Energie & Umwelt - Schweizerische Energie-Stiftung

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Energie & Umwelt - Schweizerische Energie-Stiftung
Energie & Umwelt
Magazin der Schweizerischen Energie-Stiftung SES – 2/2019

Wo bleibt die Stromwende?
> Wie führen wir die Stromversorgung in die Zukunft?
> Europa auf dem Weg zur Stromwende
> Das Angstgespenst Versorgungssicherheit

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Energie & Umwelt - Schweizerische Energie-Stiftung
INHALT

                                         Wo bleibt die Stromwende?

                                      4 Wie führen wir die Stromversorgung in die Zukunft?
                                         Die Stromversorgung Europas ist im Umbruch. Alles weist daraufhin, dass die festge-
                                         fahrene Strompolitik der Schweiz dann einen Ausweg findet, wenn sie die Förderung
                                         von Solarstrom deblockiert.

                                      8 Energie aktuell

                                    10 Europa auf dem Weg zur Stromwende
                                         In der EU nimmt die Energiewende im Stromsektor Fahrt auf. In der Schweiz hingegen
                                         kommt die Stromwende nur schleppend voran.

                                    12 Energieeffizienz: Es braucht gesetzliche Vorgaben
                                         Durch die Elektrifizierung von fossilen Anwendungen runter auf letztlich netto Null
                                         CO2-Emissionen: Doch welchen Mehrverbrauch zieht das nach sich? Und welche Rolle
                                         spielt dabei die Energieeffizienz? Zwei Experten ordnen ein.

                                    14 Das Angstgespenst Versorgungssicherheit
                                         Das Schweizer Stromnetz ist sehr gut aufgestellt – auch für den Atomausstieg:
                                         Die Versorgungssicherheit bleibt gewährleistet, erneuerbare Energien leisten einen
                                         wichtigen Beitrag und Gaskraftwerke sind unnötig.

                                    16 Jetzt das Beznau-Manifest unterzeichnen!
                                         Der Schweizer Atomausstieg ist in Schieflage. Deshalb hat die SES das Beznau-Manifest
                                         lanciert. Wir setzen Hoffnung in Simonetta Sommaruga und werden das Manifest mit
                                         unseren 3 Forderungen dann gerne der neuen Energieministerin übergeben.

                                    18 Der Atommüllhaufen der Geschichte
                                         Zwei neue Bücher «Wohin mit dem Atommüll» & «Atomfieber» zeigen, wie die Schweiz
                                         in die Atomkraft eingestiegen ist und mit welchen Risiken sie bis heute kämpft.

                                   20		 SES aktuell

                                   22		 Gletscher-Initiative: Das Ende der fossilen Energien
                                         Unsere Gletscher schmelzen dahin. Die im April lancierte Gletscher-Initiative will die
                                         Pariser Klimaziele in der Verfassung festschreiben und fordert netto Null CO2-Emissionen
                                         bis 2050. Jetzt die Initiative unterschreiben!

Schweizerische Energie-Stiftung SES
044 275 21 21, info@energiestiftung.ch, energiestiftung.ch
Spenden-Konto 80-3230-3, IBAN CH69 0900 0000 8000 3230 3

2   Energie & Umwelt 2/2019
Energie & Umwelt - Schweizerische Energie-Stiftung
EDITORIAL

Sind wir mit der Energiewende auf Kurs?

            Geschätzte Leserschaft!

            Als ich im Februar 2011 bei der SES angefangen habe,         Der Ausbau der erneuerbaren Energien geht nur
            ahnte niemand, dass viele festgefahrenen Vorstellungen       ­schleppend voran. Und das, obwohl Solar- und Wind-
            in der Energiepolitik nur sechs Wochen später wie             kraft heute die günstigste Art sind, Strom zu produ­
            ­weggefegt sein würden. Am 11. März 2011 löste ein            zieren. Es braucht deutlich mehr, fordert Beat Jans­
             Tsunami die dreifache Kernschmelze in Fukushima              (S. 4–7). Die Schweiz ist im internationalen Vergleich
             aus. Der Super-GAU war sozusagen die Geburtsstunde           im Hintertreffen, zeigt Tonja Iten (S. 10 + 11). Und allen
             der Energiestrategie 2050 in der Schweiz.                    Unkenrufen zum Trotz: Die Stromversorgung ist auch
                                                                          mit erneuerbaren Energien sicher, ist Andreas Ulbig
            Es folgten tausendseitige Berichte und Modellrechnun-         überzeugt (S. 14 + 15).
            gen, jahrelange Beratungen und Deals in Hinterzimmern
            des Bundeshauses. Im Mai 2017 sagten über 58 % der           Die Politik ist gefragt. Mit den aktuellen Mehrheits­
            Bevölkerung Ja zum neuen Energiegesetz. Und was              verhältnissen in Bundesrat und Parlament verharrt
            bringts? Die Bilanz ist ernüchternd. Der Atomausstieg        sie aber in einer Blockade. Um diese zu lösen, müssen
            ist zum gesetzlichen Neubauverbot verkümmert, das            die Erdöllobbyisten, Klimaleugner und Fortschrittsver­
            niemandem weh tut, weil ohne massive Subventionen            hinderer den Realistinnen und Machern Platz machen.
            sowieso niemand ein AKW baut. Die alten AKW in-              Bei den Wahlen am 20. Oktober 2019 können viele von
            ­des laufen weiter, solange sie die Aufsichtsbehörde als     Ihnen – liebe Leserin, lieber Leser – mitentscheiden.
             sicher taxiert. Damit deren Urteil nicht in Gefahr gerät,   Nutzen Sie diese Gelegenheit und lassen Sie die Energie­
             passt der Bundesrat auch mal rasch Grenzwerte an. So        wende in der Schweiz wie Phönix aus der Asche zu
             geschehen im Dezember 2018 – Doris Leuthards Ab-            neuem Leben auferstehen!
             schiedsgeschenk mit schalem Nachgeschmack.
                                                                         Felix Nipkow, Projektleiter Strom & Erneuerbare
            Nichtsdestotrotz: Mit der Energiestrategie hat das Boot
            Schweiz einen neuen Kurs aufgenommen. Aber wie               PS: Statt bis im Oktober zu warten, können Sie heute
            ein passionierter Segler mir verraten hat: Man kann mit      schon aktiv werden. Geben Sie der neuen Energieminis­
            einem Segelboot auf Kurs sein und trotzdem stillstehen.      terin Simonetta Sommaruga ein Zeichen: Unterzeichnen
            Es ist höchste Zeit, dass die Energiewende in der Schweiz    Sie das Beznau-Manifest der SES (S. 16). Und unterschrei­
            Fahrt aufnimmt!                                              ben Sie auch die Gletscher-­Initiative (S. 23)!

                                                                                                        Energie & Umwelt 2/2019   3
Energie & Umwelt - Schweizerische Energie-Stiftung
Strom-Transitleitung auf dem Gotthardpass
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Stromdrehscheibe Schweiz: Der freie Markt alleine wird es nicht richten.

ENERGIEWENDE IM STROMBEREICH

Wie führen wir die Stromversorgung
in die Zukunft?
Die Stromversorgung Europas ist im Umbruch. Die Vorgaben ändern sich
schon fast im Sekundentakt. Aber alles weist daraufhin, dass die festgefahrene
Strompolitik der Schweiz dann einen Ausweg findet, wenn sie die Förderung
von Solarstrom deblockiert.

                     Von Beat Jans                                              ■■ Erstens ist das Stromsystem kein klassischer
                     SES-Stiftungsratspräsident, SP-Vizepräsident und           Markt. Denn beim Strom muss das Angebot die Nach-
                     Nationalrat                                                frage immer exakt decken, damit die Spannung im
                                                                                Netz stimmt. Ein bisschen zu wenig oder zu viel führt
                     Der Markt wird es richten. Das ist wieder mal die Devise   zum Blackout. Der Markt hat das noch nie gerichtet.
                     des Bundesrats. Dieses Mal meint er den sogenannten
                     Strommarkt. Dank Einbettung der Schweiz in das eu-         ■■  Zweitens wird die Stromproduktion in allen Län-
                     ropäische Elektrizitätssystem, so der Bundesrat, müsse     dern subventioniert. Ein Staat, der die Produktion
                     sich die Schweiz keine Sorgen um die künftige Strom-       diesem verzerrten Nichtmarkt überlässt, gibt den Zu-
                     versorgung machen. Auch wenn die Produktion in der         schlag der vermeintlich billigsten Produktion. Weil
                     Schweiz zurückgehe, werden Importe die Lücke füllen.       ex­terne Kosten oft nicht enthalten sind, sind das meist
                     Und weil das so schön ist, propagiert er gleich noch       subventionierte und umweltschädliche Kohle-, Gas-
                     die vollständige Marktöffnung in der Schweiz.              oder Atomkraftwerke.

