge an Radio­                      küste zu. Deshalb hat das US-Gesundheitsministerium
                  aktivität aus den drei zerstörten Reaktorkernen aus­                  14 Millionen Jod-Tabletten bestellt (um die Schild­
                  gewaschen worden. Diese befindet sich nun in über                     drüsen vor der Aufnahme von Radioaktivität zu
                  400’000 m3 Wasser. Die Lagerung, Behandlung und                       ­schützen). Die in Fukushima freigesetzte Radioaktivität
                  Entsorgung solcher Mengen kontaminierten Wassers                       könnte das Leben entlang der gesamten Westküste
                  stellt eine enorme Herausforderung dar, der Tepco                      Nordamerikas noch jahrzehntelang negativ beeinflus­
                  kaum gewachsen ist. Immer wieder wird von Pleiten                      sen. Bereits heute beklagen sich US-Matrosen, die
                  und Pannen berichtet und die Fakten sind beängsti­                     auf einem Flugzeugträger vor der Küste Japans den
                  gend. Seit Beginn der Katastrophe werden Millionen                     ­Opfern zu Hilfe eilten, über negative Auswirkungen
                  Liter verstrahltes Wasser (auch ausgewaschenes oder                     auf ihre Gesundheit wie Krebs und Schilddrüsen-­
                  zur Kühlung der Brennelemente der Reaktoren ver­                        Erkrankungen. Verseuchtes Meerwasser ist während
                  wendetes und kontaminiertes Wasser) in Tanks auf                        des Einsatzes in das Versorgungssystem des Schiffs
                  dem Gelände zwischengelagert – Tanks, die immer                         ­geflossen, damit wurde nicht nur geduscht, es wurde
                  wieder lecken. Dabei treten mehrere Tonnen an                            auch gefiltert und getrunken. Die Matrosen verklagen
                  ­radioaktiv kontaminiertem Wasser unkontrolliert                         nun das Betreiberunternehmen Tepco aufgrund ihrer
                   aus den Lagertanks aus. Dieses gelangt in den Keller                    Krebserkrankungen.
                   der Reaktoren und vermischt sich mit dem ebenfalls
                   hoch radioaktiv verseuchten Grundwasser, welches                     Schwierige Aufräumarbeiten
                   von unten hineindrückt. Und täglich kommt neues                      Die starke Strahlung erschwert die Aufräumarbeiten
                   Wasser hinzu.                                                        rund um die Reaktoren. Gegen Ende des Jahres 2013
                                                                                        wurde beim AKW Fukushima in Proben, die aus

«   Die in Fukushima freigesetzte Radioaktivität könnte das
                                                                                        dem Grundwasser entnommen wurden, eine Rekord-
                                                                                        Strahlung gemessen. Im November 2013 wurde ausser­
Leben entlang der gesamten Westküste Nord­amerikas noch
                   jahrzehntelang negativ beeinflussen.                          »      dem nach einiger Verzögerung mit dem bislang ge-­
                                                                                        fähr­lichsten Schritt beim Rückbau begonnen. Wegen
                                                                                        akuter Erdbebengefahr müssen 400 Tonnen radio­
                  Das Wasser stellt in Fukushima das grösste Problem                    aktiver Brennstoff geborgen werden. Die Bergung
                  dar. Aus undichten Stellen fliessen jeden Tag 300                     der 1500 gebrauchten und ungebrauchten Brennele­

6   Energie & Umwelt 1/2014
Energie & Umwelt Fukushima ohne Ende - 3 Jahre nach dem Super-GAU in Japan Atommüll: "Ehrlich bleiben bei dem, was ungeklärt ist" Was der ...
Foto: Fabian Biasio
Ewig werden die Plastiksäcke nicht halten: vorläufiges Zwischenlager für verstrahlte Erde.

mente aus dem schwer beschädigten Reaktorblock 4                      ­ ärten von Wohnhäusern oder in vorläufigen Lagern
                                                                      G
ist ein äusserst riskanter und gefährlicher Prozess, bei              auf­getürmt unter freiem Himmel.
dem absolutes Neuland betreten wird.

Tepco versuchte dies zwar als Routinearbeit dar­zu­
                                                                       Die Lügen der Betreiber und Behörden
stellen, die Bergung gleicht jedoch eher einem atoma­
ren Drahtseilakt. Denn die Brennelemente liegen                        Immer wieder wurde gelogen, um das Ausmass der Katastrophe herunterzuspielen.
zum Teil ineinander verkeilt in den beschädigten                       In einem Bericht von Tepco und der Aufsichtsbehörde am 15.3.11, also vier Tage
­Abklingbecken, die bei einem weiteren Erdbeben                        nach der Katastrophe, wurde behauptet, es hätte keine Kernschmelze gegeben,
                                                                       obwohl es bereits am Abend des 11.3.11 in drei Reaktoren zum Super-GAU ge­
 ­einzustürzen drohen. Ein schwerwiegendes Unfall­
                                                                       kommen war.
  szenario und Risiko während der Bergung besteht
                                                                       Und in Zukunft wird es wohl noch schwieriger zu erfahren sein, was sich in der
  ­darin, dass die hochgradig radioaktiven Brennele­
                                                                       Atomruine von Fukushima überhaupt abspielt(e), denn Ende 2013 wurde das Ge-
   mente versehentlich an die Luft gelangen, dabei                     heimhaltungsgesetz eingeführt, das die Sicherheit von AKW zur Verschlusssache
   ­können sie sich entzünden und gigantische Mengen                   macht. Das japanische Parlament hat trotz grosser Proteste aus der Bevölke-
    Radioaktivität freisetzen. Allerdings sind die gebrauch­           rung dem neuen Gesetz zugestimmt. Damit werden von nun an zum Schutz der
    ten Brennelemente mittlerweile so weit abgekühlt,                  nationalen Sicherheit Verletzungen von bestimmten Geheimnissen hart bestraft.
    dass die Nachzerfallswärme nicht mehr ausreicht,                   Es wird befürchtet, dass Informationen über die Atomenergie und vor allem über
    eine erneute Kettenreaktion auszulösen. Da die ganze               die Atomkatastrophe in Fukushima nicht mehr an die Öffentlichkeit gelangen und
    Aktion jedoch in den verstrahlten Reaktoren stattfin­              noch mehr vertuscht werden.
    det, müssen die Arbeiter mehrere Schichten Schutz­
    kleider und Handschuhe tragen, was bei der heiklen
    Bedienung der Bergungskräne nicht gerade hilfreich                Wie weiter
    ist. Insgesamt soll die Bergung etwa ein Jahr dauern.             Es bleibt noch viel zu tun in Fukushima und in Japan.
                                                                      Unzählige Fragen bleiben offen: Wohin mit dem
Die Aufräumarbeiten beinhalten auch die Dekonta­                      verseuchten Wasser? Kann man den Behörden und
minierung der obersten Schichten von Böden bzw.                       Betreibern glauben? Ist die Ruine vor einem weiteren
Landflächen wie Reisfelder und Gärten. Wo und wie                     Erdbeben geschützt? Wer zahlt die ganzen Auf­räum­
die verseuchte Erde und der anfallende Schutt zwischen­               arbeiten? Und vor allem: wohin mit dem Atommüll?
­­ge­lagert werden sollen, ist nach wie vor unklar. Momen­            Fukushima hat uns gezeigt: AKW sind hoch­gefährlich
tan geschieht dies meist direkt in den Wohngebieten,                  und der Ausstieg aus dieser Art der Energieproduktion
etwa 1 Meter unter dem Boden vergraben in den                         muss schleunigst vollzogen werden.                 <

                                                                                                                       Energie & Umwelt 1/2014      7
Energie & Umwelt Fukushima ohne Ende - 3 Jahre nach dem Super-GAU in Japan Atommüll: "Ehrlich bleiben bei dem, was ungeklärt ist" Was der ...
AKW-GEGNER IN JAPAN

                                                Japans Ex-Premier korrigiert seine
                                                ­atom­politischen Fehler
                                                Als Premierminister war Junichiro Koizumi ein eifriger Befürworter der Atomenergie.
                                                ­Heute ist er ein vehementer Gegner, der für diese Mission seinen Ruhestand opfert. ­
                                                 Die Ursache seines Engagements ist nicht etwa die Havarie in Fukushima, sondern die
                                                 ­ungelöste Atommüll-Frage.

                                                                  Von KATIA SCHÄR und KAORI TAGIKAWA*                         lager Onkalo – finnisch für Versteck – in Olkiluoto.
                                                                                                                              Für eine sichere Lagerung von hoch ­radioaktivem
                                                                                                                              Müll für 100’000 Jahre ist es konzipiert, aber Koizumi
                                                                  Rechtsnational und neoliberal, ein Verehrer von             zeigte sich alles andere als begeistert. Für ihn sind
                                                                  ­Wagner, erklärter Fan von Elvis und Freund von George      die Zeiträume, mit denen für die End­lager gerechnet
                                                                   W. Bush. Ein extrovertierter Politiker, der auch schon     ­werden muss, jenseits jeglicher Vorstellungskraft und
                                                                   mit «Hitler vor der Nazizeit» verglichen worden ist –       viel zu lange. Ein Projekt dieser Tragweite müsse be­
                                                                   das ist Junichiro Koizumi, der während seiner Amts­         gleitet werden. «In 300 Jahren soll die Sicherheit
                                                                   zeit nie da gewesene Popularitätswerte erreicht hat.        nochmals neu bewertet werden», zitiert ihn die Tages­
                                                                   Der heute 72-jährige Ökonom reihte nach einer einzigen      zeitung Mainichi Shinbun. «Bis dann sind aber alle
                                                                   Niederlage als 27-jähriger Neuling einen politischen        heute noch Lebenden tot.»
                                                                   Erfolg nach den anderen, stieg die Karriereleiter
                                                                   ­empor und wurde 2001 zum Premierminister ge­              Belogen und betrogen
                                                                    wählt. Er, der in seinem Leben kaum anderes als Poli­     Ein vergleichbares Projekt zum finnischen Endlager
                                                                    tik gemacht hat, verkündete nach fünfeinhalb Jahren       sei in Japan, geologisch und geografisch, nicht reali­
                                                                    Amtszeit, Politik sei nicht sein einziger Lebensinhalt,   sierbar. «Es gibt keinen Ort in Japan, wo wir unseren
                                                                    legte sein Amt nieder und übernahm erst Jahre später      Müll lagern können. Die einzig denkbare Option ist
                                                                    wieder eine «öffentliche» Aufgabe.                        also die ‹Null-Atomstrom-Lösung›.» Der Ex-Premier,
                                                                                                                              der einst propagierte, nur durch Atomstrom könne
                                                                                       Koizumi fordert den                    sein Land die klimarelevanten C02-Emissionen redu­
                                                                                       Atomausstieg                           zieren, fühlt sich heute von den Energieversorgungs­
                                                                                       Nach sieben Jahren ohne politische     unternehmen belogen und betrogen.
Foto: Fabio Rodrigues Pozzebom/Agência Brasil

                                                                                       Auftritte gelangt Koizumi seit letz­
                                                                                       tem Jahr wieder an die Öffentlich­     «Experten haben uns gesagt, Atomkraft sei sicher,
                                                                                       keit. Er hat eine neue Mission: Der    sei günstig und der einzige Weg, wenn wir auf Kohle
                                                                                       einst dogmatische Verfechter der       verzichten wollen – und wir haben ihnen all die Jahre
                                                                                       Atomenergie, während dessen Amts­      geglaubt», ereiferte er sich in einem Interview mit der
                                                                                       zeit vier neue AKW ans Netz gingen,    «Morgensonne-Zeitung». Kein Land dürfe Atomkraft
                                                                                       wendet sich gegen den amtieren­        produzieren, ohne ein Endlager für hoch radioaktiven
                                                                                       den Premierminister Shinzo Abe,        Müll zu haben, sagte er in einer Rede in Nagoya vor
                                                                                       dessen politischer Mentor er einst     2500 Zuhörern. Und im Erdbebenland Japan sei ein
                                                                                       war, und fordert den sofortigen        solches zu bauen unmöglich. Auch politisch: Die ja­
                                                Junichiro Koizumi, Japans Ex-Premier   Atomausstieg.                          panische Regierung hat in der Vergangenheit bei den
                                                                                                                              Gemeinden nachgefragt, wer denn eine ­Endlagerstätte
                                                                  Koizumis Wandlung vom Saulus zum Paulus – hier ist          haben wolle. Keine hat sich gemeldet. Jetzt werde der
                                                                  dieser Vergleich wirklich angebracht – steht durch­         Staat Standorte bestimmen, entschied die Regierung
                                                                  aus im Zusammenhang mit dem Super-GAU in Fukshi­            letzten Dezember.
                                                                  ma Daiichi. Diese «elende Realität» hat ihn schockiert,
                                                                  aber nicht zu einer Rückkehr in die politische Öffent­      Nicht zögern, eigene Fehler zu korrigieren
                                                                  lichkeit bewogen. Auslöser war letztlich eine Fernseh­      Koizumi, der als Politiker für seine Prinzipientreue
                                                                  dokumentation des staatlichen Fernsehsenders NHK            bekannt war, sagt heute: «Man soll nie zögern, eigene
                                                                  über die Endlagerung von Atommüll. Koizumi begann           Fehler zu korrigieren.» Japan müsse und könne sich
                                                                  zu recherchieren und begab sich schliesslich im letz­       ohne Atomstrom weiterentwickeln. Das sei kein un­
                                                                  ten Sommer mit Vertretern der AKW-Konstrukteure             möglicher, sondern ein umsetzbarer Traum, den ­etwa
                                                                  Toshiba, Hitachi und Mitsubishi auf eine Reise nach         Deutschland – das er ebenfalls im Sommer besucht
                                                                  Finnland. Ihr Ziel: das sich im Bau befindliche End­        hat – bereits verwirkliche, schreibt Koizumi seinem