                     Mit dieser Haltung überzeugt der Bundesrat allerdings      ■■ Drittens ist die Integration in den europäischen
                     die Fachwelt nicht. Im Gegenteil, er stösst sie vor den    Strommarkt unsicher. Das Stromabkommen mit der
                     Kopf. Warum?                                               EU steht und fällt mit dem Rahmenabkommen, das
                                                                                bekanntlich auf der Kippe steht.

4   Energie & Umwelt 2/2019
Energie & Umwelt - Schweizerische Energie-Stiftung
Photovoltaikanlage auf einem KMU-Gewerbedach in Altdorf/Uri,
gebaut durch die Gemeindewerke Erstfeld (Foto: Rafael Brand, Scriptum)

                                                                         Stromwende, Klimaziel und Atomausstieg lassen sich mit dem Zubau von Solarstrom erreichen.

                                                                         ■■ Und viertens fehlt es dem Bundesrat an Weitsicht.       tun, dass neue AKW zu spät kommen würden. Die Rea-
                                                                         Die Studie1, der die Importeuphorie zu Grunde liegt,       lisierung von AKW dauert 20 bis 25 Jahre. Nur schon die
                                                                         hat gerade mal einen Horizont bis 2025. Dabei wäre es      Bauphase dauert mehr als ein Jahrzehnt. Die AKW Olki-
                                                                         höchste Zeit, an das Nachher zu denken. Denn Kraft-        luoto in Finnland und Flammanville in Frankreich sind
                                                                         werke baut man nicht von heute auf morgen.                 seit 2005 respektive 2007 in Bau. Zudem sind neue AKW
                                                                                                                                    inzwischen so viel teurer als alle Alternativen, dass sich
                                                                         Was bloss ist Strommarktdesign?                            weit und breit keine Investoren finden. Aus Sicherheits-
                                                                         Die Situation ist inzwischen so verworren, dass fast       gründen und wegen des ungelösten Atommüllproblems
                                                                         jeder Stromversorger in der Schweiz seine eigene Idee      sind die alten AKW so bald wie möglich stillzulegen.
                                                                         der künftigen Strompolitik vertritt und niemand mehr
                                                                         wirklich weiss, was gilt. Alle sprechen vom Strommarkt-    Künftige Strategien sind an diesen drei Zielen auszu-
                                                                         design und alle verstehen etwas anderes darunter.          richten. Doch wo stehen wir überhaupt?
                                                                         Deshalb lohnt sich eine Auslegeordnung und die For­mu­
                                                                         lierung klarer Ziele. Beginnen wir mit den Zielen.         Energiestrategie 2020: Sind wir auf Kurs?
                                                                                                                                    Im November publizierte das Bundesamt für Energie
                                                                         Die künftige Stromversorgung muss:                         (BFE) den Monitoringbericht zur Energiestrategie 2050,
                                                                                                                                    der aufzeigt, wo sich die Schweiz auf dem Weg zur
                                                                         ■■  sicher sein. Weil die ganze Wirtschaft am Strom        Energiewende befindet. Das BFE stellt dort fest, dass wir
                                                                         hängt, darf es keine Versorgungsengpässe geben. Strom      für die Ziele zur Senkung des Verbrauchs und zur Stei-
                                                                         ist ein strategisches Gut. Die Schweiz muss sich auch in   gerung der Stromproduktion aus erneuerbaren Quellen
                                                                         Krisen- und Kriegszeiten unabhängig versorgen können.      bis 2020 auf Kurs sind. Es lässt aber offen, ob das auch
                                                                                                                                    für die Ziele bis 2035 gilt, wenn die Fördermecha­
                                                                         ■■ dem Klimaschutz dienen. Strom aus erneuerbaren          nismen für erneuerbare Energien auslaufen. Denn im
                                                                         Energiequellen soll helfen, Erdöl, Erdgas und Kohle zu     Energiegesetz wurden die Einspeisevergütung ab 2022
                                                                         ersetzen. Die Stromproduktion muss deshalb ermögli-        und die Einmalvergütung ab 2030 auf Druck von SVP
                                                                         chen, dass der Verkehr künftig mit Elektromobilen und      und FDP befristet.
                                                                         die Wärmeversorgung mit elektrischen Wärmepumpen
                                                                         betrieben werden kann. Anders kann die Schweiz das         Sollten die Strompreise bis dann nicht anziehen, wird
                                                                         ratifizierte Klimaabkommen von Paris nicht erfüllen.       der Kraftwerkzubau in der Schweiz stillstehen, während
                                                                                                                                    die laufenden Atomkraftwerke ihrem Lebensende immer
                                                                         ■■ auf Atomstrom verzichten. Das hat nicht nur mit         näher kommen. Der Bericht zeigt auch, dass Solarstrom
                                                                         der Energiestrategie 2050 zu tun, welche die Bevölke-
                                                                         rung klar angenommen hat. Es hat nur schon damit zu        1 Schlussbericht System Adequacy 2025, publiziert unter www.elcom.admin.ch

                                                                                                                                                                                          Energie & Umwelt 2/2019   5
Energie & Umwelt - Schweizerische Energie-Stiftung
Die Dekarbonisierung des Schweizer Energiesystems                 Grafik: ZHAW Wädenswil, IUNR / Quelle: BAFU (2017). Totalrevision des CO2-Gesetzes
                                                                                                             für die Zeit nach 2020 – Entwurf des Bundesrates vom 1.12.2017.

                                           120
                                                                                                                    2050
                                                                                                                                                     Mobilität
                                           100                                                                                                       Wärmeerzeugung
    Stromproduktion und -bedarf in TWh/a

                                                                                                                                                     Geothermie
                                           80                                                                                                        Biomasse

                                                               2017                                                                                  Wind
                                           60
                                                                                                                                                     Stromeffizienz

                                                                                                                                                     PV
                                           40                                                                                                        Prognose Strombedarf
                                                                                                                                                     (aus den Energieszenarien)
                                                                                                                                                     Kernkraftwerke
                                           20
                                                                                                                                                     Neue erneuerbare Energien

                                                                                                                                                     Wasserkraftwerke
                                            0
                                                  Produktion          Bedarf                       Produktionspotenzial        Bedarf

                                                      Der erhöhte Strombedarf durch die Dekarbonisierung des Schweizer Energiesystems (inkl. Strassenverkehr und
                                                      Wärme) kann durch Effizienz und Zubau von erneuerbaren Energien gedeckt werden.