                                                8   Energie & Umwelt 1/2014
Energie & Umwelt Fukushima ohne Ende - 3 Jahre nach dem Super-GAU in Japan Atommüll: "Ehrlich bleiben bei dem, was ungeklärt ist" Was der ...
politischen Weggefährten Morihi­
ro Hosokawa. Und wann sei der
­Moment günstiger als jetzt, wenn
 alle AKW vom Netz seien. «Japan
 ist das einzige Land mit Atomkraft­
 werken, von denen kein einziges in
 Betrieb ist – und das dennoch nicht
 stillsteht», proklamierte er dieser
 Tage in Tokio.

Zurzeit schliesst Japan seine Lücke
in der Energie­versorgung mit der
Einfuhr von Gas für ihre teilweise
eingemotteten Wärmekraftwerke.
Gas ist allerdings in Japan doppelt
so teuer wie in Europa – und als
Folge davon ist Japans einst vor­
bildliche Handelsbilanz ins Minus

                                                                                                                                                               Foto: Masatake Uezono
gerutscht. Dies ist auch für Koizu­
mi kein ­Zustand. Er jedoch setzt
auf die Erneuerbaren: «Wenn in
Europa schon so viel erneuerbarer
Strom produziert wird, kann Japan
das auch.»                          Friedlich Demonstrierende für die Energieautonomie-Initiative in der Präfektur Shimane.

Erneuerbare sollen Atom-
strom ersetzen                                                      ­ orden, beobachtete der langjährige Atomgegner und
                                                                    w
Japan könne ­seinen Atomstrom komplett durch er­                    ehemalige Botschafter Japans in der Schweiz, Mit­
neuerbare Energien ersetzen und aufhören, Atom­                     suhei Murata. Anstelle des Anti-AKW-Kandidaten Mo­
müll zu ­produzieren, davon ist er überzeugt. Selbst                rihiro Hosokawa wurde der Atombefürworter Yoichi
wenn die kühnsten Vorstellungen über ­moderne                       Masuzoe gewählt.
Technologien wahr würden, dank derer die Strahlung
des Mülls zeitlich enorm reduziert werden könnte –                  Koizumis Chance auf politische Unterstützung seiner
die Zeiträume blieben immer zu riesig, um ein End­                  Kampagne «Atomkraft – Nein danke» ist vorerst ge­
lager kontrollieren zu können. Und es würde an der                  scheitert. Er bedauert es. Aber Koizumi gibt nicht auf:
Tatsache nichts ändern, dass ein Endlager in Japan                  «Ich kämpfe weiter für ein AKW-freies Japan.»       <
niemals realisiert werden könnte.
                                                                    * Kaori Tagikawa lebt in Bern, ist Fachjournalistin und schreibt über Energie und Japan.
Koizumi, der nie mehr zurück in
die Politik möchte, hat sich ein
­politisches Ziel gesetzt: die Japane­       Anti-AKW-Bewegung in Japan: ein Beispiel aus Shimane
 rinnen und Japaner vom Atom­
                                             Im zentralistischen Japan erlaubt die Verfassung den Präfekturen eine mehrheitlich autonome Selbstver-
 ausstieg zu überzeugen. Ein hehres          waltung und Gesetzgebung. Darauf stützt sich die Anti-AKW-Bewegung «Bürgernetzwerk AKW und Ener-
 und eigentlich gar nicht so unmög­          giethemen Shimane» der gleichnamigen Provinz im Südosten des Landes. Sie fordert ein regionales Gesetz
 liches Ziel, denn laut einer Umfrage        für die Energieautonomie, das sich vor allem am Atomaustieg und am Ausbau der Produktion erneuerbarer
 der Presseagentur Kyodo sind 60 %           Energien orientiert und die Weichen für eine energieeffizientere Gesellschaft stellt.
 der Japaner gegen das Wiederauf­
                                             Vor allem die 200’000 EinwohnerInnen der Präfekturhauptstadt Matsue fühlen sich durch die Nähe der
 fahren der Reaktoren.
                                             beiden Reaktoren des Atomkraftwerks Shimane, nur wenige Kilometer ausserhalb der Stadt, zunehmend
                                             unsicher.
Doch nichts gelernt?
Anfang Februar, als es ­darum ging,          Bei der Bevölkerung fällt das Anliegen auf fruchtbaren Boden: Innerhalb von zwei Monaten hat die Anti-­
bei der Wahl des Gouverneurs der             AKW-Bewegung über 90’000 Unterschriften gesammelt – achtmal mehr, als für eine solche Initiative erfor-
                                             derlich ist. «Die Gesetzesvorlage stösst auf grosse Sympathie. Fast alle, die wir mit unserer Aktion erreichen
Präfektur Tokio die politischen Wei­
                                             konnten, haben unterschrieben», erzählt Takehiko Hobo, Vorsitzender des Bürgernetzwerks. Die Region
chen dafür zu stellen, hatten jedoch
                                             wolle ihr Energiekonzept selbst festlegen.
die Probleme der Atomenergie und
die Folge der Reaktorkatastrophe             Nun liegt der Ball beim Parlament, denn das politische Instrument der Volksinitiative und eine direkte De-
bei den Wählern nicht mehr erste             mokratie wie in der Schweiz gibt es in Japan nicht. Hobo hat aber wenig Hoffnung: «Gouverneur und Par-
Priorität. Auch in den Medien sei            lament möchten die Energiepolitik nicht autonom regeln, sondern den Kurs der Zentralregierung halten.»
                                             Und die fährt bekanntlich nicht mehr zwingend auf der Atomausstiegsschiene. Diese Aktion ist Teil einer
extrem wenig über die Unfall-
                                             ganzen Reihe von Versuchen von Bürgerinitiativen, ein Anti-AKW-Gesetz durchzubringen – alle ohne Erfolg.
­re­ak­toren in Fukushima berichtet

                                                                                                                          Energie & Umwelt 1/2014         9
Energie & Umwelt Fukushima ohne Ende - 3 Jahre nach dem Super-GAU in Japan Atommüll: "Ehrlich bleiben bei dem, was ungeklärt ist" Was der ...
WELCHE ZUKUNFT HAT DIE ATOMENERGIE?

Gibt es ein AKW-Sterben nach Fukushima?
Ja klar!
Seit Fukushima gibt es ein AKW-Sterben – aber das gab es schon vorher. In den kommenden
Jahren wird sich das noch akzentuierter zeigen, vor allem in den westlichen Industrie-
staaten und ganz speziell in Europa. Demgegenüber findet ein Ausbau der Atomenergie-
nutzung nur ausserhalb der OECD-Länder, vor allem in China und Russland, statt.

                          Von BERNHARD PILLER                                        bevölkerung mit der grünen Atomausstiegsinitiative
                          SES-Projektleiter                                          noch die Möglichkeit, eine Laufzeitbeschränkung von
                                                                                     45 Jahren einzuführen.

                          Vernünftigerweise müsste man davon ausge­                  Das etwas zögerliche Vorgehen beim Atomabschied
                          hen, dass nach einem solch katastrophalen                  nach einem Atomunfall konnte schon früher beo­
                          Atomunfall wie am 11. März 2011 in Fukushi­                bachtet werden. Als Folge des GAUs am 26. April 1986
                          ma weltweit die Anzahl der sich in Betrieb                 in Tschernobyl stieg nur Italien definitiv und real aus
                          befindlichen AKW von Jahr zu Jahr drastisch                der Nutzung der Atomenergie aus, am 1. Juli 1990
                 zurückgehen sollte. Dem ist aber nicht so. Einzig                   war der Ausstieg vollzogen und die vier italienischen
                 Deutschland hat nach Fukushima den beschlossenen                    Reaktoren abgestellt.
                 Atomausstieg massiv beschleunigt. Waren vor März
                 2011 in Deutschland noch 17 ­Reaktoren am Netz,                     Der Atomabschied der alten Welt
                 sind es heute nur noch neun. Am 31.12.2022 wird der                 Doch das AKW-Sterben findet trotzdem statt. Die
                 ­letzte Reaktor abgeschaltet sein.                                  ­Bedeutung der Atomenergie sinkt nämlich weltweit
                  In der Schweiz hat die Regierung bisher nur einen                   ganz unabhängig von Fukushima seit vielen Jahren,
                  «Atomausstieg light» beschlossen, also ohne verbind­                vor allem in der EU. Von den Anfang 2014 weltweit
                  liche Abschaltdaten, sondern nur mit einem vorläu­                  431 in Betrieb stehenden AKW stehen 322 in den
                  figen Verbot von Neubauten. Das muss vom Parla­                     westlichen Industriestaaten Europas, Nordamerikas
                  ment noch bestätigt werden. Letztlich hat die Stimm­                sowie in Japan und Südkorea. Und die Atomenergie
                                                                                                wird weiter an Bedeutung verlieren, denn
                                                                                                in diesen Ländern, in denen diese bis anhin
                                                                                                eine dominante Rolle gespielt hat, gibt es
                                                                                                heute nur gerade 13 ­Reaktor-Neubaustellen
                                                                                                (Südkorea 4, USA 3, Slowakei und Japan je
                                                                                                2 sowie Frankreich und Finnland je 1).
                                                                                                Die restlichen 109 Reaktoren befinden
                                                                                                sich in Schwellen­ländern wie China oder
                                                                                                Russland, in denen teils ­Diktaturen oder
                                                                                                Pseudo­demokratien herrschen. Und dort
                                                                                                stehen die übrigen 50 sich im Bau befind­
                                                                                                lichen Reaktoren.

                                                                                                                                   Das AKW-Sterben kann mit weiteren Zah­
                                                                                                                                   len belegt werden: In der EU27 plus CH
                                                                                            Foto: Paul Langrock/Zenit/Greenpeace

                                                                                                                                   waren Anfang dieses Jahres 131 Reaktoren
                                                                                                                                   in Betrieb. Das Maximum mit 177 Reak­
                                                                                                                                   toren war im Jahr 1989. Seit 1990 wurden
                                                                                                                                   immerhin 64 AKW vom Netz, aber nur 18
                                                                                                                                   neue ans Netz genommen. In den letzten
                                                                                                                                   24 Jahren wurden also drei Mal mehr
                                                                                                                                   ­Reaktoren abgestellt als neue in Betrieb
                                                                                                                                    ­genommen – auch wenn man die in
                                                                                                                                     Deutschland nach Fukushima abgeschal­
Das AKW Biblis in Deutschland: abgeschaltet und stillgelegt nach Fukushima im März 2011.                                             teten acht Reaktoren abzieht.