                                                      das grösste Potenzial hat. Photovoltaik ist zudem die       Wann kommt das Stromabkommen mit der EU?
                                                      derzeit günstigste Technik unter den Erneuerbaren und       Die Schweiz ist als Stromdrehscheibe stark vernetzt mit
                                                      belastet den Netzzuschlagsfonds pro Kilowattstunde am       dem Ausland. Fast täglich wird mehr Strom über die
                                                      geringsten. Der Zubau von Solarstromanlagen scheitert       Landesgrenzen hin und her gehandelt, als hierzulande
                                                      also nicht am Widerstand von Planern und Landschafts-       überhaupt produziert wird. Um sicherzustellen, dass die
                                                      schützern, sondern an der stiefmütterlichen Förderung       Spannung in der Schweiz dennoch jederzeit stimmt,
                                                      durch Bundesrat und Parlament. Die dringend benötig-        muss die Übertragungsnetzbetreiberin Swissgrid ein-
                                                      te Dynamik für den zeitgerechten Ersatz der alten AKW      greifen und Kraftwerkbetreiber dafür entschädigen, dass
                                                      lässt deshalb weiter auf sich warten.                       sie ihre Produktion je nach Bedarf hoch- oder runter­
                                                                                                                  fahren. Rund 100 Millionen Franken kostet das jährlich.
                                                      Die EU-Ausbauziele für erneuerbare Energien                 Das Stromabkommen mit der EU soll nun sicherstellen,
                                                      Ein Blick auf die Entwicklungen der EU zeigt, dass          dass die Schweiz als gleichberechtigter Partner im Strom­
                                                      der Fokus des Bundesrats auf die Stromimporte eine          handel teilnehmen kann und diese Regelleistung dort
                                                      schlechte Idee ist. Zunächst aus Sicht des Klimaschut-      einkaufen kann, wo sie am günstigsten ist.
                                                      zes, denn Elektrizität aus erneuerbaren Quellen macht
                                                      in der EU erst rund ein Drittel des Strommixes aus. In      Doch das Stromabkommen kommt zusammen mit den
                                                      der Schweiz liegt der Anteil bei rund zwei Dritteln. Er     institutionellen Rahmenabkommen nicht vorwärts. In-
                                                      zeigt aber auch, dass die staatliche Förderung des Kraft-   zwischen hat die EU angedroht, dass die Schweiz aus der
                                                      werkzubaus auch in der EU die Energiewende antreibt.        neuen europäischen Strom-Handelsplattform für Regel-
                                                      Wenn die Schweiz ihre Einspeise- und die Einmalver-         strom ausgeschlossen wird, falls bis Ende 2019 kein Rah-
                                                      gütung alternativlos auslaufen lässt, wird sie auf dem      menabkommen in Sicht ist. Wie die «NZZ» publik mach-
                                                      Markt benachteiligt sein. Es gibt nämlich eine starke       te, arbeiten die Schweizer Behörden deshalb an einem
                                                      Dynamik in der EU. Die erneuerbaren Ausbauziele für         Plan B für die Schweiz – ohne Stromabkommen. Dieser
                                                      2020 waren schon 2017 erreicht.                             Ausschluss würde nicht bedeuten, dass der Stromhandel
                                                                                                                  mit dem Ausland eingeschränkt und die Stromversor-
                                                      Im Dezember 2018 beschloss die EU nun definitiv, den        gung damit gefährdet wäre. Die Stromversorgung in der
                                                      Ausbau der erneuerbaren Energien in den Bereichen           Schweiz würde aber mit Sicherheit verteuert und Swiss-
                                                      Strom, Wärme und Verkehr bis 2030 auf 32 % anzu­            grid hätte erhebliche Investitionen vergeblich getätigt.
                                                      he­ben, die Energieeffizienz gar auf 32,5 %. Die überar-    Da die Schweizer Pumpspeicherkraftwerke bestens ge-
                                                      beitete Erneuerbaren-Richtlinie verlangt von den Län-       eignet sind, Regelenergie zu liefern, gibt es inzwischen
                                                      dern, marktorientiertere Fördersysteme für den weite-       auch EU-Parlamentsmitglieder, die mit einem Aus-
                                                      ren Ausbau von Photovoltaik, Windkraft etc. zu erlassen.    schluss der Schweiz nicht einverstanden sind und einen
                                                      Der Anteil der Erneuerbaren im Verkehrssektor soll bis      raschen Abschluss des Abkommens fordern.
                                                      2030 auf mindestens 14 % erhöht werden. Kürzlich hat
                                                      sogar der Europäische Gerichtshof (EUGH) die Förderung      Was bringt die Strommarktöffnung?
                                                      von grünem Strom gestützt. Er hat entschieden, dass die     Das Strommarktabkommen mit der EU verlangt von der
                                                      ­Einspeisevergütung bei erneuerbaren Energien keine         Schweiz auch eine vollständige Öffnung des Strom-
                                                       Beihilfe ist. Damit hat er die Befürchtung, dass die       markts. Das heisst, alle sollen frei wählen dürfen, wo-
                                                       Schweizer Förderung bei Abschluss eines Rahmenab-          her sie den Strom beziehen. Bis heute kann dies in der
                                                       kommens unter Druck käme, entkräftet.                      Schweiz nur die Grosskundschaft. Haushalte und KMU

6   Energie & Umwelt 2/2019
Energie & Umwelt - Schweizerische Energie-Stiftung
können ihren Strom nur beim lokalen Elektrizitäts-        (IUNR) der Zürcher Hochschule für Angewandte Wis-
werk beziehen, was rund die Hälfte des Schweizer          senschaften (ZAHW) präsentierte Ende März eine Stu-
Stromverbrauchs ausmacht. Nachdem eine Motion der         die, die das bejaht. Sie zeigt, dass mit den vorhandenen
FDP von einer Mehrheit des Parlaments überwiesen          Potenzialen auch Wärmeerzeugung und Mobilität mit
worden war, hat der Bundesrat diesen zweiten Schritt      erneuerbarem Strom aus der Schweiz bereitgestellt wer-
der Strommarktöffnung nun vorangetrieben und eine         den können (siehe Grafik nebenan).
Revision des Stromversorgungsgesetzes angestossen.
Ende Januar endete die Vernehmlassung dazu.               Swissolar kommt zu ähnlichen Schlüssen. Sie sagt in
                                                          ihren Ende März präsentierten Denkanstössen, dass die
Im Hinblick auf die drei obigen Ziele bringt die voll-    Verpflichtungen aus dem Pariser Klimaprotokoll und
ständige Öffnung wohl eher Nachteile, zumindest so-       der Ersatz der AKW mit einem Ausbau auf rund 50
lange das Strommarktabkommen nicht abgeschlossen          Gigawatt (GW) installierte Photovoltaik-Leistung er-
und die Schweiz nicht gleichberechtigt in den europäi­    reicht werden können und dass hierfür die bereits be-
schen Strommarkt integriert ist. Die Erfahrung mit der    stehenden Dächer und Fassaden reichen.
Öffnung für die Grosskundschaft hat gezeigt, dass die
Strompreise zumindest zu Beginn sinken, weil mehr         Die Stromwende fusst auf der Photovoltaik
Strom bei Billiganbietern gekauft wird, die ihren Strom   Ergänzend zur befristeten Einspeise- und Einmalvergü-
im Ausland mehrheitlich mit Kohle- oder Gaskraftwer-      tung brauche es hierfür aber – wie in zahlreichen an-
ken produzieren. Das dürfte – wenn auch in kleinerem      deren Ländern bereits üblich – eine Ausschreibung für
Ausmass – auch bei der Öffnung für die Kleinkund-         die Solarstromproduktion von Grossanlagen auf Lager-
schaft zutreffen. Somit würde der Anreiz, in der          hallen, Infrastrukturanlagen und landwirtschaftlichen
Schweiz neue klimafreundliche Kraftwerke zu bauen,        Dächern. Diese grosse Menge an zusätzlichem Strom
weiter sinken. Das heisst, wer die alternden AKW mit      kann, so Swissolar weiter, ohne grössere Ausbauten und
einheimischen erneuerbaren Kraftwerken ersetzen           ohne Gefährdung der Netzstabilität ins Stromnetz integ­
will, muss entsprechend mehr Fördergelder in die Hand     riert werden, falls frühzeitig geeignete Massnahmen
nehmen.                                                   ergriffen werden. Dazu gehören das «Peak shaving» (Ab-
                                                          regeln von sommerlichen Produktionsspitzen), die Mo-
Das Pariser Klimaziel ist erreichbar                      dernisierung der Wasserkraft sowie der Einsatz von
Im Juni 2017 haben sich die Vorzeichen für die Strom-     Batteriespeichern und von Power-to-Gas-Anlagen.
politik nochmals erheblich verschärft. Das Parlament
hat nämlich das Klimaabkommen von Paris ratifiziert       Es ist indes nicht nur Swissolar, welche die Photovolta-
und damit das Tempo der Energiewende verdoppelt. Die      ik ins Zentrum der Energiewende stellt. Auch andere
Energiestrategie 2050 halbiert den Verbrauch an fossi-    kommen zu diesem Schluss und zwar aus rein finanzi-
len Brenn- und Treibstoffen. Das Abkommen fordert         ellen Überlegungen. Eine von der SES herausgegebene
hingegen, dass alle Länder in der zweiten Jahrhundert-    Studie von Dr. Rudolf Rechsteiner, Dr. Ruedi Meier, Prof.
hälfte völlig fossilfrei sind. Geht das? Lässt sich die   Urs Muntwyler und Thomas Nordmann zeigt, dass
Schweiz, deren Energie zu drei Vierteln aus Erdöl und     dank Preissenkungen Photovoltaikstrom in der Schweiz
Erdgas stammt, überhaupt dekarbonisieren?                 heute günstiger ist als jede andere Kraftwerkstechnik,
Das Institut für Umwelt und Natürliche Ressourcen         sogar für die Produktion von Winterstrom.             <

           Schlussfolgerungen                                              n	 Der Fokus ist auf die Förderung von Grossanlagen für die
                                                                              Solarstromproduktion zu legen. Denn diese sind am güns-
            Damit die Schweiz die Stromwende schafft und die Pariser          tigsten und lassen sich schnell und ohne gravierende
            Klimaziele erreicht, gilt es bei den anstehenden Gesetzesre-      Schäden für Biodiversität und Landschaft umsetzen.
            visionen Folgendes im Auge zu behalten:                        n	 Den Produktionsanlagen für erneuerbaren Strom ist
                                                                              schweizweit ein Rückliefertarif zu garantieren, welcher
            n	 Die Schweiz muss sich neue, höhere Ausbauziele für Strom       deren Rentabilität sicherstellt. Zurzeit beträgt dieser ge-
               aus erneuerbaren Energien setzen. Das entspricht auch          mäss Swissolar etwa 8 Rp./kWh.
               der Praxis der EU.                                          n	 Die Liberalisierung des Strommarkts und das Stromab-
            n	 Die Ausbauziele müssen sich an der Dekarbonisierung der        kommen mit der EU dürfen nur dann in Kraft treten, wenn
               Schweiz bis spätestens 2050 orientieren. Das entspricht        sie den vorangehenden Punkten nicht entgegenlaufen.
               dem dringenden Handlungsbedarf beim ­Klimaschutz und        n	 Die Finanzierung des Zubaus muss möglichst sozial aus-
               den Vorgaben des Pariser Klimaabkommens.                       gestaltet werden, damit die Akzeptanz in der Bevölkerung
            n	 Der Zubau von Kraftwerken aus erneuerbaren Energiequel-        gewährt bleibt. Schliesst die Staatsrechnung des Bundes
               len ist über Ausschreibungen rasch voranzutreiben, sodass      mit einem Überschuss, drängt sich eine Verwendung des
               die Ausbauziele erreicht werden.                               Gewinns in diesem Sinne auf.

                                                                                                              Energie & Umwelt 2/2019   7
Energie & Umwelt - Schweizerische Energie-Stiftung
Energie aktuell
                     > Trendwende in weiter Ferne                                > Klimademo am 24. Mai 2019

                                                                                                                                      © climatestrike.ch
                       Foto: stock.adobe.com/mitifoto

                     fn. Der globale CO2-Ausstoss hat 2018 um 1,7  % zugenom­    fb. Klimaforscher weltweit sind sich einig, dass der
                     men und erreicht ein historisches Hoch von 33,1 Giga-       Mensch für den Klimawandel verantwortlich ist. Wir
                     tonnen (Gt). Gemäss Berechnungen des Intergovern-           verbrennen fossile Energieträger als gäbe es kein Mor-
                     mental Panel on Climate Change (IPCC) bleibt der Welt       gen. Der CO2-Ausstoss ist jedes Jahr höher als je zuvor.
                     ein CO2-Budget von 593 Gt – sonst ist das Ziel des Pa-      Das trifft uns auch in der Schweiz: Der Temperatur-An-
                     riser Klimaabkommens, die Erderwärmung auf unter            stieg ist hierzulande im Vergleich zum globalen Durch-
                     1,5°C zu beschränken, in Gefahr. In 18 Jahren wäre          schnitt doppelt so hoch. Doch die Ziele (Fossilausstieg)
                     dieses Budget aufgebraucht, wenn die Emissionen auf         und die politische Realität (CO2-Gesetz, Ausbau erneu-
                     dem Niveau von 2018 stagnierten. Es braucht also drin-      erbare Energien) klaffen weit auseinander. Dement-
                     gend eine Trendwende. Die Zeit wird knapp. Weltweit         sprechend gingen die SchülerInnen aus Protest auf die
                     müssen die Regierungen deutlich mehr Anstrengungen          Strasse, angeschlossen haben sich ihnen nun auch die
                     bei Effizienz und bei erneuerbaren Energien unterneh-       Eltern, Grosseltern und viele weitere. Am 24. Mai findet
                     men und klare Ziele für den Ausstieg aus fossilen Ener-     die nächste Klimademo bzw. der nächste Klimastreik
                     gien setzen. Die Schweiz hat dafür beste Voraussetzun-      statt mit dem Ziel, die politischen HandlungsträgerIn-
                     gen und die Pflicht, eine Vorbildrolle einzunehmen.         nen wachzurütteln. » www.klimastreik.ch

                     > Photovoltaik-Ausbau verfünffachen                         > Klimawandel in den Kantonen

                                                               © sonnendach.ch

                                                                                                                                     © SES / fischerdesign.ch

                     fn. 2018 wurden in der Schweiz rund 0,25 GW Photo-          vs. Die Klimabewegung hält an. An der letzten natio-
                     voltaik-Leistung installiert, die Jahresproduktion konn-    nalen Klimademonstration gingen schweizweit rund
                     te damit auf 2 TWh (3,4 % des CH-Stromverbrauchs)           50'000 Personen auf die Strasse, um wirksame Mass-
                     gesteigert werden. Für den Atomausstieg und die Klima­      nahmen gegen den Klimawandel zu fordern. Und dieser
                     ziele braucht es mehr. Swissolar fordert Ende März          Druck hat bereits etwas bewegt. So ist es bei den kan-
                     ­einen Ausbau auf total 50 GW bis 2050. Das entspricht      tonalen Wahlen in Zürich, Baselland und Luzern zu
                      rund 50 TWh Solarstrom, genauso gross ist gemäss           Verschiebungen in Parlament und Regierung gekom-
                      ­sonnendach.ch das Potenzial auf Gebäudedächern. Zu-       men, und zwar hin zu Köpfen und Parteien, die den
                       sätzlich können Fassaden und weitere Infrastruktur        Klimawandel ernst nehmen. Zudem wollen Parteien,
                       genutzt werden. Für die nötige Steigerung des Aus-        die sich bislang klimapolitisch wenig hervorgetan ha-
                       bautempos um den Faktor 5 brauche es zusätzlich zu        ben, diesem Thema künftig mehr Stellenwert einräu-
                       einer Optimierung der bestehenden Einmalvergütun-         men. Auch wenn der Tatbeweis noch aussteht, werten
                       gen Ausschreibungen für Grossanlagen.                     wir das als Erfolg. Schaffen wir es, diesen Druck bis zu
                       Die SES hat im Oktober 2018 eine Studie herausgegeben,    den nationalen Wahlen im Herbst hochzuhalten, kann
                       die Wege aufzeigt, wie man dieses Ziel erreicht:          Bewegung in die Klimapolitik kommen. Dazu braucht
                                                                                 es uns alle. Thema hoch halten und wählen gehen!
                     » www.energiestiftung.ch/strommarkt

8   Energie & Umwelt 2/2019
Energie & Umwelt - Schweizerische Energie-Stiftung
> Steigende externe Kosten im Verkehr                       > BGer: Auch geringe Strahlendosis ist schädlich

 © SES / fischerdesign.ch                                       © SES / fischerdesign.ch

f b. Die externen Kosten des Verkehrs werden von der        sb. Das Bundesgericht korrigiert einen Entscheid des
Allgemeinheit bezahlt und den zukünftigen Generatio-        ­Zürcher Sozialversicherungsgericht zu Gunsten des Be-
nen. Laut den neusten Zahlen des BFS sind diese Kosten       schwerdeführers. Ein ehemaliger Mitarbeiter des AKW-
– also die Umwelt- und Gesundheitsschäden – weiter           Leibstadt ist doppelt an Krebs erkrankt und forderte von
gestiegen. Trotz einer hohen Nutzerfinanzierung von          der Suva Leistungen, da es sich aus seiner Sicht um eine
86 % sind das beim Strassenverkehr Kosten in der Höhe        Berufserkrankung handelt. Sowohl die Suva als auch das
von 9,5 Milliarden Franken. Die externen Kosten des          Zürcher Gericht lehnten das ab, da die Person nie einer
Schienenverkehrs sind vergleichsweise gering: 1 Milliar-     erhöhten Strahlendosis ausgesetzt gewesen sei.
de Franken – wobei der Löwenanteil des Verkehrsvo­
lumens auf der Strasse stattfindet. Beim Velo- und Fuss­    Das Bundesgericht hingegen stützt sich bei seiner Be-
verkehr überwiegen hingegen die positiven Effekte.          gründung auf eine Strahlenexpertin, die belegen konnte,
Dieses Mobilitätsverhalten erzeugt einen allgemeinen        dass auch tiefe, berufsbedingte Strahlendosen krank-
Nutzen, z.B. weil sich die körperliche Betätigung positiv   heitsauslösend sein können. Das Zürcher Sozialversiche-
auf die ganze Gesellschaft auswirkt. Grund genug für        rungsgericht muss nun nochmals über die Bücher und
mehr attraktive Fuss- und Velowege.                         einen unabhängigen Gutachter engagieren.

> 100 % erneuerbare Energie weltweit                        > ENSI erlaubt Leibstadt Leistungserhöhung

 Foto: © LUT / EWG                                              Foto: Claudius Fischer

fn. Mitte April ist sie endlich erschienen – die Studie,    sb. Am 19. März hat das Eidgenössische Nuklearsicher-
die zeigt, dass die Einhaltung des 1,5° C-Ziels und der     heitsinspektorat (ENSI) dem AKW Leibstadt eine Leis-
Atomausstieg möglich sind. Die finnische Universität        tungserhöhung um 2 % erlaubt, obwohl bis heute nicht
Lapeenranta und die deutsche Energy Watch Group             abschliessend erklärt werden konnte, weshalb die 2017
­haben eine 100 % erneuerbare Energieversorgung welt-       entdeckten Ablagerungen an den Hüllrohren einzelner
 weit modelliert – für jede Stunde im Jahr. Dank Elekt-     Brennelemente entstanden sind. Die Begrenzung der
 rifizierung können die Treibhausgasemissionen bis 2050     Leistung und der Durchflussgeschwindigkeit des Siede-
 auf Null reduziert werden. Wind- und Solarkraft ma-        wassers hat die Probleme bislang behoben.
 chen 96 % der Stromproduktion aus, der Löwenanteil
 entfällt auf die Sonnenenergie. Das Beste ist, dass die    Das Paul Scherrer Institut (PSI) hat nun die Ablagerun-
 Energiekosten erst noch sinken, von 54 €/MWh 2015 auf      gen untersucht und als unproblematische lokale Abla-
 53 €/MWh 2050. Die Studie ist Greta Thunberg und der       gerungen ohne grossen Einfluss auf die Schutzfunktion
 ganzen #FridaysForFuture-Bewegung gewidmet «für dei-       der Hüllrohre erklärt. Das ENSI verlangt aber noch
 nen unerbittlichen Mut zur Erhaltung unseres Planeten      weitere Inspektionen während der Jahreshauptrevision
 und eine bessere Zukunft für uns alle».                    2019. Volllast will es erst wieder zulassen, wenn der
                                                            Betreiber nachweisen kann, dass die Probleme bei
» Link zur Studie: https://t1p.de/lut                       100 % Leistung nicht mehr auftreten werden.