10   Energie & Umwelt 1/2014
Setzt sich diese Entwicklung fort, wird die Bedeutung              ­ eitere abgeschaltet werden. Wie der schweizerische
                                                                   w
der Atomenergie in den klassischen Industriestaaten                leidet der amerikanische AKW-Park an Überalterung.
in den kommenden Jahren weiter rasch abnehmen.                     Die 100 Reaktoren weisen ein Durchschnittsalter
Neben den Atomausstiegsbeschlüssen von Deutsch­                    von gut 34 Jahren auf, ein Fünftel davon ist älter als
land, Belgien und Spanien wird die Zahl der AKW in                 40 Jahre.
den kommenden zehn Jahren wegen des hohen Alters
vieler AKW in den USA, in Grossbritannien und Frank­               Ganz wichtig: Es gingen in den letzten Jahren prak­
reich nochmals markant sinken. Denn das Durch­                     tisch keine Neuen ans Netz. Nur vier seit 1990 und
schnittsalter der heute weltweit in Betrieb stehenden              seit 1996 kein einziges mehr. Zwar lagen im Mai 2013
AKW liegt bei stattlichen 29 Jahren.                               bei der amerikanischen Atomsicherheitsbehörde NRC
                                                                   18 Zulassungsanträge für insgesamt 28 Reaktoren auf
Lange Bauzeiten                                                    dem Tisch. Ob und wann diese je realisiert werden,
Die zum Teil sehr lange Bauzeit bei neuen AKW kann                 steht jedoch in den Sternen. Das würde auch ganz
im Moment die Abwärtsentwicklung nicht aufhalten.                  schön teuer. Denn auch in den USA erleben die neuen
Die durchschnittliche Bauzeit der 34 AKW, die welt­                Erneuerbaren inzwischen einen veritablen «Take off».
weit zwischen 2003 und Juli 2013 neu in Betrieb gin­               Insofern ist klar, dass der Atomstromanteil in den
gen, betrug 9,4 Jahre. In Europa wird in nächster                  USA auch in den kommenden Jahren sinken wird. Im
­Zukunft kaum ein AKW schneller gebaut werden.                     1995 lag er beim Maximum von 22,5 %, heute liegt er
 ­Olkiluoto, der sich in Bau befindliche EPR-Reaktortyp            bei 19 %.
  in Finnland, ist seit 2005, Flamanville in Frankreich            Auch Grossbritannien gehört zu den Ländern mit
  seit 2007 im Bau; beide werden frühestens 2016 in Be­            dem ältesten AKW-Park, und so ist es kein Wunder,
  trieb gehen. In der gesamten EU sind momentan nur                dass sich die konservative Regierung neue Reaktoren
  gerade vier AKW im Bau. Alle weiteren in der EU                  wünscht. Grossbritannien zählt aber auch zu den
  geplanten AKW (4 in Gross­britannien, in Rumänien                ­Ländern mit dem höchsten Anteil stillgelegter
  und Tschechien je 2 und je 1 in Bulgarien und Frank­              ­Reaktoren – 29 an der Zahl. Nur 16 Reaktoren sind
  reich) sind vom Spatenstich weit entfernt. Eine Reali­             noch in Betrieb, und elf davon werden noch bis 2020
  sierung der fünf osteuropäischen ist höchst unsicher.              vom Netz genommen! Ob und wann die Neubaupläne
  Zurzeit sind die Planungsarbeiten sistiert – wegen                 der britischen Regierung wirklich realisiert werden,
  fehlender Wirtschaftlichkeit und weil diverse Projekt­             bleibt aber abzuwarten (siehe Textbox).
  partner ausgestiegen sind.
                                                                   Es gab und gibt ein AKW-Sterben, bereits vor Fuku­
Zwei Beispiele                                                     shima. Aber Aussterben wird die Spezies leider
Die USA bauen ebenfalls ihren Atompark ab, aber                    ­trotzdem nicht. Die Zukunft der Atomenergie liegt in
sehr langsam: Heute sind nur noch 100 Reaktoren am                  ­China, Indien und Russland. Dort stehen zwei Drittel
Netz, 1990 waren es noch 108 Reaktoren. Erst letztes                 der AKW-Baustellen – und weitere neue Atomkraft­
Jahr gingen drei Reaktoren definitiv vom Netz. Es ist                werke sind geplant. Die Risiken werden die gleichen
jedoch absehbar, dass in den kommenden Jahren                        hohen sein! Tschernobyl lässt grüssen ...         <

 Grossbritannien plant und subventioniert                                  Atomkraftproduktion von heute 12 Gigawatt auf 75 Gigawatt gesteigert
 Atomkraft-Renaissance                                                     werden, meint Andrew Sherry, Leiter des Dalton Nuclear Institute der
                                                                           University of Manchester.
 Grossbritannien war einst Champion in der industriellen Nutzung von
 Atomenergie: 1957 eröffnete die Queen höchstpersönlich das weltweit       Der Widerstand gegen das neue AKW ist bescheiden: Selbst South West
 erste AKW im Nordwesten Englands. Jetzt strebt die britische Regie-       Against Nuclear (SWAN) bleibt seit Ankündigung des Deals mit EDF
 rung erneut einen Rekord an: In Hinkley Point, südwestlich von Bristol,   ruhig. ­Generell sind in Grossbritannien die AtombefürworterInnen den
 ist ein neues AKW ­geplant, das mit rund 24 Milliarden Franken die        -gegnerInnen weit überlegen. Und so ist auch David Camerons ­zweiter
 höchsten Baukosten pro jährlich ­p roduziertem Megawatt aus nicht         Streich, im Rahmen des Infrastruktur-Investitionsplanes 2013 zwölf
 erneuerbaren Quellen haben wird – und die längste Bauzeit dazu.           ­Milliarden Franken für den Bau eines neuen AKW im walisischen ­Wylfa
                                                                            aufzuwenden, gern gesehen. Der Minister für Wales, David Jones, sieht
 Und mit Rekordverdächtigem geht es weiter: Energie de France (EDF),
                                                                            darin einen enormen wirtschaftlichen Gewinn für die Gegend, nament-
 die das AKW baut, soll über die nächsten 35 Jahre einen garantierten
                                                                            lich wegen der Schaffung von Arbeitsplätzen. Allerdings stellt sich
 Abnahmepreis von rund 140 Franken pro Megawattstunde erhalten.
                                                                            schon heute die Frage, wo die 3500 Bauarbeiter wohnen sollen – und
 Eine Megawattstunde wird in England zurzeit für 72 Franken gehan-
                                                                            die Ansässigen fürchten, dass die Kosten für Immobilien explodieren
 delt. Analysten nennen dies einen «ökonomischen Wahnsinn». Da zu-
                                                                            würden. Auch der Strom aus Wylfa wird staatlich subventioniert werden:
 sätzliche 15 Milliarden Franken Kreditbürgschaft ausgerichtet werden,
                                                                            Die Regierung Cameron hat einen Fixpreis, welcher der Inflation
 hat EU-Energie-Kommissar Günther Oettinger diesen Handel auch
                                                                            ­angepasst werden wird, von 135 Franken pro Megawattstunde garan­
 schon als Rückschritt in die Sowjetzeiten bezeichnet.
                                                                             tiert. ­D iese ­m assive Unterstützung des Atomstroms könnte Gross­
 Die Begründung für Grossbritanniens Atomrenaissance, zumindest              britannien bei seiner Atom-Renaissance allerdings zum Verhängnis
 in Bezug auf den Bau von Hinkley Point C, ist grün: Erklärtes Ziel ist,     werden: Zurzeit prüft die EU, ob dies überhaupt noch mit den Regeln
 bis 2050 den CO2-Austoss um 80% zu vermindern. Dazu müsse die               für staatliche Beihilfen konform ist.   Katia Schär

                                                                                                                  Energie & Umwelt 1/2014       11
DIE TIEFENLAGER-SUCHE: ECHTE MITSPRACHE ODER NUR PSEUDO-DEMOKRATIE?