                                                                                                              Energie & Umwelt 2/2019   9
Energie & Umwelt - Schweizerische Energie-Stiftung
NFP 71-FORSCHUNGSPROJEKT «INTELLIGENTE URBANE LOGISTIK»
DER BLICK ÜBER DIE GRENZE

Europa auf dem Weg zur Stromwende
In der EU nimmt die Energiewende im Stromsektor Fahrt auf. Seit letztem Jahr
stammt ein Drittel der europäischen Stromproduktion aus erneuerbaren Quellen.
In der Schweiz hingegen kommt die Stromwende nur schleppend voran.

                          Von Tonja Iten                                                                  schliesslich haben sich infolge der Revision des euro-
                          Volkswirtschafterin, SES-Praktikantin                                           päischen Emissionshandelssystems die CO2-Zertifikate
                                                                                                          stark verteuert. Die Verstromung fossiler Energieträger
                                                                                                          wurde unattraktiver, wovon alle erneuerbaren Ener-
                          Bis 2050 will die Europäische Union (EU) klimaneutral                           gieträger profitierten. Gleichzeitig stiegen die Kohle-
                          sein und netto Null Treibhausgas-Emissionen erreichen.                          und Gaspreise. Zum ersten Mal waren die alleinigen
                          Vision und Handlungsmöglichkeiten hierzu präsentier-                            Brennstoffkosten 2 von Gas und Kohle gleich teuer ­w ie
                          te die Europäische Kommission im November 2018 in                               die Produktionskosten von Wind- und Solarstrom. Die-

                                                                                                                                                                    Foto: www.stock.adobe.com / Lev Karavanov
                          ­ihrer langfristigen Strategie (Long-term Strategy).1 Das                       se sind damit ihren Konkurrenten – Strom aus Atom,
                           Etappenziel 2030 besagt, dass der Anteil der erneuer-                          Gas und Kohle – im liberalisierten Preissystem an der
                           baren Energien am Strommix bis dahin auf 57 % an-                              Strombörse weit überlegen.
                           wachsen soll.
                                                                                                          Investitionssicherheit für Erneuerbare
                          Stromsektor wird erneuerbar                                                     notwendig
                          Der Stromsektor spielt in der Dekarbonisierung Euro-                            Doch das Überangebot an Strom und die tiefen Preise
                          pas eine massgebliche Rolle, da viele Anwendungen,                              bieten keine Investitionsanreize für neue Kraftwerke
                          die auf fossilen Energieträgern basieren, mit Strom                             – auch nicht für Erneuerbare. Dazu kommt, dass die
                          substituiert werden sollen. Der Anteil der Erneuer­                             Einspeisung erneuerbarer Energien fluktuiert. Wenn
                          baren am europäischen Strommix steigt stetig. Betrug                            europaweit die Sonne scheint oder der Wind stark weht,
                          dieser im 2010 noch 20 %, erreichte er 2018 knapp                               treibt die wetterbedingte Überproduktion die Strom-
                          ­einen Drittel. Dabei spielt die Windkraft mit 12 % die                         preise in den Keller. Zum Schutz vor den starken Preis-
                           wichtigste Rolle. Noch, denn die Sonnenenergie ist                             schwankungen gewähren viele EU-Staaten, darunter
                           rasant auf dem Vormarsch. Im vergangenen Jahr legte                            Frankreich, Deutschland, Österreich und Italien, ge-
                           der Ausbau von Solaranlagen um sagenhafte 60% zu.                              setzlich geschützte Minimalvergütungen für neue
                           Gründe hierfür finden sich einerseits im anhaltenden                           Kraftwerke, lobt Ruedi Rechsteiner, Ökonom und
                           Preiszerfall im Solarbereich. Andererseits hat die EU                          Dozent für Umwelt- und Energiepolitik. Die Höhe
                                                                                                          ­
                           grosszügig Handelshemmnisse abgebaut, wodurch die                              dieser Garantien wird überwiegend mittels wettbe-
                           ­G e­samtkosten für Photovoltaik weiter sanken. Und                            werblicher Ausschreibungen ermittelt.3 «Die Schweiz
                                                                                                          hat dieses 'Missing Money'-Problem bis heute nicht
                                                                                                          ­gelöst», kritisiert Rechsteiner. «Auch deshalb geht es
Die langfristige Strategie der Europäischen Union:                                                         hierzulande beim Ausbau von Wind- und Solarkraft
Projektion der Stromanteile aus erneuerbarer Energie bis 2030                                              kaum vorwärts.»
Quelle/Grafik: Agora Energiewende & Sandbag, The European Power Sector in 2018.
                                                                                                          Kohle und Atom: Ausstieg ungewiss
                                                                                             57 %         Die Förderung der Erneuerbaren alleine bewirkt noch
                                                                                                          keinen Ausstieg aus der gefährlichen nuklearen und
                                                                                              9%

                                                                                                          klimaschädigenden fossilen Energie. Denn obwohl die
                                                                              + 94 TWh/a
                                                                                                          EU-Kommission die Energiewende vorantreibt, sind die
                                          32 %                                                            fossil-nuklearen Interessen bei einigen EU-Regierungen
                                                                                              26 %

                                                                              + 51 TWh/a                  noch stark vertreten. Beim europäischen Atomausstieg
       20 %                    + 51 TWh/a
                                                                                                          wird entsprechend gezaudert: Während einige Staaten
                                                                                              11 % 11 %

                               + 29 TWh/a                                     + 25 TWh/a                  sich für ein AKW-freies Europa aussprechen, zielen an-
                               + 13 TWh/a
                                                                              + 19 TWh/a
                                                                                                          dere Staaten in die entgegengesetzte Richtung. Momen-
                               + 9 TWh/a
                                                                                                          tan sind noch über 100 AKW in Betrieb – mit einem
                                                                                                          Durchschnittsalter von 33 Jahren, was nicht ungefähr-
                                                                                                          lich ist. So auch die Schweiz. Trotz beschlossenem
              Biomasse            Solar            Wind              Wasser            Total
                                                                                       Erneuerbare        Atomausstieg und zahlreichen Betriebsschwierigkeiten
                                                                                                          liebäuglen die Atomkonzerne bereits mit verlängerten
Bis 2030 soll 57 % des Stroms in der EU erneuerbar sein.                                                  Laufzeiten von bis zu 80 Jahren.

10   Energie & Umwelt 2/2019
Die Sonnenenergie ist in vielen EU-Ländern die mit Abstand günstigste Art, Strom zu produzieren.
Laut SolarPower Europe7 wird die Sonnenenergie in eine neue Wachstumsphase eintreten.

Schwieriger Braunkohle-Ausstieg                           rem hohen Anteil Wasserkraft, Speicherkraftwerken,
Bezüglich Kohle sieht die Bilanz in Europa gemischt       dem vorhandenen Kapital und einer geeigneten Struk-
aus. Dabei sind Stein- und Braunkohle getrennt zu be-     tur des Energiesystems für eine Vorreiterrolle eigentlich
trachten. Die Steinkohle befindet sich in starkem Sink-   prädestiniert wäre. «Die Schweiz hat gegenüber der EU
flug. Seit 2012 ging die Steinkohle-Stromproduktion       ein grosses Handlungsdefizit», beurteilt Rechsteiner die
um 40 % zurück. 2018 haben Spanien und Deutschland        Lage. Gerade bei der Photovoltaik mit ihrem Riesen­
ihre Ausstiegspläne angekündigt4, womit drei Viertel      potenzial scheint die Politik blockiert (siehe S. 4). Die
von Europas Steinkohlestrom bis 2038 wegfallen. Der       Unterzeichnung der Pariser Klimaziele würde auch in
verbleibende Viertel der Steinkohleverstromung findet     der Schweiz rasches Handeln erfordern. Konkret heisst
grösstenteils in Polen statt. Ungleich unschöner sieht    das, dass die Dekarbonisierung durch Elektrifizierung
es bei der viel schmutzigeren Braunkohle aus. Nur gera­   vorangetrieben werden muss. Der zunehmende Strom-
de 3 % nahm diese im letzten Jahr ab. Knapp die Hälfte    bedarf sowie der wegfallende Atomstrom muss dabei
der Braunkohleverstromung fällt in Deutschland an,        durch Strom aus Erneuerbaren ersetzt werden. Klima-
das sich bis 2038 ganz von der Kohle verabschieden        politik, Ausbau der Erneuerbaren und Strommarktde-
will. Weitere kleine Braunkohle-Strom­     pro­
                                              duzenten    sign müssen hierfür zusammen gedacht werden. Es
haben ebenfalls den Ausstieg angekündigt. Die andere      bleibt zu hoffen, dass die Schweizer Politik aus ihrer
Hälfte der Braunkohle wird in Ländern verheizt, die       Lethargie findet und handelt (siehe S. 22+23).         <
noch keine entsprechenden Pläne vorgelegt haben, na-
mentlich in Polen, Tschechien, Bulgarien, Griechen-
land, Rumänien und Slowenien. Gesamthaft ist den-
                                                              1 European Commission, 2050 long-term strategy, Brüssel, November 2018.
noch Zuversicht angesagt: Die Länder, die sich von den        2 inkluse Preis für CO2-Zertifikate
konventionellen Energieträgern verabschieden, zeigen          3 Rudolf Rechsteiner, Bericht Strommarktdesign 2023. Vorschläge zur Versorgungs­
gezielte Ambitionen, den Ausbau der erneuerbaren                sicherheit, Klimaschutz und für ein neues Strommarktdesign, Basel, re-solution, 2019.
Energien voranzutreiben, ohne fossil-nukle­are Über-          4 Spanien hat seinen Kohleausstieg bis 2030, Deutschland bis 2038 angekündigt.
gangstechnologien einzusetzen.5+6                             5 Europe Beyond Coal (Climate Action Network Europe), Coal phaseout plans, zuletzt
                                                                besucht am 1.4.2019.
                                                              6 Agora Energiewende & Sandbag, The European Power Sector in 2018. Up-to-date
Schlusslicht Schweiz                                            analysis on the elctricity transition, Berlin & London, Januar 2019.
In der Schweiz indes dümpelt der Ausbau der neuen             7 Solarpower Europe, Medienmitteilung, Strong solar growth in Europe as demand
Erneuerbaren vor sich hin. Obwohl die Schweiz mit ih-           grows over 60 % in 2018, Brüssel, 31. Oktober 2018.

                                                                                                                       Energie & Umwelt 2/2019     11
MEHRVERBRAUCH DURCH ELEKTRIFIZIERUNG

Energieeffizienz: Es braucht gesetzliche Vorgaben

Netto Null CO2-Emissionen bis 2030 – So lautet die Forderung der K ­ limabewegung
in der Schweiz. Eine Lösung heisst: Elektrifizierung von fossilen Anwendungen.
Doch welchen Mehrverbrauch zieht das nach sich? Und welche Rolle spielt dabei
die Energieeffizienz? Zwei Experten ordnen ein.

                            Von Jürg Nipkow und Conrad U. Brunner *                     ten sind rund 200'000 Elektro­heizungen sowie 300'000
                                                                                        Elektro-­Wärmepumpen, deren Verbrauch jährlich be-
                            Weg von CO2 heisst hin zu strombasierten Anwendun-          trächtlich schwankt, weil sie vom Wetter a  ­ bhängig
                            gen. Die Elektrifizierung des Wärmebereichs (Heizen,        sind. Insgesamt werden etwa 7,5 TWh für Raumhei-
                            Kühlen, Warmwasser) und des Verkehrs ziehen einen           zung und Warmwasser eingesetzt oder knapp 40 % des
                            Mehrverbrauch nach sich, der sich aber dank Energie-        Strom­verbrauchs der Haushalte.
                            effizienz in Grenzen halten kann. Was ist zukünftig
                            möglich? Welche Massnahmen braucht es?                      Kurzfristig kein Mehrverbrauch
                                                                                        Dieser Stromverbrauch wird trotz steigender Anzahl
                            Haushalte: Elektroheizungen und -boiler ersetzen            Wärmepumpen kurzfristig kaum zunehmen oder
                            Der Stromverbrauch in den Haushalten ist seit 2006          sogar etwas abnehmen, weil Elektroheizungen und
                            etwa gleich geblieben, obwohl die Anzahl Haushalte          -boiler durch effizientere Systeme wie Wärmepumpen
                            um rund 15 % stieg. 2017 betrug dieser Verbrauch 19,2       und Sonnenkollektoren ersetzt und effizientere Um-
                            TWh Strom (32,9 % CH-Stromverbrauch). Darin enthal-         wälzpumpen und andere Hilfsenergieapparate einge-
                                                                                        setzt werden. Allerdings ist bisher die Abnahme der
                                                                                        Elektroheizungen und -boiler noch recht klein. Um
Stromverbrauch 2017 nach Verbrauchskategorien                                           dieses Sparpotenzial von mindestens 5 TWh schneller
Quelle: BFE, Schweizerische Elektrizitätsstatistik 2017
                                                                                        zu reduzieren, sind politische Massnahmen nötig, was
                                                                                        dazu führt, dass der Strom­verbrauch für Wärmepum-
                                                                                        pen (für Heizung und Warmwasser) schneller zuneh-
                                                                   8,1 %
     Haushalt                                                                           men wird. Da gleichzeitig der Heizwärmebedarf abneh-
                                                                                        men wird (durch Wärmedämmung und Solarwärme)
     Landwirtschaft, Gartenbau                                                          und Strom eingespart wird (durch den Ersatz von Elekt­
                                                                              32,9 %    roheizungen und Elektroboilern), ergibt sich durch den
     Industrie,
     verarbeitendes Gewerbe                               26,8 %                        Umstieg von Öl/Gas- zu (grossenteils) Wärmepumpen-­
                                                                                        Heizungen eine relativ bescheidene Zunahme.
     Dienstleistungen
                                                                                1,6     Haushaltgeräte und Beleuchtung
     Verkehr                                                                        %
                                                                                        Eine 2018 veröffentlichte Studie des Bundesamts für
                                                                     30,6 %             Energie zeigt, dass der Stromverbrauch der Haushalt-­
                                                                                        Grossgeräte seit etwa 2010 zu sinken beginnt, trotz
                                                                                        Zunahme der Anzahl Haushalte, von 2010 bis 2017 um
Damit die Strom- & Energiewende gelingt, braucht es Effizienzvorschriften.              fast 10 %. Der Verbrauch der IT-Geräte sank sogar seit

12   Energie & Umwelt 2/2019
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2008 markant um rund 35 %. Dies trotz Zunahme der        50 % des Gesamtverbrauchs einer Universität, eines Spi-
Gerätezahl bei beiden Kategorien.                        tals oder eines Bürogebäudes angestiegen. Moderne
Gerätekategorien mit hohen Effizienzgewinnen sind        Lüftungsanlagen bestehen aus Motor, Frequenzum­
Kühl- und Gefriergeräte (seit 2012 nur noch A++/A+++)    richter und Ventilator mit rückwärtsgekrümmten
sowie Wäschetrockner (seit 2012 nur noch mit Wärme-      Schaufeln. Lastabhängig geregelte Direktantriebe sind
pumpe, gegen 50 % Einsparung). Die Beleuchtung           heute die Standard­lösung. Die Energieeffizienz ist dank
machte im 2017 rund 10 % eines typischen Haushalt-       ­Mindestanforderungen für Pumpen und Ventilatoren
Stromverbrauchs aus. Dieser Wert wird dank dem Ver-       und FU deutlich gestiegen.
schwinden von Glüh- und Halogenlampen respektive
dem Ersatz durch LED weiter sinken.                      Elektromobilität: Es braucht Effizienzvorschriften
                                                         Der Verbrauch der Elektromobilität lag 2017 bei 4,7 TWh
                                                         (8,1 % CH-Strom­verbrauch), welcher mit der Zunahme
 FAZIT: Bei Haushalten und Wärmepumpen ist mit einer
                                                         von Elektrofahr­zeugen weiter steigt. Die ­Effizienz aller
 relativ langsamen und bescheidenen Zunahme des
                                                         elektrisch angetriebenen Fahrzeuge im öffentlichen
 Stromverbrauchs zu rechnen. Der Stromverbrauch für
                                                         und privaten Bereich ist vom Fahrzeug­gewicht, dem
 Geräte und Beleuchtung sollte weiter ab­nehmen.
                                                         Auslastungsgrad und dem Wirkungsgrad im rasch
 ­Allerdings ist zu erwarten, dass durch die Zunahme
                                                         wechselnden Teillastbetrieb abhängig. In e­ inem Elekt-
  der Anzahl Haushalte die Effizienzgewinne teil­weise
                                                         roauto sind 500 bis 800 kg zusätzliche Last für Batte­
  kompensiert werden. Die «Winter-Lastigkeit» des
                                                         rien, inkl. Kühlung und Brandschutz, mitzuschleppen.
  ­Verbrauchs kann wegen des Ersatzes der Elektrohei-
                                                         Dies erfordert für die Beschleunigung übergrosse An-
   zungen sogar abnehmen.
                                                         triebsleistungen. Ein Teufelskreis, der erst mit leich­
                                                         teren Fahrzeugen und wirksameren Batterien gelöst
Die Industrie wird effizienter                           werden kann. Effizienzvorschriften können die nöti-
Die Industrie verbrauchte 17,9 TWh (30,6 % CH-Strom-     gen An­reize schaffen.
verbrauch 2017). Elektrische Antriebssysteme sind für
70 % bis 80 % des Verbrauchs verantwortlich. Der Ver-
brauch ist dank Effizienz gesunken: Pumpen, Venti­           FAZIT: Bei den drei grossen Bereichen Industrie,
latoren, Kompressoren und Maschinen sind stetig effi­        Dienstleistungen und Verkehr besteht ein Wider­
zienter geworden. Dank gesetzlicher Mindestanforde-          spruch zwischen steigender Effizienz und wachsen-
rungen haben sich die neuen IE3- und IE4-Motoren             dem Bedarf. Die Effizienz lässt und liess sich dank
rascher am Markt verbreitet. Der Einsatz von Frequenz­       poli­tischer Interventionen und gesetzlicher Mindest­
umrichtern (FU) bei Maschinen mit wechselnder Last           anforderungen massgeblich steigern.                <
steigt von 20 % langsam auf 50 % aller Antriebe.