«Ehrlich bleiben bei dem, was ungeklärt ist»
Viele und wesentliche Sicherheitsfragen zu den potenziellen Tiefenlagern sind nach wie
vor nicht beantwortet. Für die SES ist klar: Die «Regionale Partizipation» zu den Standorten
für Oberflächen­anlagen ist ein verkehrtes, ­verfrühtes Vor­gehen. Findet via Regional­
konferenzen wirklich echte Mitsprache statt – oder ist das so genannte Partizipations­
verfahren nur Pseudo-Demokratie? Das E&U hat nachgefragt.

                         Von RAFAEL BRAND                                             der SES – ist das Partizipationsverfahren zu den Ober­
                                                                                      flächenanlagen-Standorten ein verkehrtes, verfrühtes
                                                                                      Vorgehen. Als 1978 am Wellen­berg erste Sondierboh­
                       Die Schweizerische Suche nach einem Atom­müll­                 rungen erfolgten, hiess es seitens der Nagra, kristal­
                       ­lager gilt – international gesehen – heute als                lines Gestein sei für ein Endlager am besten geeignet.
                        vorbildhaft. Mit dem Atom­ausstieg und weil der               Nun ist die sicherste Lösung der Opalinuston. Das zeigt:
                        Bau von neuen AKW vom Tisch ist, besteht kei­                 Welches die sicherste Lösung, das beste Wirtgestein,
                        nerlei Druck für eine schnelle (Schein-)Lösung.               der beste Standort ist, ändert sich – und ist nicht zu­
                        Im Gegenteil: Oberste Priorität hat noch immer,               letzt auch eine Frage des politischen Widerstands.
                 dass die beste und sicherste Lösung gefunden wird!
                 Ein Atommülllager also, das grösstmögliche Sicher­                   Werden über die Regionalkonferenzen also vor allem
                 heit und Flexibilität in Aussicht stellt, nach neustem               die Fühler ausgestreckt, um herauszufinden, wo ein
                 Wissensstand modifizierbar und für die zig Generati­                 ­Tiefenlager politisch machbar ist? Bringen die RKs
                 onen, die nach uns folgen, fair und vertretbar ist.                   echte Mitsprache, ist die Suche nach einem Tiefen­
                 Denn Atommüll ist und bleibt für die unbegreifbare                    lager überhaupt ergebnisoffen?
                 Zeitdauer von 1 Million Jahre gefährlich.
                                                                                      Was bringen die Regionalkonferenzen?
                 Nagra: Wir wissen wie entsorgen                                      «Offiziell geht es darum, den sichersten Standort für
                 Für die Nagra ist die Entsorgungsfrage gelöst: «Wir                  ein Tiefenlager zu finden. Viele RK- Mitglieder haben
                 wissen, wie wir (..) radioaktive Ab­fälle ent­sorgen und             aber kein echtes Vertrauen in den Prozess. In Sicher­
                 wie wir ein sicheres Tiefenlager bauen können. Alle                  heitsfragen begegnen sich Regionen und Experten
                 entscheidenden sicherheitstechnischen Fragen sind                    nicht auf Augenhöhe», erklärt Othmar Schwank, vor­
                 be­antwortet», heisst es auf der Nagra-Website. Ja, der              mals Geschäftsführer, nun Prozessbegleiter der Regio­
                 Bundesrat hat die Entsorgungsnachweise 1988 und                      nalkonferenz Südranden (SH): «Die Regionen müssen
                 2006 gutgeheissen. Doch die Entsorgung ist alles an­                 sich auf einen oder mehrere am wenigsten unge­eignete
                 dere als gelöst (siehe Textbox).                                     Standorte für Oberflächenanlagen festlegen, bevor
                 Bevor zentrale Sicherheitsaspekte zu den möglichen                   weitere, wichtige Abklärun­gen zu den Tiefen­lagern
                 Tiefenlagern nicht geklärt sind – so die klare Meinung               erfolgt sind. Das Pferd wird so vom Schwanz her auf­
                                                                                      gezäumt.» Doch die Regionalkonferenzen haben für
                                                                                      Othmar Schwank durchaus auch positive Aspekte:
 Regionale Partizipation: Im Januar 2012 hat die Nagra 20 mögliche Standorte          «Das Verfahren ist grundsätzlich ein offenes. Mit­
 für Oberflächenanlagen vorgeschlagen. Gemeinden und Betroffene können im             sprache ist möglich, aber natürlich nur in begrenztem
 Rahmen von so genannten Regionalkonferenzen nun ihre Fragen und Standpunkte          Ausmass wie im Sachplan definiert.»
 einbringen. Geprüft werden raumplanerische und sozioökonomische Aspekte.
                                                                                      Für Lukas Spuhler, Mitglied k züri und der RK Nörd­
                                                                                      lich Lägern, stehen Aufwand und Ertrag der Regio­nal­
 Atommüll xy ungelöst                                                                 kon­fe­renzen in keinem Verhältnis: «Das Verfahren
 Für die SES ist klar, dass – angesichts der vielleicht nie abschliessend zu beant-   dient vor allem dazu herauszufinden, wo ein Tiefen­
 wortenden Sicherheits­fragen – die Überwachung dauerhaft und die Rückholbar-         lager politisch möglich ist, respektive der Widerstand
 keit des Atommülls stets gewährleistet sein muss!                                    am kleinsten ist.» Trotzdem sieht Lukas Spuhler eben­
 Die SES hat deshalb im Dezember 2011 – unterzeichnet durch viele weitere             falls ­einige positive Aspekte: «Über die Regionalkonfe­
 ­Organisationen – die 12 ­wichtigsten, ungelösten Fragen der Schweizer Atommüll­     ren­zen wird viel Fachwissen verbreitet. In der Bevöl­
  entsorgung aufgelistet (Download unter www.energiestiftung.ch). Eine Vielzahl       kerung finden über die Parteigrenzen hinweg wichtige
  von Sicherheits­aspekten wie die Gas- und Wärmeentwicklung, die Alterung und        und dringend notwendige Diskussionen statt.»
  Undichtigkeit der Behälter sowie Fragen zum Einfluss des Lagerbaus auf den          Jean-Jacques Fasnacht, im Vorstand von klar! Schweiz
  Opalinuston und zur Überwachung sind bis dato ungenügend berücksichtigt und
                                                                                      und RK-Mitglied Zürich-Nordost, kritisiert vor allem,
  beantwortet. Das Nagra-Konzept möchte das Lager nach 50 Jahren Überwachung
                                                                                      dass bezüglich der Sicherheit der potenziellen Tiefen­
  für immer zu verschliessen.
                                                                                      lager die notwendigen Informationen nach wie vor