Dienstleistung: mehr Effizienz dank Vorgaben             * Dipl. Ing. Jürg Nipkow, Geschäftsleiter der Arbeitsgemeinschaft Energie-Alternativen
Der Dienstleistungssektor verbrauchte 15,7 TWh Strom     (ARENA) und ehemäliger Präsident der Schweizerischen Agentur für Energieeffizienz
(26,8 % CH-Stromverbrauch 2017). Der Verbrauch steigt    S.A.F.E., hat für diesen Artikel den Sektor Haushalte analysiert. www.arena-energie.ch
mit zunehmendem Klimatisierungsbedarf: Der Anteil        * Dipl. Architekt ETH Conrad U. Brunner, Energieplaner, Impact Energy, Zürich und
der elektrisch angetriebenen Systeme (Pumpen, Venti-     S.A.F.E.-Mitglied, hat für diesen Artikel die Sektoren Industrie, Dienstleistungen und
latoren und Kältekompressoren) ist dabei auf 40 % bis    Verkehr analysiert. www.topmotors.ch

                                                                                                                    Energie & Umwelt 2/2019      13
NFP 71-FORSCHUNGSPROJEKT «INTELLIGENTE URBANE LOGISTIK»
SICHERE STROMVERSORGUNG

Das Angstgespenst Versorgungssicherheit
Die sichere Versorgung der Schweiz mit Strom sei in Gefahr, wird oft suggeriert.
Doch das Schweizer Stromnetz ist sehr gut aufgestellt – auch für den Atom-
ausstieg: Die Versorgungssicherheit bleibt gewährleistet, erneuerbare Energien
leisten einen wichtigen Beitrag und Gaskraftwerke sind unnötig.

                     Von Dr. Andreas Ulbig                                    Zukünftige Versorgungssicherheit – eine Analyse
                     Vizepräsident SES-Stiftungsrat, Dozent am Power          Wie sich die Versorgungssicherheit entwickelt, ist – wie
                     Systems Lab, ETH Zürich                                  alle Aussagen über die Zukunft – naturgemäss unsicher.
                                                                              Das erlaubt nicht, unberechtigte Ängste zu schüren. Es

                                                                                                                                         Quelle: ENTSO-E, Statistical Factsheet 2017
                     Die sichere Versorgung mit Strom wird in der Schweiz     macht aber sehr viel Sinn, mögliche zukünftige Entwick-
                     immer wieder für ganz verschiedene Partikularinteres-    lungen heute schon zu analysieren und zu bewerten, ob
                     sen verwendet, sei es für den Bau von Gaskraftwerken     sich diese positiv oder negativ auswirken.
                     und den weiteren Ausbau der Wasserkraft oder
                     als A
                         ­ rgument beim Stromabkommen und der Strom-          Stromproduktion: Der langsam aber sicher stattfinden-
                     marktöffnung. Dabei wird gerne suggeriert, dass die      de Schweizer Atomausstieg wird stufenweise zu einem
                     Versorgungssicherheit der Schweiz heute oder zukünftig   Wegfall von etwa 40 % der heutigen Stromproduktions-
                     in Gefahr sei. Die Faktenlage zeigt ein anderes Bild:    kapazität führen. Das muss kompensiert werden durch
                                                                              einen stärkeren Zubau erneuerbarer Stromproduktion,
                     ■■ Die Schweiz spielt seit den Anfängen des europä­      durch mehr Energieeffizienz oder durch mehr erneuer-
                     ischen Stromnetzes eine zentrale Rolle. Heute laufen     bare Stromimporte aus dem Ausland.
                     mehr als 10 % der grenzüberschreitenden Stromflüsse
                     in Europa über Schweizer Netzinfrastruktur.              Stromverbrauch: Durch die zu erwartende zuneh­
                                                                              men­de Elektrifizierung beim Wärmebedarf (Wärme-
                     ■■ Mit 41 Kuppelstellen zu den Nachbarländern hat die    pumpen) und bei der Mobilität sinkt zwar der ­Verbrauch
                     Schweiz das am besten verknüpfte Stromnetz Europas.      fossiler Energieträger drastisch, der Strombedarf steigt
                                                                              allerdings an. Schon heute gibt es schweizweit zirka
                     ■■ Die zahlreichen Pumpspeicherwerke wie auch die        300'000 elektrische Wärmepumpen (2,5 % des Strom-
                     saisonalen Speicherseen in den Alpen liefern grosse      verbrauchs gemäss BFE). Gäbe es nur noch Elektroautos
                     Mengen flexibel abrufbarer Erzeugungsleistung.           in der Schweiz, stiege der Strombedarf um zirka 10
                                                                              bis 20 % an (vgl. auch S. 12 + 13).
                     ■■ Die Schweiz hat in der Jahresbilanz einen fast aus-
                     geglichenen Stromhandelssaldo und produziert den         Saisonale Speichertechnologien: Da in unseren Brei-
                     eigenen Strombedarf grösstenteils selbst.                tengraden der Strombedarf im Winterhalbjahr höher
                                                                              ist, die erneuerbare Stromproduktion aber niedriger ist
                     ■■ Damit ist die Schweiz deutlich flexibler und besser   als im Sommer, braucht es mehr saisonale Speicherfä-
                     gegen kurz- oder mittelfristige Knappheiten, sprich      higkeit. Der hohe Strombedarf im Winter ist vor allem
                     ungewöhnlich hohe Strompreise, geschützt, als dies in    wärmegetrieben, daher bieten sich hierfür saisonale
                     fast allen Nachbarländern der Fall ist. Nur Österreich   Wärmespeicher besonders an. Auch mit überschüssi-
                     hat mit seinen eigenen Speicherseen eine ähnlich hohe    gem Strom produzierte chemische Energieträger wie
                     Flexibilität in der Strombereitstellung.                 Wasserstoff und Methan (Power-to-Gas) können helfen.
                                                                              Mit ihren grossen Speicherseen hat die Schweiz schon
                     ■■ Zudem hat sich in Europa ein Überangebot an Strom­    heute sehr grosse saisonale Stromspeicher (15 % des
                     erzeugungskapazitäten aufgebaut: durch den Zubau         jährlichen Stromverbrauchs).
                     der erneuerbaren Energien in Kombination mit dem
                     noch langsamen Rückbau der fossilen Kraftwerkska­        Stromknappheit und Flexibilität: Wächst der Strom-
                     pazitäten und dem seit Jahren dank mehr Energieeffi-     bedarf schneller als die Stromerzeugung, steigt das
                     zienz stagnierenden Stromverbrauch.                      Risiko, dass es zeitweise zu Stromknappheit kommt.
                                                                              Konkret fehlt dann entweder die Stromproduktions-
                     ■■ Anstatt einer Stromknappheit war die Hauptsorge       und/oder die Netztransportkapazität, um an jedem
                     der Stromkonzerne in den letzten Jahren daher viel       Ort und zu jeder Zeit den Spitzenverbrauch zu decken.
                     mehr eine Stromschwemme und damit entsprechend           Das ist ein altbekanntes Problem aller Stromsysteme
                     niedrige Strommarktpreise.                               und hat nichts mit der Energiewende zu tun.

14   Energie & Umwelt 2/2019
Stromdrehscheibe Schweiz: die physikalischen Stromflüsse in GWh quer durch Europa.

In Europa ist eine Stromknappheit ein seltenes, haus-     rungssystemen für Wärmepumpen oder Elektroautos
gemachtes Phänomen: Als im Winter 2012 eine Kälte-        ebenfalls schon greifbar.
welle über Frankreich einbrach, stieg dort der Strom-
verbrauch an mehreren Tagen auf über rekordträchti-       Fazit: Die Schweiz ist gut aufgestellt
ge 100 GW, auch dank ineffizienter Gebäudedämmung         Die Versorgungssicherheit ist heute sehr gut gewähr-
und elektrischer Direktheizungen ohne Wärmespeicher.      leistet und wäre es auch noch, wenn alle Schweizer
Aufgrund der zentralistischen Stromproduktion mit         Kernkraftwerke wie Mühleberg zeitnah abgeschaltet
Atomkraftwerken konnten zusätzlich einige Randregi-       würden. Im Vergleich zu allen Nachbarländern ist das
onen nur schlecht mit Strom versorgt werden – lokale      Schweizer Stromnetz sehr gut aufgestellt für die heu-
Blackouts drohten. In Kalifornien dagegen drohen an       tigen und zukünftigen Herausforderungen.
heissen Sommertagen regelmässig Stromausfälle dank
des hohen Stromverbrauchs der Klimaanlagen und der        Dies hat auch die vom Autor mitverfasste SATW-Stu-
fehlenden lokalen Stromerzeugung. Solaranlagen ste-       die2 zu den Auswirkungen der Energiewende auf die
hen in Kalifornien grösstenteils in der Wüste und nicht   Schweiz gezeigt:
in den Städten, wo ihre Stromproduktion am drin-          ■■ In allen in der Energiestrategie 2050 definierten
gendsten gebraucht würde.                                 Energieszenarien ist die Versorgungssicherheit dank
                                                          der flexibel einsetzbaren Pump- und Saisonalspeicher
Mehr Flexibilität im Stromnetz: Schnell verfügbare        gewährleistet.
Erzeugungsleistung, entweder aus Spitzenlastkraftwer-     ■■ Der weitere Ausbau der erneuerbaren Energien in
ken, Speichersystemen und Lastmanagement kann die         der Schweiz liefert hier zusammen mit mehr Energie-
Spitzenlast effektiv brechen. Gerade ein grösserer An-    effizienz einen positiven Beitrag.
teil flexibler Stromlasten ist vergleichsweise einfach    ■■ Fossile Ersatzkraftwerke für die Zeit nach dem
und kostengünstig zu haben. Es ist gängige Praxis, dass   Atomausstieg werden nicht gebraucht und würden
industrielle Grossverbraucher wie Papierfabriken auf      auch nur neue Abhängigkeiten durch hierfür nötige
Preis­schwankungen am europäischen Strommarkt             Gasimporte schaffen.                              <
kurzfristig mit Verbrauchsanpassungen reagieren. Mitt-
lerweile ist dies auch in der Gebäudeautomatisierung
möglich, z.B. bei der Klimatisierung von Büroräumen.
                                                              1 mit der Zusammenschaltung der französischen, deutschen und schweizerischen
Im Wohnbereich ist eine grössere Verbrauchsflexibili-           Stromnetze im Stern von Laufenburg (1958).
sierung dank Heimspeichern zur Maximierung des                2 SATW-Studie: Ist das geplante Stromsystem der Schweiz für die Umsetzung der
PV-Eigenbedarfs und zunehmend intelligenten Steue-              Energiestrategie 2050 aus technischer Sicht geeignet? Download: https://t1p.de/satw

                                                                                                                     Energie & Umwelt 2/2019   15
ATOMPOLITIK SCHWEIZ

Jetzt das Beznau-Manifest unterzeichnen!
Die Schweiz hat mit der Annahme der Energiestrategie 2050 den Atomausstieg besiegelt.
«Problem gelöst», denken viele. Doch weit gefehlt: Der Schweizer Atomausstieg ist in
Schieflage. Deshalb hat die Schweizerische Energie-Stiftung das Beznau-Manifest
­lanciert. Wir setzen Hoffnung in die neue Energieministerin Simonetta Sommaruga und
 fordern von ihr folgende 3 Punkte:

 1. SICHERHEITSSTANDARDS ERHÖHEN STATT SENKEN!
 Die Schweiz betreibt mit durchschnittlich 44 Jahren den mit Abstand ältesten AKW-Park der
 Welt. Konzipiert wurden die Kraftwerke allerdings für Laufzeiten von 30 bis 40 Jahren. Die
 verwendete Technik ist veraltet. Anstatt nun besonders streng zu sein, werden die Sicher-
 heitsvorschriften aufgeweicht. So können die AKW 60 bis 80 Jahre am Netz bleiben. Das ist
 skandalös – und gefährlich.

 Die Energiestrategie 2050 sagt: AKW dürfen so lange laufen wie       AKW können so bis zu 80 Jahre am Netz bleiben – ohne nennens-
 sie sicher sind. Was «sicher» bedeutet, ist im Kernenergiegesetz     wert nachgerüstet werden zu müssen.
 geregelt. Dieses Gesetz wurde 2003 vor dem Hintergrund ge-
 schaffen, dass die alten AKW bald ersetzt würden. Das Gesetz         Wir fordern deshalb, dass
 fordert deshalb bei den alten AKW in puncto Sicherheit längst
 nicht das ein, was bei modernen AKW verlangt wird. Und es erlaubt    n	 auch alte AKW die modernsten Sicherheitsvorgaben ein­halten
 der Atomaufsicht ENSI grosszügige Fristen für Nachrüstungen.            müssen;
                                                                      n	 erforderliche Nachrüstungen unverzüglich umgesetzt werden
 Anstatt die Sicherheitsvorgaben endlich zu verschärfen, hat der         müssen – oder das AKW geht vorübergehend vom Netz.
 Bund diese nun per Verordnung weiter aufgeweicht. Unsere alten

 2. MEHR UNABHÄNGIGKEIT UND TRANSPARENZ SCHAFFEN!
 Die Wege zwischen AKW-BetreiberInnen, Aufsichts- und Bundesbehörden sowie dem Par-
 lament sind gefährlich kurz. Kritiker werden als Atomgegner abgestempelt und ignoriert.
 Entscheide werden nur vordergründig transparent gefällt, relevante Dokumente bleiben trotz
 anderslautendem Gesetz unzugänglich. Das ist nicht mehr zeitgemäss – und gefährlich.

 In der Schweizer Atompolitik geht es weder um Versorgungssi-         sind. Auch der Rechtsweg funktioniert als Kontrolle kaum, da
 cherheit noch um Klimaschutz. Die wichtigen Entscheide richten       dieser zuerst gegen die Behörden erstritten werden muss und sich
 sich einzig und allein nach der Kasse der AKW-BetreiberInnen. Je     dann die Gerichte aufgrund der hohen Komplexität des Themas
 länger ihre Kraftwerke ohne teure Nachrüstungen am Netz blei-        scheuen, gegen diese zu entscheiden.
 ben, umso mehr Geld spielen sie ein. Und je später sie abgeschal-
 tet werden, umso weiter können die hohen Kosten für den Rück-        Wir fordern deshalb, dass
 bau und die Entsorgung des Atommülls hinausgeschoben werden.
 Es gibt kaum Widerspruch zu Gunsten der Sicherheit und dem           n	 Stellen in Aufsichtsbehörden und Verwaltung von ideell unab-
 Schutz der Bevölkerung. Zu stark sind die Interessen durch Man-         hängigen Personen besetzt und mit genügend Ressourcen
 date miteinander verflochten (Atomfilz).                                ausgestattet werden, damit Empfehlungen der einen Behörde
 Offiziell unabhängige Personen sind zu wenig eigenständig oder          von der anderen nicht einfach übernommen werden;
 mit zu geringen Ressourcen ausgestattet, um sich ein eigenes,        n	 eine Entflechtung zwischen ParlamentarierInnen und AKW-
 ausgewogenes Bild zu machen. Ihre Entscheide sind für die               Betreiberinnen stattfindet oder die entsprechenden Mandats-
 ­Ö ffentlichkeit kaum nachvollziehbar, weil die relevanten Doku-        trägerInnen im Zweifelsfall in den Ausstand treten;
  mente trotz Öffentlichkeitsgesetz gar nicht oder erst nach jahre-   n	 Dokumente im Sinne des Öffentlichkeitsgesetzes schneller ver-
  langen Rechtsverfahren (grösstenteils geschwärzt) ein­seh­bar          öffentlicht werden.
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