12   Energie & Umwelt 1/2014
fehlen und wesentliche Fragen unge­
klärt sind. «Meine Hoffnung und mein
Ziel ist es, dass solche offenen Sicher­
heitsfragen via Regionalkonferenzen in
den Entscheidprozess einfliessen und
vielleicht bessere Lösungen im Auge be­
halten werden.» Der Nagra und den in­
volvierten Stellen attestiert und traut
­Jean-Jacques Fasnacht durchaus eine
 gewisse Öffnung und Veränderung der
 Denkweise zu.

Ergebnisoffen bleiben
Die Hoffnungen und Befürchtungen
der Regionalkonferenzen bringt schlies­
lich Martin Ott, Leiter der Fachgruppe
Sicherheit der RK Zürich Nord-Ost, wie
folgt auf den Punkt: «Das Partizipations­
verfahren muss dazu dienen, dass die
Diskussion eine ergebnis­offene bleibt
und die Suche nach einem Tiefenlager                 Vertrauliche Nagra-Aktennotiz AN 11-711
zu einem demokratisch-partizipativen                 Die von der SonntagsZeitung am 7.10.2012 erstmals veröffentlichte vertrauliche Aktennotiz zeigt auf Seite 13 das
Prozess wird. Es gibt positive Anzeichen.            Planungsszenario «Ausblick ES (Explorationsstragie) Standortwahl: Bohrprogramm».
Die Frage aber bleibt, ob die Verant­                STOP-Zeichen sig­nalisieren, dass bei Nördlich Lägern (AG/ZH) und Südranden (SH) weitere, geologische Unter-
wortlichen fähig sind, unsere Anliegen,              suchungen abgebrochen werden. An den Standorten Zürich-Nordost (Benken im Zürcher Weinland) und Jura-Ost
                                                     (Bözberg) hingegen sollen nach weiteren Bohrungen Rahmenbewilligungsgesuche für ein Lager für hoch ­aktive
Fragen und Argumente aufzunehmen.                    Abfälle (HAA) und ein Lager für schwach- und mittelaktive Abfälle (SMA) eingereicht werden. Die Nagra erklärte
Diese müssen ehrlich bleiben bei dem,                der SonntagsZeitung gegenüber, die Aktennotiz habe keine detaillierte Planung zum Inhalt, das Planungsszenario
was ungeklärt ist.»                    <            sei lediglich ein modellhafter Ablauf mit hypothetischen Resultaten.

Kurzinterview mit Pastor Eckhard Kruse,
Endlager-Beauftragter der evangelischen Landeskirche Hannover

E&U: Sie befassen sich seit über 20 Jahren mit dem Atommülllager                 Wellenberg voraus, dem die Nidwaldner
in Gorleben und sind für die Landeskirche Hannover Endlager-Beauf-               Stimmberechtigten mit 51,9% Nein-Stim-
tragter: Warum beschäftigt Sie das Thema derart intensiv?                        men eine Absage erteilten. Ich habe die Ar-
«   Die Endlager-Frage wird häufig nur aus technischer Sicht betrachtet. Oft     beit der kantonalen Fachgruppe Wellenberg
                                                                                 interessiert verfolgt und konnte nachvollzie-
wird vorausgesetzt: Was wir können, das dürfen wir auch. Mein Zugang ist
von der ethischen Fragestellung her. Ein Endlager wird jede kommende Ge-         hen, dass bei der Abstimmung 2002 die Zahl
neration betreffen. Es geht also darum, die Menschen zu schützen, auch die       der Nein-Stimmen auf 57,7% gestiegen ist.
Menschen kommender Generationen, denen der Atommüll auf eine Million             In der Schweiz wurde daraufhin ein neues Verfahren auf den Weg gebracht,
Jahre hinterlassen wird.»                                                        das nicht einen einzigen Standort zur Abstimmung stellt, sondern ein schritt-
                                                                                 weises alternatives Standortsuchverfahren ermöglicht. Gleichzeitig wurde
E&U: Sie kritisieren, dass es in Deutschland an Ergebnisoffenheit, an            beschlossen, Abstimmungen nicht auf der kantonalen Ebene durchzuführen,
Transparenz und fehlender Beteiligung der Öffentlichkeit mangelt: Läuft          sondern das gesamte Gebiet der Schweiz einzubeziehen. Aus meiner Sicht ist
die Standortsuche in der Schweiz ­dies­bezüglich besser?                         es in der Schweiz möglich und erforderlich, sich konstruktiv-kritisch in lokale,
«   In der Schweiz haben Sie sehr tiefgehende Traditionen der Demokratie         nationale und internationale Diskussionen einzubringen und Gehör zu finden.
                                                                                 Ob die Argumente der Betroffenen angemessen berücksichtigt werden, kann
und knüpfen in der Endlager-Frage an bewährte Beteiligungsverfahren an.
Positive Erfahrungen mit dem Sachplanverfahren werden auf den Gegen-             ich nicht beurteilen. In jedem Fall halte ich es für absolut notwendig, die Ar-
stand der radioaktiven Abfälle übertragen. Ein Verfahren ohne die Bevöl­         gumente und Fragen der örtlich Betroffenen ernst zu nehmen bei einem solch
kerung oder gar gegen sie wäre nach meinem Eindruck in der Schweiz gar           weitreichenden Entscheid.    »
nicht denkbar. In Deutschland haben wir eine völlig andere Ausgangslage.
Es wurde ein Verfahren nach dem veralteten Bergrecht gewählt, das keine          E&U: Wie würden Sie ein «sicheres Endlager» definieren? Auf welche
Beteiligung der Bevölkerung vorsieht. Auch das 2013 beschlossene                 zwei, drei Aspekte muss besonders geachtet werden?
Standortauswahlverfahren gilt in diesem zentralen Punkt letztlich nicht für      «    Ob es je ein wirklich sicheres Endlager geben kann, weiss ich nicht.
den ­Standort ­Gorleben. Vor diesem Hintergrund betrachte ich das Schweizer      Sehr wichtig scheint mir, dass heute schon alle potenziellen Fehler und
                                                 »
Verfahren in mehrfacher Hinsicht als vorbildlich.                                Schwachstellen möglichst umfassend erkannt und eruiert werden. Diese
                                                                                 gilt es dann unbedingt zu vermeiden.       »
E&U: Die Regionen können sich zwar via Regionalkonferenzen einbrin-
gen, zum Standort-Entscheid haben sie aber nichts zu sagen: Wird ein-
fach Pseudo-Demo­kratie statt echter Mitsprache vorgespielt?                              Pastor Eckhard Kruse ist Referent am internationalen
«   Dem gegenwärtigen Schweizer Verfahren ging 1995 eine Abstimmung zum                 Atommüll­kongress der SES, 13. März, Technopark, Zürich.

                                                                                                                                Energie & Umwelt 1/2014          13
DIE EWIGE SUCHE NACH EINEM SICHEREN ENDLAGER

Steinzeit zu Science-Fiction: die unfassbare
Zeitdimension der Atommüllentsorgung
AKW produzieren immer weiter Strom und Atommüll, obwohl es auch nach über 40 Jahren
Forschung keine sichere Lösung für die Entsorgung von radioaktivem Abfall gibt. Nachdem
dieser eine Weile unbekümmert im Meer versenkt wurde, hat man auch für ein geologisches
Tiefenlager nach wie vor kein überzeugendes Konzept. Die Suche nach ­einer Lösung und die
unfassbar lange Zeitdauer, bis der Müll für Mensch und Umwelt nicht mehr gefährlich ist,
beschäftigen derweil nicht nur die Forschung, sondern sie werden in der Schweiz auch in
einem neuen Kinofilm und einer Ausstellung thematisiert.

                      Von TINA BERG                                      einem geeigneten Standort-Gebiet für ein Endlager.
                      SES-Praktikantin                                   Und das, bevor alle technischen und organisa­torischen
                                                                         Probleme gelöst sind – ein verkehrtes Vorgehen.
                       Die Atommüllproblematik kümmerte in der
                       An­fangseuphorie des nuklearen Zeitalters nie­    Die ewige Suche stellt nicht nur die Schweiz vor ein
                       manden. Bis in die 1960er-Jahre wurde radio­      Problem. Die Lösung der Atommüllfrage beschäftigt
                       aktiver Abfall aus der Forschung oder Industrie   Forscher und AKW-Betreiber auf der ganzen Welt.
                       wie normaler Kehricht behandelt oder gar über     Im 2013 erschienenen Kinofilm «Die Reise zum
                       das Abwasser «entsorgt». Erst einige Jahre spä­   ­sichersten Ort der Erde» von Edgar Hagen wird ein
               ter begann man, den verseuchten Müll zu sammeln.           Überblick über die weltweiten Misserfolge und
               Zwischen 1969 und 1982 liess die Schweiz mehrere           Schwierigkeiten bei der Endlagerung von radioak­
               Tausend Container strahlenden Abfall im Nordost­           tivem Müll gezeigt. Ob in China, in den USA oder in
               atlantik versenken, wie unter anderem die Deutschen,       Schweden: Der sicherste Ort konnte bislang auf der
               Holländer, Franzosen und die Amerikaner auch.              Weltkarte nirgends markiert werden. Eindrücklich
                                                                          zeigt der Film, was für eine riesige Verantwortung
               Weltweit noch kein Endlager                                der Mensch mit dem Vermächtnis der Technologie­
               Nachdem der Widerstand gegen diese Praxis anfangs          geschichte trägt.2
               1980er-Jahre zu einem internationalen Versenk­ungs-
               Moratorium geführt hatte, waren sich die Experten in      Unfassbare Zeitdimensionen
               der Zwischenzeit einig geworden, dass der radio­          Im krassen Gegensatz zur über 40-jährigen Produktion
               aktive Müll im Boden besser aufgehoben wäre. In der       von Atommüll und der Suche nach einer Entsorgungs­
               Schweiz begann die von den AKW-Betreibern finan­          option steht der Zeithorizont von einer Million Jahren,
               zierte Nagra mit geologischen Untersuchungen. Die         in denen der Atommüll sicher von der Biosphäre
               anfängliche Überzeugung, dass kristallines Gestein        ­abgeschirmt lagern muss, damit die Strahlung ab­
               optimal für ein Endlager sei, wich ums Jahr 2000           klingen kann. Für das Projekt Atommüllentsorgung
               (parallel zum wiederholten Nein des Nidwaldner             muss ein Sicherheitskonzept für über 3000 Generati­
               Stimmvolks zum Wellenberg) der Ansicht, dass der           onen entwickelt werden – eine gewaltige Zeitdauer,
               Opalinuston zwischen Solothurn und Schaffhausen            die in der menschlichen Wahrnehmung praktisch
               nun der sicherste Endlagerort sei.                         ­unfassbar ist.

               Eine sichere Lösung für die Entsorgung der radio­         Ein Vergleich aus der Geschichte ermöglicht es, die
               aktiven Abfälle ist nach wie vor nicht in Sicht – im      ­Di­mensionen des Riesenprojekts zu verdeutlichen:
               Gegenteil: Die Nagra hatte bis Ende der 1990er-Jahre       In diesem Sommer jährt sich das Attentat auf Franz
               700 Millionen Franken1 ausgegeben, ohne ein Konzept        Ferdinand, Thronfolger von Österreich-Ungarn, zum
               vorweisen zu können, das alle Sicherheitsbedenken          hundertsten Mal und damit auch die diplomatische
               befriedigte. 1988 hatte die Nagra den gesetzlich ge­       Krise des zuvor stabilen europäischen Bündnissystems,
               forderten Entsorgungsnachweis für schwach- und             das schliesslich den Ersten Weltkrieg ausbrechen liess.
               mittelaktive Abfälle gemäss Bundesratsentscheid            So fremd wie manchem das Wort «Bündnissystem»
               erbracht. 2006 wurde der Entsorgungsnachweis für           vorkommen mag, so fremd sind den meisten heute
               hochaktive Abfälle vom Bundesrat akzeptiert und seit       Lebenden die Gepflogenheiten und die Lebensart der
               2008 sucht die Nagra im Rahmen des «Sachplanver­           Menschen zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Dabei han­
               fahrens geologische Tiefenlager» in der Schweiz nach       delt es sich doch lediglich um 100 Jahre, zehntausend

14   Energie & Umwelt 1/2014
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